Die Gartenlaube (1891)/Heft 26
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Nr. 26. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Alle Rechte vorbehalten.
Lea und Rahel.
(9. Fortsetzung.)
Die gute Christel hatte die Gewohnheit, über alle ungewöhnlichen Vorkommnisse im Leben ihres Herrn lange, still und kritisch nachzudenken; es waren deren ja auch so wenige, daß sie jedes einzelne in Gedanken oft jahrelang durchnehmen konnte. Dadurch hatte sie sich eine wahrhaft philosophische Ueberlegenheit angeeignet, und nichts vermochte sie aus ihrer Ruhe zu bringen. Und gerade, wenn ihr Herr sehr erregt war, steigerte sich diese Ruhe. Sonderbare Zwistigkeiten brachen dann zwischen ihnen aus; er warf ihr Theilnahmlosigkeit vor, während sie sagte, daß er noch immer nicht gelernt habe, sich wie ein gesetzter Mensch zu benehmen.
Den Tag nach Rahels Ankunft gönnten sie einander kein gutes Wort. Raimar wollte durchaus, daß Christel sich mit entrüsten solle über den „Rabenvater“ und das „Ungeheuer von Lea“; Christel fand es beinahe jämmerlich, daß ein Mensch von gesunden Sinnen seine Meinung so ändern könne wie eine Wetterfahne. Er habe ja stets in Römpker wie in einen vergoldeten Kelch gesehen, während sie ihn von jeher für einen Leichtfuß taxiert habe; er sei ja immer in Leas schöne Fratze verliebt gewesen, während sie die Lea nie für etwas anderes als für eine Zierpuppe ästimiert habe. Um Rahel habe er sich gar nicht bekümmert und seine jetzige plötzliche Hitze habe in ihren – Christels – Augen so viel wie gar keinen Werth. Sie habe keinen Grund, sich über die Römpkers aufzuregen, denn sie sei in keiner Weise verwundert, sie habe gar nichts Besseres von diesen Menschen erwartet. „Denn wer auf den Wegen von Hochmuth und Selbstsucht wandelt, geht auch über sein eigen Fleisch und Bein weg,“ schloß sie feierlich.
Raimar entgegnete, sie solle ihre Predigten für sich behalten.
Und jeder wollte dem andern zeigen, daß er der eigentlich Berufene wäre, sich Rahels anzunehmen, so daß diese schon in den Morgenstunden des ersten Tages vor lauter Pflege zu keinem Augenblick der Gemüthlichkeit kam.
Sie aber bedurfte keiner Pflege mehr; sie hatte sich selbst und ihre stille sichere Haltung wiedergefunden.
Auf das Geschehene sah sie klar zurück. Sie fühlte, daß, wenn noch einmal alles so wiedergeschehen könnte. auch sie wieder ebenso handeln würde. Sie hatte unter einem sittlichen Zwang gehandelt.
Vielleicht hätte sich eine besonnenere Form finden lassen, die Verlobung Leas mit Lüdinghausen zu verhüten. Vielleicht wäre es richtiger gewesen, Lüdinghausen selbst noch zu benachrichtigen im Augenblick, ehe man sich zu Tisch begab. Indeß, sie hatte ja noch dem Vater beschwörende und aufklärende Warnungen
[430] zugeflüstert und sich der Hoffnung hingegeben, daß er auf sie hören würde. In jenen bangen Sekunden hatte sie nicht anders gekonnt als aufstehen und die entscheidenden Worte sprechen.
Heute wurde sie sich auch darüber klar, daß Lea und ihr Vater in der Heftigkeit Dinge gesagt hatten, welche sie jetzt vielleicht schon nicht mehr wußten, gewiß aber nicht mehr so meinten. Deswegen gleich das Haus zu verlassen, war sicherlich eine Thorheit.
Aber selbst diese Thorheit bereute sie nicht. Ihr war es, als müsse Lea daraus lernen, das Zartgefühl der Schwester mehr zu schonen.
Sie nahm sich von ganzem Herzen vor, die Schwester fortan doppelt zu lieben, nicht müde zu werden, um ihr Vertrauen zu werben, damit Lea nicht wieder so unberathen abirre von dem einfachen Weg der Ehrlichkeit.
Sie zweifelte gar nicht, daß dieses Ereigniß einen Wendepunkt in deren Leben bedeute, daß die Schwester erkennen werde, wie sie mit einer blinden Selbstsucht sich alles und alle dienstbar gemacht habe, und daß sie von nun an weich und warm sich den Ihrigen anschmiegen werde, anstatt sie als Vasallen an ihrem Thron zu betrachten.
Einen Fehler erkennen, meinte Rahel in ihrer geraden Art zu denken, heiße ihn alsbald ablegen.
Und in solchen Gedanken hatte sie ihre Ruhe wiedergefunden und wartete, daß ihr Vater sie zurückholen werde.
Auf ihrem Gesicht lag sogar ein Schimmer von Freudigkeit, den nur ein inneres Glücksgefühl dahin gezaubert haben konnte. Und in ihrem Gedächtniß klang fort und fort die Stimme nach, welche ihr gesagt hatte: „Ich danke Ihnen.“
Mit der Erinnerung an diesen Augenblick ließ sich das Leben schon weiter tragen.
