Die Gartenlaube (1891)/Heft 28
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Nr. 28. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Vor dem tannengeschmückten Eingang des Kellergartens staute sich die Menge. Die Musik lockte jung und alt unter die Kastanien, die Nachricht von der Durchreise des Prinzen erhöhte die Stimmung. Obgleich man dem Richter und seinen Damen höflich Platz machte, kamen sie doch nur langsam vorwärts. Ein kleiner rundlicher Herr, der, einen Hund unterm linken Arm, mit dem rechten Ellbogen sich kräftig gegen den Strom durchgearbeitet hatte, blieb aufathmend dicht vor ihnen stehen.
[470] „Onkel Anton!“ rief der Amtsrichter.
Der Dicke sah auf. „Servus, Neffe, grüß’ Dich!“ schnaufte er, „Baronin, Baronesse, habe die Ehre!“ Dabei hob er den Hut hoch über den Kopf, der mit dem kurzgeschorenen struppigen Haar einer schwarzen Pelzmütze ähnelte. Dann schüttelte er seinem Neffen die Hand. Dieser wußte nicht, was er inmitten der kichernden Menge, die sich über den Alten mit seinem Prachtexemplar von Hund lustig machte, zur Erwiderung des Grußes sagen sollte. Er blickte verlegen auf das Zwitterding von Bulldogge und Rattenfänger nieder:
„Wie heißt er? Azor? Ein – ein – hübscher Hund!“
„Das will ich meinen!“ bestätigte der geschmeichelte Onkel. „Aber gehen wir in den Kurgarten, diese Kleinstädter haben eine Lebensart –“
„So kommen Sie, Herr Furtenbacher,“ willigte Ida ein und zwang sich zu einem Lächeln. „Warum denn übrigens in den Kurgarten?“
„Erlauben Sie mir, Ihnen das zu erzählen, sobald wir unter uns sind,“ entgegnete Furtenbacher, „es wird die erste angenehme Viertelstunde seit meiner Ankunft sein.“
Mit diesen Worten setzte er den Hund zur Erde und bot der Frau Baronin den Arm. Einzig sie vermochte es, ihn zu einem solchen Aufgebot von Artigkeit zu veranlassen.
Im Kurgarten saß, in die Zeitung vertieft, ein einziger Gast, ein alter Herr, in Schwarz bis auf den großen Panamahut – Präsident Imhof. Nach der ersten Begrüßung stellte Ida dem Präsidenten den Onkel vor und diesem dann den Präsidenten als den Vater von Verenas Bräutigam. Diese Neuigkeit brachte denn doch auch Furtenbacher aus dem Gleichgewicht. „Und das erfahr’ ich erst jetzt?“
„Wir durften Ihnen ja beileibe nicht schreiben.“
„Aber heut auf dem Bahnhof?“
„Die schönste Nachricht verliert, wenn wir sie bei übler Laune erhalten, und mir schien, daß Sie bei Ihrer Ankunft nicht zum besten gestimmt waren.“
„O!“ fiel Furtenbacher mit Wärme ein, „eine gute Nachricht heilt die schlimmste Laune – davon bin ich das Beispiel! Meinen herzlichsten Glückwunsch!“
Vitus Müller athmete auf; nun war er überzeugt, daß sein Onkel auch den Lieutenant mit offenen Armen empfangen werde. Er wechselte mit Verena, welche das Zusammentreffen mit dem Verlobten drüben im Schloßkeller nur ungern aufgeschoben hatte, heimlich Blick und Zeichen und stahl sich dann hinweg.
Die Excellenz machte übrigens auf den Onkel weniger Eindruck, als Ida erwartet hatte. Ob Furtenbacher auch schon als Hutmacher so knorrig gewesen war, sei dahingestellt; jetzt hatte er Geld, sehr viel Geld, und zwar dank eigener Findigkeit und Ausdauer. Dies Bewußtsein steifte ihm den Nacken.
„Excellenz,“ sagte er, indem er erst den Hund auf einen Stuhl setzte, dann selbst Platz nahm, „ich freue mich, daß auch Excellenz kein Freund sogenannter Gartenfeste sind. Vollends in einem solchen Krähwinkel wie hier ist das unausstehlich. Ich kann an keinem Tisch Platz nehmen, ohne mich mit einem andern zu verfeinden. Setze ich mich zu Beamten, heißen mich die Bürgerlichen hochmüthig; halt’ ich mich zu den Bürgerlichen, grüßt mich morgen die Frau Bahnhofsinspektor nur noch mit der Nasenspitze. Ich habe die Kleinstädterei satt, ich gehe auf und davon, und wenn Excellenz mein Grundstück kaufen wollen, ich laß’ es Ihnen um ein Butterbrot.“
Frau Ida wurde ungeduldig.
„Ich weiß noch immer nicht, woher die Erregung –“ begann sie, doch der Onkel fiel ihr in die Rede.
„Das will ich Ihnen erklären. Der Azorl und ich gingen in schönstem Frieden nach dem Schloßkeller. Kaum aber waren wir dort, als die rohe Menge uns hin und herpuffte. Ich nahm den Azorl auf den Arm und sah mich nach einem gesicherten Plätzchen um. Zuletzt ließ ich mich bei einigen jungen Fremden nieder, die man auf zehn Meilen als Offiziere erkannte, obwohl nur einer seine Lieutenant-Uniform trug.“
Die Excellenz runzelte die Stirn, Mutter und Tochter wurden unruhig. Allein der entrüstete Onkel ließ sich nicht stören.
„Ich setzte mich also zu den Herren. Excellenz und die Damen werden verzeihen – das war mein erster Fehler. Kaum seßhaft, bemerkte ich, daß mein Azorl die Aufmerksamkeit des bewaffneten Jünglings erweckte. ‚Vollblut?‘ fragte er. ‚Zu dienen,‘ sag’ ich. ‚Kamerun?‘ er; ‚Apenninen,‘ ich. Denn diese Art kommt in der That nur in den Apenninen vor. Ein Wort gab das andere. Der Lieutenant blieb gelassen, ich wurde heiß – zweiter Fehler. Man sollte denken, daß die umstehenden Hohenwarter die Partei ihres Mitbürgers ergriffen hätten. Bewahre! Der platteste Witz des Lieutenants wurde mit wieherndem Gelächter belohnt, und als der Hoffnungsvolle zuletzt meinen Azorl beim Schweif nahm und so herumzeigte, war die Hölle los! Und da soll man nicht wild werden?“
Unterdessen war Vitus Müller zurückgekehrt, von Helmuth begleitet. Onkel Anton saß mit dem Rücken gegen den Eingang und war ganz bei seiner Erzählung. Den Frauen schwante ein unangenehmer Zusammenstoß.
„Lieber Onkel,“ sagte der Amtsrichter, „erlaube, Dir Verenas Verlobten vorzustellen –“
Der Onkel sprang auf, drehte sich und warf vor Ueberraschung den Stuhl um. Der Lieutenant aber bot ihm, ohne die geringste Verlegenheit oder Reue zu zeigen, lachend die Hand.
„I!“ rief er, „wir kennen uns bereits, und da ist ja auch Azor, der Wunderhund!“
Furtenbacher sah den lächelnd vor ihm Stehenden mit grimmiger Miene an, und wer weiß, welche Wendung das Gespräch genommen hätte, wenn nicht zum Glück in diesem Augenblick die Stadtkapelle drüben das Zeichen zum Aufbruch nach dem Bahnhof gegeben hätte. Die staatskluge Frau Ida drängte zum Anschluß. Auf der Straße war alles in Bewegung, der Zug ordnete sich, voran in Reih und Glied schritten die Turner und Mitglieder der Liedertafel, hinterher fluthete die Menge. Ganz Hohenwart war auf dem Wege. In den Gasthöfen, Bierhäusern und Kaffeeschenken lag das Gesinde in den offenen Fenstern, denn sie hatten keine Gäste.
Diejenigen Familien, welche sich vornehmer dünkten als der große Haufe, bildeten die Nachhut; die Richtersfamilie und ihr Anhang waren die allerletzten. Voran ging das Brautpaar, dann folgte Ida am Arm des Präsidenten, der seine Orden nicht angelegt, sondern nur den Panamahut mit einem Cylinder vertauscht hatte. Onkel und Neffe waren das letzte Paar, wenn nicht Azor, den sein Herr an einer Schnur mehr zog, denn führte, als Dritter gerechnet werden soll.
„Du zürnst doch dem jungen Mann nicht mehr?“ begann der Amtsrichter vorsichtig und bemächtigte sich des Arms seines Onkels.
„Hätte ich nicht Ursache? Wer meinen Azorl beleidigt, beleidigt mich.“
„Geh! als wir jung waren, Onkel, waren auch wir übermüthig.“
„Ich war weder Student, noch Lieutenant,“ versetzte herb der andere. „Aber reden wir nicht mehr davon! Ich schaffe die Standesvorrechte nicht aus der Welt, und Du auch nicht. Schau diese Kleinstädter! Musik, Fahnen, Stadtrath, Turnerei, Singerei! Warum? Weil Seine Hoheit an ihnen vorbeifährt!“
„Ich halte mich an das Gegebene. Der Prinz ist unser zukünftiger Fürst – weißt Du, daß der Präsident sich seiner besonderen Gnade erfreut?“
„Alle Streber richten sich auf morgen ein. Dir kann es ja lieb sein; wenn Verena den Sohn des Präsidenten heirathet, erinnert man sich vielleicht Deiner Verdienste.“
„Ich bin zu bequem, um ehrgeizig zu sein. Für mich gllt nur eine Frage: wird meine Tochter mit Helmuth Imhof glücklich? Ich glaube, ja! Er ist zwar ein flotter Bursch, aber mit tüchtigem Kern.“
„Wann soll die Hochzeit sein?“
„Im August – das heißt, die Sache hat noch einen Haken. Der Präsident ist ohne Vermögen, und die Kaution –“
Furtenbacher grinste. „Als ich seinen Cylinder im Mondschein glänzen sah, dacht’ ich sofort: auch einer, an dem Schneider und Hutmacher nur alle fünf Jahre etwas verdienen.“
Sie waren in die Vorstadt gelangt, vor Onkel Antons Haus, das in einem Garten voll Rosen lag. Furtenbacher blieb stehen und blickte zum erleuchteten Erker auf. „Meine Kathi erwartet mich zum Abendbrot; nehmt es nicht übel, ich werde mich von den andern da vorn auf französisch verabschieden.“
Dem Richter trat der Schweiß auf die Stirn, er hielt die Hand des Onkels fest. „Könnte ich morgen Dich sprechen?“
[471] Furtenbacher schaute ihm scharf ins Gesicht. „Du brauchst Geld?“
Der Richter zuckte erschrocken zusammen. „Lieber Anton, nicht so laut! Du weißt, in Hohenwart –“
„Heute hat’s keine Noth,“ sagte der andere trocken, „heute können wir eine Revolution verabreden, es hört uns niemand. Also Du willst vor den Riß treten, Dich opfern? Meinen Glückwunsch!“
Da der Stein einmal rollte, gewann Vitus Müller seine Würde wieder und den knappen sachlichen Vortrag eines Rechtskundigen. Als Onkel Anton vernahm, daß es sich nicht um das Ganze, sondern nur um einen Theil, einen verhältnißmäßig geringen Zuschuß, um ein Darlehen mit sicherer Anlage handle, milderte sich sein Grimm. „Wir wollen morgen darüber weiter reden,“ lenkte er ein.
„Gieb mir eine ruhige Nacht!“
„Nun – warum nicht? … Du bist ein zuverlässiger Mann. Aber ich thu’ Dir den Gefallen nicht etwa, weil eine Excellenz und zweierlei Tuch in die Familie kommt, ich thu’s Verena und Deiner Frau zulieb.“ Damit ging er.
Der Richter nahm seinen Hut ab. O, wie dufteten ihm jetzt die Rosen! Und mit dem Wohlgeruch verband sich der ebenso liebliche Gedanke, daß er seiner Frau eine gute Nachricht bringen könne.
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Auch das Gespräch Idas und ihres Begleiters drehte sich um die Heirathsangelegenheit. Der Präsident erzählte, daß er in einem unmittelbar an den Erbprinzen gerichteten Schreiben eine rasche Erledigung des Heirathsgesuchs erbeten und nicht nur die Braut, sondern auch deren Eltern der Aufmerksamkeit und Huld Seiner Hoheit empfohlen habe.
„Mir ist’s heute abend zur Gewißheit geworden,“ fuhr er fort, nachdem er sich versichert hatte, daß das letzte Paar außer Hörweite war, „mein Freund Müller, namentlich aber Sie, liebe Baronin, sind in Hohenwart nicht an der rechten Stelle. Wie müssen Sie in dieser Enge leiden! Sie gehören in die Residenz. Zwar finden Sie auch dort keine Weltstadt, aber eine Stadt von Welt und in dieser Welt ohne Schwierigkeit den Platz. der Ihnen gebührt.“
Sie hatten die äußersten Häuser hinter sich gelassen, vor ihnen in freier Ebene stand das Bahnhofsgebäude, hell erleuchtet.
Ida drehte sich nach dem Schloßberg um; vom Mondlicht übergossen lag die Burg, hinter jenen fünf niedrigen Fenstern hoch dort oben ihr Heim, so eng, so fern dem großen Leben!
„Ein Orts- und Wohnungswechsel würde allerdings manches für sich haben,“ erwiderte sie. „Sommers ist unsere Wohnung recht luftig und kühl und die Aussicht in die weite grüne Ebene und auf das Gebirge herrlich. Aber im Winter! Die Stadt schrumpft zu einem rauchigen, rußigen Eisenhammer zusammen; Nebel verhängen die Berge; rings dehnt sich das große Bahrtuch aus. Am schlimmsten ist’s in einer Sturmnacht. Sie glauben nicht, was der alte Bau dann für unheimliche Töne hat! Und dazu dieses ewige Gleichmaß der guten Hohenwarter. Wenn Vitus nicht durch seine Stelle gebunden wäre, würde ich sagen: ‚Fort!‘ Aber so – doch alles in allem sind wir ja glücklich.“
„Das ist die Gefahr der kleinen Städte,“ rief der Präsident. „Man verliert die Spannkraft, hält sich für sicher, weil man in einem Käfig wohnt, und für zufrieden, weil man nichts Wünschenswerthes vor Augen hat. Ich sehe schon, Freund Müller muß zum Glück gezwungen werden, man muß Sie beide entführen.“
„Versetzen,“ verbesserte Ida gelassen. – –
Helmuth hatte fürs erste eine Strafpredigt Verenas wegen seines Betragens gegen den Onkel, namentlich aber wegen seiner Grausamkeit gegen Azor über sich ergehen lassen. Er nahm die Sache leicht und bewunderte lieber das Gesicht seiner Braut, das im Mondlicht einem schönen Marmorgebilde glich.
