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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[165]

Nr. 11.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Freie Bahn!

Roman von E. Werner.
(10. Fortsetzung.)

Dernburg saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Die Besprechung mit dem Direktor war zu Ende; er sah die Papiere durch, die dieser zurückgelassen hatte, als die Thür sich von neuem öffnete. Graf Eckardstein, der als Gast des Hauses keiner besonderen Anmeldung bedurfte, trat ein.

„Ich sah eben den Herrn Direktor fortgehen,“ sagte er. „Darf ich Sie auf einige Minuten stören? Ich komme nur, um mich zu verabschieden.“

„Sie wollen nicht zu Tische bleiben wie gewöhnlich?“

„Ich danke, ich muß nach Eckardstein zurück. – Bleibt es wirklich dabei, daß ich meinem Bruder eine Absage überbringen muß? Wir hatten so fest auf Ihre und der Ihrigen Gegenwart gerechnet.“

„Ich bedaure, Sie hörten es ja bereits, wir haben selbst Gäste an dem betreffenden Tage.“

Die Ablehnung klang ebenso bestimmt als frostig, und der junge Graf mußte das fühlen. Er trat rasch einige Schritte näher und fragte halblaut: „Herr Dernburg – was haben Sie gegen mich?“

„Ich? Nichts! Wie kommen Sie darauf, Herr Graf?“

„Schon Ihre Anrede zeigt es mir. Heute morgen nannten Sie mich noch Viktor und empfingen mich mit der gewohnten Güte. Bin ich Ihnen denn in den wenigen Stunden ein Fremder

Die Heilanstalt für unbemittelte Lungenkranke zu Falkenstein im Taunus.
Zeichnung von R. Püttner.

[166] geworden? Ich fürchte, da ist ein anderer Einfluß thätig gewesen, den ich errathe.“

Dernburg runzelte die Stirn, die Hindeutung auf Wildenrod, die nur allzu verständlich war, verletzte ihn, aber er war gewohnt, den geraden Weg zu gehen. Weshalb auf Umwegen zu erfahren suchen, was er wissen wollte! Er blickte in das hübsche offene Gesicht des jungen Mannes, dann sagte er langsam: „Ich lasse mich nicht beeinflussen und es ist nicht meine Art, jemand ungehört zu verurtheilen, am wenigsten Sie, Viktor, den ich seit den frühsten Knabenjahren kenne. Da Sie die Sache selbst zur Sprache bringen, mag sie zwischen uns erörtert werden. Wollen Sie mir einige Fragen beantworten?“

„Ich bitte darum.“

„Sie sind Ihrer Heimath so lange fern geblieben und haben seit Jahren Eckardstein mit keinem Fuße betreten. Wie kommt das?“

„Das lag in persönlichen, in Familien-Verhältnissen –“

„Die Sie zu verschweigen wünschen – ich sehe es.“

„Nein Herr Dernburg, Ihnen will ich sie nicht verschweigen! – Mein Verhältniß zu meinem Bruder war nie ein besonders freundliches und seit dem Tode unseres Vaters ist es vollends peinlich geworden. Konrad ist der Aeltere, der Majoratsherr, ich bin auf ihn angewiesen und kann ohne seine Hilfe meine militärische Stellung nicht behaupten. Er hat mich das oft genug fühlen lassen und in einer so verletzenden Weise, daß ich es vorzog, ihm fern zu bleiben.“

Man sah es dem jungen Grafen an, daß diese Erklärung ihm schwer wurde, und doch sagte er seinem Zuhörer nichts Neues damit. Man wußte in der ganzen Nachbarschaft von der Spannung zwischen den beiden Brüdern, maß aber die Hauptschuld dem älteren bei. Der Majoratsherr, der zur Zeit noch unvermählt war und nur einige Jahre mehr zählte als Viktor, galt für hochmüthig und rücksichtslos, und sein Geiz war eine allbekannte Thatsache. Er war deshalb auch nichts weniger als beliebt. Dernburg wußte das gleichfalls, berührte es aber mit keiner Silbe, sondern fragte nur: „Und doch sind Sie jetzt gekommen?“

„Das geschah auf ausdrücklichen Wunsch meines Bruders.“

„Der ganz bestimmte Pläne mit Ihnen hat!“

Viktor stutzte, und eine dunkle Röthe begann langsam in seinem Gesichte aufzusteigen. Dernburg betrachtete ihn scharf und forschend, während er fortfuhr: „Sie errathen ohne Zweifel, was ich meine. Ich will ganz offen gegen Sie sein, erwarte dann aber auch eine ebenso offene Antwort. Es heißt, Sie seien von dem Grafen Konrad nach Eckardstein berufen worden, um Ihre einstigen Beziehungen zu Odensberg zu – verwerthen.“

Viktor zuckte bei dem verletzenden Worte zusammen. „Herr Dernburg!“

„Viktor, ich frage Sie, ist dem so?“

Die Augen des jungen Mannes senkten sich in peinlicher Verlegenheit. „Sie stellen die Frage in einer Weise –“

„Die kein Ausweichen zuläßt. Also Ja oder Nein!“

„Sie scheinen meine Werbung als eine Beleidigung aufzufassen,“ sagte Viktor, ohne den Blick vom Boden zu heben. „Mein Gott, ist es denn ein so schweres Vergehen, wenn man mit solchen Gedanken an die einstigen Jugendbeziehungen herantritt? Nun ja, ich kam hierher, um ein Glück zu erringen, das schon den Träumen meiner Jugend als lockende Zukunft vorschwebte. Was ist dabei Böses? Sie hätten in meinen Jahren vielleicht dasselbe gethan.“

„Aber nicht auf Befehl eines anderen!“ sagte Dernburg schneidend. „Und ich hatte bei meiner Werbung jedenfalls ein anderes Los zu bieten als Sie, Herr Lieutenant.“

Der junge Graf wollte auffahren, mühsam bezwang er sich, aber seine Stimme bebte, als er antwortete: „Sie lassen es mich sehr bitter empfinden, daß ich arm bin.“

„Das thue ich nicht, denn die Armuth ist in meinen Augen kein Vorwurf. Sie theilen nur das Los der jüngeren Söhne in den Familien, deren ganzes Vermögen im Majorate liegt. Aber man sagt, Ihr Bruder habe noch andere dringendere Gründe, Ihnen eine sogenannte gute Partie anzurathen. Das verletzt Sie, Herr Graf, es thut mir leid, aber Sie haben diese Unterredung herbeigeführt, nicht ich.“

„Also auch das hat man Ihnen hinterbracht, und Sie deuten es nun in der schmählichsten Weise,“ sagte Viktor bitter. „Wenn ich leichtsinnig gewesen bin, so hat es mich mein Bruder schon hinreichend büßen lassen, und ich büße es zehnfach in diesem Augenblick. Nun ja, ich habe mich von Schulden nicht frei gehalten, nicht frei halten können bei den geringen Mitteln, die mir zu Gebote standen. Es wäre für Konrad ein Leichtes gewesen, mich von meinen Verpflichtungen los zu machen, er that es nicht, stellte mich sogar vor die Möglichkeit, meinen Abschied nehmen zu müssen, und da –“

„Da gingen Sie auf seinen Vorschlag ein!“ Die Stimme Dernburgs hatte einen herben verächtlichen Klang. „Ich begreife das vollkommen, aber Sie werden es Ihrerseits begreifen, daß ich meine Tochter zu einer solchen – Finanzoperation nicht hergeben will.“

In dem Gesicht des jungen Mannes wechselten Röthe und Blässe, bei dem letzten Worte aber fuhr er mit einem halbunterdrückten Schrei auf und ballte drohend die Hand gegen den Aelteren, der ihn fest ansah.

„Was soll das, Graf Eckardstein? Wollen Sie mich vielleicht fordern, weil ich mich unterfange, Ihnen zu sagen, wie ich von der Sache denke? Ein Mann in meinen Jahren und meiner Stellung geht auf dergleichen Thorheiten nicht ein.“

Viktor ließ die Hand sinken und trat zurück.

„Herr Dernburg, Sie sind mir lange Jahre hindurch ein väterlicher Freund, Odensberg ist mir eine zweite Heimath gewesen, und Sie sind der Vater Majas, die ich –“

„Die Sie lieben,“ ergänzte Dernburg mit bitterem Spott. „Das wollten Sie ja wohl sagen.“

„Ja, die ich liebe!“ rief Viktor, sich emporrichtend, und sein Auge begegnete klar und offen dem des gereizten Mannes. „Das ist mir klar geworden in der Minute, wo ich das Kind, das noch in meiner Erinnerung lebte, als erblühendes Mädchen wiedersah. Nach Ihren Worten bleibt mir nur übrig, Ihr Haus zu verlassen und es nicht wieder zu betreten, aber ich fordere bei diesem Abschiede wenigstens Ihren Glauben an die Wahrheit meiner Gefühle für Maja – wenn sie mir auch verloren ist.“

Es lag ein wahrer Schmerz, ein echter Herzenston in den letzten Worten, die einen anderen als Dernburg wohl überzeugt hätten. Allein der ernste strenge Mann da am Schreibtische hatte nie den Leichtsinn der Jugend gekannt und verstand es nicht, mit ihren Fehlern zu rechnen. Vielleicht war auch er in diesem Augenblick überzeugt, aber er verzieh es nicht, daß man bei einer Werbung um die Hand seines Lieblings gerechnet hatte.

„Ich bin nicht befugt, Ihre Gefühle zu beurtheilen, Herr Graf,“ sagte er mit eisiger Ablehnung, „jedoch ich begreife es, daß Sie nach dieser Unterredung Odensberg meiden. Es thut mir leid, daß wir so scheiden müssen, indessen, wie die Verhältnisse liegen, läßt es sich nicht ändern.“

Viktor erwiderte keine Silbe, er verneigte sich stumm und ging. Dernburg sah ihm finster nach.

„Auch der!“ murmelte er halblaut. „Der ehrliche offene Junge, der früher nie eine Berechnung gekannt hat! Geht denn alles zu Grunde bei dieser wilden Jagd nach dem Reichthum, den sie Glück nennen!“ –

Am Fuß der große Treppe, die in das obere Stockwerk führte, standen Wildenrod und Erich im Gespräch. Der erstere war soeben aus dem Park gekommen und traf hier mit seinem Schwager zusammen, der ihm sein Herz ausschüttete.

„Ich fürchte, Cäcilie ist ernstlich unwohl,“ sagte er erregt. „Sie klagt über heftige Kopfschmerzen und sieht erschreckend bleich aus, hat mir aber aufs bestimmteste verboten, Hagenbach rufen zu lassen. Sie behauptet, ein paar Stunden ungestörter Ruhe würden sie am schnellsten herstellen. Ich sah sie nur einige Minuten bei ihrer Ankunft und habe nicht erfahren können, wo sie eigentlich gewesen ist, sie schweigt hartnäckig darüber.“

Oskar lächelte und zuckte die Achseln. „Und darüber bist Du nun ganz außer Dir? Ich sagte es Dir schon vorhin, Du mußt mit dem Eigensinn unserer kleinen verwöhnten Prinzessin rechnen. Wenn Cilly übler Laune ist, legt sie sich auf das Sofa und schmollt mit aller Welt, sie hält es jedoch zum Glück nicht lange aus, ich kenne das. Dein Vater meint freilich, Du müßtest ihr die Launen abgewöhnen, aber dazu bist Du der Mann nicht, mein guter Erich. Es wird Dir also wohl nichts anderes übrig bleiben, als Dich in christliche Geduld zu fassen und schon jetzt Vorstudien zu machen für den musterhaften Ehemann, der Du ohne Zweifel werden wirst.“

Erich sah ihn verwundert an. „Was hast Du denn, Oskar? [167] Du strahlst ja förmlich vor Vergnügen. Ist Dir irgend etwas Freudiges begegnet?“

„Wer weiß – vielleicht!“ sagte Oskar mit einem Aufblitzen seiner dunklen Augen. „Und deshalb will ich mich Deiner annehmen, Du siehst auch gar zu verzweifelt aus. Ich habe immerhin noch mehr Macht über mein Fräulein Schwester und werde ihr zu Gemüth führen, wie unverantwortlich es von ihr ist, Dich jetzt schon die Leiden des Ehestandes durchkosten zu lassen – eigentlich hat sie doch erst nach der Hochzeit ein Recht dazu. Gieb acht, sie erscheint bei Tisch ganz heiter und vergnügt, und dann wirst auch Du hoffentlich ein anderes Gesicht machen. Du tiefbekümmerter Bräutigam, der eine Mädchenlaune so ernst nimmt.“

Er lachte übermüthig auf, und einen Gruß zurückwinkend, stieg er die Treppe hinauf. Erich sah ihm kopfschüttelnd nach. Diese strahlende Heiterkeit lag sonst gar nicht im Wesen seines Schwagers, der heute kaum wiederzuerkennen war. Was konnte ihm nur begegnet sein?

Droben im Salon trat dem Freiherrn das Kammermädchen seiner Schwester mit der Erklärung entgegen, das gnädige Fräulein habe streng befohlen, sie unter keiner Bedingung zu stören und jeden ohne Ausnahme abzuweisen auch Herrn Erich Dernburg.

„Für mich gelten solche Befehle nicht, das wissen Sie doch, Nannon,“ schnitt ihr Wildenrod das Wort ab. „Ich wünsche meine Schwester zu sprechen, öffnen Sie die Thür!“

Nannon knixte und gehorchte, sie wußte sehr gut, daß es dem Freiherrn gegenüber keinen Widerspruch gab. Dieser trat ohne weiteres in das Zimmer seiner Schwester.

Cäcilie lag auf dem Ruhebett, das Gesicht in die Polster gedrückt. Sie regte sich nicht, obgleich sie das Oeffnen und Schließen der Thür hören mußte, aber ihren Bruder schien das nicht weiter zu befremden, er trat ruhig näher.

„Bist Du wieder einmal übler Laune, Cilly?“ fragte er, noch in scherzendem Tone. „Du behandelst den armen Erich wirklich in unverantwortlicher Weise, er hat mir eben seine Noth geklagt.“

Cäcilie verharrte stumm und regungslos in ihrer Stellung, und nun verlor Wildenrod die Geduld.

„Willst Du nicht wenigstens die Güte haben, mich anzusehen? Ich möchte Dich überhaupt bitten –“ er verstummte, denn seine Schwester richtete sich plötzlich auf und er blickte in ein so bleiches verstörtes Gesicht, daß er beinahe erschrak.