Aber Herr von Römpker kam nicht, worüber Raimar sich alle Stunden von neuem erboste und woraus er das Recht ableitete, Rahel für immer bei sich behalten zu dürfen.
Denn das gefiel ihm ungeahnt wohl, so ein Töchterlein um sich zu haben. Rahel hatte sich unter der lächelnden Bemerkung, daß sie doch nicht krank sei, die allzu geräuschvolle und lästige „Pflege“ verbeten und sich gleich im Hause nützlich gemacht.
Christel hielt sich mit einigem Recht für die beste Hausverwalterin und Köchin der ganzen Gegend und bereitete noch immer für ihren Herrn selbst das Essen. Schönheitssinn aber hatte sie gar nicht.
In den Zimmern standen die Stühle steif aufmarschiert an den Wänden entlang, vor den blanken Scheiben auf den saubern Fensterbänken bunte Blumentöpfe, in den Vasen auf Pfeilertischen und Möbeln Sträuße von Papierblumen. Die dunklen Tischdecken waren mit weißen Theeservietten überlegt. Es sah so ordentlich und so sauber aus, daß darüber die Wohnlichkeit entflohen war. In Raimars Zimmer dagegen hatte der tägliche Tabakrauch allen Gegenständen jenen dunkeln und warmen Ton gegeben, der eine gewisse Behaglichkeit verbreitete.
Rahel bat, ob sie sich nicht ein paar Blumen holen dürfe, und Christel erlaubte ihr, nur von dem Standpunkt aus, daß man mit dem armen Kinde Geduld haben müsse, heute zu thun, was ihr beliebe. Rahel streifte unter dem Regenschirm in dem verwilderten Garten umher und schnitt ab, was sie fand. Sie füllte Vasen und Schalen, rückte die Möbel zurecht und nahm die vielen weißen Decken fort. Der Onkel konnte es kaum begreifen, daß seine vier Wände „nach soviel auszusehen“ vermochten. Christel enthielt sich jedes Urtheils, verstand aber nicht, wieso das schöner sein sollte, wenn ein Sofa schräg vor einer Ecke, anstatt ordentlich an einer Wand stehe; und daß das Reinmachen der vielen Vasen eine Arbeit sei, die nun auf sie falle, indem man doch den Mädchen die feinen Sachen nicht anvertrauen könne, schien das Fräulein auch nicht zu bedenken.
Bei Tisch meinte Raimar, es sei ja ordentlich wie in Gesellschaft, und bekam sentimentale Anwandlungen, als er die Rose in sein Knopfloch steckte, welche Rahel ihm auf seine Serviette gelegt hatte. Seit wann hatte er keine Rose mehr bekommen!
Er fing an zu klagen, daß er nicht geheirathet habe und nicht im Besitz einer solchen Tochter sei.
„Aber Onkel,“ tröstete Rahel, indem sie ihm Gemüse auffüllte, „es können eben nicht alle Menschen heirathen. – Noch mehr Bohnen? Du hast aber Appetit! – Siehst Du, ich muß doch auch ledig bleiben!“
Raimar legte Messer und Gabel hin und sah sie verblüfft an. Er hatte bei sich schon alles in Bereitschaft für sie: einen Gatten, und was für einen! – eine prachtvolle Häuslichkeit und dazu einen wirklichen Schwiegervater und einen Adoptivpapa, und dieser Adoptivpapa wollte ihr mal sein ganzes Geld vermachen, theils aus Liebe, theils um den Neffen zu ärgern, der auf seinen Tod lauerte.
Und nun sagte das schlecht berathene Mädchen, es müsse ledig bleiben!
„Warum denn, wenn ich gefälligst fragen darf?“ sprach er.
Rahel wurde dunkelroth. Sie habe sich nichts dabei gedacht, am Ende würde sie auch keiner nehmen, und wenn Lea Clairon heirathe, sei sie sozusagen arm, weil doch Lea dann Römpkerhof bekommen müsse – kurz, lauter Gründe, welche Raimar schlankweg für Unsinn erklärte.
Allein er blieb trotzdem ein bißchen besorgt.
„Sie wird sich doch nicht einreden,“ dachte er, „daß sie ihn nicht nehmen kann, weil er erst die Schwester wollte!“
Er hielt Rahel für sehr verständig und für unfähig, aus verletzter Eitelkeit zu handeln. Aber er gestand sich, daß dennoch einerseits ihr Stolz und andererseits die Rücksicht auf die Ihrigen ihr eine Verbindung mit Lüdinghausen unmöglich mache.
Und doch hatte er sich gestern abend infolge eines plötzlichen erleuchtenden Gedankens fest vorgenommen, aus diesen beiden Menschen ein Paar zu machen.