„Aber, gute Verena,“ wandte er ein, „wie konnte ich wissen, daß der Fremdling Deines Vaters Oheim sei! Er war so drollig in seinem Zorn.“
„Onkel oder nicht, man bringt alte Leute nicht in Zorn.“
„Und der Hund ist so häßlich.“
„Mir gefällt er.“
„Ah dann!“ Helmuth warf einen Blick in die Bogengänge des Marktplatzes, wo nur noch eine Tabakshandlung Licht hatte. „Schade, daß der Wurstladen schon geschlossen ist, sonst würde ich mich heute noch Deinem Liebling angenehm machen – doch wie wär’s mit einer Freundschaftscigarre für den Onkel?“
„Schäme Dich, Helmuth! Papa hält große Stücke auf ihn. Schon das müßte Dir den Spöttermund verschließen, wenn Du Papa wirklich liebst.“
„Von Herzen thu’ ich das.“
„Er verdient es auch,“ versetzte Verena ernsthaft. „Als wir nach Hohenwart kamen, waren Mama und ich trostlos. Mit seinem ersten Besuch wurde es gleichsam Tag bei uns, wir fühlten uns nicht mehr verwaist und verlassen. Wenn er so sanft und ruhig und vernünftig zur Mutter sprach, erschien mir der Prunk und die Unrast, worin wir bisher gelebt hatten, wie ein verworrener Traum, und ich empfand nicht die geringste Sehnsucht danach. Ich habe meinen verstorbenen Vater von ganzem Herzen geliebt, ich werde ihn nie vergessen, dennoch konnte ich der Mutter nicht zürnen, als sie mir ihre Verlobung mit unserem Freunde mittheilte. Und seitdem ist er mir Tag für Tag der gleich Gütige geblieben, und wenn es möglich ist, immer theurer geworden. Das Wort Stiefvater will nicht über meine Lippen; nur eins quält mich, Helmuth, Dir kann ich es anvertrauen: manchmal dünkt mich, Mama schätze ihn nicht genug … Wenn Du mich lieb hast,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, „so sag’ und thu’ nichts, was diese stille Seele kränken kann. Liebe und verehre ihn wie ich!“
Sie waren auf der Brücke angelangt, die über das Flüßchen in die Neustadt führte. Da sie die andern erwarten wollten, setzte sich Verena auf die niedrige gemauerte Brüstung. Sie blickte nachdenklich in die Wellen hinab, die geräuschlos dahinglitten; nur da und dort glitzerte ein winziger Strudel im Mondschein. Verena hatte den Strohhut abgenommen und hielt ihn auf dem Schoß. Ihr Verlobter zog die Hand, die niederhing, sanft an seine Brust. „Dein Vater soll uns recht oft besuchen – oder, würde es nicht schöner sein, wenn wir alle und für immer bei einander blieben?“
„Ach, wenn das sein könnte!“
Helmuth lächelte geheimnißvoll. „Ich bin kein Prophet, allein mir schwant, mir schwant –! Komm, liebes Herz, bleiben wir an der Spitze, und wenn Du mir Schweigen versprichst – kannst Du schweigen? Gut, es gilt die Probe. Ich weiß etwas … Aber vorher einen Kuß!“
„Helmuth! Unter freiem Himmel!“
„Nein, unter jener Kastanie.“
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Das Bahngebäude war groß und die Plattform davor langgedehnt und breit, denn Hohenwart war der Knotenpunkt zweier vielbefahrener Schienenwege, eines nordöstlichen und eines nordwestlichen. In jener Nacht war der Steig im Nu von der Masse überfluthet, und noch auf dem angrenzenden Gebiet standen Hunderte von Neugierigen. Der Thronerbe war beim Volke beliebt. Freilich, die Freunde der gegenwärtigen Zustände erwarteten seinen Regierungsantritt mit Bangen, die Mehrheit dagegen, namentlich die Jungen, mit um so größerer Ungeduld.
Zahlreiche Geschichtchen waren über Prinz Rüdiger im Schwange, gute und böse, alle ein Zeugniß, daß er eine Persönlichkeit war, eine geistige Kraft. Nach einem längeren Aufenthalt im Auslande, wo er staatsmännische und volkswirthschaftliche Erfahrungen gesammelt hatte, berührte er zum ersten Male wieder Hohenwart auf der Reise zu einer Verwandten, die sich im Gebirge zur Sommerfrische befand. Neugier wie Anhänglichkeit mochten an dem Gedränge der Hohenwarter zum Bahnhof gleichen Antheil haben. Alles war da, voran der Landrath Graf Zorn, ein verdrießlicher alter Herr mit einem Nußknackerkinn, in der Tracht der fürstlichen Kämmerer, die Geistlichkeit, die höheren Bahn-, Steuer- und Zollbeamten, der Gemeinderath, Major Langbein mit Frau und Tochter, die Kurgäste. Die beiden Imhof und die Familie des Richters waren die letzten, die in den freigehaltenen Raum unter die „Würdenträger“ traten. In der großen Versammlung herrschte feierliche Stille, so daß man deutlich die elektrischen Klingeln am Gebäude und das Rollen und Schnaufen eines herannahenden Zuges vernahm, und schon zuckten aus dem Nebel, der vom Bruch über den Bahndamm kroch, die bekannten feurigen Augen auf – [472] Böllerschüsse krachten und Sänger und Musiker stimmten das Festlied ihres Landes an:
„Heil unserm Landesherrn,
Der Treuen hellem Stern!“
Der kleine Sonderzug rollte in die Halle. Prinz Rüdiger stand auf dem Trittbrett seines Salonwagens und grüßte, den Hut in der Hand, die aufjubelnde Menge. Dann stieg er herab, um dem Landrath die Hände zu schütteln.
„Werden meine Wünsche so erfüllt, lieber Graf?“ fragte er lächelnd.
„Hoheit, die Liebe, Treue, Begeisterung von Hochdero künftigen Unterthanen –“
„Ihr Aussehen ist vortrefflich, mein lieber Graf,“ fiel Rüdiger ein, zog abermals den Hut und grüßte nach allen Seiten. Während er sich nach dem Befinden der gräflichen Familie erkundigte, musterte er die bunte Gesellschaft. „Ah, Excellenz von Imhof!“ rief er dem Präsidenten zu, der in der ersten Reihe stand. „Gut, daß ich Sie treffe –“
Ida behauptete am anderen Tage, der Erbprinz habe dem Vater ihres zukünftigen Schwiegersohnes den ersten Schritt entgegengethan. Wie dem auch sei, im nächsten Augenblick wanderte das Paar, der Prinz und sein Günstling, Arm in Arm den freigehaltenen Theil des Bahnsteigs hinauf und hinab. Der Prinz führte das Wort, für die Wißbegierigen leider nicht laut genug. Jedenfalls waren die Mittheilungen für den Präsidenten sehr erfreulich, denn dieser verneigte sich dankend ein Mal über das andere. Wieder bei seinem Wagen, wandte sich Rüdiger an den Landrath. „Lieber Graf,“ sagte er, „danken Sie in meinem Namen allen, allen für den überaus freundlichen Empfang. Leider bin ich nicht Herr der Lage, der Schnellzug ist uns sozusagen auf den Fersen; sonst würde ich Sie bitten, mir die einzelnen Herren vorzustellen … Excellenz, Helmuth habe ich schon zugewunken. Er sieht sehr gut aus. Ist die junge Dame neben ihm die Braut? Sie ist mehr als eine Schönheit, sie ist reizend. Die andere Dame ist doch unmöglich die Mutter? Wirklich? Das ist ja eine ebenso gebietende wie entzückende Erscheinung! Wie bedaure ich – aber die Bahn muß frei sein“ – er sprach die letzten Worte sehr laut. „In unserer lieben Hauptstadt denn, Excellenz! Und nochmals meinen Glückwunsch – Ihnen und dem Brautpaar und – der schönen Mutter der Braut!“
Sobald der Prinz im Wagen war, ertönte die Dampfpfeife. Der Bürgermeister von Hohenwart aber, Fleischer Zappel, schwenkte seinen Hut und brachte auf den Abfahrenden ein donnerndes Hoch aus. – „Hoch! hoch! hoch!“ Unter brausenden Zurufen und den Klängen der Musik fuhr der Zug aus der Halle.
„Haben Sie die Damen bemerkt, die neben dem jungen Imhof standen?“ fragte der Prinz, als er vom Fenster zurücktrat, seinen Adjutanten Falkenberg. „Imhofs Braut und seine künftige Schwiegermutter.“
„Zu dienen, Hoheit.“
„Wer gefällt Ihnen nun besser, die Tochter oder die Mutter?“
„Jedenfalls die Tochter, Hoheit.“
„Ich weiß nicht –“ sagte der Prinz. „Dann sah er auf die Uhr. Wir haben zwei Minuten Verspätung.“ –
Mit klingender Musik kehrte die Menge ins Städtchen zurück.
Sobald das Grüßen und Abschiednehmen auf dem Platz vor dem Bahngebäude vorüber war, machte der Präsident seiner Begleiterin hochwichtige Mittheilungen: Prinz Rüdiger übernimmt unmittelbar nach der Rückkehr von seinem Ausfluge die Regierung, sein Vater tritt zurück, weil er nach seinem eigenen Ausdruck „die Zeit nicht mehr versteht“. Das Regiment „Erbprinz“ kommt in die Hauptstadt. Die Heirathsbewilligung ist dem Lieutenant Helmuth von Imhof ertheilt.
„Somit ist alles in Ordnung,“ schloß die Excellenz, „nichts fehlt als das Tipfelchen auf dem i, die Einsendung des Haftgeldes – worum ich Sie gehorsamst bitte, liebe Baronin. Wie mir Hoheit versicherte, ist das amtliche Schriftstück schon unterwegs, wird also morgen hier eintreten. Wenn Sie damit einverstanden sind, erledigen wir das Geschäftliche gleich in den allernächsten Tagen. Da man an höchster Stelle uns so rasch zur Hand war, wollen auch wir nicht säumig sein.“
„Natürlich,“ versetzte Ida, allein dies „natürlich“ klang gepreßt.
„Zumal da die Summe bereit liegt – in Staatspapieren, sagten Sie ja wohl?“
„In Staatspapieren.“
„Vortrefflich! Wenn Sie wegen der Form des Begleitschreibens im Zweifel sind, bitte ich, über mich zu verfügen.“
„Warum soll ich Sie belästigen? Mein Mann wird ja wohl Bescheid wissen. Doch nun zu etwas anderem, Excellenz! Sie haben mich durch Ihre Kritik Hohenwarts um meine Ruhe gebracht.“
„Wirklich? Dann ist meine Absicht erreicht.“
„Als Frau eines Offiziers bin ich früher an ein ewiges Hin und Her gewöhnt worden und aus dem Wandern mach’ ich mir nichts. Aber Versetzungen sind nicht immer Verbesserungen. Da Sie bald allmächtig sein dürften –“
„Noch bin ich nicht im Sattel.“
„Aber schon im Bügel. Werden Sie sich des armen Müller erinnern, den Sie so weit zurückgelassen haben?“
Imhof ergriff mit Wärme ihre Hand. „Mein Wort darauf, ich werde mich als Freund beweisen.“
Er gab das Versprechen mit voller Aufrichtigkeit. Nicht als ob er ein verliebter Geck gewesen wäre! Er war bejahrt und fühlte sich alt. Noch war die Erinnerung an seine Gattin lebendig, an sie, die ungleich vornehmer, gebildeter, taktvoller gewesen war als die Baronin. Doch der Zauber, den Frauen ausüben, muß nicht immer Liebe sein. Die frische, rücksichtslose, nur dem Augenblick lebende, aber auch des Lebens frohe Persönlichkeit Idas bezwang Imhof. Es war ihm, als lehne er sich aus dem Fenster einer dumpfen Gerichtsstube und rieche plötzlich Landluft, den frischen Athem von Wald und Feld und Ackererde.
„Ich darf Müller mit gutem Gewissen empfehlen,“ setzte er nach einer Pause zu seiner Rechtfertigung hinzu. „Sprechen wir offen: Ihr Mann ist kein Genie, aber fleißig, gründlich, rechtschaffen. Den Helden gehört die Welt, doch mit den Durchschnittsmenschen bebaut man sie.“ –
Man trennte sich nach der Rückkehr vom Bahnhof nicht sofort. Die kleine Gesellschaft nahm in einer Laube des Kurgartens Platz, und der Präsident erzählte nunmehr auch den übrigen seine Unterredung mit dem Prinzen. Das waren große Nachrichten. Der junge Imhof braute eine Bowle, und während die Musik vom Schloßkeller herüberklang, hielt man eine kleine Nachfeier der Verlobung.
Der Präsident konnte an diesem Abend seine Bewegung nicht beherrschen; der öffentliche Beweis der fürstlichen Gunst that ihm unendlich wohl. Jedes Wort des Prinzen prüfte er auf seine Feinheit und Bedeutung, bis es ihm wie manchem Litteraturforscher erging: er wußte mehr als der Autor. Das stand nun freilich fest, daß ihm der Thronwechsel Arbeit, Ehren, Macht bringen werde. Macht! Wenn die Blechmusik drüben einen kriegerischen Marsch spielte, hob Imhof den Kopf. Er fühlte sich schon als Minister, sah sich umgeben von Diplomaten, Abgeordneten, Bittstellern, von einem Heer von Beamten; er hörte sich in der Kammer seinen Widersachern entgegnen, die er nicht durch stürmische Beredsamkeit, sondern durch kühlen, sachlichen, folgerichtigen Vortrag vernichtet, er stand mit dem Portefeuille vor dem Landesherrn, ein getreuer Diener, gleichwohl furchtlos, zielbewußt, schöpferisch … Wenn aber die Musik sanfte Weisen anhob, dachte er an sein Vaterglück. Sein prächtiger Junge wird nun für immer bei ihm sein! Sein zärtlicher Blick suchte die Augen Helmuths, allein dieser hatte sie nur für die Braut. Zum ersten Mal empfand der Präsident eine gewisse Eifersucht gegen Verena; wenn es nicht so gekommen wäre, wie es kam, würde es nicht besser sein!? So oft seine Gedanken dahinaus wollten, schielte er nach der Baronin und bemerkte jedesmal, daß ihre Blicke forschend auf ihn gerichtet waren. Und er fühlte sich unbehaglich und schuldbewußt. Las Ida in seiner Seele? Wenn auch nicht ganz, so doch annähernd deutlich.