„Ich habe mit Dir zu sprechen Oskar,“ sagte sie leise. „Mit Dir allein. Nannon ist im Salon – schicke sie fort, damit wir ungestört sind!“

Oskar zog die Stirn kraus, er glaubte noch immer nicht, daß es sich um etwas Ernsthaftes handle, war aber in seiner glücklichen Stimmung geneigt, selbst einer Laune Rechnung zu tragen. Er ging deshalb in den Salon, sandte das Kammermädchen mit einem Auftrage fort und kehrte dann zurück. „Werde ich nun endlich erfahren, was das alles bedeutet?“ fragte er ungeduldig. „Wo bist Du überhaupt gewesen, Cilly, und was soll diese Fahrt in die Berge in aller Morgenfrühe? Dernburg hat sie bereits sehr unliebsam bemerkt! Du solltest doch wissen, daß Odensberg nicht der Ort für solche Abenteuerlichkeiten ist.“

Cäcilie hatte sich erhoben, sie vertheidigte sich mit keinem Wort gegen den Vorwurf, sondern sagte nur finster: „Ich war auf dem Albenstein.“

„Auf dem Albenstein?“ fuhr Oskar auf. „Welche Tollkühnheit! Welche unglaubliche Thorheit!“

„Laß das, es handelt sich um anderes,“ unterbrach sie ihn heftig. „Ich traf dort oben mit – mit dem Jugendfreunde Erichs zusammen, und er hat mir Dinge gesagt – Oskar, was ist zwischen Dir und diesem Runeck bei Eurer ersten Begegnung vorgefallen?“

„Nichts!“ sagte der Freiherr kalt, „Ich mag ihn damals gesehen haben, es ist möglich, man übersieht solche Persönlichkeiten leicht. Jedenfalls sprach ich nicht mit ihm und wußte gar nicht, daß er Zeuge eines peinlichen Vorfalles war, der an jenem Abend stattfand.“

„Was war das für ein Vorfall?“

„Nichts für Deine Ohren, mein Kind, und darum wäre es mir unangenehm, wenn Runeck Dir davon erzählt hätte. Was hat er Dir eigentlich gesagt?“

Die Frage wurde anscheinend gleichgültig hingeworfen, und doch lag die tiefste Spannung in den dunklen Augen des Fragenden.

„Er schien meine Kenntniß der Sache vorauszusetzen und erging sich in Andeutungen, die ich nicht verstand, hinter denen sich aber irgend etwas Furchtbares barg.“

„Wie? Er wagte?“ fuhr Oskar auf.

„Ja, er wagte es, Deine Ehre zu verdächtigen und mich als Deine Mitschuldige zu behandeln. Er sprach davon, daß er mehr aus Deinem Leben wisse, als Dir lieb sei, er nannte uns Abenteurer – hörst Du, Abenteurer! Aber Du wirst ihn zur Rechenschaft ziehen, wirst ihm die Antwort geben, die er verdient, und Dich und mich rächen!“

Wildenrod war bleich geworden, er stand da mit verfinsterter Stirn und geballter Hand, aber er schwieg. Der stürmische Ausbruch des Zorns, der Empörung, den Cäcilie erwartet, auf den sie gehofft hatte, kam nicht.

„Das hat er Dir wirklich gesagt?“ fragte er endlich langsam.

„Wort für Wort! Und Du – Du entgegnest nichts?“

Wildenrod hatte sich gefaßt, er zuckte mit spöttisch überlegener Miene die Achseln. „Was soll ich denn darauf antworten? Verlangst Du etwa, daß ich solche Tollheiten ernst nehme?“

„Ihm war es Ernst damit, und wenn ihm, wie er behauptete, bis zur Stunde noch die Beweise fehlen –“

„Wirklich?“ Oskar lachte höhnisch und triumphierend auf, während ein tiefer Athemzug der Erleichterung seine Brust hob. „Nun, er mag sie suchen, diese Beweise, finden wird er sie nicht!“

Cäcilie stützte sich auf den Sessel, an dem sie stand, ihr war jenes Aufathmen nicht entgangen, und ihre Augen waren wie in Todesangst auf den Bruder gerichtet. „Hast Du keine andere Antwort, wenn man Deine Ehre angreift? Wirst Du Runeck nicht zur Rede stellen?“

„Das ist meine Sache! Ueberlaß es mir, mit diesem Menschen fertig zu werden! Was geht es Dich an?“

„Was es mich angeht, wenn man mich und Dich bis auf den Tod beleidigt?“ rief Cäcilie außer sich. „Uns Abenteurer zu nennen, denen Odensberg zur Beute werden soll, das darf ein Mann ungestraft wagen? Oskar, sieh mir ins Auge! Du scheust Dich, diesen Runeck zu züchtigen. Du fürchtest ihn – O mein Gott, mein Gott!“

Sie brach in ein wildes leidenschaftliches Schluchzen aus. Oskar trat rasch zu ihr, und seine Stimme sank zu einem zornigen Flüstern herab.

„Cäcilie, sei vernünftig! Du benimmst Dich wie eine Unsinnige. Was ist überhaupt mit Dir vorgegangen? Du bist ja wie verwandelt seit heute morgen.“

„Ja, seit heute morgen!“ wiederholte sie leidenschaftlich. „Da bin ich aufgewacht, o, es war ein bitteres Erwachen! Weiche mir nicht aus! Du hast mir gesagt, daß unser Vermögen verloren gegangen ist, und ich war gedankenlos genug, nicht einmal zu fragen, wie es kam, daß wir trotzdem auf großem Fuße lebten. Wann ging es verloren? Wodurch? Ich will es wissen!“

Wildenrod schaute sie finster an, der drohende Ton war ihm so neu an seiner Schwester wie ihr ganzes Benehmen – er mußte es aufgeben, sie noch ferner als Kind zu behandeln.

„Wann unser Vermögen verloren ging, willst Du wissen?“ fragte er herb, „Damals, als der Zusammenbruch unseres Hauses erfolgte und der Vater – Hand an sich legte.“

„Unser Vater?!“ Die Augen des jungen Mädchens öffneten sich weit und schreckensvoll. „Er starb nicht am – Schlagfluß?“

„Das sagte man der Welt, der Nachbarschaft und Dir, dem achtjährigen Kinde – ich weiß es besser. Unser Besitz war überschuldet, der Ruin nur noch eine Frage der Zeit, und als er wirklich kam, da griff der Vater zur Pistole – und ließ uns als Bettler zurück.“

So schonungslos die Worte klangen, es lag ein dumpfer grollender Schmerz darin, man sah, der Mann litt noch jetzt nach zwölf Jahren schwer an der Erinnerung.

Cäcilie schrie nicht auf, weinte nicht, ihre Thränen schienen plötzlich versiegt zu sein, sie fragte nur leise, fast tonlos: „Und dann?“

„Dann wurde die Ehre unseres Namens durch das persönliche Eintreten des Königs gerettet. Er kaufte die Güter und befriedigte die Gläubiger. Deine Mutter erhielt eine Gnadenpension, ein Almosen an der Stelle, wo sie Herrin gewesen war, und ich – nun ich ging in die weite Welt hinaus, um mein Glück zu versuchen.“

Ein minutenlanges Schweigen folgte; Cäcilie war in den Sessel gesunken und hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen. Endlich hob Wildenrod wieder an: „Dich trifft das schwer, ich glaube es, aber mich hat es damals noch viel schwerer getroffen. [168] Ich hatte keine Ahnung davon, wie es mit uns stand, und nun, mitten aus dem vermeintlichen Reichthum, aus einer glänzenden Lebensstellung, einer großen Laufbahn herausgerissen zu werden, um der Armuth und dem Elend ins Auge zu sehen – Du weißt nicht, was das heißt. Man bot mir dieses und jenes Amt an, beim Post- und Steuerwesen, in irgend einer entfernten Provinz, bot mir, dessen glühender Ehrgeiz von den höchsten Zielen geträumt hatte, Hungerposten, bei denen Geist und Körper in der Tretmühle eines armseligen Daseins zu Grunde gegangen wären. Dafür war ich nicht geschaffen. Ich warf alles hinter mich und verließ Deutschland, um wenigstens den Schein zu retten, daß jener Verkauf und mein Abschied freiwillig gewesen wären.“

Cäcilie ließ langsam die Hände sinken und richtete sich auf. „Und doch hast Du Deine Stellung in der Gesellschaft behauptet? Wir galten für reich in den drei Jahren, die ich mit Dir verlebte, und waren von Glanz und Luxus umgeben!“

Wildenrod hatte keine Antwort auf die bange vorwurfsvolle Frage, er vermied es, dem Blicke seiner Schwester zu begegnen. „Laß das, Cäcilie!“ sagte er dann, „Es war ein heißes wildes Ringen um diese Stellung, die ich um keinen Preis aufgeben wollte, und es ist da manches geschehen, was besser unterblieben wäre. Allein ich hatte keine Wahl. In dem Kampfe ums Dasein heißt es siegen oder untergehen. Gleichviel!“ er athmete tief auf. „Jetzt ist das überwunden, Du bist Erichs Braut und ich – habe Dir etwas Freudiges mitzutheilen.“

Er kam nicht dazu, diese Mittheilung auszusprechen, denn an der Thür des Salons ließ sich ein leises Klopfen hören, und gleich darauf fragte Erichs Stimme:

„Darf ich nun endlich eintreten?“

„Erich?“ fuhr Cäcilie auf. „Ich kann ihn nicht sehen – jetzt nicht!“

„Du mußt ihn sprechen,“ flüsterte Oskar leise, aber befehlend. „Soll Dein Benehmen noch mehr auffallen? Nur auf einige Minuten!“

„Ich kann nicht! Sag’ ihm, ich sei krank, ich schlafe, oder was Du sonst willst!“

Sie wollte aufspringen, jedoch ihr Bruder zog sie wieder auf den Sitz nieder, während er im heiteren Tone rief: „Komm nur herein, Erich! Ich habe schon seit einer halben Stunde Audienz bei dem gnädigen Fräulein!“

„Das hörte ich von Nannon!“ sagte Erich, der jetzt den Salon durchschritt und eintrat, in vorwurfsvollem Tone. „Soll mir Deine Thür verschlossen bleiben, Cilly, wenn sie sich für Oskar öffnet? Mein Gott, wie bleich und verstört Du aussiehst! Was ist denn geschehen auf dieser unglückseligen Fahrt? Ich bitte Dich, sprich!“ Er hatte ihre Hand ergriffen und sah ihr angstvoll in das Gesicht. Die kleine Hand bebte in der seinigen, aber es erfolgte keine Antwort.

„Du solltest sie lieber schelten, obgleich ich das schon hinreichend gethan habe,“ sagte Wildenrod, „Weißt Du, wo sie heute morgen gewesen ist? Auf dem Albenstein!“

„Herr des Himmels!“ fuhr Erich entsetzt auf. „Ist das wahr, Cilly?“

„Buchstäblich wahr! Natürlich wurde sie auf dem Rückweg schwindlig, kam halbtot herunter und ist nun krank von der Ueberanstrengung und der ausgestandenen Angst. Sie schämte sich, das Dir und dem Doktor einzugestehen, allein erfahren mußt Du es doch.“

„Cäcilie, wie konntest Du mir das anthun?“ sagte der junge Mann mit schmerzlichem Vorwurf. „Dachtest Du denn gar nicht an meine Angst, an meine Verzweiflung, wenn Dir etwas zustieß? Hätte ich ahnen können, daß es mehr denn Scherz war, als Du damals mir und Egbert – was hast Du denn?“

Cäcilie war bei der Nennung des Namens zusammengezuckt; jetzt rollten ein paar Thränen über ihre Wangen, während sie murmelte: „Verzeih’ mir, Erich – verzeih’ mir!“

Erich hatte seine Braut noch nie weinen sehen, noch nie um Verzeihung bitten hören. Mit überwallender Zärtlichkeit küßte er ihre Hände. „Meine Cilly, mein geliebtes Mädchen, ich schelte Dich ja nicht, ich bitte Dich nur, nie, nie wieder ein solches Wagniß zu unternehmen. Du versprichst mir das, nicht wahr? Und jetzt –“

„Jetzt wollen wir ihr Ruhe gönnen,“ fiel Wildenrod ein. „Du siehst, wie nothwendig das ist. Versuche ein paar Stunden zu schlafen, Cilly, das wird Deine überreizten Nerven beruhigen. Komm, Erich!“

Dieser folgte sichtlich sehr ungern, aber da auch Cäcilie ihn mit fieberhafter Ungeduld zum Gehen drängte, so fügte er sich. Oskar begleitete ihn bis zur Treppe und trat dann in sein eigenes Zimmer. Kaum aber war der Schritt des jungen Mannes draußen verhallt, so kehrte er zu der Schwester zurück.

(Fortsetzung folgt.)




Die erste deutsche Heilstätte für unbemittelte Lungenkranke.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Menschen gewöhnen sich an schwere Prüfungen, und viele ertragen sie in stummer Entsagung als ein unvermeidliches Uebel, bis eine lichte Stunde kommt und ihnen die Erkenntniß bringt, daß jenes unvermeidliche Uebel durch festen Willen, Thatkraft und muthigen Kampf verhütet, ausgerottet werden könne, Die Geschichte einer der schlimmsten Krankheiten, die eine wahre Geißel des Menschengeschlechtes bildet, hat sich bis jetzt in dieser Bahn bewegt. Die Tuberkulose, die am häufigsten in der Form der Lungenschwindsucht auftritt, fordert jahraus jahrein mehr Opfer als blutige Kriege oder die gefürchtete Cholera.

Dem war seit langer langer Zeit so! Man suchte gegen die Schwindsucht anzukämpfen, aber alle Bemühungen waren vergeblich; man konnte ihr keinen Einhalt gebieten; die Volksheilmittel erwiesen sich trügerisch, und in dem Arzneischatz der Aerzte fand man wohl Linderungs-, aber keine Heilmittel gegen diese Seuche, die an dem Mark der Völker zehrt.

Jedoch der lichte Tag einer besseren Einsicht sollte kommen. Ein Theil der hervorragendsten Aerzte legte nicht die Hände in den Schoß, sondern suchte nach Wegen, auf welchen man die Krankheit erfolgreich bekämpfen könnte; denn es war ihrem aufmerksamen Auge nicht entgangen, daß mitunter Fälle von Lungenschwindsucht unter günstigen Umständen von selbst in Heilung übergingen. Freilich, diese Heilungen waren nicht das Werk eines Wunderkrautes oder eines in den Retorten der Chemiker hergestellten Stoffes, sondern die Folge des Zusammenwirkens jener wunderbaren Heilkräfte, welche die Natur überall ausgestreut und auch dem menschlichen Körper als ein werthvolles Pathengeschenk verliehen hat. Man entdeckte, daß reine milde Luft, gute Ernährung, zweckmäßige Pflege den schwachen Körper derart zu stärken vermögen, daß er den Kampf mit der bösen Krankheit aufnehmen und aus ihm schließlich als Sieger hervorgehen konnte. Wie immer, so gelangte man auch jetzt erst auf Umwegen zur vollen Erkenntniß der Wahrheit. Anfangs hieß es, das warme Klima des Südens besitze die heilende Kraft; dann schrieb man sie dem Höhenklima zu und meinte, es gebe eine Höhe, über die hinaus die Schwindsucht nicht hinaufsteigen könne. Spätere Beobachtungen zeigten jedoch, daß das warme Klima wohl für einen Theil der Kranken sich nutzbar erweisen könne und daß ein anderer Theil durch die erregende Bergluft und die natürliche mit dem Gebirgsaufenthalt verbundene Gymnastik gestärkt werde … aber immer klarer mußte sich die Ueberzeugung Bahn brechen, daß keiner dieser Faktoren allein maßgebend und entscheidend sei, daß vielmehr der ganze Apparat einer gesundheitsgemäßen Ernährung und Lebensführung angewandt werden müsse, wenn man das Leiden, das früher als unheilbar galt, heilen wolle.