Er fand, daß sie großartig für einander paßten, und konnte nur das Eine nicht fassen, warum er selbst diese Bemerkung nicht früher gemacht hatte. Anstatt dessen war er beflissen gewesen, Leas Lob zu singen. Wer weiß, ob Lüdinghausen ohne seine Loblieder überhaupt auf Lea „angebissen“ hätte, denn diesem mußte doch gerade sein Urtheil bestimmend gewesen sein. So sah er sich als Mitschuldigen an und fühlte die Pflicht, den Fehler wieder gut zu machen. –
Als sie nach Tische noch beim Kaffee zusammen saßen, meldete Christel, daß der „neue Landrath“ da sei. Für sie blieb Lüdinghausen immer der „neue“.
„Bitte, bitte, nur herein!“ rief Raimar, aber er war entschieden ein bißchen verlegen dabei.
Lüdinghausen zögerte auf der Schwelle. Er hatte sich eingeredet, daß „sie“ natürlich schon in ihr Elternhaus zurückgekehrt sein werde und daß er ruhig nach Kohlhütte reiten könne. Und nun saß sie dennoch da und ihr Angesicht war ganz von zartem Roth überleuchtet.
Er reichte ihr die Hand und fühlte eiskalte und zitternde Finger.
Raimar bot ihm noch ein ganzes Mittagessen, alle Sorten Getränke, Kaffee, Cigarren an, und darüber kam es wenigstens so weit, daß Lüdinghausen sich zu ihnen setzte und um eine Tasse Kaffee bat.
Er sah sich erstaunt in dem Zimmer um, dessen frühere nackte Nüchternheit ihm nur zu bekannt war.
„Ja,“ sagte Raimar triumphierend, „das hat sie gethan.“
Es schien, daß Lüdinghausen wieder seinen wortkargen Tag hatte. Raimar mußte unaufhörlich schwatzen, und da er mit einer ziemlichen Wortfertigkeit begabt war, fiel es ihm nicht schwer.
Zuletzt rückte Lüdinghausen mit dem Zweck seines Besuches heraus. Er hatte ein Telegramm von seinem Vater bekommen. Der alte Herr reiste ohne Aufenthalt und dachte, heute abend einzutreffen. In dem Telegramm stand: „Hoffe dann morgen meine Schwiegertochter zu umarmen,“ weshalb Lüdinghausen es vorsichtig in der Tasche behielt. Von der derben Jovialität Raimars mußte er sonst gewagte Scherze befürchten, wie, daß man demnach schnell Ersatz suchen müsse, oder ähnliches.
Er sagte, daß das Anerbieten Raimars, den alten Herrn bei sich aufzunehmen, vielleicht übereilt gewesen sei, jedenfalls aber müsse er das von seiner Annahme der Einladung behaupten.
Nun ging jedoch Raimar mit den lebhaftesten Gebärden und seiner lautesten Stimme dagegen an. Was gesagt sei, bleibe gesagt, er würde es sehr übel vermerken, wenn Lüdinghausen dies Haus nicht als das nächste Freundeshaus ansähe und den Vater im Gasthaus des Städtchens einquartierte, weil er ihm in seiner eigenen engen Wohnung nicht die nöthige Bequemlichkeit bieten könne.
Rahel hatte bei dem Streit die Empfindung, als wolle Lüdinghausen seinen Vater nicht der Gefahr aussetzen, ihr, einer [431] Römpker, zu begegnen, während er in der That nur genöthigt sein wollte, um seinen Wunsch, eine Begegnung gerade herbeizuführen, zu verhüllen.
„Meinetwegen, Herr Landrath,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „darf Ihr Herr Vater ruhig kommen, denn ich werde noch heute heimgeholt.“
Wie sie sich selbst wehthat mit diesen Worten! Und wie sie ihm in die Seele schnitten!
Er sah sie traurig an und fuhr fort:
„So werden wir heute abend eintreffen. Mein Vater – ich bitte Sie dringend, lieber Raimar, dessen eingedenk zu bleiben – hat gar keine Bedürfnisse als ein sehr gutes Bett und morgens einen sehr guten Kaffee, und da diese beiden Dinge hier unter Christels Regiment selbstverställdlich sind, werden Sie keine Umstände durch ihn haben, noch sich solche machen.“ Dann stand er auf, um fortzugehen.
„Sie ist meine Feindin geworden,“ dachte er, „wie natürlich, wie sehr natürlich. Sie verachtet mich, weil ich Lea nicht zu durchschauen verstand. Sie hat ja völlig recht.“
Raimar sah beide nacheinander an, aber er vermied, etwas zu sagen.
„Ich werde demnach,“ begann Lüdinghausen, zu Rahel gewandt, „kaum noch das Vergnügen haben, Sie wiederzusehen, wenn Sie heute heimkehren. Ich bitte Sie, nicht gar zu klein von mir zu denken.“ Er beherrschte kaum seinen Ton.
„Ich denke nicht klein von Ihnen,“ stammelte Rahel, und in Thränen ausbrechend, eilte sie aus dem Zimmer.
Lüdinghausen wandte sich ab, damit Raimar sein Gesicht nicht sehe. Aber der war ohnedies viel zu gerührt, um den andern zu beobachten. Er war wie ein Kind und weinte mit, wenn er jemand weinen sah.