Sie war überzeugt, daß ihm auf dem Heimweg ihre Verlegenheit nicht entgangen war. Sie hatte früher in der Geldfrage so zuversichtlich gesprochen. Wenn Imhof wüßte, wie Vitus sein bißchen alles hingegeben hatte und wieviel trotzdem noch fehlte: würde seine Freundschaft auch dann fortbestehen? Ida hatte nach dem Tode des Obersten einschlägige Erfahrungen gemacht … Das Geld! das Geld! An ihm scheitert ihre Lebensklugheit. Es genügt nicht, für reich gehalten zu werden, man muß es auch sein. Dieser fürchterliche und doch so nothwendige Onkel! Wird Vitus in dem Maße feurig und klug, kräftig und verbindlich
[473]
Abend.
Wandrer folgt im Abendlichte
Ruhesam der Sonne Lauf,
Da, im hehren Ferngesichte,
Steigt die Heimath vor ihm auf,
Wie er einstmals sie verlassen,
Als er noch ein Jüngling kaum,
Wie ihm, ohne zu verblassen,
Oft ihr Bild erscheint im Traum.
[474] reden, als der Fall es verlangt? Warum ist er in dieser Angelegenheit so langsam und schwerfällig? Zwischen Verlobung und Hochzeit kann viel sich ereignen.
Wenn Excellenz mit Vitus spricht, nimmt er heute eine unerrräglich hoffärtige Miene an. Genau so sah der Schauspieler aus, der in „Kabale und Liebe“ – Ida weiß nicht mehr, wo – den Präsidenten gab. Und Schauspieler verstehen sich ja wohl auf Mienen und Gesichter. Wenn die Verbindung Papa Imhof verleidete, würde er vor Listen und Ränken so wenig zurückschrecken wie die Excellenz in Schillers Trauerspiel. Und das Herz Verenas würde brechen wie das Luisens, aber Helmuth – würde auch er sich grämen und vergiften wie Ferdinand? Ach! Die Zeiten, die Begriffe von Treue sind andere geworden.
Idas Gedanken wurden immer düsterer. Wenn nicht der unverwüstliche Lieutenant die Unterhaltung geführt hätte, würde die Gesellschaft in Grabesschweigen versunken sein. Da fand der Amtsrichter Gelegenheit, seiner Frau zuzuflüstern: „Ich habe mit dem Onkel gesprochen, alles gut!“ Im Handumdrehen wechselte ihre Stimmung, und nun entfaltete sie soviel Munterkeit, Mutterwitz und natürliche Laune, daß der Präsident alle lichten und dunklen Punkte der Zukunft über der Bewunderung ihrer Frische vergaß. Vitus war selig über den Frohsinn und die Erfolge Idas. Da er kein Trinker und des Weines nicht gewohnt war, stieg ihm das starke Getränk zu Kopf; er wurde – kurz vor Mitternacht – so beredt, daß er ein Hoch auf die Excellenz, das Brautpaar und seine liebe, liebe Frau ausbrachte. Dieses Ereigniß machte sowohl Ida wie den Präsidenten bedenklich. Man brach auf.
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Rheinfahrt mit Joseph Viktor Scheffel.
Ich machte im Sommer 1857 durch das westliche Deutschland von den Alpen zur Nordsee eine längere Reise, die in der Hauptsache wissenschaftlichen Studien gewidmet war. Doch fand ich dazwischen auch Zeit, in freier Wanderlust durchs Land zu schweifen, zu wandern, um zu wandern, wo gerade die Reize der Gegend mich lockten.
So hatte ich mich anfangs Juli im Schwarzwald umhergetrieben und war dann nach Karlsruhe gekommen.
Hier besuchte ich Scheffel, der mir seit seinem Münchener Aufenthalte befreundet war. In München hatte Scheffel glückliche Tage, aber auch Tage schweren Leides durchlebt, als seine hochbegabte Schwester in voller Jugendblüthe plötzlich starb. Ich hatte ihm in guten und bösen Stunden nahe gestanden, und dazu verband uns die gemeinsame Begeisterung für unser Volk in seiner lebendigen Gegenwart und in seiner Geschichte, für unser Land in der Poesie seiner Natur und seiner Alterthümer.
Scheffel war sichtlich erfreut über meinen Besuch, und da er wußte, daß ich mich lieber im Gehen unterhalte als im Sitzen, so schlug er sofort einen Gang durch die Straßen der Stadt vor, die in festlichem Schmucke prangte; Fahnen wehten von den Häusern, und eine fröhliche Menschenmenge wogte auf und ab. Es war der 9. Juli, und um die Mittagsstunde war dem jugendlichen großherzoglichen Ehepaare ein Erbprinz geboren worden. Nachdem wir uns lange durch Straßen und Gassen umhergetrieben hatten, zogen wir uns in die Kühle des stillen Schloßparkes zurück.
Ich begann – nun doch auf einer Bank sitzend – Scheffel von meiner Wanderung durch den Schwarzwald zu erzählen, und er befragte mich genau über die Wege, welche ich eingeschlagen, und was ich gesehen und nicht gesehen hatte. Mein Bericht fand keineswegs seinen Beifall. Er tadelte mich, daß ich ihn nicht vorher benachrichtigt habe von meiner Schwarzwaldfahrt: er würde mir nach Basel entgegengekommen sein, um mich weit schönere Wege zu führen und mir weit Merkwürdigeres zu zeigen. Er betrachtete den Schwarzwald als seine eigenste Domäne. Ich war in der That planlos meiner Nase nachgegangen, und das ist zuweilen auch ein besonderes Vergnügen, ja, um mit Scheffel zu reden, „eine tapfere Kunst“.
Wir stritten darüber, was das Schönste sei: den Weg in unbekanntem Lande ganz allein zu suchen, oder von einem landeskundigen Freunde geführt zu werden, oder umgekehrt auf wohlbekannten Wegen den Freund zu führen. Ich erklärte das letztere für das Allerschönste. War ich doch stets ein leidenschaftlicher Cicerone gewesen! Wenn ich eine schöne Gegend auf einsamem Gang entdeckte, dann dachte ich immer schon im ersten Genießen daran, wie ich sie andern zeigen wollte, und glückte mir’s nachher, einen gleichgestimmten Kameraden zu finden, dem ich meine Entdeckungen vorführte, dann war das ganze weite Land erst voll mein eigen.
So hatte mir mein Vater, als ich ein neunjähriger Knabe war, den Rhein von Mainz bis Koblenz gezeigt, und ich zeigte ihn später wohl ein dutzendmal vielen lieben Wandergenossen; wir stiegen hinauf zu den Burgen, wir drangen in die Seitenthäler, und indem ich nicht nur mit eigenen Augen, sondern auch in anderer Augen sah, wie schön das Rheinthal sei, lernte ich den Vater Rhein erst recht kennen und lieben.
Scheffel war gepackt von der einfachen Wahrheit, die ja Tausende schon an sich erfahren haben, und indem er wiederholt bedauerte, daß er mir den Schwarzwald nicht in seiner Weise habe zeigen können, machte er den Vorschlag, ein paar Tage gemeinsam rheinab zu wandern, damit ich ihm ein Stück Rhein in meiner Weise zeige.
Mein Plan war eigentlich, von Karlsruhe aus den Odenwald zu durchstreifen, den ich noch nicht kannte. Allein der Odenwald lief mir ja nicht davon; ich konnte ihn für diesmal bei Seite liegen lassen, und da mein nächstes städtisches Ziel Kassel war, so beschloß ich, mit Scheffel eine Rheinfahrt bis zur Lahnmündung zu machen und dann mit ihm die Lahn hinauf zu gehen.
Schon am nächsten Tage fuhren wir nach Frankfurt und Mainz, frohgemuth, in frischester Wanderlust, Stab und Tasche unser einziges Gepäck.
Ich will nicht unsere ganze Rheinfahrt schildern; ich greife nur die zwei eigenartigsten Tage heraus.
Wir hatten in St. Goarshausen übernachtet und waren früh aufgestanden, geweckt vom prächtigsten Sonnenschein. Als wir im Vorgärtchen des Gasthauses beim Frühstück saßen, begrüßte mich ein alter Bekannter aus Frankfurt. Ich stellte ihm meinen Freund Scheffel vor. Kaum hatte er den Namen gehört, so fragte er, ob er vielleicht das Vergnügen habe, den Dichter des „Trompeters von Säckingen“ vor sich zu sehen. Und als ich dies bejahte, sprach er seine helle Freude aus über das schöne Gedicht, welches er schon viermal gelesen, und welches ihm so gut gefalle, daß er ganz ungewollt viele Verse auswendig behalten habe. Und er sprach auch gleich ein paar Verse, die ganz vortrefflich in die heitere Morgenstimmung hier im Garten am Rheine paßten. Man fühlte, wie das Lob des Mannes aus dem Herzen kam. Und der Mann war kein Dichter, kein Litteraturmensch, kein schwärmerischer Jüngling, sondern ein fünfzigjähriger Beamter der fürstlich Thurn und Taxisschen Generalpostdirektion. Da mußte doch dieses freiwillige Lob doppelt schwer wiegen. Allein Scheffel hörte ihn schweigend an, sein Gesicht sah ganz feierlich zwischen den Vatermördern hervor, die er unpoetischerweise zu tragen pflegte, und nach einer peinlichen Pause ergriff ich das Wort, um dem begeisterten Oberpostbeamten einige Artigkeiten zu sagen, die ihm eigentlich der Dichter hätte sagen sollen.
Scheffel war damals noch wenig bekannt; sein „Trompeter“, schon seit Jahren erschienen, errang erst später den durchschlagenden Erfolg, und der Dichter klagte oft darüber, daß seine Gedichte so wenig gelesen würden. Nun stand plötzlich ein Leser vor ihm, wie sich ihn der Poet nur wünschen mag; – und der Poet sah darein, als hätten ihm die Hühner das Brot gefressen, und verabschiedete sich ganz steif und kalt von dem Fremden, der ihm doch so nahe getreten war.
Im geselligen Verkehr mußte man zwischen dem eingefrorenen Scheffel und dem aufgethauten Scheffel zu unterscheiden wissen. Diesmal war er vollständig eingefroren.
Als wir jedoch aufgebrochen waren und die Schlucht des Forstbachthals hinanstiegen, durch welches wir den Weg zur Burg Reichenberg suchten, thaute er plötzlich auf und meinte, schöner habe dieser Morgen für ihn nicht beginnen können als durch die [475] Begegnung mit dem liebenswürdigen Frankfurter, der ihm seine ehrliche, warme Anerkennung so gewinnend ausgesprochen habe. So echtes Lob entschädige ihn für das Schweigen der Kritik und mache ihn glücklicher, als wenn es sein „Trompeter“ heute schon zur zehnten Auflage gebracht hätte.
Ich blieb stehen, sah ihm erstaunt ins Gesicht und fragte: „Aber warum hast Du denn nicht vor einer halben Stunde auch nur die Hälfte dieser schönen Worte, die Du mir jetzt sagst, dem freundlichen Fremden gesagt? Auch er würde sich dann ganz glücklich gefühlt haben, und jetzt hat er sich vermuthlich geärgert.“
„Habe ich denn nichts gesagt?“ fragte Scheffel ganz verwundert.
„Nein!“ rief ich, „gar nichts hast Du gesagt!“
„Dann habe ich eben geschwiegen,“ entgegnete er ganz trocken, „weil ich so vergnügt war.“
Unser nächstes Ziel, die Burg Reichenberg, war bald erreicht. Schon von ferne freuten wir uns des Anblicks der großartigen Ruine, die an malerischem Reiz der Thürme und Mauern die meisten Rheinburgen übertrifft; nur mangelt dem Vordergrunde der Schmuck des Stromes, denn Reichenberg erhebt sich etwa eine Stunde landeinwärts im Hügelland.
Aber gerade die einsame Lage des weltvergessenen Gemäuers lockte uns. Wir waren beide der Ansicht, daß zu einer wahrhaft schönen Gegend auch schöne, recht gründlich ruinierte Burgen gehören, „freie Burgen“, das heißt unbewohnte und unbewachte Trümmer, die dem Wanderer offen stehen, die wir beherrschen und auf eine Stunde unser eigen nennen, solange wir darin umherklettern, in alle Winkel kriechen und treiben, was wir wollen. Die freie Burg und der freie Wald, das waren so herrliche Wanderziele, die das heutige Geschlecht wenig mehr sucht und die freilich auch immer seltener zu finden sind.
Eine ganz „freie“ Burg war Reichenberg freilich auch schon damals nicht mehr. Am Eingang wohnte ein Pförtner, der uns ein neues, soeben vom Buchbinder gekommenes Fremdenbuch vorlegte, auf dessen erstes Blatt wir beide uns als die ersten einschrieben. Allein nachdem wir diesen Zoll entrichtet, hatten wir dann doch die Freiheit, uns nach Herzenslust in einem Labyrinth von Trümmern zu tummeln.
Wir suchten in dem alten Mauerwerk nach syrisch-fränkischer Architektur, nach maurischen Hufeisenbogen, nach Alhambraornamenten, wir suchten den Orient im Herzen der Niedergrafschaft Katzenelnbogen. Ich hatte Scheffel schon den ganzen Morgen lüstern gemacht nach dieser merkwürdigen Burg, die den Einfluß der Kreuzzüge auf den deutschen Burgenbau bekunde. Der mächtige Hauptthurm, auf dem Grundriß eines Vierpasses erbaut und also in vierfacher Rundung profiliert, oben mit einem Stachelkranze von horizontal weit hervorragenden Säulenbasalten phantastisch geschmückt, dünkte uns wenigstens von weitem sehr morgenländisch. Allein im Innern der Burg fanden wir zwar manche interessante Konstruktionen und Ornamente, die von der großartigen und reichen Anlage des alten Baues zeugten, die wir aber doch trotz allen Widerstrebens nur für abendländisch erklären mußten, bis ich zuletzt Scheffel darauf aufmerksam machte, daß bei den ältesten Bautheilen nirgends ein Rest oder Ansatz eines Giebels zu entdecken sei. Die Dächer seien in der That alle flach gewesen, flache, massiv gemauerte Dächer wie bei den Burgen der Kreuzfahrer in Syrien, auf Blanche-Garde bei Askalon, auf der Burg zu Saona. Wo die Wände aufhörten, da fange der Orient an.