Wenn wir kurz das einzig richtige, einzig Erfolg versprechende Heilverfahren gegen die Lungenschwindsucht schildern sollen, so müssen wir etwa Folgendes hervorheben:

Der kranken Lunge muß in erster Linie der ausgiebigste Genuß einer möglichst reinen Luft geboten werden; die schwache Lunge muß durch zweckmäßige Eingriffe, durch eine geregelte Athemgymnastik gekräftigt werden; man muß ferner den Körper durch gute Ernährung zu stärken, den Stoffwechsel durch Bewegung im Freien, Geh- und Steigübungen zu fördern, die Thätigkeit der Haut durch Douchen, Abreibungen etc. zu regeln suchen. Diese und andere Maßregeln müssen sorgfältig wochen- und monatelang alltäglich angewandt werden. Das ist aber keine leichte Sache! Auch diese diätetisch-hygieinischen Heilmittel können eine zweischneidige Wirkung haben. Je nach dem Maße der Widerstandsfähigkeit, die dem Körper des Kranken noch innewohnt, können sie nützen oder schaden. Darum ist Vorsicht am Platze. Der Arzt muß den Kranken genau und täglich beobachten und muß ihm sagen: heute darfst du dies thun und jenes mußt du unterlassen. Daraus erhellt aber, daß eine solche Behandlung sich nicht gut im Privatleben durchführen läßt, sondern wenn irgend möglich in einer Heilanstalt geübt werden muß, in welcher der Arzt den Kranken stets unter den Augen hat und in jedem Augenblick ihm beispringen, ihn belehren kann, in einer Heilanstalt, welche selbstverständlich so gelegen und eingerichtet ist, daß die Hauptbedingung, die reine Luft, dem Kranken in ausgiebigstem Maße geboten wird.

In solchen Heilanstalten für Lungenkranke, als deren Vorkämpfer Dr. H. Brehmer in Görbersdorf in Schlesien in dankbarem Andenken zu bewahren ist, wurden auch die schönsten Erfolge erzielt und der falsche Glaube gestürzt, daß die Lungenschwindsucht unheilbar sei. Aus diesen Anstalten kamen Berichte von sicher erzielten Heilungen und sehr wesentlichen Besserungen. Selbst in schwereren Fällen, in welchen die Krankheit schon schlimme Verwüstungen angerichtet hatte, konnte noch ein Stillstand für eine Reihe von Jahren erzielt werden. Und dieser Stillstand bildete nicht etwa nur eine einfache Verlängerung der Lebensdauer unter den

[169]

Waldhüters Töchterlein.
Nach einem Gemälde von R. Beyschlag.

[170] alten qualvollen Leiden, nicht etwa nur ein Hinausschieben des Todes auf dem Siechenlager, sondern dieser Stillstand war derart, daß die Halbgenesenen noch eine Reihe von Jahren arbeitsfreudig ihrem Berufe nachgehen, des Lebens Freuden mit weisem Maße genießen konnten.

Das war ein herrlicher Triumph der ärztlichen Kunst, der auf deutschem Boden, in der würzigen Luft des deutschen Waldes erstritten wurde!

Kein Wunder, daß Anstalten für Lungenkranke an geeigneten Orten in immer wachsender Zahl gegründet wurden! Mit froher Hoffnung konnten Tausende in ihnen Unterkunft, Rettung und Heil finden. Aber dieser Wohlthat waren nur die Bemittelten theilhaftig; denn die Erhaltung einer solchen Anstalt kostet Geld, und so sind auch die Kurkosten nicht unerheblich. Aber die Lungenschwindsucht lst eine Volksseuche; in allen Ständen wüthet sie, rafft Reich und Arm dahin! Wie vermochten die Unhemittelten von diesen neuen Errungenschaften der Heilkunde Nutzen zu ziehen! Wohl konnten da und dort, dank den Stiftungen mildthätiger Menschenfreunde, einige wenige Kranke zu ermäßigten Preisen oder unentgeltlich aufgenommen werden, aher der Hauptmasse blieben die Thore der Heilanstalten verschlossen. Sie werden krank und siechen dahin. Der Arzt kann ihnen nur Linderungsmittel verschaffen; in der Todesangst nehmen sie ihre letzten ersparten Groschen und kaufen die Geheimmittel, welche pomphaft gegen die Lungenschwindsucht von der nichtswürdigen Sorte moderner Charlatane angepriesen werden, aher keine heilenden Eigenschaften besitzen. Die Arbeitskraft der Kranken erlahmt, der Verdienst bleibt aus; Elend und Jammer halten ihren Einzng in den Familien, bis der Tod nach qualvollem Leiden die Aermsten erlöst; denn wie soll die Schwindsucht in der rußigen Großstadt, in dem dumpfen Moder der Kellerwohnungen bei der ungenügenden Nahrung heilen? Sie muß zum tödlichen Ausgang führen, sicher ist sie unter solchen Umständen unheilbar, und ihre dahinsterbenden Opfer säen unter der verwahrlosten Pflege die Keime der Tuberkulose in ihren elenden Wohnstätten aus.

Kann man dieses Elend lindern? Schon vor einer Reihe von Jahren traten Menschenfreunde mit dem Vorschlag hervor, besondere Anstalten für unbemittelte Lungenkranke zu gründen. Im Jahre 1882 veröffentlichte Dr. Driver, Leiter der Heilanstalt in Reiboldsgrün, in der „Gartenlaube“ einen Artikel, in dem er warm für die Errichtung von „Volkssanatorien“ für Brustkranke eintrat. Damals aber flossen die milden Gaben nur spärlich und es konnten mit ihrem Ertrage nur einige wenige Freistellen für unbemittelte Kranke gestiftet werden. Man war zu jener Zeit in weiteren Kreisen noch nicht so voll und ganz von der Brauchbarkeit der neuen hygieinisch-diätetischen Heilmethode überzeugt. Aber der gute Gedanke drang durch. England gründete an seinen Südküsten einige solche Anstalten, und nachdem in Deutschland die Hoffnungen auf das Tuberkulin sich als unzutreffend erwiesen hatten, erwog man auch bei uns ernster die Tragweite einer solchen zweckmäßigen Bekämpfung der Lungenschwindsucht. Noch einmal ergriff Dr. Driver in der „Gartenlande“ (1890, Nr. 34) das Wort und stützte die gute Sache durch eine Reihe von gewichklgen Zeugnissen hervorragender Aerzte.

Und endlich – am 15. August vorigen Jahres – wurde die erste deutsche Heilstätte für unbemittelte Brustkranke in Falkenstein im Taunus errichtet, von der unser Bild auf Seite 165 eine Anschauung giebt. Angeregt durch die ergreifenden Schilderungen von dem traurigen Schicksal dieser Leidensopfer, beschloß der Frankfurter Verein für Genesungsanstalten auch eine Heilstätte für Brustkranke zu begründen. Ein kleines Anlagekapital wurde zusammengebracht; man schloß mit 15 Ortskranken- und Gewerbekassen sowie mit Hospitälern Verträge ab, laut welchen jedem von denselben eingewiesenen Lungenkranken gegen ein Entgelt von 2 Mark für den Tag die Wohlthat der Aufnahme in die geplante Heilstätte uneingeschränkt zutheil werden sollte. Inzwischen war eine kleine Anstalt bei Falkenstein, welche in früheren Jahren zur Aufnahme strenggläubiger Israeliten gedient hatte, unter Vorkaufsrecht gemiethet, den besonderen Zwecken entsprechend für 25 Kranke aufs beste in den Stand gesetzt, eine nach Süden offene Liegehalle erbaut und mit bequemen Liegesesseln versehen worden, was alles mit einem Kostenaufwand von etwa 12000 Mark bestritten werden konnte. Die kleine Heilstätte, die unter dem Protektorat der Kaiserin Friedrich steht, liegt unmittelbar am Walde, hat einen schattigen Garten mit zahlreichen Sitzplätzen, ein ausgedehntes Vorgelände von herrlichen Obstbäumen und Wiesen und eine geradezu entzückende Fernsicht über Cronberg, Frankfurt und die Mainebene nach dem Spessart und dem Odenwalde. Das Gebäude ist nur 7 Minuten von der Heilanstalt Prof Dr. Dettweilers in Falkenstein entfernt, und der Leiter derselben hat in dankenswerther Weise die Behandlung der unbemittelten Kranken übernommen. Die neue Heilstätte ist mit der großen Anstalt telephonisch verbunden und wird abwechselnd von Prof. Dr. Dettweller, Dr. Engelbrecht, der in ihr als Hausarzt fungiert, und Dr. Heß besucht, während die Viktoriaschwester Gabriele als Pflegerin und Vorsteherin des Hauswesens wirkt.

So genießen die Unbemittelten die Vortheile der Falkensteiner Heilmethode im vollsten Maße. Sie verbringen den Tag unter steter Aussicht der Schwester, in der vorgeschriebenen Weise, methodisch gehend, steigend, spielend, lesend, zum Theil in leichter Beschäftigung wie Kerbschnitzen etc., besonders aber von früh bis zum Schlafengehen in der offenen Halle ruhend. Dies alles im Verein mit einer reichlichen, schmackhaften, die Milch bevorzugenden Verpflegung hat dis jetzt höchst erfreuliche Erfolge gebracht. Und wie heiter sind die früher so Bedrängten geworden, wie dankbar für die brüderliche Hilfe! In der Behandlung des mit Ansteckungskeimen behafteten Auswurfes sind sie so musterhaft reinlich, daß viele Leidensgenossen aus den reicheren Gesellschaftsschichten sich an ihnen geradezu ein Beispiel nehmen könnten.

In dieser Hinsicht stiftet die Hellstätte noch einen besonderen Nutzen. Die Leidenden werden in ihr nicht nur geheilt, sondern auch in den Grundsätzen der Hygieine unterrichtet, sie lernen durch sorgfältige Behandlung des Auswurfs der Verbreitung der Tuberkulose entgegenwirken, und so verlassen sie die Anstalt auch als Bekenner und Verbreiter richtiger Grundsätze.

Wir verweilen so lange bei dieser kleinen Heilstätte, denn sie ist der erste Stein zu einem köstlichen Baue der Nächstenliebe, der in den nächsten Jahren ausgefuhrt werden muß. 25 Brustkranke segnen heute die Wohlthat, die ihnen zutheil geworden ist, aber im deutschen Vaterlande dulden noch unendlich viele, der Hilfe harrend. Es regt sich auch in Deutschland. Berlin hat in Malchow eine Versuchsheilstätte errichtet, in anderen Städten entwirft man Pläne. Aber auch der zaghafte Kleinmuth macht sich geltend. Als unheilhar, als ein unvermeidliches Uebel wurde früher die Lungenschwindsucht geduldig ertragen; jetzt, da ein Weg zu ihrer Bekämpfung gefunden wurde, sagen die Kleinherzigen, die Größe des Elends sei so groß, daß man unmöglich allen Bedürftigen Hilfe werde bringen können. Es ist wahr, die Verpflegung der Brustkranken in der Heilstätte kostet Geld, und Prof. Dr. Dettweiler berechnet die tägliche Ausgabe auf 2,15 bis 2,50 Mark für den Kranken. Aber man muß bedenken, daß auch heute diese unbemittelten oder wenig bemittelten Brustkranken Ausgaben verursachen; sie werden doch ernährt und verpflegt, sie fallen den Kranken- und Siechenhäusern zur Last; die Ortskrankenkassen geben auch für sie viel, sehr viel aus, und schließlich – werden nicht alljährlich Millionen für sogenannte Heilmittel gegen die Schwindsucht, für werthlose Säfte und Kräuter, aus den Taschen des Volkes gelockt? Diese Summen, welche die Tuberkulose schon heute fordert, müssen wohl in Betracht gezogen werden! Zusammengefaßt und in der richtigen Weise verwendet, könnten sie noch manche Anstalt wie die Falkensteiner ins Leben einführen und überall reichen Segen stiften.

Wir haben also keinen Grund, zu zagen und durch die Größe der Arbeit, die da bevorsteht, in kleinmüthiges Wanken zu gerathen. Im Gegentheil, gerade aus Rücksichten auf den Wohlstand des Volkes müssen wir die Arbeit zu fördern suchen; denn die Ausgaben der Gesamtheit erscheinen geringfügig im Vergleich zu dem Gewinn, den uns solche Heilstätten verheißen! Gewinn an Arbeitskraft in den schweren Tagen des Kampfes ums Dasein, Gewinn an Männerkraft in Zeiten der Gefahr, Gewinn an Zufriedenheit, Dank und Liebe in der Zeit, da Neid und Haß am Herzen des Volkes fressen! Darum möge die kleine Heilstätte im Taunus hinausleuchten in die deutschen Gaue und an alle, denen ein menschenfreundliches warmes Herz in der Brust schlägt, die eindringliche Mahnung richten:

„Thuet desgleichen!“




Weltverbesserer.

Von Dr. J. O. Holsch.
III.
Thomas Morus und die „Utopia“.
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Als Thomas More, der Sohn eines Richters, im Jahre 1478 zu London das Licht der Welt erblickte, da rang die jetzige Welthandelsstadt mit der noch mächtigen Hansa um ihre Existenz. Im Hause des gelehrten und staatsmännisch bedeutenden Kardinals Morton erhielt der junge Engländer eine vorzügliche humanistische Bildung, wurde Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt, von der er, kaum 26jährig, unter Heinrich VII. in das Parlament entsandt ward. In welcher Weise er für das Wohl seiner Mitbürger eintrat, erschließen wir aus der glaubhaften Anekdote, daß ein Vertreter des Königs diesem die Ablehnung einer neuen Zehentauflage mit den Worten meldete, ein bartloser Knabe habe den Wunsch des Königs vereitelt. Zu verschiedenen wichtigen Aufträgen, namentlich handelspolitischer Natur, durch das Vertrauen der Londoner Kaufherren berufen, stieg er im öffentlichen Ansehen immer höher und wurde, als er nach langem inneren Widerstreben in den Staats- – damals Königs- – dienst trat, bald Lord Chancellor, englischer „Reichskanzler“. Da er sich aber weigerte, die Ehe des berüchtigten Königs Heinrichs VIII. mit Anna Boleyn als gesetzlich anzuerkennen, wurde er, den Gepflogenheiten der damaligen unumschränkten Monarchie entsprechend, wegen Hochverraths zum Tode in der entsetzlichsten Form verurtheilt, „zur Enthauptung begnadigt“ und am 6. Juli 1535 im Tower hingerichtet.

Dieser Mann, der auf der einen Seite mit den hervorragendsten Humanisten seiner Zeit, z. B. mit Erasmus von Rotterdam, aufs [171] innigste verbunden war und mit ihnen an Kenntniß des klassischen Alterthums wetteiferte, der aber gleichzeitig in stetem unmittelbaren Verkehr mit den Bedürfnissen des Handels und des gewöhnlichen täglichen Lebens stand und auch in die bewegenden Kräfte der politischen Vorgänge den tiefsten Einblick hatte – dieser Mann mußte nothwendig in seinem Innern in schärfster Weise den tiefen Zwiespalt fühlen, der das damalige äußere und innere Leben Englands zerriß; als geistvoller Schriftsteller, als Philosoph und Schüler Platos, als Kind des Zeitalters der Entdeckungen, als vorsichtiger Politiker kleidete er all seine Kritik, all seine Gedanken, seine Wünsche und Hoffnungen ein in ein Zwiegespräch, in welchem er einen fremden Reisenden das über die englische Nation und über das Ideal eines nationalen Staates überhaupt sagen läßt, was er zu sagen hat, ein Zwiegespräch, bei dem man nicht weiß, ob man das liebenswürdige Erzählertalent oder die satirischen Beziehungen auf die damaligen Zustände des königlicheu Absolutismus oder die Fülle der Gedanken mehr bewundern soll.