„Fräulein Rahel ist wenigstens barmherzig,“ sagte Lüdinghausen nach einer Weile mit einem erkünstelten Lächeln, „sie verschmäht es, mich zu demüthigen.“
Da konnte Raimar nun doch nicht mehr an sich halten, denn Gedanken lange zu verbergen, war ihm unmöglich.
„Ohrfeigen möchte ich mich, daß ich Ihnen die Lea so gelobt habe,“ rief er, und das war genug, um dem andern seine Plane zu verrathen. Lüdinghausen errieth sie auch und wurde so verlegen, daß er sich förmlich auf die Flucht begab. –
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Römpker holte auch am Nachmittag sein Töchterchen nicht heim.
Aber Rahel bat es sich sehr entschieden aus, diesen Abend in ihrem Zimmer bleiben zu dürfen. Und da saß sie denn vor einem Buche und horchte mit allen Sinnen auf die Laute im Hause.
Ein Wagen fuhr vor. Raimars Lachen schallte durch den Hausflur. Eine andere, angenehme, volle Stimme sprach dazwischen. Das war seines Vaters Stimme.
Rahel hörte vor Herzklopfen eine Weile nichts. Dann Schritte auf der Treppe und dann – o Schreck! – nebenan Stimmen und das Niederstoßen eines zu hart hingesetzten Koffers. Man hatte doch nicht den alten Herrn zu ihrem Nachbar gemacht?
Herrn Lüdinghausen senior wurden von Christel zwei Räume gegönnt, weil man ihr gesagt hatte, daß er einer der reichsten Männer im Königreiche und dementsprechend angesehen sei.
Er hatte richtig ein Wohngemach neben dem Rahels bekommen.
Rahel vernahm durch die dicke Zwischenwand nur die verschiedenen Klangfarben der redenden Stimmen und lauschte mit wehmüthiger Freude besonders auf die eine. Und sehr bald stiegen Vater und Sohn wieder treppab.
Rahel hörte nun nichts mehr. Sie fing an, schmerzliche Reue zu empfinden, daß sie sich von der Wohlthat ausgeschlossen hatte, Lüdinghausen zu sehen, dieselbe Luft mit ihm zu athmen.
Das gleiche Dach schirmte sie in diesen Stunden, aber sie waren sich so fern und würden es ewig bleiben.
Sie legte ihr Gesicht in das Buch. „Nein, Lea, ich habe ihn nicht für mich gewollt; wenn Du ihn geliebt hättest wie er Dich und wenn Du ihn beglückt hättest, ich wäre glücklich gewesen in Eurem Glück,“ dachte sie. „Und jetzt haßt er Lea und mit ihr alle, die zu ihrem Hause gehören, und am meisten mich, die ich störend zwischen ihn und sie trat. Vielleicht hätte er gewünscht, in der Täuschung zu bleiben – man sagt, daß Liebe sich so weit verirren kann. Nahm er nicht Abschied von mir? Hieß das nicht, daß er mich nicht wiedersehen will?“
Daß er ihr gestern abend so innig gedankt und daß sie gemeint hatte, aus dieser Erinnerung für alle Zukunft Muth schöpfen zu können, war ihr jetzt ganz aus dem Gedächtniß entschwunden, freilich nur, um vielleicht in der nächsten Viertelstunde wieder ein seliges Lächeln auf ihre Lippen zu locken. –
Die drei Herren besprachen sich unterdessen mit erstaunlicher Offenheit, oder richtiger, die beiden alten thaten es und der jüngere hörte nachdenklich zu, nachdem er schon im Wagen in langer Rede alle Ereignisse gebeichtet und seinen Vater wegen der unnöthigen Reise um Vergebung gebeten hatte.
Der Geheime Kommerzienrath Lüdinghausen war ein untersetzter Mann, den die Neigung zur Körperfülle nicht in sehr schnellen Bewegungen hinderte. Sein lebhaft gefärbtes Gesicht war bartlos, unter buschigen, grauen Brauen flammte ein Paar junger Augen, die von starkem Willen zeugten; über der hohen Stirn stand das weiße Haar dicht und dick wie eine Bürste empor.
Raimar staunte ihn unausgesetzt an. „Ja, ja, das sind die Naturen, die im engen Kreise keinen Platz haben und die vielleicht mit Fäusten niederschlagen, was sich ihnen in den Weg stellt; unsereiner kommt sich wunder was vor, wenn er sich anständig auf der Scholle erhält, die er von den Vätern geerbt hat.“
Und wie einfach dieser Fürst der Arbeit von sich und seinem Wirken sprach!
Er prahlte weder mit seiner Lebensleistung, noch verbarg er sie in ängstlichem Zagen, hier Vorurtheilen zu begegnen. Ihm war alles ganz ungemein natürlich.
Das Mißgeschick seines Sohnes schien er wie eine kleine Unannehmlichkeit hinzunehmen, über welche man nicht viel zu reden braucht. Die Dunkelheit im Wagen hatte freilich das seltsame Mienenspiel verborgen, welches bei dem Bericht des Sohnes sein Gesicht belebte.