Nachdem wir uns im Schatten des großen Thurmes gelagert hatten, erzählte ich, daß Graf Berthold von Katzenelnbogen den vierten Kreuzzug im Jahre 1204 mitgemacht habe und glücklich wieder heimgekehrt sei; da sei nun nichts wahrscheinlicher, als daß er sich diese stolzeste Burg seines Landes zum Andenken im orientalischen Stile habe bauen lassen.
Scheffel meinte, man lerne doch jeden Tag etwas Neues. Bisher habe er nur gewußt, daß Franzosen und Italiener den vierten Kreuzzug unternommen hätten, um in Konstantinopel sitzen zu bleiben und das „lateinische Kaiserthum“ zu gründen; nun erfahre er, daß doch auch ein deutscher hoher Herr dabei gewesen sei.
„Allein der Deutsche wurde todtgetheilt, als die Lateiner die Beute theilten,“ bemerkte ich dazu. „Die Venetianer erhielten die schönsten Inseln des griechischen Meeres zu Lehen, ein Lombarde Makedonien, der französische Kriegsberichterstatter, Villehardouin, Achaja, andere französische Ritter Athen und etliche weitere Städte; nur der deutsche Graf hat nichts gekriegt, und es wäre doch so schön gewesen, wenn Athen damals katzenelnbugisch geworden wäre.“
Scheffel meinte, der Graf Bertold sei dann wohl aus Verdruß wieder nach Haus gegangen und habe sich im Herzen Katzenelnbogens sein eigenes Konstantinopel gebaut, dieses Reichenberg mit den platten Dächern, dem nur ein Stückchen Bosporus fehle.
So gestalteten wir, wie im Duett herüber und hinüber spinnend und erfindend, ein phantastisches Gewebe von mittelalterlicher Romantik und modernem Humor, und Scheffel meinte zuletzt, das sei ein prächtiger Stoff zu einem lustigen Gedicht, und er wolle von Reichenberg und dem Katzenelnboger in Konstantinopel singen und sagen, sobald er wieder in der Stephanienstraße zu Karlsruhe sitze.
Ob er diesen Plan wirklich weiter verfolgt, ob er wenigstens irgendwelche Skizze niedergeschrieben hat? Ich weiß es nicht. Der Stoff wäre wenigstens echt Scheffelisch gewesen.
Als wir die Burg verließen und wieder an der Pförtnerwohnung vorbeikamen, erhob ich warnend den Finger und sprach: „Es ist gut, daß uns vorhin der Mann nicht belauscht hat, der das Fremdenbuch stiftete und dem die Burg gehört, Archivar Habel von Schierstein. Er hat Reichenberg vor dem schon begonnenen Abbruch gerettet, aber wenn er jetzt vor uns stände, würde er den ganzen romantischen Aufbau Deines geplanten Gedichtes schonungslos umreißen und Dir erklären, daß jener Bertold, der allerdings Herr dieser Lande war und den vierten Kreuzzug mitgemacht hat, Reichenberg gar nicht erbaut habe, sondern vielmehr Wilhelm, ein anderer Graf seines Hauses, und zwar hundert Jahre später. Es wäre dann ein neues Räthsel, wie Graf Wilhelm lange nach den Kreuzzügen zu der orientalischen Bauweise seiner Burg gekommen sei, und wir könnten ihn zu diesem Zwecke etwa eine Pilgerfahrt ins gelobte Land machen lassen. Vielleicht würdest Du nun aber noch lieber den kritischen Archivar Habel selbst besingen, der die Burgen rettet und die Burgenpoesie vernichtet, einen alten Junggesellen, den leibhaften Jonathan Oldbuck. Walter Scotts Alterthümler ins Deutsche übersetzt, der eine ganze Anzahl schöner Burgen sein eigen nennt, auf denen er sich hier und dort ein kleines Stübchen hergestellt hat, um ab und zu einsame Tage in stiller Beschauung zu verbringen.“
Scheffel meinte, die kritischen Einwände des Archivars würden ihn gar nicht stören; als Poet habe er das unumschränkte Recht, die Burg Reichenberg durch den Grafen Bertold hundert Jahre vor ihrer Erbauung erbauen zu lassen, allein er werde den Archivar Habel auch in das Gedicht bringen und das Dörfchen Reichenberg dazu, für welches der Burgherr Stadtgerechtsame von Kaiser Ludwig dem Bayern erwirkt und das es trotzdem in einem halben Jahrtausend nicht einmal zu einem ordentlichen Wirthshaus gebracht habe. Er brummte noch eine Weile über diese urkundlichen Privilegien und das mißrathene Dorf; denn es war sehr heiß geworden und wir hatten großen Durst. Wir begannen darum so schnell wie möglich nach dem gastlicheren Sankt Goarshausen zurückzugehen.
Als wir uns aber nach einer Strecke Wegs noch einmal nach der Burg umschauten, fand Scheffel das Bild so wunderschön, daß er sich unter den nächsten Baum setzte und fast eine Stunde lang trotz allen Durstes Burg und Landschaft sorgsam zeichnete.
Ich spann während der unerwarteten Rast an meinen Gedanken über die prächtigen Ruinen weiter; der Pförtner kam mir sehr glücklich vor, der Jahr um Jahr in der Burg und mit der Burg wie mit einer treuen Freundin leben durfte. Ich beschloß, eine Novelle zu schreiben, worin ein so verfallenes Mauerwerk das Glück und Geschick eines sonst aller Glücksgüter ledigen guten Menschen bestimme, und so entstand in mir der Plan zu der Novelle „Burg Neideck“, den ich dann nach meiner Gewohnheit jahrelang in mir herumtrug, bevor ich ihn ausführte.
Einige Monate nach unserer Rheinfahrt überraschte mich Scheffel durch die Zusendung einer großen, in Sepiatönen wirksam angetuschten Zeichnung. Sie stellte die Burg Reichenberg im freien Stil einer historischen Landschaft dar, ein charakteristisches Blatt, welches betrachtenswerth wäre, auch wenn es Scheffel nicht gezeichnet hätte. Als theueres Andenken an den Freund hängt es heute noch unter Glas und Rahmen in meinem Zimmer, seine Nachbildung wird auch den Lesern der „Gartenlaube“ nicht unwillkommen sein.
Des andern Morgens zogen wir von St. Goarshausen rheinabwärts. Es war Sonntag, kein Wölkchen trübte das Himmelsblau, die Glocken läuteten von ferne, und als sie verstummten, [476] war es so still ringsum, daß man nur das leise Rauschen des wirbelnd fluthenden Stromes hörte.
Als wir an dem ehemaligen Kapuzinerkloster Bornhofen vorübergingen, welches im Laufe der Zeit ein Wirthshaus geworden war, beschlich mich eine Erinnerung aus vergangenen Tagen, und ich erzählte sie dem Freunde; denn wir hatten uns lange genug angeschwiegen im stillen Genießen des herrlichen Morgens am Rhein.
Vor sechzehn Jahren war ich auf meiner ersten akademischen Herbstferienreise einsam dieselbe Straße gewandert; mit selbsterworbenen zehn Gulden in der Tasche hatte ich eine Reise von Weilburg nach Frankfurt, von dort zum Rheine und stromab bis Oberlahnstein und dann die Lahn hinauf zurück nach Weilburg unternommen. Als ich an einem frischen Septembertage um zwölf Uhr gegen Bornhofen kam, war ich gesättigt von Naturgenuß, aber sehr hungrig im Magen. Ich ging darum in das Kloster und begehrte zum Mittagessen einen Teller Suppe und einen Schoppen Wein; denn mehr duldete meine Börse nicht. Der Wirth, eine weit vornehmere Erscheinung als ich, sah mich etwas verwundert an, brachte aber doch das Bestellte, indem er den Teller mit unnachahmlichem Schwung gleichsam auf den Tisch warf und den Schoppen mit festem Stoß daneben pflanzte, und rief. „Da haben Sie Ihre Suppe!“ Er schien fast gewünscht zu haben, daß ich etwas mehr bestellt hätte, und ich hätte gewünscht, daß etwas Brot oder ein wenig Gemüse oder gar einige Stückchen Fleisch in der Suppe geschwommen wären, allein es war nur reinste, klare Fleischbrühe – bouillon clair. Ich aß mit bestem Appetit, sofern man eine lautere Flüssigkeit essen kann, trank meinen Wein, zahlte meine Zeche und ging gehobenen Muthes weiter.
Doch bald regte sich der Wunsch nach etwas festerer Speise. Ich trat darum in Camp in eine Bäckerstube und begehrte für einen Kreuzer Schwarzbrot. Der Bäcker sprach mir freundlich zu, während er ein großmächtiges Stück, fast den halben Laib, herunterschnitt. Ich meinte, das sei viel zu viel für einen Kreuzer, allein er entgegnete, es sei gerade recht, er habe verschiedene Taxen. Er hielt mich offenbar für einen wandernden Handwerksburschen, und da er sich mehr zu nehmen weigerte, zahlte ich meinen Kreuzer, steckte das Brot in mein Täschchen und setzte mich vor dem Dorf in den Schatten eines Nußbaumes. Und während ich dort vergnüglich von dem guten frischen Brot schmauste, gingen mir Kinkels sinnige Verse vom Brot und Wein – vom „Abendmahl der Schöpfung“ – durch die Seele. Dem Nußbaum gegenüber stand aber ein alter bemooster Heiligenstock, und als ich mich sattgegessen hatte, zeichnete ich den alten Stein mit den fernen Thürmen von Boppard im Hintergrunde und war vielleicht der vergnügteste „Rheinreisende“ des ganzen Tags.
Dies alles erzählte ich Scheffel, während wir von Bornhofen rheinab pilgerten, und meinte, es sei mir doch bis jetzt recht gut gegangen im Leben. Und wir standen zuletzt vor demselben Heiligenstock, den ich vor sechzehn Jahren gezeichnet hatte, und jenseit des Flusses glänzten die Thürme von Boppard im hellsten Sonnenlicht.
Da fiel mir plötzlich ein, daß ich im vergangenen Frühjahr den Honoratioren von Boppard einen Besuch versprochen habe. Ich hatte das Versprechen inzwischen ganz vergessen gehabt, jetzt aber sagte ich Scheffel, es wäre doch prächtig, wenn ich in Gemeinschaft mit ihm meine Zusage erfüllte; wir wollten einen Fährmann suchen, daß er uns nach Boppard übersetze, es sei bald elf Uhr, die passendste Besuchsstunde.
Scheffel fragte verwundert, wen ich denn eigentlich besuchen wolle. Ich erwiderte, das wisse ich selbst nicht genau, ich kenne keinen Menschen in Boppard, nicht einmal dem Namen nach; es sei eben die „gebildete Gesellschaft“, es seien die Honoratioren von Boppard, denen unser Besuch gelte.
Und nun berichtete ich Folgendes:
Im vergangenen Frühjahr hatte ich eine „Adresse“ aus Boppard erhalten, bedeckt mit vielen Unterschriften, es war die erste Adresse, die ich in meinem Leben erhielt, und ist auch die letzte geblieben. Ein Verein, ein Kasino, dessen Namen ich vergessen, hatte während des Winters meine „Familie“ und die „Kulturgeschichtlichen Novellen“ gelesen und so viele Freude daran gefunden, daß sämmtliche Mitglieder mir ihren Dank auf einem Foliobogen aussprachen und mich baten, ihr Gast zu sein, wenn ich einmal nach Boppard komme. Unterzeichnet waren der Bürgermeister, Beamte, Geistliche beider christlicher Bekenntnisse, der Rabbiner, Aerzte, Lehrer, Kaufleute, kurzum, wie es schien, die Spitzen der gebildeten Gesellschaft. Ich hatte sofort mit einem Dankbrief geantwortet und am Schlusse gesagt, wenn mich mein Weg je wieder nach Boppard führen sollte, so würde ich der freundlichen Einladung Folge leisten. Und heute erinnerte mich der Anblick der Thürme der Stadt plötzlich wieder an das ganz vergessene Versprechen.
Scheffel, der es sonst durchaus nicht liebte, bei fremden Leuten Besuche zu machen, war ganz entzückt von meinem Gedanken, und wir fuhren sofort über den Rhein. Erst auf dem Wasser kam uns das Bedenken, an welcher Thür wir denn eigentlich anklopfen sollten; denn ich wußte ja keinen Namen mehr. Da ich mich aber ganz bestimmt entsann, daß der Bürgermeister an der Spitze der Unterzeichner gestanden habe, so beschlossen wir zum Bürgermeister zu gehen und uns dort zu melden. Wir trafen ihn auch zu Haus, einen sehr artigen Herren in den besten Jahren. Ich stellte uns beide vor und sagte, wir seien auf flüchtigem Durchmarsch, allein ich könne mir doch nicht versagen, mein Versprechen zu erfüllen, ihn persönlich zu begrüßen und meinen schriftlichen Dank mündlich zu wiederholen mit der Bitte, daß er denselben auch den anderen Herren vermitteln möge.
Der Bürgermeister ließ jedoch einen so kurzen Besuch nicht gelten: wir möchten wenigstens bis morgen bleiben und die Gäste des Vereins sein; er werde sofort alle die übrigen Unterzeichner von unserer Anwesenheit in Kenntniß setzen. Es bedurfte keiner großen Ueberredung, uns seinem Wunsche willfährig zu machen, und es ging nun alles so planmäßig Schlag auf Schlag, als ob man unsere Ankunft just auf diesen Tag und zu dieser Stunde längst erwartet hätte.
Wir wurden in der Kaltwasserheilanstalt Marienberg einquartiert, einem ehemaligen Kloster, welches sich auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt erhebt. Unsere Zimmer waren kühl und luftig, die Aussicht entzückend, unser Wirth fein gebildet und herzlich, seine junge Gemahlin schön und liebenswürdig; der Arzt der Anstalt gesellte sich hinzu, uns in artigster Weise die Honneurs zu machen. Wir waren wie im Paradies.