Versenken wir uns in den Inhalt dieses Werkes.

In einfachen, harmlosen Worten erzählt zunächst Thomas selbst, wie er als diplomatischer Unterhändler seines Königs nach Brügge in Flandern kommt, um mit Vertretern des späteren Kaisers Karl V. Verhandlungen zu führen. Bei dieser Gelegenheit macht er von dort einen Ausflug nach Antwerpen und wird daselbst durch seinen Freund Peter Giles mit dem portugiesischen Seefahrer Rafael Hythlodäus bekannt, einem der 24 einst von Amerigo Vespucci auf dem neuen Welttheil Zurückgelassenen. Thomas More ladet diesen merkwürdigen Mann zum Essen ein, und bei der Tafel entwickelt sich im vertrauten Kreise dreier Freunde eine lebhafte Unterhaltung. Hundert Fragen stürmen auf den weitgereisten, hochgebildeten Rafael ein, der es verstanden hat, auf seinen Reisen mit bewunderungswürdigem Scharfsinn zu beobachten. Die Fragen entspringen aber nicht oberflächlicher Neugier nach Aeußerlichkeiten, sie richten sich vielmehr vorzugsweise auf die gesellschaftlichen Einrichtungen und Sitten der Völker, welche Rafael Hythlodäus kennengelernt hat. „Zufällig“ stellt sich heraus, daß er früher auch einmal auf der Insel England gewesen ist und daß er dort bei dem Kardinalerzbischof von Canterbury, dem Kanzler von England Jean Morton, dem Gönner des Thomas, einen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse des damaligen England erhalten hat. In sehr drastischer Weise berichtet der freimüthige Portugiese, wie damals bei der Tafel ein Schwätzer die englische Justiz gerühmt habe, weil sie die Diebe hänge, während derselbe gleichzeitig habe zugeben müssen, daß trotz dieser entsetzlichen Strafe für Eigenthumsvergehen sich die Diebstähle vermehrten. Hythlodäus zwang damals die Anwesenden, auf die wirklichen Ursachen der Zunahme der Diebstähle und des Landstreicherthums, auf die Scheidung der Bevölkerung in Arbeitende, Nützliches Erzeugende und in drohnenartige „Herren“ und „Gefolge“ sowie auf die rücksichtslose Ausbeutung des Bodens durch die lediglich nach Geldgewinn gierigen Wollproduzenten zurückzugehen, wobei er mit unverkennbarem Hohne durchblicken ließ, daß die Tischgesellschaft immer erst dann einer Sache Beifall zollte, wenn der mächtige Kirchenfürst sie durch Wort oder Miene bestätigt hatte. Rücksichtslos werden die Triebfedern der damaligen Fürsten bloßgelegt, und ausdrücklich erklärt Rafael, seine innerste Ueberzeugung sei nach allen Erfahrungen, die er gemacht, die: überall, wo das Eigenthumsrecht herrsche, wo man alles mit Geld messe, werde von Billigkeit und gesellschaftlichem Wohlbefinden nie die Rede sein können; das einzige Mittel, die Güter mit Gleichheit und Billigkeit zu vertheilen und das Glück des menschlichen Geschlechts zu begründen, bestehe in der Aufhebung des Eigenthumsrechts. Solange dieses die Grundlage des gesellschaftlichen Gebäudes bilde, werden der zahlreichsten und schätzenswerthesten Klasse nur Mangel, Kummer und Verzweiflung zutheil werden. More, welcher bei der Debatte scheinbar als skeptischer Gegner des begeisterten Rafael auftritt, wendet ein, in einem derartigen Staate würde kein Mensch mehr arbeiten wollen, Anarchie und allgemeine Unzufriedenheit würden die unmittelbaren Folgen sein – allein es wird ihm erwidert: „Ihre Ansicht befremdet mich keineswegs; wären Sie aber in Utopien gewesen, hätten Sie das Schauspiel der Einrichtungen jenes Landes gesehen wie ich, der ich dort fünf Jahre meines Lebens zubrachte und es zu verlaffen mich nur entschließen konnte, um den Blick der alten Welt auf diese neue zu richten: Sie würden gestehen, daß es ‚nirgend anderswo‘ eine vollkommener organisierte Gesellschaft giebt.“ Und nun muß Hythlodäus nach kurzer Rast eine genaue Beschreibung der Phantasie-Insel Utopia und ihrer Bewohner geben.

Utopia, genannt nach dem genialen Gesetzgeber und Eroberer Utopus, liegt auf der südlichen Halbkugel der Erde, dicht bei dem „neuen Kontinent“, mit dem sie als Halbinsel früher zusammenhing. Utopus ließ vor 1760 Jahren, also etwa 250 vor Christus die 15000 Schritte breite Landzunge abgraben, so daß eine größere mondsichelförmige Insel mit geräumigem wohlgeschützten Hafen entstand, auf der 54 Städte liegen, alle gleichartig gebaut und je etwa eine Tagereise voneinander entfernt; die Hauptstadt, Amaurotum genannt, in der Mitte des Gebietes, an schiffbarem Flusse in Verbindung mit der See gelegen, wird genau beschrieben. Auf dem Lande liegen zerstreut, aber planmäßig vertheilt, Meierhöfe, je von einer sogenannten Familie, bestehend aus 20 Männern und 20 Frauen nebst 2 Sklaven, bewohnt und bebaut. Jede Familie untersteht einem „Vater“ und einer „Mutter“, und je 30 Familien haben einen „Philarchen“, d. h. Wirthschaftsdirektor, unter sich. Jährlich wird die Hälfte der Landbewohner durch Städter ersetzt, damit jeder Utopier die Landwirthschaft verstehen und üben lerne. Die Erzeugnisse des Landes werden in die Magazine der Stadt abgeführt, von wo die Landbewohner ihrerseits die Erzeugnisse der gewerblichen und sonstigen Arbeit der Städter beziehen.

Die politische Verfassung ist ein auf völlig demokratischer Grundlage sich erhebendes Wahlkönigthum. Der Fürst ist lebenslänglich; die anderen Obrigkeiten werden jährlich gewählt, in wichtigen Fragen wird auf Volksabstimmungen zurückgegriffen.

Besonders anschaulich ist die Schilderung der Arbeit und des geselligen Lebens in Utopien. Die Landwirthschaft hat wie gesagt jeder Angehörige Utopiens ohne Ausnahme theoretisch wie praktisch zu erlernen; außerdem aber noch einen besonderen Beruf, je nach Geschicklichkeit und Wunsch. Sechs Stunden, drei vor- und drei nachmittags, werden auf materielle Arbeit verwendet, neun Stunden wird geschlafen. Großartige Speisesäle, Musikaufführungen, Spiele etc. verbinden die Bewohner tagtäglich. Da auch die Frauen durchweg in den ihnen angemessenen Berufen thätig sind, und Tagediebe, wie solche in den europäischen Staaten sich zahlreich finden, nicht geduldet werden, so genügt die sechsstündige Arbeit vollauf, zumal alles planmäßig geordnet ist, keinerlei unnöthige Luxuswaren erzeugt und Kleider beispielsweise so einfach, gut und dauerhaft hergestellt werden, daß sie sieben Jahre halten. Ist die Arbeit besonders ergiebig, so kann die Regierung durch einfaches Dekret sogar noch eine größere Verkürzung der Arbeitsdauer eintreten lassen. Der Zweck aller sozialen Einrichtungen in Utopien ist also der, „zuerst dem öffentlichen und individuellen Verbrauche seine Bedürfnisse zu sichern, dann aber jedem soviel wie möglich Zeit zu lassen, um sich der Knechtschaft des Leibs zu entledigen, seinen Geist frei auszubilden. Nur in dieser vollständigen Entwicklung finden sie (die Utopier) wahres Glück.“

Das gesellige Zusammenleben ist auf die erweiterte Familie gegründet; jede erwachsene Jungfrau von 18 Jahren und mehr erhält nach Wahl einen Gatten von 22 oder mehr Jahren; überzählige treten in unterzählige Familien über; wird die Landesbevölkerung zu groß, so greift ein Auswanderungsdekret ein, es werden Kolonien gegründet. Der Familienvater, dem Weib und Kinder gehorchen, holt auf dem Markte seines Stadtviertels alle Bedürfnisse für die Seinen, ohne Geld zu brauchen, lediglich auf seine Person hin. Wer irgendwie kann, nimmt jedoch an den öffentlichen Mahlzeiten theil, bei denen Alt und Jung, Mann und Frau nach Rafaels Urtheil planvoll und reizvoll gemischt sitzen, plaudern und zuhören. Für Kranke liegen vor der Stadt gut eingerichtete Spitäler; auch die Schlachthäuser liegen vor der Stadt, in ihnen arbeiten nur Sklaven, da das Metzgerhandwerk den Utopiern nicht zusagt. Diejenigen, welche eine Reise machen wollen, lassen sich Pässe geben, arbeiten, wo sie hinkommen, in ihrem Berufe, da der ganze Staat nur eine Verwaltung hat. Geld wird nicht gebraucht. Gold und Geschmeide dienen nur den Unmündigen zum Spiel und den Sklaven als Sinnbilder der Erniedrigung. Die Halsketten der Sklaven prangen wie die Nachtgeschirre in purem Golde. Um das schroffe Verhalten der Utopier schmuckstrotzenden „hohen [172] Herren“ gegenüber recht deutlich zu kennzeichnen, flicht Rafael die Anekdote ein, wie ein fremder Gesandter den seiner Meinung nach armen Utopiern durch Pomp imponieren will. „Sieh doch diesen großen Schelm,“ sagt ein Junge zu seiner Mutter, „der noch Juwelen trägt, wie wenn er ganz klein wäre!“ – „Schweig’, mein Sohn,“ antwortet die Mutter. „er ist, denk’ ich, einer von den Spaßmachern der Gesandtschaft.“

Jagd und Hazardspiel sind verachtet; erstere ist nur den Metzgern erlaubt und gilt für eine unwürdige Thätigkeit. Zu Sklaven nimmt man diejenigen, welche als Feinde mit Waffen in der Hand gefangen genommen worden sind, Ausländer, die, auswärts zum Tode verurtheilt, von den Utopiern losgekauft wurden und – solche Utopier welche schwere Verbrechen begangen haben: letztere werden am niedrigsten geachtet. Die Zahl der Gesetze ist sehr gering und die gewöhnliche Strafe ist Sklaverei, kommt aber nicht sehr häufig vor. Advokaten giebt es nicht, und da der Richter lediglich nach seiner persönlichen Vertrauenswürdigkeit gewählt wird, so fallen die Urtheile gewöhnlich ganz gerecht aus; in den meisten Fällen genügen Verwarnungen völlig. Streng wird auf Sittlichkeit geachtet; die Verlobten prüfen sich vor der Ehe gegenseitig genau; Ehescheidung ist möglich, aber schwer; auf Ehebruch jedoch steht Sklaverei.

Verträge mit fremden Völkern werden nicht abgeschlossen, da dieselben nach Erfahrung der Utopier doch nicht gehalten werden. Ein besonderer Greuel ist dem Volke der Krieg, obwohl es sich, Mann wie Weib, in den Waffen übt. Mit allen Mitteln, z. B. durch Bestechung der Gegner mit Gold, suchen sie ihn zu verkürzen oder wenigstens durch fremde Söldlinge ihn zu führen. Diese Abneigung gegen den Krieg hängt zusammen mit der ganzen Weltanschauung der Utopier und ihrer religiösen Grundstimmung.

Dieselbe ist auf eine ruhige und bewußte Freude am Leben gerichtet; alle Handlungen, sogar die Tugenden, werden auf die Freude des Menschen als ihren Endzweck bezogen. Der größte Theil der Einwohner glaubt an einen einzigen, ewigen, unermeßlichen, unbekannten, unerklärlichen, erhabenen Gott, den sie „Vater“, „Mythra“, nennen und dem sie alles Gute zuschreiben. Die Seele des Menschen hat Gott als unsterbliche geschaffen, damit sie glücklich sei. Neben dieser Grundanschauung und auf ihr aufgebaut gehen vielerlei eigenartige Sekten und besondere Kulte einher, die aber alle durch gemeinsame Züge verbunden sind und zum gemeinsamen Ziele Verehrung der göttlichen Natur haben. Völlige Religionsfreiheit herrscht auf Utopia, nur der eigentliche „Materialist“ wird verachtet und gestraft, weil seine Anschauung den Menschen erniedrige, der „Spiritualist“, sein Gegenbild, wird nur als Schwärmer angesehen. Die Priester sind Männer von hervorragender Frömmigkeit; sie genießen ein großes Ansehen, üben ein gewisses Censorenamt aus und leiten das öffentliche Erziehungswesen; auch Frauen gehören diesem Stande an. Der öffentliche Kultus ähnelt nach Rafaels Beschreibung durchaus dem katholischen Ritus. Gemeinsame weihevolle Feste verbinden bei erhebendem Gesang die Bürger der Insel und flößen ihnen das tröstliche Gefühl der gemeinsamen Liebe und der steten Zusammengehörigkeit ein.

In scharfen Worten stellt am Schlusse der Erzähler diesem Bilde wunderbaren Volkswohles dasjenige der damals in der alten Welt herrschenden Zustände noch kurz entgegen: der Stolz, die Leidenschaft, die Selbstsucht setze der Umwandlung der europäischen Völker einen unüberwindlichen Widerstand entgegen! Rafael wünscht von Herzensgrund allen Ländern eine Verfassung wie die, welche er geschildert hat; auch More, obwohl er gesteht, daß die Grundlage dieses Staates; nämlich die Gemeinschaft des Lebens und der Güter ohne den Gebrauch des Geldes, allen seinen Vorstellungen widerspreche, ersehnt eine Reihe der geschilderten Einrichtungen für sein Vaterland, läßt aber einen Tropfen bitteren Zweifels in diese Sehnsucht sich mischen, indem er mit den Worten schließt: „Ich wünsche es mehr, als ich es hoffe.“

Auch heute noch wird niemand das in jeder Beziehung gedankenreiche Werk des Kanzlers More lesen, ohne sich davon angezogen zu fühlen. Welch eine Gluth der Menschenliebe, welch eine Verachtung des Niederen am Menschen spricht aus diesen Schilderungen! Warum sollten wir auch nicht für diesen Mann Theilnahme gewinnen, von dem wir wissen, daß er in ruhiger Fassung, ein Scherzwort auf den Lippen, sein Haupt unter das Fallbeil legte, weil er nicht gesonnen war, sich der unwürdigen Laune eines derjenigen Fürsten zu beugen, von denen er in seinem Werke so richtig sagt, daß sie, statt als treue Hunde die Herde der Schafe zu bewachen – selbst Wölfe seien!