Als der jüngere Lüdinghausen in die Stadt zurückgekehrt war, saßen die beiden Alten noch lange beim Wein. Vor Raimar machte der Vater des Landraths kein Hehl daraus, daß ihm dieses Erlebniß für seinen Sohn von unbezahlbarem Werth scheine.
Der Erasmus sei ihm, sagte er, immer zu vernünftig gewesen. Ein Musterknabe, von dem seine Frau stets gefürchtet habe, daß die Tollheiten doppelt schlimm nachkämen. Aber bewahre, es sei bei dem Jungen alles programmmäßig gegangen, und noch nie habe man ihn einen andern Schritt als einen lange und wohl überlegten thun sehen. Nun sei es doch von größtem Vortheil, daß er die Lehre empfangen habe, wie man sich in gewissen Dingen weniger auf Ueberlegung, als auf den Trieb des Herzens verlassen solle. Er wisse dieser Rahel noch besondern Dank, weil sie ihn selbst vor einer Schwiegertochter bewahrt habe, welche der Beschreibung nach zu sehr große Dame gewesen wäre, um ihm je herzlich nahe zu stehen.
Raimar hütete sich, zu verrathen, daß Rahel im Hause sei und daß er glaube, der junge Lüdinghausen stehe seit gestern abend plötzlich in lichterlohen Flammen für sie. Er hatte sich vorgenommen, ungemein diplomatisch zu sein, und wollte nicht den Verdacht erwecken, als spiele er den Heirathsvermittler für die Töchter des Freundes.
Am folgenden Morgen fuhr der alte Herr in die Stadt zu seinem Sohn. Noch sah man seinen Wagen fern auf der Landstraße, als Herr von Römpker angeritten kam.
Seine Tochter wie sein Freund sahen ihm sogleich an, daß er nicht erschien wie jemand, dem es froh und leicht ums Herz ist.
Er umarmte Rahel sehr flüchtig, aber nicht aus Feindseligkeit, sondern in bemerkbarer Zerstreutheit. Er hatte auch gar keine Zeit, sondern war nur gekommen, um sehr Nothwendiges zu besprechen.
Lea wolle schleunigst verreisen, erst nach Wiesbaden, dann vielleicht nach Paris oder nach Italien, kurz, man werde viele Monate abwesend sein, und die Eltern wollen beide mit, in der beruhigenden Gewißheit, daß Rahel unterdeß die Wirthschaft und das Schloß gut bewachen werde. Zwar sei die Kasse zur Zeit recht knapp, aber er habe den Verwalter beauftragt, die ganze Ernte schnell zu Geld zu machen, und weiterhin werde sich schon [432] Rath schaffen lassen. Denn die arme Lea müsse andere Menschen und andere Gegenden sehen, um sich zu zerstreuen.
„Und Clairon?“ fragte Rahel, die sich mit Gewalt in ihrem Schmerz bezwang. So ganz nebensächlich war sie den Ihrigen, man schob sie einfach bei Seite und reiste in die Welt hinaus.
„Hat vollständig mit Lea gebrochen,“ sagte Römpker kurz.
Raimar dachte an Lüdinghausen und konnte eine Art von Genugthuung nicht unterdrücken, daß dieser Recht behalten hatte.
„Bleibe noch hier bis morgen, Kind,“ bat Römpker; aber die Bitte klang wie ein Befehl. „Lea ist sehr nervös und möchte zur Zeit nicht gern viel mit Dir zusammen sein. Es muß erst ein bißchen Gras darüber wachsen. Das verstehst Du doch.“
Ja, das verstand Rahel. Aber ob sie denn nicht einmal Abschied nehmen dürfe von der Mutter?
Gewiß, gewiß. Morgen reise man, und wenn Rahel eine Stunde vor der Abreise eintreffen wolle, habe man zum Abschied genügend Zeit.
Es war offenkundig, daß Römpker sich alle Mühe gab, seine Freude an dieser Reise zu verbergen, die finanziell doch eine Thorheit für ihn war. Aber er hatte vor seinem Verstand einen Vorwand. Für die tief gekränkte und um ihr ganzes Lebensglück gebrachte Tochter hieß es eben kein Opfer scheuen.
Als er wieder davonjagte, schaute ihm Rahel mit einem schmerzvollen Lächeln nach.
„Nur den Kopf hoch, mein Kind,“ tröstete Raimar, den sie dauerte. „Heute kommst Du Dir arm vor und verlassen von Liebe. Wer kann aber wissen, wie die Zukunft noch zwischen Dir und Lea theilt!“
„O, ich gönne ihr die Liebe der Eltern,“ schluchzte Rahel, „allein warum muß ich denn ausgeschlossen sein?“
Der alte Lüdinghausen blieb diesen ganzen Tag im Städtchen und erschien erst abends wieder, und zwar mit seinem Sohn.
Beide machten große Augen zu den Neuigkeiten von Römpkerhof. Der alte Herr hatte doch so viel Interesse an der Familie, daß er sie wenigstens im Bilde kennenlernen wollte. Raimar besaß ein Gruppenbild, welches schon an die fünfzehn Jahre alt war und wie alle alten Photographien eher komisch als unterrichtend wirkte.