Als wir am Familientische speisten, ließ ich unwillkürlich mein Auge durch das offene Fenster zum Rhein und zum gegenüberliegenden Ufer schweifen. Scheffel errieth meine Gedanken und konnte nicht umhin, der Gesellschaft mein Abenteuer vor sechzehn Jahren in drolligster Weise zu erzählen, und indem er das ehemalige Kloster Bornhofen drüben im Thale mit dem Kloster hier oben auf dem Berge verglich, welches zwar kein Wirthshaus geworden sei, aber das gastlichste Asyl für Kranke und Gesunde, stießen wir zum Schluß auf das Wohl unserer freundlichen Wirthe an.
Ich habe Scheffel niemals so aufgethaut gesehen wie an diesem Tage.
Nach Tisch betrachteten wir unter kundiger Führung die Stadt und begaben uns dann zum Bürgermeister, wo wir bereits eine große Zahl von Herren versammelt fanden, die uns erwarteten. Man hatte die glücklichste Form gewählt, uns die landschaftlichen Reize Boppards zu zeigen und zugleich in zwanglosester Weise mit einander zu verkehren: einen gemeinsamen Waldspaziergang zu einer freien Bergeshöhe. Dort lagerten wir uns behaglich und überblickten Stadt und Thal und Fluß im reichsten Gesammtbilde. Wir blieben droben bis gegen Abend in heiterem Gespräch und im Genusse der herrlichen Natur. Es wurden keine Reden gehalten, keine Trinksprüche ausgebracht, was auch nicht möglich gewesen wäre, da wir nichts zu trinken hatten; wir bewegten uns wie Freunde unter alten Freunden. Von Scheffel hatten die Bopparder bis dahin offenbar noch nichts gewußt, aber sie lernten ihn jetzt von seiner liebenswürdigsten Seite kennen. Mein Name war damals bekannter in Deutschland als der Name Scheffels; heute ist es umgekehrt. Ich empfahl den Herren Scheffels „Trompeter“ und „Ekkehard“ zur nächsten Winterlektüre, und sie werden es nicht bedauert haben, daß sie den Dichter früher kennengelernt hatten als seine Dichtungen. Hoffentlich haben sie auch nicht bedauert, daß sie bei mir den Autor später kennenlernten als seine Bücher.
Wir stiegen herab ins Thal, um zunächst wieder in eine Kaltwasserheilanstalt geführt zu werden, in das Mühlbad am unteren Ende der Stadt. Hier sollten wir uns vorläufig durch einen Trunk Wein erfrischen. Allein der Besitzer der Anstalt empfing uns, weit über das Programm hinausgreifend, mit einem vollständigen Abendessen, welches wir uns trefflich schmecken ließen. [477] Der Bürgermeister aber drängte zum Aufbruch, indem er sagte, dies sei keineswegs unser eigentliches Abendessen, wir würden dasselbe vielmehr in seinem Hause finden, wo auch eine größere Gesellschaft uns erwarte. An dem reichbesetzten Tische des Bürgermeisters ließen wir’s uns dann auch zum zweiten Mal schmecken, tranken aber mehr als wie aßen; denn es liegt in der Natur des Kulturmenschen, daß sein Durst ausdehnsamer ist als sein Hunger. Die Unterhaltung war sehr lebhaft und Mitternacht unvermehrkt herangekommen, als wie endlich aufbrachen und bergauf zu unserer Wohnstätte wanderten, zu der oberen Kaltwasserheilanstalt. Wir wollten uns ganz still auf unsere Stube schleichen, da begrüßte uns unsere junge Wirthin im schönsten Sonntagskleide und führte uns in das Staatszimmer, wo der Tisch gedeckt stand – mit einem dritten Abendessen! Sie hatte nicht gewußt, daß wir bereits im Mühlbad, entgegen dem Programm des Bürgermeisters, mit einem ersten und beim Bürgermeister, entgegen ihrem eigenen Programm, mit einem zweiten Abendessen überrascht worden waren. Sie hatte ohne Zweifel während langer Stunden peinlichen Wartens über Unpünktlichkeit gezürnt, aber sie hatte ausgeharrt und ein sehr gewähltes Mahl warm halten lassen, bis wir nach 12 Uhr ankamen; sie ließ uns keine Spur von Verstimmung merken und begrüßte uns so liebenswürdig, als ob wir fünf Stunden früher gekommen wären. Von Rührung, Dank und Mitleid erfüllt, entschuldigten wir uns aufs gründlichste und konnten auch weiter nicht widerstehen: – wir setzten uns zum dritten Abendessen, zur Sühne unserer Schuld, die eigentlich gar nicht unsere Schuld war. Wir nippten am Glase und thaten, als ob wir äßen, aber wir behaupteten uns beide auf der Höhe der Situation und suchten durch erlesene Artigkeit und beste Laune alles wieder gutzumachen.
Als wir gegen 1 Uhr endlich zu Bett gingen, meinte Scheffel, er habe nicht gewußt, daß es so anstrengend sei, auch nur einen halben Tag von lieben Leuten gefeiert zu werden. In seinem späteren Leben wird er diese ihm damals noch neue Thatsache öfters bestätigt gefunden ud entdeckt haben, daß es bei solcher Gelegenheit sogar noch Anstrengenderes zu ertragen giebt als drei Abendessen an einem Abend.
Des anderen Morgens begleiteten uns mehrere der neuen Freunde zum Rhein, wo wir einen Kahn mietheten, um zum rechten Ufer zurück zu fahren. Nach herzlichem Abschied bestiegen wir das kleine Fahrzeug und entdeckten erst, als wir schon in den Strom hinaus trieben, daß unser Fährmann eigentlich kein Mann, sondern ein
halbwüchsiger Junge war, der nur mit Mühe Kahn und Fluth beherrschte.
Während wir so auf dem Wasser dahinglitten, begann Scheffel mir die Geschichte von der Meerfahrt des Pfalzgrafen Ottheinrich und dem Enderle von Ketsch zu erzählen, die er unlängst im alten Merian gefunden hatte. Er war eben zu der Stelle gekommen, wo Enderles Geist, in Hemdärmeln am Maste seines Schiffes stehend, dem entgegenfahrenden Pfalzgrafen zuruft: „Weichet, Herr Pfalzgraf, weichet, der dick’ Enderlein von Ketsch kommt!“ als zwei Dampfer, der eine zu Berg, der andere zu Thal fahrend, unsere Bahn kreuzten. Unser Nachen begann bedenklich auf den Wellen zu tanzen, die durch die Enge und die Krümmung des Stromlaufes doppelt hoch aufschlugen, der Fährbube verlor alle Macht über seine Ruder, und eine mächtige Woge traf unsere Breitseite, daß wir beinahe umgeschlagen wären. Scheffel erschrak sehr und verstummte mitten in seiner Geschichte; ich erschrak nicht minder, bat ihn aber, weiter zu erzählen, denn wenn es uns beschieden sein sollte, nach dem gestrigen Tage hier angesichts der gastlichen Stadt zu ertrinken, dann könnten wir’s jetzt doch nicht mehr ändern. Darüber waren wir aus den schlimmsten Wellen herausgekommen. Doch beendete Scheffel seine Geschichte erst, als wir wieder auf festem Boden standen, und zwar indem er sie wieder von vorn anfing. Er sagte mir übrigens damals noch kein Wort, daß er den Enderle von Ketsch poetisch behandeln wolle. Vielleicht hat ihm die Erinnerung an unsere Kahnfahrt die Geschichte des alten Merian so fest eingeprägt, daß er sich in Versen wieder von ihr befreien mußte.
Noch einen letzten Blick des Abschiedes auf Boppard, und wir schritten fröhlich weiter gegen Braubach, wo wir hinter der Marxburg bergan stiegen und, quer über die Höhen kreuzend, bei Dausenau das Lahnthal gewannen. Wir umgingen auf diese Weise Bad Ems, welches uns zu vornehm war, als daß wir’s hätten besuchen mögen. Wir streiften lieber durch Wälder und Wiesen als durch Villenstraßen und Kurpromenaden.
Nachdem wir zwei Tage lang das malerische Lahnthal aufwärts gewandert waren, trennten wir uns angesichts des Limburger Domes, der so unvergleichlich auf dem Felsen über dem Flusse thront, Scheffel südwärts, ich nordwärts weiterreisend. Beim Abschied bat mich Scheffel, ihm meine Landkarte des Odenwaldes zu leihen, die ich bei mir trug, weil ich ja anfangs jene Berge hatte aufsuchen wollen. Als er mir nach längerer Zeit die Karte zurückschickte, fand ich die Orte, welche er berührt hatte, von seiner Hand mit Bleistift unterstrichen. Er war von Zwingenberg zum Rodenstein gegangen und hatte fast alle Nachbarorte der Burg besucht, um dann über Rehbach und Asselbrunn ins Mümlingthal hinüber zu wechseln, wo ich seine Spur von Fürstenau bis Beerfelden verfolgen konnte. Dort hörten die Striche auf. Als ich später die lustigen „Lieder vom Rodenstein“ las, erkannte ich, daß Scheffel Lokalstudien dazu auf dem Heimweg von unserer fröhlichen Rheinfahrt gesucht hatte. Denn neben dem Rodenstein war das „treue schnapsbrennende Reichelsheim“ unterstrichen und „Gersprenz der fromme, züchtige Ort.“ Nur „des Odenwaldes Kronjuwel, Pfaffenbeerfurt, die duftige Mistfinkenhöhl’“ hatte keinen Strich.
Scheffels Nase scheint ihre Forschungen dort zu einer anderen Zeit gemacht zu haben.
[478]
Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.
Fremd und absonderlich, wie eine veraltete Seltenheit, welche das Gepränge einer vergangenen Zeit in die neue hineinträgt, so erscheint der Wiedehopf, wenn er sich von dem Boden in zuckendem Fluge mit bald schnellerem, bald langsamerem Flügelschlage erhebt und dem Hochwalde oder den Bäumen der Trift zustrebt. Wenn er sich niedersetzen will auf den derben Ast einer alten Eiche, dann schwebt er einige Augenblicke über der Stelle und lüftet wie ein Prachtfächer den herrlichen Federbusch seines Kopfes. Dann schreitet er dahin wie eine Figur aus dem Zeitalter der Allongeperücken. Ja, eine Rokokoerscheinung ist er, in Gestalt, Haltung, und eigenthümlichem Aufbau des Putzes. Alles an ihm ist auffallend: der lange schlanke, sanftgebogene Schnabel, welcher seitlich zusammengedrückt spitz zuläuft; der merkwürdige Kopf mit dem hohen, dunkel rostgelben Federbusch, dessen Spitzen schwarz gefärbt sind; die im Vergleich zum pomphaften Aufbau des 29 Centimeter großen Vogels kurzen, derben Füße; der mittellange, am Ende gerade abgeschnittene, schwarze, in der Mitte weißgebänderte Schwanz mit den breiten Federn, endlich das weiche lockere Federkleid. Es ist auf der Oberseite lehmfarbig, auf dem Mittelrücken, den Schultern und den Flügeln schwarz und gelblichweiß quer gestreift, auf der Unterseite hoch lehmgelb, an den Flanken entlang schwarz gefleckt.
Das Weibchen, welches sich vom Männchen durch ein etwas schmutzigeres Gefieder unterscheidet, schaut aus der Nisthöhle neugierig hervor oder sitzt mit nach hinten gelegter Haube in gebeugter Stellung auf dem Aste und empfängt den Gefährten mit unverkennbarer Theilnahme. Im Bewußtsein der Sicherheit und in der behaglichsten Laune giebt das Männchen einen dumpfen Ton von sich, während sein Minneruf, ein ewig wiederholtes, in Pausen erklingendes „Hup, hup“, den Hörer in hohem Grade langweilt. Dieser jedenfalls dem Weibchen höchst zärtlich erscheinende Laut ertönt bis zum Juli. Eifersüchtig antworten sich [479] im Frühling die nicht weit von einander wohnenden Männchen in dieser eintönigen Sprache, nur daß bei besonderer Erregung zuweilen ein wie aus heiserem Hals hervorgestoßenes „Puh“ dem „Hup“ angehängt wird. Nicht selten nehmen die Nebenbuhler auch einen ergötzlichen Anlauf zum Zweikampf, der jedoch niemals zu einem blutigen Austrag kommt. Der ganze Auftritt besteht in Verfolgungen, zornigen Drohungen und Gebärden, die sich wie unschädliches Säbelgerassel prahlender Renommisten darstellen. Gegenüber andern Vögeln zeigt sich der Wiedehopf sehr zurückhaltend; er sondert sich mit Seinesgleichen streng ab, als fühlte er, daß seine vornehme Figur nicht in die lichten Haufen der gesellig Lebenden paßt. Die Ursache dieses Verhaltens liegt in seiner Arteigenthümlichkeit und scheint im Grunde auf eine hochgradige Aengstlichkeit und nervöse Erregbarkeit zurückgeführt werden zu müssen. Schon sein sehr scheues vorsichtiges Wesen, welches er bei uns zu Lande – im Gegensatze zu seinem Gebahren im Süden – zur Schau trägt, zeugt von Furchtsamkeit. Diese äußert sich aber unverkennbar, wenn er von schreckenerregenden Erscheinungen oder erschütternden Naturereignissen überrascht wird. Dann drückt er sich auf den Boden nieder, lüftet den Federbusch weit auseinander, spreizt den Schwanz, breitet die Flügel kreisförmig aus, legt den Kopf zurück und richtet den Schnabel senkrecht in die Höhe. In dieser Stellung verharrt er so lange, bis die Gefahr vorübergegangen ist. Offenbar hat der ganze Vorgang den Zweck des Schutzes, der Sicherstellung durch Täuschung.