Bei Plato hat es sich lediglich um die folgerichtige Durchführung einer Staatsidee gehandelt; bei den christlichen Chiliasten, die wir in unserem letzten Artikel besprochen haben, trat uns ein Bild rein inneren unfaßbaren Glücks entgegen. Hier bei dem großen Engländer treffen wir zum ersten Male auf den Gedanken, thatsächliche Verhältnisse zur Grundlage zu nehmen und auf ihnen weiterzubauen; wir stehen im Morgengrauen der neuen Zeit, an der Schwelle der Erfindungen und Entdeckungen, am Beginn der großen reformatorischen Bewegung der Geister.

Die Grundlage für Mores Utopie bilden nicht abstrakte Ideen oder bestimmte Glaubenssätze, sondern ganz konkrete und anschauliche Thatsachen: auf der einen Seite die wirthschaftlichen Zustände Englands, auf der anderen die Reiseschilderungen der Seefahrer, die aus den Landen der Entdeckungen heimkehrten. Die Stelle, da das Land der Glücklichen zu suchen ist, liegt hier nicht „jenseits“ im Sinne der Propheten des Alten Testaments und der christlichen Dogmatiker, sie liegt nur „jenseits“ in geographischem Sinn – nicht in der „anderen“, unzugänglichen Welt, sondern nur auf der „anderen“ zugänglichen Halbkugel!

Es ist Thatsache, daß eine Menge kleiner Züge, welche sich in den Erzählungen des Rafael vorfinden, wirklich mit Reisebeschreibungen aus der Zeit der Entdeckungen übereinstimmt. Nichts von den Lebensgewohnheiten und Einrichtungen der Utopier trägt den Charakter des eigentlich Wunderbaren, des Unbegreiflichen; kein einziger Zug ist vorhanden, welcher nicht entsprechenden Eigenschaften des damaligen Menschen entlehnt werden konnte. Das Höchste, was sich der Utopist nach dieser Richtung hin gestattet, sind künstliche Brutanstalten für Geflügel, die allerdings auch heutzutage noch drüben im neuen Erdtheil weit großartiger zu sein scheinen als bei uns in Europa. In diesem Maßhalten der Phantasie, in dieser ruhigen Beherrschung des Gedankens liegt einer der einnehmendsten Vorzüge der Utopie. Diese ist so wenig eine bloße Nachbildung platonischer Gedanken, daß vielmehr ganze Abschnitte, so die Schilderung der Wollproduktion, der politischen und dynastischen Machinationen, des Adels etc., vollkommen treue Schilderungen der damaligen englischen Zustände genannt werden müssen. Gerade dies ist so überraschend in der Anlage, daß es unmöglich übersehen werden könnte, auch wenn man den wichtigen und überaus charakteristischen Brief nicht hätte, welchen Erasmus von Rotterdam, der berühmte Humanist, im Jahre 1519 an Ulrich von Hutten schrieb, den berühmten Ritter, der vor Sehnsucht brannte, More kennenzulernen. Dort heißt es: „Die Utopia verfaßte er (More) mit der Absicht, zu zeigen, worin es liege, daß die Staaten in schlechtem Zustand seien, namentlich aber hatte er bei seiner Darstellung England vor Augen, das er gründlich durchforscht und kennengelernt hat.“ Die Wirkung, insbesondere nach der kritischen Seite hin, war denn auch, obwohl das Werk lateinisch geschrieben ist, eine ungeheure; es wurde in fast alle Sprachen übersetzt, und es liegen Zeugnisse vor, welche seinen Eindruck auf die Geister wiederspiegeln, derart, daß viele an das wirkliche Vorhandensein der neuen Insel Utopia glaubten und daher das Verdienst des More mit dem Hinweis darauf zu verkleinern suchten, daß er ja nur eine Beschreibung der Dinge geliefert habe.

Wer die Utopia von More für einen Scherz, für eine nicht ernst gemeinte Sprachübung hält, oder auch, wer meint, More habe selbst nicht an den Inhalt „geglaubt“, der täuscht sich und versteht nicht, in dem großen Werke den Geist des großen Mannes zu lesen.

Allerdings – der kritische Zweck steht im Vordergrund: wer die Verflechtung der Geschicke des unglücklichen Kanzlers mit dem Leben des Wüterichs Heinrich VIII. kennt und weiß, daß damals die Fürsten, wie dies auch in der Utopie hervortritt, oft sowohl thatsächlich als der gemeinsamen Anschauung nach die Quellen des Guten wie des Bösen waren, das den Völkern zutheil wurde, der wird herausfühlen, daß solch eine Gegenüberstellung von Volkswohl und Tyrannenherrschaft einen denkenden Fürsten erschüttern sollte und erschüttern konnte. Die Utopia hat auch wirklich nach dieser Seite gewirkt, wenn auch nicht auf den [173] Fürsten, welchen sie zunächst anging, und sie wollte, ähnlich wie des Erasmus „Anleitung für den christlichen Fürsten“, ähnlich wie der „Fürst“ Macchiavellis, den Königen und insbesondere dem Könige zeigen, wie ein Volk regiert werden müsse, um zufrieden und glücklich zu sein. Aber neben dieser sogar bis auf die Beibehaltung der Inselgestalt und andere Einzelheiten sich erstreckenden kritischen Absicht, in welcher More dem englischen Zerrbild auf der nördlichen Halbkugel das Idealbild auf der südlichen gegenüberstellt, läuft noch eine bestimmte eigene Ueberzeugung her.

Ein sozialdemokratischer neuerer Darsteller der Utopie hat dieses Eigene, was an dem Werke ist, damit ausgedrückt, daß er More den Vater des „utopistischen Sozialismus“ nennt. Und zwar sei dieser Sozialismus utopistisch weniger wegen der Unerreichbarkeit der Ziele als wegen der Unzulänglichkeit der Mittel, die More zu deren Erreichung zu Gebote stehen oder die er anwenden wolle.

An der Kirchenpforte.
Nach einem Gemälde von H. Raff.

More ist, wie namentlich die Schlußbemerkung zeigt, die er selbst auf die Rafaelschen Erzählungen hin macht, bewußter wirthschaftlicher Kommunist ohne jegliche Einschränkung. Aber wie sein „Utopus“ es ist, der als kraftvoller, genialer Mensch und Eroberer die Landzunge durchsticht und das glückliche Land schafft, so denkt sich der große Kanzler Londons – und hierin ist er mit seinem Lehrer Platon einig – auch die kommende Verwirklichung des utopistischen Volksglückes von oben herab nach unten ins Leben tretend, wenn es überhaupt verwirklicht werden könne. Nimmermehr kann man also bei Morus das finden oder aus ihm herauslesen, was das innerste Wesen der modernen sozialdemokratischen Partei bildet, nämlich den Grundsatz der internationalen Verbrüderung und Organisation der Massen „von unten herauf“, noch weniger den einer schrankenlosen Volksherrschaft. Thomas More kennt nicht bloß einen König auf Lebenszeit für seine Utopier, er läßt auch von Sklaven auf Utopia erzählen, die vordem freie Bürger waren! –

Die „Utopia“ ist das Urbild für Dutzende späterer derartiger Werke geworden, die wir hier nicht aufzählen wollen, da sie alle mehr oder weniger hinter ihrem Vorbilde zurückbleiben. Mit Mores Werk treten wir ein in diejenige Periode, in der die wirthschaftlich ausgemalten Staatsromane mehr und mehr mit dem Sinn für Wirklichkeit zu rechnen anfangen und wo auch das Streben nach einer planmäßigen Verwirklichung der ausgedachten und ausgesprochenen Ziele sich zu zeigen beginnt.

Man kann von jetzt ab unterscheiden zwischen großangelegten, in allgemeinen Zügen gehaltenen Entwürfen von Staaten, Reichen etc. und zwischen kleineren, ja ganz kleinen praktischen Versuchen. Die letzteren namentlich sind deshalb von hervorragender Wichtigkeit, weil ihre Geschichte die Lehrmeisterin für die Beurtheilung der Theorien der Gegenwart sein kann, ja sein muß.




[174]

Elsa.“

Eine Ehestandstragödie in Briefen. Von Ernst Wichert.
(2. Fortsetzung.)


11.

Das wird aber doch zu toll! Heute sprach Frau Hermia – ich möchte wissen, ob sie wirklich auf diesen Namen getauft ist oder ob sie sich ihn ursprünglich für ihre Künstlerlaufbahn beigelegt hat – also heute sprach Frau Hermia wieder bei uns vor, diesmal, um nach Edwin zu fragen. Den Wagen ließ sie draußen warten, obgleich offenbar nicht ein Dreiminutenbesuch beabsichtigt war; jeder, der vorbeiging, wußte nun doch, wer sich im Hause befand. Mein Mann war nicht sofort zu sprechen, und so erfuhr ich denn, da sich kein anderer Stoff zur Unterhaltung bot, brockenweise, was im Werke sei.

Die Gnädige beschäftigt sich seit ihrem Geburtstag mit dem Plane einer großartigen Wohlthätigkeitsveranstaltung, von der ein paar Wochen lang die ganze Stadt sprechen soll. „Es muß wirklich etwas Großartiges werden,“ versicherte sie immer wieder. „Selbstverständlich ist nicht die Unterstützung von armen Leuten in der Nähe in Frage – mein Himmel! Armuth giebt’s überall und wird’s stets überall geben, das liegt so in der göttlichen Weltordnung! Brand, Hagelschlag, Ueberschwemmung, schlagende Wetter im Bergwerk – nun ja, man kann zugeben, daß da die Noth mitunter ungewöhnlich hoch steigt und wohlbegründet die öffentliche Wohlthätigkeit in Anspruch nimmt. Aber dergleichen Unglücke“ – die Gnädige selbst bildete diesen Plural – „sind schon so oft dagewesen, daß sie die erforderliche Zugkraft verloren haben; man sammelt da am besten im stillen oder schickt sein Scherflein an die Sammelstelle einer Zeitung ab. Für hungernde Weber und dergleichen Leute sich zu bemühen, die wahrscheinlich zu den unzufriedenen Staatsbürgerklassen gehören, kann sogar politisch bedenklich scheinen. Wir sind natürlich gut konservativ. Man braucht einen Zweck, der in die Augen fällt. Möglichst hoch oben! Er darf nicht abgenutzt sein. Die Gesellschaft muß sich dafür interessieren können. Wie wär’s ... Afrika ist jetzt in der Mode ... wenn man die christlichen Missionen dort mit reichlicheren Mitteln für ihr gottgefälliges Thun versorgte! Schulen für Negerkinder sind dringendstes Bedürfniß. Eine Suppenanstalt für befreite Sklaven wäre neu, darüber lassen sich Artikel schreiben – für den Ausschuß sind allerhand Spitzen zu gewinnen – der Aufruf trägt die glänzendsten Namen – bei der festlichen Veranstaltung selbst fehlt niemand, der zu den Gutgesinnten gerechnet sein will.“ Trara – trara!

Ich gönne gewiß den Negerkindern alles Glück, liebste Toni, und würde nichts einzuwenden haben, wenn in Timbuktu, oder wie das schwarze Ding heißt, eine Universität gegründet und auf dem Kilimandscharo eine Sternwarte errichtet würde. Aber diese Sorte von Wohlthätigkeit, die nur von sich reden machen will und auf die jämmerlichsten Beweggründe der lieben Mitmenschen spekuliert, ist mir von jeher ein Greuel gewesen. Ich bin überzeugt, daß Frau Hermia von Afrika noch weniger weiß als ich. Jedenfalls blamierte sie sich schon vor mir mit ihren in der Unterhaltung bei Tisch aufgelesenen Kenntnissen. Sie wurde nämlich auf diesen erhabenen Gedanken durch einen Geistlichen hingeleitet, der jetzt durch seine Predigten Aufsehen erregt, großen Zulauf aus den Kreisen der obersten Zehntausend hat und seit kurzem zu ihren Hausfreunden gehört. Er fehlte denn auch an ihrem Geburtstag nicht unter den Gästen und saß ihr zur Rechten. Er ist ein paar Jahre Missionär da um den Aequator herum gewesen und hat ihr Herz zu rühren verstanden. Was sie thut, thut sie, um sich seiner Freundschaft würdig zu erweisen. Wie dankbar wird man ihr sein!

Warum mich das so aufregt? Das will ich Dir sagen. Frau Hermia hat eine Idee, das heißt eine dunkle Vorstellung von irgend etwas, das zu dem bestimmten Zwecke gemacht werden und möglichst viel Geld einbringen soll. Aus tiefstem Nebel tauchen da lebende Bilder aus der biblischen Geschichte auf, in denen die schöne Frau mitstehen will, vermuthlich ein Fingerzeig des Herrn Pastors. Zu einem Programm fehlt noch alles. Und dazu braucht sie nun jemand, der die Arbeit übernimmt, die Idee faßbar macht, den Plan ausarbeitet, den Prolog und die Texte zu den lebenden Bildern dichtet, die passenden Musikstücke wählt, die Kostüme bestimmt, die weitläufige Korrespondenz mit Theaterdirektoren, Hoflieferanten, beleidigten Müttern und gekränkten Töchtern führt. Und dieser unentbehrliche, durch seine geistige Kraft alles ordnende, aber bescheiden im Schatten stehende Jemand soll – mein Mann sein. So hat sie sich’s ausgedacht und deshalb kam sie. Nicht einmal um zu bitten – Edwin sollte sich’s ja zu besonderer Ehre rechnen, bei solcher Gelegenheit mit den Dichtungen betraut und zum expedierenden Sekretär ernannt zu sein. Sie habe ihren Mann schon ersucht, ihm für einige Wochen die Redaktionspflichten nach Möglichkeit zu erleichtern, damit er sich ganz ihr widmen könne. Das Bureau solle in ihrem kleinen Salon eingerichtet werden, Edwin dort jede gewünschte Auskunft ertheilen. Vor allem müsse er es für seine Pflicht halten, sich mit der gesamten Schriftstellerwelt in Verbindung zu setzen, um sie durch geschickte Beeinflussung für die gute Sache zu erwärmen. Täglich müsse in allen Zeitungen von dem großen Ereigniß die Rede sein. Trara!

Das ging mir denn doch sehr empfindlich gegen den Strich. Ich fühlte, daß mir das Blut ins Gesicht strömte und die Finger nervös zuckten. Ich weiß nicht, ob Frau Hermia auf begeisterte Zustimmung gerechnet hatte – beschränkt genug ist sie dazu. Jedenfalls war sie sichtlich sehr unangenehm überrascht, als ich ihr frei heraus erklärte, nach meiner Meinung passe Edwin zu dem ihm zugedachten Amte gar nicht. Es kann sein, daß ich gesagt habe, er werde sich schwerlich dazu hergeben. Ich war eben innerlich entrüstet über die Zumuthung und fühlte das Bedürfniß, meinerseits sofort Stellung zu nehmen. Es sollte schleunigst ein Riegel vorgeschoben werden, auf den Edwin dann weisen könnte. Den Blick, mit dem sie mich strafte, werde ich nie vergessen. Aber er hinderte mich doch nicht, als Edwin eintrat und ihr die Hand küßte, sofort selbst das Wort zu ergreifen und bemerklich zu machen, daß ich der gnädigen Frau schon mein Bedauern ausgedrückt hätte, seine Fähigkeiten überschätzt zu haben. „Niemand ist zu solchen Arrangements ungeschickter als Du,“ sagte ich ihm auf den Kopf. Ich bemühte mich, einen scherzhaften Ton anzuschlagen, aber es mag mir wohl nicht sonderlich gelungen sein.