„Von Rahel allein habe ich das neueste Porträt,“ sagte Raimar, während sein Gesicht vor Vergnügen strahlte, denn er hatte einen kostbaren Einfall. „Ich will es holen.“
Er ging hinauf.
„Du mußt schnell mitkommen,“ bat er hastig. „Der alte Herr will Dich sehen.“
Rahel sträubte sich, während doch ihr eigenes Herz vor Verlangen brannte, den Vater des Landraths begrüßen zu dürfen. Raimar ließ indessen kein Zögern gelten und führte sie mit sich.
Er stieß die Stubenthür auf und die beiden Männer staunten dieses lebende „Bild“ sprachlos an.
Der Vater blickte erst fragend zum Sohn hinüber und sah dessen Gesicht wie verklärt. Vor Verwunderung über diese Wahrnehmung vergaß er fast, aufzustehen und das Fräulein zu bewillkommnen.
Er that es endlich mit etwas umständlicher und altfränkischer Höflichkeit, aber Rahel fühlte doch eine besondere Wärme heraus und lächelte unwillkürlich den alten Herrn sonnig an.
Dies Lächeln gefiel ihm und erquickte sein Herz. Er war sofort im höchsten Grade von ihr eingenommen und beklagte sich, daß sie so lange unsichtbar geblieben sei. Sie mußte neben ihm sitzen, und er machte ihr förmlich den Hof, wobei er schelmisch zu seinem Sohne hinüberblinzelte, als wollte er fragen: „He, das hast Du wohl nicht von mir gedacht, daß ich mit liebreizenden jungen Damen so umgehen kann?“
Rahel sah dabei sehr glücklich aus, ebenso der junge Lüdinghausen, aber wenn ihre Augen sich trafen, flohen sie scheu wieder auseinander.
Als Vater und Sohn allein waren, sagte der Alte in seiner naturwüchsigen Art:
Hör’ mal, Erasmus, Du scheinst mir von allen guten Geistern verlassen gewesen zu sein, als Du aus Römpkerhof um eine andere als diese warbest. Wie kann man so seinem Glück aus dem Wege gehen! Denn jetzt ist ja wohl Deine Stellung zu den Römpkers eine so schiefe, daß da nichts mehr zu machen ist. Außerdem: man muß nicht aus Vernunft, sondern nur aus unbezwinglicher Liebe heirathen. So mit ’nem Blitzschlag muß es kommen. Unbegreiflich, daß die Rahel Dir nicht dieser Blitzschlag geworden ist.“
Der alte Herr ahnte nicht, daß er mit seiner derben Rede alle die kleinen, noch ärmlichen Hoffnungskeime in der Brust des Sohnes erstickte.
Als er am nächsten Tag abreiste, war er in Rahel fast verliebt und mit seinem Sohne böse. Was er erst für eine „heilsame Lehre“ angesehen hatte, darin fand er nun schon die gerechte Strafe für eine unglaubliche Dummheit.
Rahel kehrte in ihr Vaterhaus zurück. Der Abschied von den Ihrigen war flüchtig, vielleicht auch etwas befangen von der einen, sehr gedrückt von der andern Seite. Im letzten Augenblick erfuhr Rahel noch eine neue Kränkung: ohne sie zu fragen, ob ihr gerade diese Gesellschaft willkommen sei, hatte man ihr Fräulein Malchen als Ehrendame ins Schloß geladen für die ganze Dauer der elterlichen Abwesenheit.
Und so konnte denn das neue einsame, hoffnungsleere Leben anfangen. Es gab nichts darin als Pflichten, die sich in täglich genau wiederholter Reihenfolge gewohnheitsmäßig erfüllen ließen.
Die stete Gegenwart von Fräulein Malchen wirkte dabei so niederdrückend; es war Rahel, als habe sie ein wandelndes Bild ihrer eigenen Zukunft vor sich.
Die Tage waren endlos lang, und wenn Onkel Raimar nicht jede Woche einige Male gekommen wäre, hätte Rahel diese Oede nicht ertragen.
Der Monat September ging schon zu Ende, und damit stellte sich für Rahel eine neue Sorge ein. So lange die Husaren sich im Manöver befanden, ruhte in der Gegend stets fast alle Geselligkeit. Die Baronin Ehrhausen begab sich während dieser Zeit auf Reisen, Römpker pflegte sonst in Karlsbad zu sein, die Offiziersdamen meist zum Besuch bei Verwandten. Nun aber, wenn alle zurückkehrten, begann das lustige Leben von neuem, und so unerträglich Rahel oft die Einsamkeit mit Fräulein Malchen war, jetzt dünkte es ihr noch unerträglicher, in Gesellschaften zu gehen, wo sie unter Fremden „ihm“ begegnen würde.