Wenn nur einzelne Individuen zu diesem Mittel ihre Zuflucht nehmen würden, dann müßten wir das Schlußvermögen des Vogels bewundern. Aber es hat mit der Sache doch eine andere Bewandtniß. Da alle Individuen ohne Ausnahme in derselben Weise sich benehmen, so kann es sich nur um eine vererbte Gewohnheit handeln. Wohl ist der Vogel sich dessen bewußt, was er thut, auch kommt der Anstoß von außen; allein nicht Ueberlegung, nicht Nachdenken beherrscht sein Thun, sondern lediglich der Naturtrieb. Der Nervenreflex übt seine unwillkürliche Wirkung aus auf Grund jener vererbten Gewohnheit, die in ihrer Aeußerung ganz feststehende und übereinstimmende Formen annimmt. Es liegt eine irrthümliche Auffassung sehr nahe, die für den oberflächlichen Kenner des thierischen Seelenlebens etwas Wahrscheinliches und Ueberzeugendes hat: man meint vielfach, die jungen Wiedehopfe ahmten nur die alten in der Ausübung ihrer Verstellungskunst nach, es sei das Täuschungsmittel nichts anderes als das Ergebniß getreuer Nachbildung auf Grund eigener Anschauung jedes einzelnen Individuums. Aber wie die Nestbaukunst des Vogels kein Werk der Nachahmung sein kann, weil die Jungen gar nicht sehen, wie es die Alten machen, so sind die zahlreichen ähnlichen Erscheinungen im Thierleben als Arteigenthümlichkeiten, als vererbte Gewohnheiten zu betrachten, wie z. B. das Bemühen der Rebhühner und der Grasmücken, durch den Schein einer Lähmung an Flügeln und Füßen den Feind von der Verfolgung ihrer Brut abzulenken. Die Art und Weise ist bei allen Individuen der einzelnen Gattungen so treu übereinstimmend, daß schon darum eine erlernte Nachbildung ausgeschlossen erscheint, denn letztere würde unbedingt zu mancherlei Verschiedenheiten, zu größeren oder kleineren Abweichungen führen.
In der Berechnung der Größe einer Gefahr erweist sich der Wiedehopf oft recht unsicher; der Grund liegt in seiner Nervosität. Die Schwalbe z. B. muß er doch als ungefährliche Erscheinung kennen, dennoch erschreckt ihn ihr nahes Vorüberfliegen, und sofort bekundet sich ein Anflug von Angst in dem beweglichen, feinfühligen Spiel seines Federbusches.
Der Aufenthalt des sonderbaren Vogels, der in unseren Gegenden etwa von Ende März bis Anfang September verweilt, erstreckt sich mit Vorliebe auf baumreiche Ebenen, Landstriche mit Feldern und Wiesen, Viehtriften mit einzeln stehenden Bäumen. Seine Ansiedlung ist durch das Vorhandensein der Lieblingsnahrung bedingt, die in Mistkäfern und Aasfliegen besteht. Darum hält er sich gern in der Nähe von Kuhherden auf. Die Fliegen nimmt er mit dem rasch zufahrenden Schnabel und verschlingt sie ohne weiteres, dagegen behandelt er den großen und hartbepanzerten Käfer umständlicher; er stößt ihn wiederholt mit dem Schnabel auf den Boden, so daß Flügeldecken, Füße und Brustschilder davonfliegen und der weichere Körperrest übrig bleibt. Diesen wirft er dann in die Höhe, fängt ihn auf und würgt ihn in den Schlund hinab. So verfährt er mit den Mist- und Aaskäfern, den Mai-, Brach- und Rosenkäfern, sowie mit den Heuschrecken und Grillen. Der lange Schnabel dient ihm aber ebenso zum Bohren im Erdboden, und er verschmäht es auch nicht, durch Pochen das Kerbthier aus dem Schlupfwinkel zu treiben. Wir haben ihn schon an Ameisenhaufen beobachtet, wo er sich eifrig mit dem Aufpicken von Ameisenpuppen beschäftigte.
Als Nistplatz sucht sich der Wiedehopf in den meisten Fällen Baumhöhlen aus, ausnahmsweise in Deutschland hier und da auch Mauerlöcher; manchmal nimmt er sogar mit dem flachen Boden vorlieb, dann bereitet er nur eine etwas sorgfältigere Unterlage von trockenen Halmen und feinen Wurzeln. Nur einmal nistet er im Jahr, und obgleich er als Zugvogel, wie gesagt, schon im März zur Heimath zurückkehrt, wird das Gelege doch erst im Mai vollzählig.
Unserem Rokokovogel haftet bekanntlich eine recht schlimme Nachrede an. Man benutzt seinen Namen, um einen hohen Grad von üblem Geruch zu bezeichnen, und leider nicht mit Unrecht, denn es ist Thatsache, daß solch ein junger Wiedehopf von frühester Jugend auf ein höchst unreinliches Dasein führt. Unterläßt es das Weibchen schon teilweise während des Brütens, das Nest rein zu halten, so strotzt letzteres zur Zeit der Jungenpflege vollends von Schmutz und wimmelnden Maden, und die Folge ist, daß die Jungen wie die Alten ein pestienzialisches Aroma ausströmen. Erst nach dem Ausflug der jungen Wiedehopfe, die von den Eltern noch eine Zeitlang draußen gefüttert, fortwährend aber geführt und angeleitet werden, verliert sich der üble Geruch, der wahrlich zu dem stolzen, buntprangenden Federaufputz nicht paßt.
Wenn auch nicht in dem ausgeprägten Maße wie der Wiedehopf, so tritt doch auch der Wendehals, zumal wenn er erregt die Kopffedern zum Schopfe aufrichtet, als Rokokofigur auf. Schon die Zeichnung seines Farbenkleides ist eine ganz absonderliche. Die Grundfarbe der Oberseite ist licht aschgrau und mit feinen dunklen Wellen und Punkten bedeckt, während die weiße Unterseite dunkle Flecke von Dreiecksform in weiten Abständen von einander trägt. Das Gelb der Kehle wie des Unterhalses ist mit Querwellen überzogen. Ein auffallender schwärzlicher Längsstreifen läuft vom Scheitel über den Rücken hinab; außerdem überziehen den Oberkörper schwärzliche, rost- und hellbraune Flecken. Die Schwingen sind mit roth- und schwarzbraunen Bändern durchzogen, die Schwanzfedern fein schwarz gesprenkelt und mit fünf schmalen Bogenbändern geziert. Die Beine sind grüngelb wie der Schnabel, das Auge leuchtet gelbbraun.
Sogleich nach der Rückkehr aus der Fremde zur Heimstätte, die etwa zu Anfang April erfolgt, macht sich dieser echte Frühlingsverkündiger in unseren Feldgärten, Feldgehölzen und Obstbaumpflanzungen, wo alte Bäume ihm Höhlen als Niststätten bieten, bemerkbar durch seinen eintönigen, in regelmäßigen Pausen wiederholten Ruf, der wie „didididididididi“ klingt und die Nachbarmännchen zum Wetteifer herausfordert. Wir folgen der Richtung, woher wir die Töne vernehmen, bis in die Nähe eines Apfelbaums; da verstummt mit einem Male der Vogel. Leise schleichen wir uns dicht an den Baum heran, aber trotz genauen Spähens können wir den Wendehals nicht sogleich entdecken. Das mit der Baumrinde so ziemlich gleichfarbige Gefieder erschwert die Unterscheidung, und das ängstliche, mißtrauische Thierchen bleibt anfangs regungslos sitzen. Doch plötzlich nehmen wir, nachdem unser Hühnerhund uns gefolgt ist, an dem umwulsteten Astloch über dem Stamme eine schlängelnde Bewegung wahr, und jetzt erfaßt das Auge deutlich den Vogel. Er hat den Hals weit ausgereckt, die Kopffedern gelüftet, den Schwanz fächerförmig ausgebreitet und ist mit seinen Kletterfüßen in halb aufrecht hängender Stellung wie angeheftet. Sein ganzer Leib dehnt und beugt sich vor nach der gefürchteten Erscheinung des Hundes, er verdreht förmlich die Gegend um die Augen und läßt unter sichtbarer Bewegung der Kehle gurgelnde Töne vernehmen. Dann wieder dreht er den Hals in Schlangenwindungen und macht eigenthümliche langsame Verbeugungen.
Wir führen dieses Gebärdenspiel ganz auf denselben Beweggrund zurück wie dasjenige des Wiedehopfs, das wir oben geschildert haben; es ist wiederum nichts anderes als das Bestreben des geängstigten Vogels, sich durch Täuschung vor dem Gegenstande [480] seiner Furcht zu schützen. Aber auch hier haben wir es nicht mit etwas Erlerntem, sondern mit etwas Ererbtem zu thun.
Der Hund wird zurückgejagt und der Wendehals von neuem beobachtet. Nach und nach beruhigt er sich, bleibt indessen noch längere Zeit an derselben Stelle, bis er sich endlich entschließt, wegzufliegen, und zwar in abwärts gehender Richtung bis beinahe zum Boden, dann in geradem Zuge mit raschem Flügelschlag und endlich in großem flachen Bogen einem andern Baume zu. Läßt er sich auf den Boden nieder, dann bewegt er sich plump hüpfend in Sprüngen.
Bei der Wahl der Nisthöhle ist der Wendehals auf ein enges Eingangsloch bedacht, durch welches sein Leib gerade noch hindurchgeht. Wir entdeckten an ihm eine Vorliebe für nicht allzu hoch gelegene Baumhöhlen. Sehr oft richtet sich ein Paar Wendehälse unten in der Nähe des Stammes in einem Astloch häuslich ein, während in den höher gelegenen Höhlen desselben Baumes Meisen, Rotschwänzchen, Feldsperlinge oder andere Höhlenbrüter nisten. In diesem Falle läßt der Wendehals, mit seiner Wohnung zufrieden, die Mitbewohner des Baumes unbehelligt. Anders aber, wenn er um eine häusliche Unterkunft verlegen ist und die ihm passenden Plätze bereits besetzt findet. Dann kann es vorkommen, daß er einfach ein fremdes Nest in Beschlag nimmt, ohne viel nach Recht und Billigkeit zu fragen.
Geräth solch ein Paar in Angst oder Schrecken, so stößt es vereinigt den Laut „Schächt“ aus; das Weibchen läßt bei hochgradiger Erregung auch ein Zischen vernehmen. Die Jungen, welche wie die Wiedehopfe im Koth der Nisthöhle aufwachsen, schwirren wie die Heuschrecken, wenn die Eltern mit Futter bei ihnen einkehren. Erwähnenswerth ist noch das besonders hingebende Brüten des Weibchens, welches sich durch das heftigste Klopfen nicht von dem Gelege scheuchen läßt. Aber wenn man es unmittelbar berührt oder aufs äußerste bedrängt, dann läßt es jenes eigenthümliche Zischen gegen den Störenfried vernehmen.
Die Nahrung des Wendehalses sind Kerbthiere, in überwiegender Menge Ameisen und deren Puppen. Deswegen trifft man ihn auch häufig bei den Ameisenhaufen an. Nach Art der Spechte, vermag er die Zunge sehr weit vorzustrecken, die durch ihre dünne, wurmartige Gestaltung und ihre feine Zuspitzung in alle Ritzen und Löcher einzudringen imstande ist. Ganz merkwürdig ist die Verwendung dieser Zunge beim Ameisenfang. Der Vogel steckt sie in den Ameisenhaufen; an ihrem klebrigen Überzug bleiben eine Anzahl der Thierchen haften – und blitzschnell fährt sie beladen in den Schlund zurück, um, der Beute ledig, alsbald zu neuem Fange ausgesandt zu werden. Der Muskelapparat arbeitet dabei so schnell, daß man an einem gefangenen Wendehals selbst mit Aufbietung der ganzen Sehkraft nicht deutlich unterscheiden kann, ob die Beute angespießt oder wie mit einer Leimruthe gefangen wird. Wir glauben indessen, daß das letztere anzunehmen ist. – Nachdem die Jungen mehrere Wochen noch unter Führung der Eltern herangewachsen sind, zerstreuen sich die Familienglieder, und so trifft man sie im Nachsommer, von der Mitte des Juli an, mehr denn vorher einzeln auf dem Boden, im Rasen, auf Gemüseländern, an Wegen und Rainen. Vom August an führt der Wendehals ein unstetes Leben, später, am Ende dieses Monats, sammeln sich kleine Gesellschaften, die zur Nachtzeit die Wanderung nach dem Süden, ins Land der Pharaonen oder des Mahdi, unternehmen.
Alle Rechte vorbehalten.
Lea und Rahel.
(11. Fortsetzung.)
Da finde ich noch etwas,“ unterbrach Rahel die Stille, indem
sie die Kiste weiter auspackte. Sie gab sich keine Mühe, sich
zu beherrschen. Ihre Züge waren leidend, ihre Stimme matt.
Sie zog ein flaches Packet heraus, offenbar Bilder. Vielleicht Ansichten von schönen Punkten, welche die Ihrigen besucht hatten.
Sie löste die Schnüre. Zwei Kabinettphotographien, jede in einem Umschlag. Sie öffnete den einen.
Lea!
Lea, in einem Hals und Schultern tief freilassenden Ballkleid, so wie sich vielleicht fürstliche Damen oder Künstlerinnen abbilden lassen. Der Kopf war in malerischer Wendung halb erhoben, der Blick dunkel und groß in die Ferne gerichtet. Sie sah so blendend schön aus, daß Rahel sie kaum wiedererkannte. Aber schmäler waren ihre Wangen, und diese Schatten hatten sonst nicht unter ihren Augen gelegen.
Rahel reichte Lüdinghausen das Bild hin.
Er erblaßte und betrachtete es lange. Dann gab er es ihr zurück und schaute ihr frei und innig in die Augen.
„Und das zweite Bild ?“
Das blieb Rahel völlig unverständlich, als sie es hervornahm.
Es war das Brustbild eines Herrn im Frack. Diesen
[481][482] bedeckten Orden, ein Ordensband mit einem großen Stern daran schlang sich um den Hals. Der Mann konnte vierzig oder mehr Jahre alt sein, er hatte unverkennbar slavische Gesichtszüge und schien sehr dunkel. Sein Blick war hochmüthig, seine starken Lippen deckte ein kleiner Bart.
„Die Briefe werden Aufschluß geben, was mir das Bild soll,“ sagte Rahel bebend.
Von Lea war kein Brief da, nur von den Eltern. Sie nahm den der Mutter und las:
„Mein Kind, ich bin sehr unglücklich, daß Du an Weihnachten fern von uns bist. Ich bat Papa, Dich mit Malchen nach Wiesbaden kommen zu lassen, aber wir gehen schon vorher nach Paris. Die kleine Kiste schicken wir im Augenblick der Abreise, des Zolles wegen. Die Zeit in Paris liegt entsetzlich vor mir. Ich halte Leas Wahl für übereilt und kann mich nicht daran gewöhnen, daß dieser Russe mein Schwiegersohn sein soll …“
Weiter kam Rahel nicht. Sie lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.
„Was ist Ihnen?“ rief Lüdinghausen und sprang auf. Er hatte mit wachsender Angst die Veränderung in ihren Zügen bemerkt.
Rabel faßte sich gewaltsam.