Jedenfalls wollte Frau Hermia „keine Ausrede gelten lassen“. Sie schien mich nur noch als Luft zu betrachten und sprach eifrig auf Edwin ein, nicht als ob sie nöthig gehabt hätte, seinen Beistand zu erbitten, sondern zu seiner näheren Information, den Beistand als selbstverständlich vorausgesetzt. Sie ergriff dabei wiederholt seine Hand und lächelte ihm mit beleidigender Vertraulichkeit zu. Die gemeinsame Beschäftigung mit diesen Dingen werde sehr amüsant werden, versicherte sie.

Und Edwin?

Edwin blieb ganz ruhig, hörte aufmerksam zu, nickte von Zeit zu Zeit wie zustimmend, verbeugte sich, wenn auf seine Mitwirkung die Rede kam, als ob ihm etwas Schmeichelhaftes gesagt würde, und bat zuletzt um eine kurze Bedenkzeit, sich’s erst einmal zurechtzulegen, was für Vorschläge er würde machen können. Er gebe nicht gern ein Versprechen, bevor er genau wisse, daß er’s auch werde halten können. Frau Hermia hatte dagegen nichts einzuwenden; sie schien ihrer Sache gewiß zu sein. „Denken Sie nur auf eine recht schöne Rolle für mich,“ sagte sie, sich verabschiedend. Ueber mich sah sie mit einem lächelnden Blick hinweg, der etwa bedeuten wollte: da siehst Du Närrin nun, daß Du Dich ganz umsonst ereifert hast.

Kaum hatte sie die Thür hinter sich geschlossen, als ich losbrach: „Das darfst Du Dir unter keinen Umstanden anthun Edwin!“

„Was?“ fragte er, als ob er mich gar nicht begriffe.

„Diese eitle Frau,“ rief ich, „will nicht nur Dein Talent mißbrauchen, sondern Dich auch zu Handlangerdiensten benutzen, die Deiner unwürdig sind.“

„Aber so lasse mir doch Zeit,“ bat er mit empörender Ruhe, „selbst zu prüfen und mit mir einig zu werden!“

„Als ob da noch zu prüfen, zu überlegen wäre! Das ganze Unternehmen –“ Ich schilderte es von meinem Standpunkt aus und trug etwas grelle Farben auf.

Er lachte. „Du magst ja in der Sache selbst recht haben,“ [175] meinte er, „und es kann ja sein, daß ich mich zu einer Ablehnung entschließe, für die sich dann wohl auch eine Form finden wird. Ich begreife nur nicht, weshalb Du gegen die gute Frau so aufgebracht bist. Es verstand sich doch ganz von selbst, daß sie sich zuerst an mich wendete. Und daß sie mir etwas so Empörendes zumuthet ...“ Er zuckte die Achseln.

Er zuckte die Achseln. Wie findest Du das? Kürzlich hatte ich ihn um ein kleines Gelegenheitsgedicht zum Geburtstag meiner Mutter gebeten. Ganz vergeblich. Er bringe dergleichen nie fertig. Und nun für die Negerkinder ...

Das hielt ich ihm vor. Er behauptete, das sei etwas ganz anderes. Dichtungen zu lebenden Bildern könnten einen selbständigen Charakter haben. Es käme auf den Gegenstand an. Und zu einem wohlthätigen Zwecke thue man manches, was man sich sonst vielleicht verdenken würde.

„Freilich, wenn die schöne Frau Hermia bittet –“ fiel ich ein.

Das war unvorsichtig, ich fühlte es sogleich. Aber es war nun einmal gesagt und mußte vertheidigt werden. Edwin wurde immer gereizter (ich auch) und endlich bemerkte er: „Du scheinst nicht merken zu wollen, wie persönlich Deine Opposition ist. Das verdächtigt sie mir nicht wenig. So leidenschaftlich, wie Du vorgehst, drängst Du mich zu einer abwehrenden Haltung. Ich kann meine Ansicht nicht mehr frei äußern, wie ich sonst möchte, und lasse mich vielleicht durch den Aerger darüber zu einer so oder so unbedachten Entscheidung hinreißen. Enden wir also dieses unerquickliche Gespräch! Ich hoffe, Du wirst mir das Vertrauen schenken, daß ich der Mann bin, selbst zu wissen, was sich für mich schickt. Ich verschließe mich nicht Deinen Gründen, aber Du wirst nicht verlangen, daß ich mich blindlings Deiner Meinung unterwerfe, am wenigsten dann, wenn ich Dich für mindestens recht befangen halte.“

Damit ging rt in sein Zimmer, und ich – schrieb Dir auf der Stelle diesen Brief, um möglichst objektiv den ganzen Vorfall darzustellen, der sicher noch Folgen hat. Er muß ja Folgen haben! Ach, ich fühle mich sehr unglücklich! Diese Frau –! Ich bin überzeugt, daß sie sich an mir rächen will. Was wird Edwin thun? Er hätte es in der Hand gehabt, mit einem Worte jede weitere Verhandlung abzuschneiden. „Ich tauge nicht dazu, meine Frau hat ganz recht“ – das war so leicht. Und wie wohl wäre ihm jetzt! Aber er wollte mich ein wenig peinigen. Warum schlug ich ihm auch die Geburtstagsvisite ab! Würde ich mitgegangen sein, es wäre alles anders gekommen. Ach – wie einfältig man manchmal ist! Unglaublich einfältig. Aber hier muß ich mein Stück durchsetzen – muß! Es handelt sich nicht nur um eine eheliche Zwistigkeit – mein Gott! ich will ja in anderen Fällen folgsam sein wie ein Lamm – ein Dritter war Zeuge. Eine Dritte! Das ist noch bedeutsamer. Und welche Dritte!

Schreibe mir auf diesen Brief gar keine Antwort, Toni. Bis sie anlangen könnte, wäre doch schon alles entschieden. Und was kann es nützen, wenn Du mir vorwirfst, zu rasch, zu unbedacht verfahren zu sein? Es ist nicht mehr zu ändern. Ich weine vor Aerger. Da fallen die Tropfen auf das Papier und lassen sicher einen Kranz. Schilt mich, aber bemitleide mich! In treuester Freundschaft Deine – – – – – – – – –




12.

Vierundzwanzig Stunden sind vergangen. Wirhaben uns keinen Schritt genähert. Im Gegentheil –

Ich bin diesmal im Recht, in der Sache selbst gewiß. Darauf allein kommt’s an. Nicht meinetwegen, Edwins wegen muß ich fest bleiben.

Edwin schien keine Neigung zu haben, den Gegenstand mit mir nochmals durchzusprechen. Er mußte wissen, daß ich darauf wartete. Die gewöhnlichste Pflicht der Höflichkeit gebot dieses Entgegenkommen. Da er beharrlich schwieg, zeigte ich ihm ebenso beharrlich ein Gesicht, von dem meine Meinung unschwer abzulesen war. Ich weiß, daß er ein solches Gesicht in den Tod nicht leiden kann. Aber ich spiele wenigstens nicht Komödie wie er. Denn das ist Komödie, daß er sich den Anschein geben möchte, als sei gar nichts vorgefallen und ich würde schon von selbst zur Vernunft kommen. Er soll merken, daß ich ihn durchschaue.

Endlich ist ihm dann auch der Geduldsfaden gerissen. Er wollte wissen, weshalb ich gegen ihn so garstig sei. Als ob er das erst von mir hätte erfahren müssen! Aber ich sollte mich aussprechen, sollte leidenschaftlich vorbrechen, ihm Grund geben, sich durch meine Vorwürfe gekränkt zu fühlen ... Den Gefallen that ich ihm nicht. Mein Gesicht sagte genug. Er konnte sich ja so leicht ein anderes verschaffen!

Zuletzt fing er doch selbst an. Aber was mußte ich nun hören! Er habe bedacht und sei entschlossen, den Wünschen der Frau seines Chefs zu entsprechen. Davon wolle er mich in Kenntniß setzen. Er habe ihr soeben geschrieben und den Brief abgeschickt. Den Brief abgeschickt, Toni! Du begreifst, daß ich einer Ohnmacht nahe war.

Dann aber brach ein Gewitter los, wie es noch nie an unserem Ehehimmel gestanden hatte. Blitz auf Blitz zuckte und jeder mußte einschlagen. Ich wunderte mich nur, daß Edwin noch immer nicht völlig zerschmettert zu meinen Füßen sank. Ja, er! Als ich ganz erschöpft in ein schluchzendes Weinen ausbrach, sagte er kühl: „Du hast’s selbst so gewollt!“

„Ich – ich?“

„Du! Ich hätte Dich gern freundlich zu überzeugen versucht, daß ich nicht gut eine andere Entscheidung treffen konnte. Das hat mir leider Dein Verhalten unmöglich gemacht.“

„Als ob es nicht auch die andere Möglichkeit gab, daß ich Dich überzeugte, bei meiner Meinung stehen bleiben zu müssen.“

„So hättest Du sprechen sollen.“

„Ich hatte mich bereits ausgesprochen.“

„Bevor Du Zeit zur Ueberlegung gehabt hattest. Ein solches Dreinfahren mit Worten –“

„Edwin, ich verbitte mir jede beleidigende Aeußerung! Darf ich wenigstens nachträglich Deine Gründe erfahren?“

„Gewiß. Sie sind die einfachsten. Daß es mir ein Leichtes ist, die Dichtungen herzustellen, die von mir beansprucht werden, versteht sich wohl von selbst. Dazu bedarf es auch nur der kürzesten Zeit –“

„Die Du immer noch besser anwenden kannst!“

„Ich habe gerade keine dringende Arbeit vor. Ein paar Berathungen mit Malern, Musikern und Schauspielern werden genügen, das Programm festzulegen. Das ist gewiß recht unterhaltend.“

„Und dann die endlosen Verhandlungen in den Ausschußsitzungen, denen Frau Hermia präsidiert –! Ich kenne diese vornehmen Damen, die dort das Wort führen, diese Wichtigthuerei, diese Eifersüchtelei, diese gegenseitige Lobhudelei –“

„Mir fehlt eine so spaßhafte Erfahrung noch.“

„Und Du wirst da, obgleich Du alle Arbeit verrichtest, wie eine Null behandelt.“

„Wenn ich mich so behandeln lasse. Ich kann ja jederzeit gehen. Zunächst bin ich der stadtbekannte Lenker und Regierer.“

„Bei solchem Werke der Eitelkeit, über das jeder vernünftige Mensch sich lustig macht!“

„Um sich doch zur Betheiligung zu drängen. Solange die Welt steht, verdankt die Wohlthätigkeit der Eitelkeit ihre reichlichsten Einnahmen. Wer wird solche Dinge so tragisch nehmen!“

„Ich erkenne Dich gar nicht wieder, Edwin!“

„Lieber Schatz, ich füge mich in das Unvermeidliche mit möglichst gutem Humor und lasse ihn mir auch durch Dich nicht verderben.“

„In das Unvermeidliche?“

„Gewiß! Ich habe zugesagt, weil ich in meiner Stellung doch nicht gut ablehnen konnte.“

„Aber weshalb nicht?“

„Du wirst zugeben, daß ich von allen den Gründen, die Dir so wichtig scheinen, für meine Absage auch nicht einen einzigen hätte brauchen können. Durch prinzipielle Bedenken würde ich mich nur lächerlich gemacht haben, und fadenscheinige Entschuldigungen hätten erst recht die Blöße nicht gedeckt, die ich mir nothwendig in den Augen der Bittstellerin geben müßte, wenn ich Dein Verdikt bestätigte. Und schließlich: der Würfel ist geworfen! Ob zum Glück oder Verderben, ich habe eingewilligt, und Du kannst wirklich nichts Verständigeres thun, als Dich auf den Boden dieser Thatsache zu stellen und Dir von da aus Mühe zu geben, dem Verdrießlichen die beste Seite abzugewinnen. Was meiner klugen Frau ja auch nicht schwer werden wird!“

[176]

Ein Palmsonntag in Venedig unter dem Dogen Foscari.
Nach einem Gemälde von José Villegas.

[177] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [178] Da hast Du unser Gespräch wörtlich, Toni! Ich weiß freilich noch nicht, ob ich diesen Brief abschicke oder ihn in mein Tagebuch lege. Edwin hatte leichtes Spiel. Weshalb? Weil der wundeste Punkt eigentlich gar nicht berührt wurde. Ich weiß nicht, weshalb ich mich scheute, den Finger darauf zu legen. Aber ich scheute mich. Handelte es sich um irgend eine andere Dame ... Nein! auch jetzt will ich diese Gedankenreihe nicht zu Ende führen. Wer weiß, was da auf dem Wege steht? Aber sicher ist’s: ich habe die Partie verloren.

Hast Du bemerkt, daß er sich schließlich an seine „kluge“ Frau wendete? Das war ein Kunstgriff, den ich durchschaue. Er hält nämlich sonst von meiner Klugheit gar nicht viel. Ich habe mancherlei andere Eigenschaften, die ihm schätzbar sind, und dazu gehörte früher auch gerade eine gewisse durch das Temperament bedingte Unklugheit, die angeborene Neigung, nach Gefühlseindrücken zu urtheilen und zu handeln. Ich war ihm gern „der Mensch in seinem dunklen Drange“. Und nun? Er wollte mir eine Schmeichelei sagen und warf mir eine Unwahrheit ins Gesicht. Seine kluge Frau bin ich nicht, will ich nicht sein. Und wenn er seine unkluge Frau nicht mehr liebt, Toni, was fängt sie dann an, um sich vor Dummheiten zu bewahren? – – –




13.

Wie ich das Blatt auch drehe und wende, liebste Toni, es steht immer mit großen Buchstaben darauf geschrieben: der Mann hat seine Frau verleugnet. Und wenn alles richtig ist: daß es an sich keine gleichgültigere Sache geben kann als diese Wohlthätigkeitsvorstellung, daß mein Mann sich durch seine Betheiligung nicht das mindeste vergiebt, im Gegentheil in der Schätzung seiner angesehensten Mitbürget nur gewinnen kann, daß es in diesem Falle nur in der Ordnung war, wenn man sich an ihn wandte, daß ich sehr übereilt meine Abneigung zu erkennen gab und ihn dadurch in eine schwierige Lage brachte, daß meine Empfindlichkeit mich verleitete, das schlechteste Mittel zu seiner Beeinflussung zu wählen, daß er ... Gut! ich sage auch das: daß er Grund hatte, an eine eifersüchtige Grille seiner Frau zu glauben – es bleibt doch der schreckliche Satz stehen: der Mann hat seine Frau verleugnet. So muß es auch Hermia ansehen. Sie weiß ja, daß ich ihre Gegnerin bin, erräth, daß ich meinen Mann vergeblich fernzuhalten bemüht war. Sie triumphiert über mich!