Sie hatte ihn nicht wiedergesehen; denn einmal, als Onkel Raimar sie und mit ihr pflichtschuldigst Fräulein Malchen eingeladen hatte – es war gleich in der ersten Woche gewesen – gab es eine alberne Scene. Fräulein Malchen sträubte sich, das Haus eines Junggesellen zu betreten. Rahel mochte ihr vorstellen, daß sie ja auf Kohlhütte sogar schon gewohnt habe, und daß Raimar ihr Vater sein könnte, es half alles nichts. Fräulein Malchen blieb dabei, daß Raimar eben ihr Vater nicht sein könnte, sondern nur ein Jahr älter sei als sie, daß er ihr überdies früher den Hof gemacht habe und sie deshalb um jeden Preis üblen Schein vermeiden wolle.
Hieraus schloß Rahel zu ihrem Erstaunen, daß Raimar offenbar der Gegenstand zarter Hoffnungen für Fräulein Malchen gewesen war.
Junge Leute denken nie, daß ein so verkümmertes ältliches Wesen auch einmal das Herzensrecht ausgeübt haben könne, still zu lieben und zu hoffen.
Rahel hatte nun weder gefühlsseliges Mitleid dafür, noch verständnißlosen Spott; sie fand nur, daß es ihre Pflicht sei, Malchen das Opfer „Kohlhütte“ zu bringen.
Eines Tages kam Raimar mit einer Neuigkeit, welche sehr erschütternd wirkte.
Graf Robert Clairon war aus dem Manöver nicht mehr zu seinem Regiment zurückgekehrt. Die Nachricht, daß sein Bruder und dessen Frau mit einem Jagdwagen verunglückt seien, habe ihn nach Westernburg, seinem Familiengut, gerufen. Die Frau solle nur ganz gering verletzt sein. der Bruder dagegen schwer, fast hoffnungslos. Raimar wußte es von Ehrhausen, der noch in Urlaub war, aber ihm ausführlich geschrieben hatte. Ob der Majoratsherr Kinder habe, wußte Raimar nicht.
Fräulein Malchen glaubte sich gewiß zu erinnern, daß nie von solchen die Rede war. Sie erging sich in großen Klagen, daß eine solche Schicksalsverkettung offenbar eine ersichtliche Fügung Gottes sei und als eine vorbedachte Strafe gegen Lea erscheinen müsse.
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[434] Rahel, die ihr ganzes Wesen von der Wucht bloß einer solchen Möglichkeit erschüttert fühlte, sagte scharf:
„Ich denke größer von dem Gott über uns, als daß ich ihm eine so schadenfrohe und merkwürdige Art von Bestrafung zutrauen könnte. Wie unsinnig! Um Leas Hochmuth, ihren Mangel an Opferwilligkeit für ihre Lieben zu züchtigen, sollte der arme, vielmißbrauchte, liebe Gott den älteren Grafen Clairon tödten? Du sollst den Namen Deines Gottes nicht unnütz führen.“
Malchen streckte das magere Hälschen vor wie ein Huhn und schlug die Augen zu Raimar auf.
„So geht es leider oft. Die liebe gute Rahel marschiert immer in Waffen gegen mich.“
„Aber es sind nur kleine Uebungen, kein wirklicher Krieg,“ tröstete Raimar lachend. Ihm war das alte Dämchen äußerst langweilig und er hätte sich schön gewundert, hätte er erfahren, daß sie ihn als einen früheren Verehrer ansah.
Rahel verbarg tief, daß sie fieberhaft auf weitere Nachrichten warte, und machte sich ungewöhnlich viel zu thun, um ihre Gedanken abzulenken.
Eines Tages fand sie in ihrem Schreibtisch zweihundert Thaler Papiergeld in einem Briefumschlag. Da fiel es ihr vorwurfsvoll aufs Herz, daß sie die Löhnertsche Familie vergessen habe über all den eigenen Leiden. Frau Löhnert hatte gerade in den Tagen das Geld holen sollen, als Schlag auf Schlag jene Ereignisse kamen. War die Frau vielleicht hier gewesen, während sie selbst sich auf Kohlhütte befand? Hatte der Vater sie fortgeschickt oder ihr geholfen? Und weshalb ließ sich die Frau nicht sehen?
Rahel beschloß, sogleich hinzugehen. Eine Viertelstunde über Römpkerhof hinaus lag das Dörfchen, welches, zum Gut gehörend, meist aus den Wohnungen der Tagelöhner und einigen Käthnerstellen bestand.
Sie steckte das Geld für alle Fälle zu sich und machte sich auf den Weg. Es war Herbst geworden, gelbe Blätter schwebten, vom eigenen Gewicht herabgezogen, durch die stille Luft zur Erde nieder. Auf den Feldern zogen die Pflüger ihre langen, klebrig dunklen Furchen. Der Horizont, mit den Pappeln um Raimars Haus, schien ganz nahe gerückt. Friedvoll und klar war der Tag. Eine Reihe von Kartoffelwagen, mit vollen Säcken beladen, fuhr dem Wirthschaftshof zu. Fern blinkte irgendwo ein Flämmchen auf, wie ein Stück Blattgold, das man da hingeklebt hat, und darüber hin, fast am Erdboden kriechend, zog blauweißer Dampf. Die Leute verbrannten das Kartoffelkraut, und die ganze Luft roch nach feuchter Erde, so daß Rahel hoch aufathmete. Sie liebte den kräftigen Geruch des Bodens, der all diesen Menschen seine Früchte gab.