„Nichts! Ich will Papas Brief lesen.“
„Meine liebe Rahel! Dein Papa ist selig. Sei Du es mit ihm! Unsere Lea macht ihr Glück. Ich sage Dir: märchenhaft! Habe mich nach Dasanoff bei den Botschaften in Paris und Berlin erkundigt, trotzdem das überflüssig war, denn er ist hier bei allen ersten Persönlichkeiten der Gefeierte. Lea wird eine der reichsten und ersten Fürstinnen Rußlands. Dasanoff ist gestern nach Paris gegangen, wir folgen morgen. Die Hochzeit wird natürlich auf Römpkerhof und schon im Beginn des Februar abgehalten. Anbei sein und ihr Bild! Nächstens mehr!
Dein Papa.
P. S. Welche tragische Geschichte mit den Clairons! War übrigens ein merkwürdiger Zufall: am selben Tag, als Mama diese Nachricht von Malchen erhielt, erklärte Lea, daß sie Dasanoff nehmen wolle.“
Rahel stand auf. Sie sah aus wie der Tod.
„Lesen Sie!“ sprach sie rauh.
Lüdinghausen fuhr zurück, als sie ihm den Brief hinbot und hart hinzusetzte:
„Lea wird in sechs Wochen Fürstin Dasanoff. Sie hat sich mit ihm verlobt am Tage, wo sie vernahm , daß Clairon Herr auf Westernburg geworden sei.“
Aber plötzlich brach ihre Härte in leidenschaftliche Klagen aus.
„Lea!“ rief sie, „Lea! Wie spielst Du mit Dir und allem! Mit der Liebe und dem Leben!“
Sie barg ihr Antlitz in ihren Händen. Lüdinghausen war aufs tiefste erschüttert.
„Rahel,“ bat er, „um Gotteswillen, fassen Sie sich! Wer kann ermessen, was in diesem Herzen voll dunkler Abgründe vorgegangen ist! Wer entscheiden, ob es nicht lange verhehlte Verzweiflung war, die Lea zu diesem Schritt getrieben hat!“
„Könnte ich zu ihr,“ klagte Rahel fiebernd, „um sie abermals aufzuhalten, um ihr noch einmal in die Arme zu fallen, wenn sie auf den Wegen zum Unglück dahinrast.“
„Diesmal,“ sagte er ernst, „diesmal würde Ihr Zuruf vergeblich sein. Denn Lea hat jetzt mit eiserner Entschlossenheit und kalter Ueberlegung wiederholt, was sie damals in thörichter Verblendung wollte.“
„Meine arme, unglückliche Schwester! Fühlen Sie denn nicht, was das heißen will: gerade am Tag, als sie von Clairons Lebenswendung erfuhr, gerade da gab sie dem noch glänzenderen Bewerber die Hand. Das war eine That dämonischen Trotzes gegen das eigene Herz und gegen ihn, den dies Herz geliebt.“
„O Rahel, Sie haben recht, Lea zu beweinen, helfen aber können Sie ihr nicht, denn durch diese That entfernt sie sich weit und für immer von Ihnen, ihrem Elternhause, ihrem Vaterland.“
Und während er das aussprach, ging ein Erschrecken, ein glückliches und besinnungraubendes, durch sein Inneres. Wenn Lea so die Ihrigen verließ, so bewies sie, daß sie sich loslösen wollte von allen, die sie liebten und bereit waren, sich für sie zu opfern, dann – ja, dann stand ihre Gestalt auch nicht mehr wie eine drohende Abwehr zwischen ihm und der Geliebten.
„Rahel!“ sagte er mit einer Stimme, welche ihr in die Seele drang.
Sie ließ die Hände vom Gesicht sinken und sah ihn an.
Und mit jenem schnellen und geheimnißvollen Verständniß, welches nur zwischen Liebenden sich entzünden kann, wußte sie seine Gedanken.
„Rahel,“ begann er wieder und erfaßte ihre Hände, „soll ich wirklich ihretwegen ewig fern stehen und nie bekennen dürfen, daß ich sie nie geliebt habe, nie, mit keinem Herzschlag? Nicht gestehen, daß ich Dich liebe? Dich, so lang ich athmen werde?“
Sie schloß die Augen, aber sie sprach kein Wort.
„Mein Gott!“ rief er in heiß erwachender Angst, „kannst Du nicht verzeihen und vergessen? Einem Mann nicht glauben, der sich einmal so irre leiten ließ?“
Seine Hoffnung wollte versinken, aber voll Leidenschaft versuchte er noch einmal, das Glück zu zwingen.
„Rahel, so liebst Du mich nicht?“
Da richtete sie ihr Gesicht empor und blickte ihn an, und plötzlich hatte er sie umfaßt und küßte ihre Lippen und ihre Augen.
Sie hatten sich ohne weitere Worte für immer gefunden. –
Fräulein Malchen fiel beinahe in Ohnmacht, als sie das Vorgefallene hörte. Sie blieb bis an ihr Lebensende der Meinung, daß, wenn sie bei der Partie Bésigue nur ein bißchen mehr auf Raimars Scherze eingegangen wäre, der Abend mit einer Doppelverlobung geendet hätte, eine Ansicht, welche sie natürlich in der Tiefe ihrer Brust verbarg und nicht einmal ihrer lieben Alide anvertraute. Raimar dagegen sprach noch jahrelang von der „schauderhaften“ halben Stunde, wo er mit Fräulein Malchen beim Kartenspiel Höllenqualen der Langenweile ausgestanden hatte.
„Unsere berühmte Partie Bésigue“ wurde oft citiert, aber jedes dachte sich dabei in recht verschiedene Erinnerungen hinein.
Für jetzt wurde, als die Sammlung ein wenig wiedergekehrt war, beschlossen, daß Lüdinghausen und Rahel ihre Vereinigung vor Rahels Eltern und Lea noch verschweigen sollten.
Rahel war nicht ganz frei von der Furcht, ein Wort oder nur ein Blick von Seiten Leas könne ihr noch wehthun und ihr jene böse Rede der Schwester wieder ins Gedächtniß rufen: „Du wolltest ihn für Dich selbst haben.“ Sie empfand wohl, daß es kleinlich gehandelt sein würde, ihre Liebe deshalb zunächst zu verbergen, und war ganz froh, daß es außerdem noch Gründe für die Heimlichkeit gab.
Daß es Lea sowohl wie Lüdinghausen angenehmer sein mußte, sich jetzt noch nicht zu begegnen, war sehr begreiflich, obwohl Lüdinghausen in ehrlicher Ueberzeugung den Wunsch hegte, ihr in jeder erlaubten Form zu zeigen, er habe sie nie geliebt.
Ferner mußte es für Herrn von Römpker leichter sein, in Lüdinghausen zum zweiten Mal den Schwiegersohn zu begrüßen, wenn Lea nicht mehr im Hause war.
Rahel sprach auch für die arme Mama, Malchen für ihre liebe Alide, die gewiß ohnehin schon unter den Sorgen über Leas Brautstand zusammenbrach.
Und so schien es denn am besten, den Eltern diese unerwartete Neuigkeit erst am Tage nach Leas Vermählung mitzutheilen. Onkel Raimar versprach, die Liebenden wie bisher unter seine Fittiche zu nehmen und ihnen Gelegenheit zu geben, sich zu sehen.
„Ich danke Dir,“ sprach Rahel zu Lüdinghausen als Schlußwort dieser Verständigungen, „ich danke Dir, meinetwegen und auch ihretwegen, daß Du Dich geduldest. Denn so kann ich ihr, die in den kalten Glanz der Welt hinausziehen will, noch einmal das Herz zu erwärmen suchen, damit sie für alle Zeiten schöne und traute Erinnerungen mit hinwegnimmt von der Stätte unserer gemeinsamen Kindheit.“
Thränen schimmerten in Rahels Augen. Alle Liebe, alles Kinderglück, einst geteilt mit der verlorenen Schwester, war wieder wach in ihrem Herzen, aber auch alle Leiden, die sie erduldet hatte durch die eitle Selbstsucht der andern.
Und in dem Frieden dieses Augenblicks vermählten sich die heitern und die schmerzlichen Erinnerungen zu einer liebevollen Wehmuth. Ihr großes, treues Gemüth war ebenso erfüllt von eigener Seligkeit als von dem Wunsch, auch die Schwester einst glücklich zu wissen.
Der Mann aber, mit dem sie ihre Zukunft theilen wollte, küßte ihr voll Andacht diese schönen Thränen von den Wimpern.
[483]
In einem der größten und elegantesten deutschen Ostseebäder war die Hauptzeit des Besuches vorüber. Das heißt, die Familien mit den Kinderscharen waren davongezogen, Schul- und Gerichtsferien zu Ende, und die nun noch ankommenden Gäste lebten stiller, gemessener dahin. Der Adel des Hinterlandes, die Besitzer der Güter in der Provinz hatten seit vielen Jahren die Gewohnheit, sich hier im September ein unverabredetes Stelldichein zu geben. Man war gewiß, um diese Zeit immer gute Gesellschaft und gute Wohnungen zu finden.
Hoch über dem breiten, weißsandigen Strand zog sich, im tiefsten Buchengrün, die Reihe der Villen hin. Von der Gartenpforte einer jeden führte eine kleine Treppe hinab zu der Strandfläche, die, weit und glatt, den herrlichsten Raum gewährte. Hier lebten die meisten Badegäste fast den ganzen Tag. Gruppen von Strandkörben standen da und dort beisammen. Fischerboote lagen umgestürzt im Sande. Weit ins Meer hinaus war eine Brückenpromenade gebaut, die gekreuzten eisernen Rippen, auf denen die Balken lagen, waren durchschäumt von den heranrollenden Wogen, über die Bretter des Stieges schritten elegante Spaziergänger. Fern, abwärts und aufwärts am Strand, ragten zwei mächtige Holzpavillons in die See, das Herren- und das Damenbad.
Der Glanz eines ungetrübten Septemberhimmels lag über Meer und Land. Die Wellen glänzten wie dunkle Saphire und rollten in ruhevoller Majestät strandwärts, wo sie sich in gehaltener Bewegung überschlugen und kurz weiß aufschäumten. Auf dem Strand war es menschenleer. Die Mittagshitze flirrte, und stumm flog eine Möve mit trägem Flügelschlag dicht über das Wasser hin und setzte sich endlich auf das Geländer des Steges, furchtlos dicht neben einen kleinen Knaben, der dort stand.
Er war schon lange da und schaute mit nachdenklichen Kinderaugen in die sich ewig verändernden Wogen. Sein schlankes Körperchen war von einem dunkelblauen Trikotwams und kurzen Höschen eng umschlossen. Seine Beinchen staken in schwarzen Strümpfen und die Füße in gelblichen Lederschuhen. Sein Gesicht war von dem Rand des weit zurückgesetzten Strohhutes wie von einem gemalten Heiligenschein umgeben. Blonde Locken fielen, quer geradegeschnitten, auf seine Stirn und kamen unter dem Hutrand an den Schultern hervor. Der Knabe hatte die Hände auf dem Rand des Geländers gefaltet und das Kinn aufgestützt. Mit der Geduld und Ausdauer, die Kindern eigen ist, beobachtete er alles, was die Wogen herantrieben und wieder vom Ufer ableckten. Auf die Menschen, die vereinzelt vorübergingen, achtete er gar nicht. Er sah auch nicht auf die Dame, welche jetzt am Strand allein daherschritt, obschon sie von jener Seite kam, der er sein Gesicht zugewandt hatte.
Sie war groß und schlank, der Wind, der übers Meer her wehte, erfaßte ihr Kleid, so daß es sich rechts eng an ihren Körper legte und links in bauschigen Falten flatterte. Langsam, in aufrechter Haltung, näherte sie sich. Sie trug gelbbraune Handschuhe und schräg vor sich einen geschlossenen weißen Spitzenschirm. Ihren Kopf bedeckte ein großer weißer Hut, weiß war auch ihr wollenes Gewand. Hut und Gesicht waren von meergrüner Gaze umhüllt.
Die Dame war an einigen Leuten vorübergegangen, an einer Frau, die in einem Strandkorb saß und las, und dann an einem Mann, der auf seinem Plaid im Sande lag. Sie bemerkte niemand. Mit der vollkommensten Gleichgültigkeit schaute sie ins Leere.
Der Knabe indeß zog ihre Augen auf sich. Sie stand still und blickte ihm zu, wie er regungslos die Wogen beobachtete. Der Schnitt seiner Züge war schön und vornehm und gemahnte die Frau an etwas – an etwas –
Sie schritt langsam weiter, trat auf die Brücke und stellte sich neben den Knaben. Der ließ sich, nach flüchtigem Aufblick, nicht stören.
Sie aber fühlte sich, je länger sie ihn betrachtete, desto mehr gezwungen, ihn anzureden.
„Wonach siehst Du da, Kleiner?“ fragte sie. Es war eine tieftönige, doch etwas verschleierte Stimme, mit welcher sie sprach.
Der Knabe machte eine leise Bewegung mit der Schulter und antwortete nicht.
„Ich habe Dich noch nicht bemerkt. Bist Du erst angekommen?“ forschte sie weiter.
„Gestern,“ sagte er kurz; seine kindliche Lebhaftigkeit und Ursprünglichkeit konnte dem Befehl der Mama, mit Unbekannten nicht zu sprechen, nur sehr schwer folgen.
Die Fremde aber hatte ein merkwürdiges und ihr selbst unerklärliches Verlangen, das blonde Haar des schönen Knaben zu streicheln, sein Pagenköpfchen ohne Hut zu sehen.
Sie nahm ihm den Hut ab und fuhr sanft über sein Haar.
Da riß er ihr den Hut aus der Hand.
„Nicht anfassen!“ schrie er und lief davon.
Die Villa gerade gegenüber der Brücke mußte seine Wohnung sein, denn er eilte dort die Treppe hinauf. Und von dem Garten aus mußte man ihn auch beaufsichtigt haben, denn eine kleine reizende Frau erschien in der Pforte und gesellte sich zu dem Flüchtling, der auf der obersten Stufe stehen blieb.
Die weißgekleidete Dame verharrte auf dem Brückensteg. Ihr war zu Muth, als habe man ihr eine schwere Beleidigung angethan, ihre Kniee zitterten. Doch sofort hob sie in Selbstverspottung hochmüthig die Lippe über diese „alberne Empfindung“. Um vor dem Knaben und seiner Mutter nicht zu thun, als habe sie bloß seinetwegen die Brücke betreten, blieb sie, machte sich mit dem Sonnenschirm zu schaffen und spannte ihn gegen den Wind auf.