Und das nicht nur einmal, sondern hundertmal. Wochenlang wird er ihr täglich seine Aufwartung machen, seine Verse vorlesen, seine Vorschläge unterbreiten, seine Begleitung zu Konferenzen und Proben anbieten müssen. Sie wird seine Dienste um so eifriger in Anspruch nehmen, je unzufriedener sie mich weiß. Sie wird alle Künste der Koketterie aufwenden, ihn bei guter Laune zu erhalten. Und ist sie ihm denn so ganz ungefährlich, die Frau „mit der wundervollen Büste“? Solange er und ich im besten Einvernehmen miteinander stehen – ja! Aber wir stehen nicht im besten Einvernehmen miteinander – gar nicht.

Und ich kann mich nicht überwinden, einen Strich zu ziehen und meine Niederlage zu vergessen. Ich hab’s versucht, Toni – es ist doch einmal geschehen und nicht zu ändern – aber ich kann’s beim besten Willen nicht. Beim besten Willen? Nein, den habe ich wahrscheinlich nicht, Dann doch: bei aller vernünftigen Einsicht. Ich bring’s nicht über mich, auch nur ruhig zu sein. Die Augen stehen mir immer voll Wasser, meine Hände bedeckt kalter Schweiß, mein Herz schlägt unregelmäßig. Ich habe keine Stetigkeit bei irgend einer häuslichen Beschäftigung, ich lasse in der Küche das Essen verderben, ich gehe aus und laufe an den Läden vorüber, in denen ich Einkäufe machen will. Wahrhaftig, ich befinde mich in einem jämmerlichen Zustande und bin doch nicht krank. Wenn sich die Thür öffnet, erschrecke ich, wenn die Schere auf die Erde fällt, fahre ich zusammen. Ich bin todmüde und kann nicht schlafen. Fallen mir die Augen zu, so träume ich das abscheulichste Zeug. Ich lese dreißig Seiten in einem interessanten Roman und weiß nicht, was in einer einzigen Zeile steht. Jeden Nerv fühle ich, als ob er gebrannt würde. Was kann ich dagegen thun? Und mein Mann –?

Mein Mann geht in seinem Zimmer auf und ab – ich höre jeden seiner langsamen Tritte – sucht die Reime zu den Versen für Frau Hermia und bleibt von Zeit zu Zeit an seinem Pulte stehen, sie mit Bleistift auf eine leere Briefseite zu schreiben. Das ist so seine Art. An mich zu denken hat er nicht Zeit.

Zum Verzweifeln. -0 -0 -0 -0 -0 -0 -0 -0 -0 -0 -




14.

Ich bin mit mir einig, Toni: das halte ich nicht länger aus. Hast Du einmal in einer Scheune dreschen hören? Klipp – klipp klipp! Klipp – klipp klipp! immer dieselbe eintönige Melodie. So klippt’s in meinem armen Kopfe. Entweder – oder!

Entweder Edwin schreibt eine Absage, oder ... Ja, was? Da giebt’s mancherlei Möglichkeiten, und die zahmste ist noch, ich laufe davon.

Du wirst mich für gestört halten. Vielleicht bin ich’s auch. Ein solches Entweder ist gar nicht denkbar. Oder doch? Warum nicht? Wenn Edwin mich liebt – – !

Darauf kommt’s hinaus: wenn Edwin mich liebt. Der Schritt muß ihn ja eine Riesenüberwindung kosten. Aber um so stärker der Beweis seiner Liebe, um so untrüglicher! Er kann ein für allemal gelten. Giebt Edwin in diesem einen Falle nach, so zweifele ich nie mehr. Ich will ihm so dankbar sein! Ach Gott! ich weiß gar nicht, was ich für ihn thäte, wenn er ... wenn er sich nur dies eine Mal gegen mich schwach zeigte. Er sollte der glücklichste Mann unter der Sonne sein, wie ich die glücklichste Frau.

Und da ist’s ja nun, was ich ersehnt habe: die Gelegenheit für eine Kraftprobe der Liebe. Denke Dir ein Verhältniß von Mann und Frau ... welche zwei Menschen Du willst, auch für die stumpfsten wird die Stunde kommen, in der ausgemacht werden muß, was einer dem andern durch das ist, was sich als das Besondere dieser menschlichen Vereinigung darstellt. Meist wird es nur die Machtfrage sein, die zur Entscheidung drängt, ganz unten geradezu in einem körperlichen Ringen, höher hinauf mehr und mehr im Kampf mit geistigen Waffen. Wer ist dem andern überlegen? Hat sich dies einmal unzweifelhaft ergeben, so mag wohl in den meisten Fällen eine Beruhigung eintreten, die für die Dauer einen wohlthätigen Friedensstand herbeiführt. Der Mann ist der von Natur stärkere Theil. Der Kampf pflegt deshalb mit seinem Siege zu enden. Aber nothwendig ist das nicht: mitunter (und vielleicht öfter, als es den Anschein hat) beweist die Frau in einem entscheidenden Augenblick ihre Ueberlegenheit; der Mann erkennt sie stillschweigend an, und die Regel wird, daß er sich fügt. Auch so gelangt man zum Frieden.

Warum setze ich Dir das auseinander? Damit Du siehst, daß ich zu unterscheiden weiß. Du darfst mir nicht die Lächerlichkeit zutrauen, Liebste, mit Edwin um die Herrschaft kämpfen zu wollen. Ich gebe ohne weiteres zu: er ist der Stärkere, geistig Ueberlegene, ich habe mich zu fügen. Und ich thu’s gern, ich habe das Bedürfniß der Unterordnung. Was ich eine Kraftprobe der Liebe nenne, ist etwas ganz anderes. Bei jenem Streit um die Herrschaft zwischen zwei an sich Gleichberechtigten, die doch eine friedliche Gemeinschaft erstreben müssen, spricht das Gefühl der Liebe noch nicht mit. Es kann gar nicht vorhanden sein. Es kann aber auch sehr stark vorhanden sein, ohne für die Machtfrage den Ausschlag zu geben. Denke Dir es nun besonders stark bei dem sich fügenden Theile: was ist natürlicher, als daß er die Kraft der Neigung des Herrschenden erproben will! Das Herz muß Gewißheit haben. Und wie kann das Herz sie sich verschaffen, außer wenn es einmal wenigstens einzig und allein vom Herzen eine Entscheidung fordert: überlege nicht, prüfe nicht, rechne nicht, frage nicht nach den Folgen – thu’ mir das zu Liebe! Willst Du, so bin ich glücklich. Willst Du nicht, so weiß ich, was ich Dir gelte.

Habe ich mir da in einer schlaflosen Nacht künstlich etwas ausgeklügelt, Liebste? Es kann sein. Ich brauchte es zu meiner Rechtfertigung. Es liegt nun einmal in mir, daß ich von Trieben beherrscht werde und hinterher den vernünftigen Grund suche. Das Ursprüngliche und das Reflektierte wächst ineinander und läßt sich bald nicht mehr scheiden. Ich schreibe da nur eine Bemerkung nach, die Du selbst in einem Deiner letzten Briefe machst. Ich halte sie für treffend. Was nützt aber diese [179] Selbsterkenntniß? Ob ich recht ober unrecht habe, logisch denke oder alle Begriffe auf den Kopf stelle – es treibt mich etwas vom Innersten her, und das ist das Mächtige. Ich muß! Das ist nicht zu begreifen, nur zu fühlen. Ich versuche, mir diesen Zwang verständlich zu machen. Gelingt’s, um so besser! Aber es bleibt immer dabei: ich muß, heißt – ich kann nicht anders.

Und weil ich nicht anders kann ... ... ... ... ... ...

Nachschrift. Ich wurde durch Edwin unterbrochen. Er wollte mir seine Verse vorlesen. Da machte sich das Gefühl unaufhaltsam Bahn. Ich schüttelte den Kopf und sah ihn mit einem flammenden Blicke an und sagte: „Wenn Du mich liebst, Edwin, verbrenne diese Blätter, streue die Asche in alle Winde, schreibe der Frau des Chefs, Du hättest Dich anders entschlossen, könntest, wolltest nicht ... gieb der Absage eine Form, wie sie Dir beliebt, wie sie am wenigsten verletzend erscheint, aber laß sie noch heute abgehen! Jeder Tag des Zögerns, ich fühl’s, thürmt die Scheidewand zwischen uns höher, und zuletzt wird kein guter Wille mehr sie einreißen können.“

Er sah mich erst sehr verwundert an und schien dann über den Ausdruck meines Gefühls zu erschrecken. „Aber so begreife doch,“ stammelte er, „daß Du mir etwas geradezu Unsinniges zumuthest. Wenn ich hätte ahnen können ... aber diese Erwägung ist jetzt nutzlos. Ich habe ein Versprechen gegeben und muß es als Ehrenmann halten. Bräche ich Frau Hermia mein Wort, sie wurde an keine Ausrede glauben; ganz vergeblich würde ich mich bemühen, ihr zu verbergen, weshalb es geschieht. Soll ich mich Deiner Laune wegen vor ihr, vor dem ganzen Kreise lächerlich machen? ‚Die Frau erlaubt’s ihm nicht!‘ Und wenn ich darüber hinwegsehen wollte, glaubst Du, daß Deine verhaßte Gegnerin ungestraft mit sich ein solches Spiel treiben lassen würde? Sie hat großen Einfluß auf ihren Mann, von dem ich abhänge. Unsere Existenz wäre bedroht. Nimm’s ganz so ernst! Wie hast Du Dich nur in diese Thorheit so tief hineinreden können?“

„Ich nehm’s ganz so ernst, Edwin,“ antwortete ich, ohne meine Haltung zu verändern. „Aber es steht jetzt nicht mehr in Frage, welche Nachtheile wir erleiden. Für mich giebt’s nur einen Verlust: zu wissen, daß Du mich nicht liebst. Und ich weiß, Du liebst mich nicht, wenn Du mir dies versagst. Sprich nicht dagegen, ich bin durch Gründe nicht umzustimmen. Du sollst mir etwas zu Liebe thun, es giebt für mich gar keine andere Rücksicht. Sei überzeugt: wie ich mich auch dagegen wehre, Du verlierst mich auf ewig, wenn Du Dich diesmal nicht beugst. Dieses eine Mal!“

Edwin lächelte ungläubig und schüttelte den Kopf. Er reichte mir die Hand und sagte: „Sei verständig, Liebchen!“

„Ich kann nicht!“ entgegnete ich, drehte mich um und verließ ihn.




15.

Du hast für nöthig befunden, liebste Freundin, Deinem letzten Brief große Eile zu geben. Ich habe ihn wirklich durch einen Expressen erhalten und bin so den andern Empfängern derselben Post um ein paar Stunden voraus. Es sind das gerade die Stunden um das Frühstück herum, wo Mann und Frau auch außerhalb der Flitterwochen zusammen auf dem Sofa zu sitzen und bei der Tasse Kaffee die wichtigsten Vorbesprechungen für den Tag zu halten pflegen. Es ist sehr häßlich. wenn dieses Plauderstündchen verödet, Mann und Frau zwar ihre gewohnten Plätze einnehmen und in gewohnter Weise für ihr leibliches Wohl sorgen, aber steif wie die Götzen dasitzen und das Sprechen verlernt zu haben scheinen – puh! Das hast Du freundlich bedacht und vielleicht das Weitere auch, daß dieses Stündchen, wie kein anderes, geeignet ist, einen siegreichen Kampf mit dem garstigen Schmollteufel zu bestehen und ihn gründlich auszutreiben. Deshalb sollte Deine Standrede so früh kommen und mich zur Besinnung bringen, bevor das braune Naß duftete. Nicht nur hindern wolltest Du, daß der Zwiespalt sich schärfte, sondern in mir eine wohlthätige Friedensstimmung vorbereiten. Ich verstehe die gute Absicht, ich bin Dir dankbar, ich habe wirklich Gericht über mich gehalten, aber ...

Du giebst mir Unrecht, Du warnst. Ja, wenn mir’s an Einsicht fehlte! Das Leiden ist doch, daß ich einmal bin, wie ich bin. Und wenn ich äuf einem Irrweg wäre, der zum Abgrund führt, und es ständen rechts und links Warnungstafeln – ich habe das ganz sichere Gefühl, daß ich nicht aus eigener Kraft zurückkann. Es giebt nur die eine einzige Möglichkeit der Rettung daß sein Arm mich faßt und sein Mund mir sagt: die Liebe ist stärker als alle Vernunft. Siehst Du, Toni, ich kann wirklich nicht zurück. Seinetwegen! Wenn ich diesmal nachgeben müßte, wär’s aus mit meiner Herzensneigung für alle Zeit. Ich könnte nicht mehr los von dem Gedanken, daß die Probe versagt habe. Ueber allen Sonnenschein meines Lebens würde sich dieser finstere Schatten breiten und mein Auge trüben. Ich könnte der reichsten Gaben nicht mehr froh werden; jede goldigste Frucht wäre mir von einem Wurm angefressen. Alles, was liebenswürdig an mir ist, müßte eintrocknen, alles Abstoßende mehr und mehr eckig auswachsen. Ich würde mir bald selbst unausstehlich sein. Und was hätte Edwin dann von seiner Frau? Nein, nein! ich kann nicht zurück.

Das habe ich ihm nun offen heraus gesagt. Sehr ernst, sehr streng. Er sollte wissen, daß da gar nichts zu ändern ist, und sich nicht unnütz mit trügerischen Hoffnungen hinhalten. Das war am wenigsten grausam. Nun ich entschlossen bin, meinen Willen durchzusetzen, durfte er nicht im Zweifel bleiben, daß jedes Hinzögern ihm den zuletzt doch nothwendigen Schritt erschwerte. Ach Gott, ich möchte ihm ja so gern goldene Brücken bauen. Aber ich weiß jetzt: er betritt sie nicht. Sie wären ihm ein Beweis, daß ich selbst mich schwach fühle, zum Rückzuge noch zu bewegen sei, wenn er fest bleibe. Ich muß mich stark zeigen, damit er sich leichter überzeugt, dies eine Mal schwach sein zu müssen. Ich liebe ihn ja so sehr!

Hermia oder ich!

Da steht’s und ist nicht mehr auszulöschen. Das ist die Schlußformel, in die sich das ganze Tohuwabohu von Erwägungen und Empfindungen verdichtet. Hermia oder ich! Das heißt ...