Dann gab sie sich den Anschein, eine Weile ins Wasser zu schauen, denn da oben standen noch immer diese Menschen, jetzt um die Person eines Mannes vermehrt, und beobachteten sie. Wahrscheinlich ängstliche Leute aus der Provinz, die dachten, daß man ihnen den Sohn rauben wolle, wenn man freundlich mit ihm spreche. Sie ging bis an das Ende der über dem Wasser stehenden Promenade und kehrte langsam zurück. Ihre Schritte klappten hohl, der Wind zerrte an ihren Kleidern und schob förmlich ihre ganze, überschlanke Gestalt landwärts. Mit dem Schirm deckte sie sich den Nacken.
Jetzt musterte sie mit scharfem Auge nochmals die Gruppe vor der grünen Laubwand des Gartens.
Und ihre Wangen wurden fahl und ihre Nasenflügel bebten.
Sie glaubte den Mann zu erkennen, der da oben stand, den Knaben, sein Ebenbild, an der Hand, die fremde Frau am Arm. Dieses stolze Gesicht, dieser blonde lange Bart auf der Oberlippe, diese Gestalt …
Aber sie begab sich mit denselben gleichmüthigen Schritten an den Strand zurück und in derselben hoheitsvollen Haltung. Nur geschah es ihr, daß sie, anstatt weiter aufwärts zu gehen, wie sie gewollt hatte, gedankenlos sich umdrehte und den gleichen Weg wieder herunterkam.
Die Familie dort drüben sah ihr noch immer nach. Der Knabe lief jetzt wieder an den Strand, der Mann aber sagte:
„Welch eigenartige Erscheinung! Fast Modejournal und doch so sehr besonderer, siegesgewisser Schick, daß ich mich in Ostende oder in Biarritz nicht über diese Frauengestalt wundern würde. Wie kommt das in diesen still-vornehmen Ort? Und was für ein famoses Gefühl der Junge hat! Schreit einfach: ‚nicht anfassen‘ und läuft davon.“
Er lachte. In seinem Gedächtniß war nichts wach geworden, kein unbestimmtes, banges Erinnern, kein zitterndes Ahnen.
Seine Gattin blickte der interessanten Fremden nun doppelt neugierig nach. Aus den sicher umhegten Grenzen eigenen, friedlichen Lebens fliegen die Gedanken einer Frau gern halb scheu, halb wißbegierig zu dem räthselvoll Pikanten.
„Wie merkwürdig,“ meinte sie, „alles, was diese Dame anhat, ist an sich nicht auffallend. Und doch ist das Ganze zusammen herausfordernd.“
„Beruhige Dich nur darüber, das liegt außer Deiner Welt. Sage mir lieber, ob Du vor Tisch nicht noch liegen willst.“
„Nein, Schatz. Ich gehe noch ein wenig mit Dir auf und ab.“
Sie hing sich an seinen Arm und so wanderten sie miteinander im weißen Sand.
„Sieh, da giebt es noch mehr unverständige Menschen, die in der Mittagssonne ihren Teint verderben. Auch ein Ehepaar, wie es scheint, doch vielleicht erst von gestern. Sie sprechen so innig ineinander hinein,“ rief die Frau, auf einen Herrn und eine Dame deutend, welche ihnen entgegenkamen.
Ihr Gatte stutzte und blieb stehen.
„Ich meine, diesen Mann sollte ich kennen – unmöglich – und doch …“
„Was ist Dir, Robert?“ fragte sie ängstlich. „Eine unangenehme Begegnung?“
[484] Er hatte sich schon gefaßt. Mit seinem gewohnten freundlichen Ton sagte er:
„Unangenehm? O nein! Nur überraschend, thörichterweise überraschend. Da ist man erstaunt, in einem Badeort halb vergessenen Bekannten zu begegnen, und eigentlich sollte man sich wundern, daß man sich so lange nicht getroffen hat.“
Indessen war das Paar herangekommen und schien auch seinerseits den Herrn erkannt zu haben. Ein kurzer Zweifel, ob man sich begrüßen wolle, dann doch wirkliche Freunde, daß man sich wiedersah, und schon streckte die Dame herzlich ihre Hand aus und ihr Begleiter lüftete sehr höflich den Hut.
„Graf Clairon! Wirklich! Kennen Sie uns denn noch, und wissen Sie denn, daß Lüdinghausen und ich ein Paar geworden sind?“ rief Rahel.
„Natürlich weiß ich es. Ehrhausen ist der Vermittler aller Berichte zwischen Ihnen und uns geblieben,“ erwiderte Graf Clairon, „und Sie haben schon errathen, daß dies meine liebe Frau ist. Habe ich Dir nicht einmal von der Familie von Römpker erzählt,“ fragte er mit leichter Verlegenheit seine Gattin, „und vom Landrath Lüdinghausen? Alles gute Bekannte aus meiner letzten Garnison und, gleich uns, Freunde von Ehrhausen!“
Aus diesen Worten erriethen Rahel und ihr Mann, daß die Gräfin nichts erfahren habe von dem schmerzlichen Roman, den Clairon einst erlebt hatte, und mit heitern, schnellen Reden halfen sie ihm, eine oberflächliche Unterhaltung zu beginnen.
„Ich kann mir im voraus denken,“ sagte Rahel, „daß Sie auf die flehentlichen Bitten der Baronin Ehrhausen hergekommen sind. Die stets Gesellige mußte wenigstens früher immer einen ganzen Hofstaat von Freunden um sich haben, wenn sie nicht vor Langerweile sterben sollte.“
„In der That,“ antwortete Clairon, während man langsam zu Vieren in der Richtung auf die Wohnung des gräflichen Paares weiter ging, „in der That bin ich nur hierher gereist, um mit dem alten Kameraden zusammen zu sein. Ehrhausen hat uns jedes Jahr auf Westernburg besucht, die Frauen aber waren sich immer noch fremd, und die Baronin in ihrer graziösen Unart wollte durchaus mit meiner Gattin zuerst auf neutralem Boden zusammentreffen. Denn, meinte sie, wenn die Gräfin und ich uns nicht leiden mögen, sitze ich auf der Westernburg geradezu in der Falle. Die Unterhandlungen über eine solche Begegnung, welche von der Baronin als wichtige Staatsaktion behandelt wurde, dauern nun fünf Jahre, also fast seit unserer Verheirathung. Endlich haben wir uns denn aufgemacht.“
„Und Ehrhausen,“ sagte Rahel, „hatte natürlich keine Ahnung davon, daß wir diesen selben Ort auch zu einem Stelldichein bestimmten. Wir sind ihm gestern abend in die Arme gelaufen, ebenso zufällig wie Ihnen. Und die Baronin hat uns allesammt gleich für diesen Abend eingeladen.“
„Allesammt?“ fragte Clairon mit etwas gedehnter Stimme, „sind Herr und Frau von Römpker auch hier?“
„Nur mein Schwiegervater,“ erwiderte Lüdinghausen schnell, „und der Fürst und die Fürstin Dasanoff.“
„Verwandte von Ihnen? Ich erinnere mich, den Namen gehört zu haben. Richtig, einige Vettern von mir schwärmten von der schönen Fürstin, welche sie in Petersburg getroffen hatten und welcher dort alle Kavaliere zu Füßen liegen sollen. Und die ist hier?“ fiel die Gräfin lebhaft ein.
„Es ist meine Schwester,“ entgegnete Rahel mit großer Beklemmung.
„O, dann mußt Du sie ja auch kennen, Robert. Und Du hast nie davon gesprochen. Eine so interessante Frau!“
„Es giebt ja viele Dasanoffs, und ich hatte ganz vergessen, daß eine Römpker einen Fürsten dieses Namens geheirathet hat,“ entschuldigte sich Clairon.
Rahel empfand mit ihm das Peinliche dieses Augenblicks, das noch vermehrt wurde, als die Gräfin sagte:
„Er ist entsetzlich unhöflich. Verzeihen Sie ihm nur, gnädige Frau! Wie kann man Damen vergessen, mit denen man einst verkehrt hat, in deren Haus man vielleicht gar gastfreundlich aufgenommen war!“
„Ist das Ihr Knabe?“ fragte Lüdinghausen, als das Kind, dem man sich wieder genähert hatte, jetzt von seinem Spiel aufschaute.
„Ja,“ antwortete die Gräfin.
„Es ist mein Sohn,“ setzte Clairon hinzu.
Die Frau strahlte auf in Mutterglück, über das Gesicht des Mannes ging ein heller Schein, und in seinem Ton lag ein Ausdruck von tiefem ernsten Stolz.
Blätter und Blüthen.
Große Früchte. Dem Obstzüchter kommt es oft darauf an, möglichst große und schön aussehende Früchte zu erzielen. Die Hauptbedingung dafür ist eine rationelle Obstbaumzucht. Außerdem giebt es noch einige Kunstgriffe, welche die Mühe des Obstgärtners besonders lohnen. Will man das Wachsthum der Frucht befördern, so wird die letztere unterstützt und in derjenigen Lage erhalten, die sie innehatte, als ihre Größe kaum 2 cm Durchmesser überschritt. Am besten eignen sich hierzu schwebende Träger, welche aus einem kleinen viereckigen Brettchen bestehen, an dessen Ecken vier Schnüre von entsprechender Länge angebracht sind. Diese Schnüre werden oberhalb der Frucht am ersten besten Ast oder Zweig befestigt, in einer Weise, welche das bequeme Aufliegen der Frucht auf dem Brettchen ermöglicht.
N. Gaucher[WS 1] giebt in seinem Werke „Praktischer Obstbau“, das auch eine treffliche Anleitung zu erfolgreicher Baumpflege und Fruchtzucht für Liebhaber bietet, noch ein anderes Mittel an zur Erreichung desselben Zieles. Es sind dies Waschungen mit einer wässerigen Lösung von schwefelsaurem Eisen (Eisenvitriol). Dieses Eisensalz wirkt außerordentlich günstig auf die Thätigkeit der Pflanzen ein. Schwache Theile eines Baumes können gekräftigt werden, wenn man die Blätter mit einer solchen Lösung (1 bis 2 Gramm Eisenvitriol auf 1 Liter Wasser) bespritzt. Nur muß dies bei trübem Wetter oder noch besser nach Sonnenuntergang geschehen, sonst verdunstet das Wasser, bevor, die Blätter es aufsaugen konnten. Mit einer ähnlichen Lösung (am besten 11/2 Gramm Eisenvitriol auf 1 Liter Wasser) werden die Früchte gewaschen. Die in der Schale befindlichen Saftgefäße werden durch dieses Verfahren bedeutend erweitert, wodurch ihre Elasticität und ihr Aufsaugungsvermögen gesteigert wird. Durch die erleichterte Ausdehnung der Früchte vergrößert sich ihre Fähigkeit zur Anziehnng des Saftes, von welchem nun eine vermehrte Menge aus den Zweigen, Trieben und Blättern herbeigelockt wird, und unter diesem günstigen Einfluß erreichen die Früchte einen bedeutenden Umfang. Man wäscht die gesammte Oberfläche der Früchte, wie vorhin erwähnt, bei trübem Wetter oder am besten nach Sonnenuntergang, und wiederholt das Abwaschen dreimal: zuerst, wenn die Früchte ungefähr den vierten Theil ihrer Größe, zum zweiten Male, wenn sie die Hälfte, und zum dritten Male, wenn sie etwa dreiviertel ihres Umfangs erreicht haben. *
Stickmuster für Schule und Haus. Ein neues „Musterbuch“ anzuzeigen nach den hervorragenden Veröffentlichungen auf diesem Gebiet durch Lessing, Lipperheide und Siebmacher, das ist nur möglich, wenn man demselben noch etwas gründlich Neues nachrühmen kann. Und in der That ist dies bei dem vorliegenden Werk des Direktors der Allgemeinen Gewerbeschule zu Hamburg, Dr. A. Stuhlmann, der Fall (Verlag von W. Spemann, Berlin), denn es giebt nicht nur eine Reihe schöner und brauchbarer Muster, sondern es zeigt an einer Reihe von Beispielen, wie ein gegebenes Muster für einen bestimmten Zweck, dem es nicht ohne weiteres genügt, einzurichten ist, wie z. B. zu einer gegebenen Borte eine passende Ecke, zu einer mit Ecke versehenen Borte eine Mittelrosette u. dgl. gefunden wird. Außerdem aber, und hierin erblicken wir einen besonderen Werth, soll die Stickerin lernen, ihre Muster aus gegebenen Elementen selbst zu bilden, um sie späterhin auch nach anderen Motiven in freier Thätigkeit zu entwerfen. Den Begabteren unter den Arbeiterinnen wird also hier eine Anleitung geboten, welche sie bisher nur in einer guten Kunstgewerbeschule erhalten konnten; die Auseinandersetzungen des Textes sind klar und leicht verständlich.
An Reichhaltigkeit der Motive kann sich wohl das Buch, weil es öfter auf dieselbe Form zurückgreifen muß, mit den eingangs genannten Werken nicht messen, immerhin enthält es eine gute Anzahl schöner und stilgerechter Borten, Mittelstücke, Ecken und Grundmuster. Zur Ergänzung sind jene Werke ja leicht heranzuziehen, als ausgezeichnete Grundlage aber können wir die Stuhlmannsche Arbeit mit gutem Gewissen empfehlen. Bn.
Kleiner Briefkasten.
Karl W. in Mannheim. Besten Dank für das Gedicht, welches wir aber leider nicht verwenden können.
Inhalt: Baronin Müller. Roman von Karl v. Heigel (1. Fortsetzung). S. 469. – Abend. Gedicht von Martin Greif. Mit Abbildung S. 473. – Eine Rheinfahrt mit Joseph Viktor Scheffel. Von W. H. Riehl. S. 474. Mit einer Zeichnung von Scheffel auf S. 469. – Alpenrosen. Bild. S. 477. – Originalgestalten der heimischen Vogelwelt. Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller, 5. Rokokofiguren. a. Der Wiedehopf, b. Der Wendehals. S. 478. Mit Abbildungen S. 478 und 480. – Lea und Rahel. Roman von Ida Boy-Ed (11. Fortsetzung). S. 480. – Strenge Kontrolle. Bild. S. 481. – Blätter und Blüthen: Große Früchte. S. 484. – Stickmuster für Schule und Haus. S. 484. – Kleiner Briefkasten. S. 484.