Sie sagt doch nicht, was sie sagen will. Sie sagt mindestens noch etwas anderes, als was sie sagen soll. Du wirst rufen, nun ist es heraus: Eifersucht, nichts als Eifersucht! Und ich kann Dir doch mit reinstem Gewissen zuschwören, nie hat sie mich so wenig gepeinigt. Es wäre mir eine Wohlthat, wenn ich mich auf dieser Schwäche ertappen könnte. Denn ich würde mich rasch auslachen. Nein, Frau Hermia ist nicht die Frau, an die Edwin auch nur einen Blutstropfen seines Herzens verlieren könnte. Ich kann mich nicht einmal zu der Befürchtung reizen, daß er ein wenig verliebt in sie sei. Ich gestehe, ich hab’s versucht, aber es gelingt nicht. Was ich ihm bin und was Frau Hermia ihm ist, steht so getrennt, daß es für mich unter diesem Gesichtspunkt nie zusammenrücken kann. Und doch bedeutet dieses: sie oder ich! etwas. In zwei Personen verkörpern sich zwei Machteinflüsse, die einander nicht dulden können. Hermia vertritt hier das, was im Gesellschaftsleben unter dem Zwange gefälliger Rücksichtnahme rücksichtslos den Tribut des Talents für selbstsüchtige Zwecke fordert. Warum soll es von seinem Reichthum nicht abgeben – wenn es sein kann, verschwenderisch abgeben? Nur darf die Persönlichkeit nicht darunter leiden. Das muß Edwin verstehen. Und wenn nun die Frau, die ihn liebt und die er liebt, der naturgemäß zunächst diese Persönlichkeit am Herzen liegt – berechtigt oder unberechtigt – im besonderen Falle Einspruch erhebt, soll da nicht die höhere Rücksicht gelten, die er ihr schuldet? Das ist mir ein Glaubenssatz. Und darum sage ich: Hermia oder ich. Diese Hermia kann im Laufe der Zeit tausend Gestalten annehmen, ich bleibe immer dieselbe. Wem gehört Edwin, wenn es darauf ankommt? Mir oder diesem Phantom, das sich noch tausendmal seiner zu bemächtigen suchen wird. Einmal muß ich Sieger bleiben; es ist dann nicht mehr gefährlich.

Weiß ich nur, daß er mich liebt –!

Ich habe ihm das alles gesagt. Er kann nicht zweifeln, daß eine Sinnesänderung bei mir unmöglich ist. Er ist wiederholt aufgesprungen und im Zimmer umhergelaufen, aber angehört hat er mich. Und dann –

Ja, dann war’s doch wieder nichts. „Ueberzeugt das Dich selbst?“ fragte er. „Schwerlich. Du willst Deinen Willen haben, leidenschaftlich – nichts weiter. Und wenn Du ihn gehabt hättest, würde ich Dir nicht mehr sein, der ich Dir bin, würde es nie wieder werden können. Bezwinge Dich!“

Was sagst Du zu solcher Verstocktheit und Hartnäckigkeit, Toni? Ich lasse aber nicht nach.

(Schluß folgt.)


[180]


Blätter und Blüthen.


Der Erfinder des elektrischen Glühlichts. „Wenn zwei sich streiten, hat ein Dritter den Vortheil!“ Diese alte Wahrheit scheint eine neue glänzende Bestätigung finden zu sollen.

Für den Erfinder der ersten praktisch verwerthbaren Form des elektrischen Glühlichts, also der bekannten Glasbirnen, in deren luftleerem Innenraum eine Kohlenfaser glüht, galt bisher nach ziemlich allgemein verbreiteter Anschauung der berühmte Edison, und die Gesellschaft, welche unter der Flagge seines Namens seine Erfindungen verwerthet, erhob denn auch stets den Anspruch auf das alleinige und ausschließliche Recht zur Fabrikation der Lampen. Aber dieser Anspruch blieb nicht unbestritten, und erst neuerdings wieder hat vor dem Gericht in Boston ein Prozeß gespielt, welchen die Edisongesellschaft gegen eine konkurrierende Gesellschaft angestrengt hatte. Dabei hat nun diese Gegnerin einen unerwartet scharfen Hieb geführt, indem sie Zeugen beibrachte, laut deren Aussagen den Edisonschen nahe verwandte Glühlampen bereits in den fünfziger Jahren, also ein Vierteljahrhundert vor Edison, in Amerika hergestellt und gezeigt worden wären. Und zwar wäre ihr bisher im Dunkeln gebliebener Verfertiger ein Deutscher, ein Hannoveraner Namens Heinrich Goebel, gewesen.

Die Sache macht natürlich in Amerika sehr viel Aufsehen, und so sind auch an uns bereits verschiedene Zuschriften gerichtet worden, die mit näheren Mittheilungen die Anregung verknüpfen, dem so lange verkannten, übrigens noch heute im Staate New-York lebenden Landsmann den verdienten Erfinderruhm zu wahren. Wir geben dieser Aufforderung gerne Folge. Selbstverständlich sind wir vorläufig nicht in der Lage, die Thatsache als solche zu verbürgen, andererseits aber haben wir ebensowenig Grund, an der Richtigkeit der uns zugegangenen Nachrichten zu zweifeln.

Wir werden unsererseits nichts unversucht lassen, was Klarheit in eine Frage bringen kann, die für den Ruhm des deutschen Namens von so großer Wichtigkeit ist, und werden jedermann zu großem Danke verpflichtet sein, der uns bei unseren Bemühungen, einem Landsmann zu dem verdienten Ehrenkranze zu verhelfen, mit sachdienlichen zuverlässigen Mittheilungen unterstützen würde.


Palmsonntag in Venedig unter dem Dogen Foscari. (Zu dem Bilde S. 176 und 177.) Welcher Mensch, dem es einmal vergönnt war, in einem Winkel des alten Markusdomes sich in ein beschauliches Sinnen zu versenken, hätte da nicht gewünscht, die Figuren heraufbeschwören zu können, welche zur Glanzzeit der Republik diese Hallen füllten? Aber dem Künstler allein ist die Zaubergabe dafür verliehen – er zeigt uns heute, wie der Doge Francesco Foscari, der gewaltige Mann, dessen Eroberungspolitik die Land- und Seemacht Venedigs zu so glänzender Höhe emportrug, in einem friedlichen Augenblick seines vielbewegten und kriegerischen Lebens hier in San Marco den Palmsonntag des Jahres 1450 begeht. Durch Weihrauchwolken brechen die Sonnenstrahlen in den goldgrundigen Chor, den ein Gedränge der Erlauchtesten als Geleite des Dogenpaares erfüllt. Schöne, rosenbekränzte Frauen und Kinder folgen der Dogaressa, welche soeben dem majestätischen Gemahl die Hand zum Umgang durch die Kirche reicht. Knaben und Mädchen im festlichen Schmuck, singend und palmentragend, schreiten voran, und die Posaunen erschallen in vollem Chor dem fürstlichen Paare entgegen.

Aber dem Bilde voll Glanz und Pracht fehlt auch der düstere Schatten nicht: links die Stufen herunter steigen die mißvergnügten Senatoren, Feinde des Foscari, dieselben, welche sieben Jahre später, zur Macht erstarkt, dessen einzigen Sohn in die Verbannung schicken und ihn selbst nach vierunddreißigjähriger ruhmvoller Regierung des Thrones entsetzen sollten. Auf ihren Gesichtern steht der feindselige Trotz, während der Doge selbst sich noch so unerschütterlich sicher fühlt unter der goldenen Mütze und dem von seiner Person unzertrennlichen goldenen Schirme!

Der hochbegabte spanische, aber in Rom lebende Künstler greift hier wie in anderen Bildern mit sicherer Hand in den Schatz venetianischer Vorzeit, welcher von der Malerei schon soviel verwerthet wurde. Seine Figuren sind wirkliche Menschen ihres Jahrhunderts, auf einem Hintergrund erwachsen, dessen malerische Schönheit nichts verliert, wenn sie, wie hier, mit der größten Treue und Naturwahrheit dargestellt wird.


Ein kühler Trunk im kommenden Sommer. Die Erfahrungen der letzten Zeit haben leider gezeigt, daß wir in Bezng auf die Wasserversorgung nicht überall auf dem wünschenswerthen und, man könnte beinahe sagen, selbstverständlichen Standpunkt angelangt sind, daß die menschlichen Wohnstätten, von den Großstädten bis herab zu den Dörfern, mit gesunden Brunnen und Wasserleitungen versorgt wären. In sehr vielen Orten muß das Trinkwasser vor seiner Benutzung verbessert oder gutes Wasser von weither geholt werden. Dadurch büßt es an Frische ein, und vor allem wird es im Sommer warm. Das Trinken dieses warmen Wassers bietet nun keine Erquickung, und das ist u. a. der Grund, warum so oft die hygieinischen Rathschläge, welche von Aerzten und Behörden ausgehen, nicht beächtet werden, warum so oft das Wasser roh, frisch vom Brunnen oder von der Leitung weg, getrunken wird. „Dem Uebelstand kann man leicht abhelfen, indem man das warm gewordene Wasser abkühlt!“ wird vielfach auf ähnliche Klagen zur Antwort gegeben. Allerdings, und wir haben auch für den heißen Sommer ausgezeichnete Kühlmittel: Eisvorräthe und kühle Keller. Leider sind diese Mittel nicht zureichend.

Was das Eis anbelangt, so ist seine Verwendung im Sommer mit Geldausgaben verknüpft, die sich nur Familien erlauben können, welche sich einer gewissen Wohlhabenheit erfreuen. Gute kühle Keller sind auch nicht überall vorhanden, am allerwenigsten in Großstädten. Aber selbst wo sie vorhanden sind, werden sie von den Leuten schwerlich zum Abkühlen von Trinkwasser benutzt werden. Die Hausfrau, die in einfacheren Verhältnissen ohnedies genug zu thun hat, wird sich schwerlich entschließen, das Trinkwasser, nachdem sie es abgekocht hat, behufs Abkühlung in den Keller zu bringen und es dann mehrmals des Tages, wenn die Familie durstig ist, wieder drei oder vier Treppen hoch hinaufzutragen.

Es giebt aber wohl ein Mittel, mit welchem man das Wasser ohne Eis und ohne einen guten Keller kühl machen kann; nur wird es bei uns sehr wenig oder gar nicht angewandt. Auf Wüstenreisen durch die sonnverbrannte Sahara führt man kein Eis mit sich, und doch preist Gustav Nachtigal in seinem Werke „Sahara und Sudan“ wiederholt die „eisige Kühle“ des Wassers, das er durstig aus den Schläuchen sog. Diese Wasservorräthe der Wüstenreisenden werden durch Verdunstung abgekühlt. Die Wasserschläuche aus Ziegenfellen, so sauber man sie auch zusammennäht und verpicht, sie bleiben doch porös, und durch diese Poren verdunstet ein Theil des Inhalts. Indem aber Wasser sich in Dampf verwandelt, entzieht es der Umgebung Wärme, kühlt es den zurückbleibenden Rest ab. In südlichen Ländern, wie z. B. in Spanien, bewahrt man nach demselben Grundsatz das Wasser in irdenen unglasierten Krügen auf. Die Wandungen dieser Krüge sind ebenfalls porös, durch die Poren sickert Feuchtigkeit durch, die an der äußeren Fläche verdunstet. Dadurch wird der Wasservorrath im Kruge abgekühlt, namentlich, wenn man diesen oben verschließt oder zudeckt, damit warme Luft nicht eindringen kann.

Hier und dort findet man in Deutschland, häufiger wohl in Oesterreich, ähnliche Vorrichtungen zum Kühlhalten der Butter. Die Leute pflegen sich einen sehr einfachen „Butterkeller“ in der Speisekammer zu bauen. Sie nehmen einen möglichst großen unglasierten irdenen Blumentopf, verkitten mit Gips oder Siegellack die untere Abflußöffnung, indem sie zugleich ein Stück Holz darin befestigen, so daß der Blumentopf umgekippt eine Glocke mit einem Griffe bildet. Dann nehmen sie eine entsprechend große Schüssel und füllen sie mit Wasser, in dieses stürzen sie einen kleineren flachen Topf, auf den das Gefäß mit Butter zu stehen kommt. Darüber wird dann die oben erwähnte irdene Butterglocke gestülpt. Der Rand des Blumentopfes taucht in das Wasser der Schüssel, in den Poren des Thons steigt das Wasser empor, der ganze Blumentopf wird feucht, das Wasser an der Oberfläche verdunstet und die Butter unter dem Blumentopf bleibt kühl. Indessen, diese irdenen Gefäße entwickeln, sobald sie feucht werden, einen eigenthümlichen Erd- oder Thongeruch, der sich der Butter mittheilt und ihr den Wohlgeschmack nimmt.

Nicht so leicht wie die Butter nimmt das Wasser fremde Gerüche an. Darum ist die Anwendung von unglasierten Thonkrügen zum Abkühlen des Trinkwassers durchaus statthaft und empfehlenswerth. Damit aber die nöthige Sauberkeit herrsche, empfiehlt es sich, die gefüllte gläserne Wasserflasche in das Wasser des Kühlkruges zu stellen und sie aus diesem erst herauszunehmen, sobald man trinken will. In derselben Weise kann auch Bier aus Flaschen oder Wein zweckmäßig kühl gehalten werden. Die unglasierten irdenen Waren sind so billig, daß sicher jeder Hausvater sie zu beschaffen vermag. Für anspruchsvollere Leute könnte man sie ja mit Figuren à ia Terracotta verzieren.

Tausenden von Menschen, die weder über Eisschränke noch über gute Keller verfügen, könnten demnach irdene Kühlgefäße im Sommer zu einer wahren Wohlthat werden. Vielleicht sind sie hier und dort in vollendeter Form schon seit lange im Gebrauch. Freundliche Mittheilungen darüber aus dem Leserkreise würden im allgemeinen Interesse sehr erwünscht sein. C. Falkenhorst.     


KLEINER BRIEFKASTEN.


(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

An die Hausfrau, die’s eintheilen muß.

Weißt Du nicht, Hausfrau, daß verschieden
Die Hühner ihre Eier bieten,
Bald reichlich und bald wieder knapp,
So, wie’s der Schöpfer ihnen gab?
Drum wart’, bis ihre Wirkung thut
Des Lenzes warme Sonnengluth,
Dann kannst Du Dich darauf verlassen,
Du findest „Hans in allen Gassen“.

Joh. B. in Parchwitz. Wenn Sie Ihren Jungen im Staatsdienst unterbringen wollen, so finden Sie den besten Rathgeber immer noch in dem alterprobten Buche von A. Dreger, „Die Berufswahl im Staatsdienste“. Erst kürzlich ist eine neue, vierte Auflage davon erschienen (Leipzig, C. A. Kochs Verlagsbuchhandlung).

F. K. in G. Anregende Bemerkungen über die Fortschritte der Technik auf den verschiedensten Gebieten, über humane Einrichtungen in Krieg und Frieden, auch manches hübsche Wort über den Werth treuer Arbeit finden Sie in den „Skizzen aus der Welt der Arbeit“ von Friedrich Bücker (Perthes, Gotha).



Inhalt: Freie Bahn! Roman von E. Werner (10. Fortsetzung). S. 165. – Die erste deutsche Heilstätte für unbemittelte Lungenkranke. S. 168. Mit Abbildung S. 165. – Waldhüters Töchterlein. Bild. S. 169. – Weltverbesserer. Von Dr. J. O. Holsch. III. S. 170. – An der Kirchenpforte. Bild. S. 173. – „Elsa.“ Eine Ehestandstragödie in Briefen. Von Ernst Wichert (2. Fortsetzung). S. 174. – Ein Palmsonntag in Venedig unter dem Dogen Foscari. Bild. S. 176 und 177. – Blätter und Blüthen: Der Erfinder des elektrischen Glühlichts. S. 180. – Palmsonntag in Venedig unter dem Dogen Foscari. S. 180. (Zu dem Bilde S. 176 und 177.) – Ein kühler Trunk im kommenden Sommer. S. 180. – Kleiner Briefkasten. S. 180.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.