Im Dörfchen war es still. Eine alte Frau wartete eines kleinen Kindes im blassen Sonnenschein vor einer Hausthür. Rahel sprach freundlich mit ihr. Unter der großen Pumpe waren ein paar kleine Jungen beschäftigt, eine Rinne auszugraben, ihre Nußschalschiffchen mit den Schwefelholzmasten und den Papiersegeln hielt der eine von ihnen auf seinen flachen Händen ängstlich vor sich hin.
Vor Löhnerts Haus stand eine Wiege, der Knabe, welcher Rahels Pathenkind war, saß daneben, lernte laut aus einer Fibel und wiegte dabei das Schwesterchen auf eine unsinnige Art. Es gab jedesmal ein dumpfes Aufstoßen, wenn die Gängel hüben und drüben mit ihrem äußersten Punkte den Boden erreichten.
„Wilhelm, Junge, das darfst Du nicht! Die Kleine wird ja schwindlig,“ rief Rahel.
Der Junge ließ die Wiege los, die nun langsam ausschaukelte.
„Wo ist Deine Mutter?“
„Bei den Kartoffeln.“
„Und Vater?“
„Auch bei den Kartoffeln.“
Rahel mochte den Burschen nicht ausforschen, wie es ihnen gehe, ob die Schulden bezahlt seien.
„Weshalb bist Du denn nicht mit?“ fragte sie, da sie wußte, er werde sonst schon herangezogen zu solchen Arbeiten.
„Nee, ich soll nicht. Der Herr Landrath sagt, ich wachse sonst nicht,“ erklärte der Knabe wichtig.
Rahel fand, daß er sowie die Kleine in der Wiege sehr ordentlich aussahen.
„Von wem hast Du die Jacke?“
„Vom Herrn Landrath.“
Rahel bekam Herzklopfen. Wie kam er dazu, sich ihrer bisherigen Schützlinge anzunehmen?
„Ich gehe mal ins Haus, Wilhelm, und schaue mich da ein bißchen um.“
„Schön,“ erwiderte er.
Rahel ging ins Haus. Auf der Tenne lagerten Kartoffelsäcke, die heute hereingefahren worden sein mochten. Trotzdem sah man, daß Ordnung herrschte. Die Bansen waren voll Heu und Stroh, links im Verschlage standen zwei schöne Kühe. Rahel kraute ihnen kosend die schwarzweiß gefleckte Stirn. Im Hintergrund des Hauses befanden sich die Stuben und die Küche. Alles war sehr ordentlich, und Rahel, die hier jedes Stück kannte, bemerkte das eine und andere neue Geräth.
Kein Zweifel mehr, hier waltete eine helfende Hand und hier wachte ein strenges Auge.
Er also, er hatte die bedrängte Familie nicht vergessen trotz des eigenen Leids. Ihr war, als müsse sie sich tief vor ihm schämen.
Sie ging wieder hinaus und setzte sich neben den Knaben auf die Bank. Nichts wäre einfacher und natürlicher gewesen, als ihn auszufragen. Aber in ihrer Aufregung war sie dazu nicht imstande.
Bauernkinder sind nie gesprächig, der kleine Wilhelm schwieg auch. Aber als Rahel geraume Zeit still neben ihm saß, dachte er, sie warte auf seine Mutter.
„Mutter kommt noch lange nicht,“ ließ er sich vernehmen, das Wort „lange“ so ausdehnend, als wolle er damit eine ungemessene Dauer ausdrücken.
Rahel stand auf.
„Nun, ich besuche Euch ein ander Mal,“ sagte sie. „Sei nur recht artig und fleißig, damit der Herr Landrath Freude an Dir hat!“
Der Junge grinste. Diese Ermahnung hatte für ihn etwas sehr Vergnügliches.
„Und er sagt,“ erwiderte er, „ich soll wegen Fräulein Rahel brav sein.“
„Weshalb lachst Du darüber?“ fragte sie.
„Aber ich lache ja gar nicht,“ rief der Iunge, „es ist man, weil Vater sagt, wir könnten uns das wohl gefallen lassen.“
„Was?“
„Vater sagt, den Sack schlägt man und den Esel meint man,“ erzählte Wilhelm etwas ängstlich, denn die streng auf ihn gerichteten Augen erschreckten ihn, auch hatte das Fräulein einen solch rothen Kopf bekommen. Und er war sich doch nicht bewußt, etwas Böses gesagt zu haben, es war ja nur so komisch, daß der Vater Recht behalten hatte, denn der hatte gemeint, der Landrath thäte es ja nur wegen des Fräuleins, und nun fehlte noch, daß das Fräulein auch was thäte wegen des Herrn Landrath.
„Ach, sein Sie man nicht böse,“ setzte er weinerlich hinzu, „sonst krieg’ ich Haue von Muttern.“
Aber Rahel klopfte ihn fast zärtlich auf die rothen Wangen und erwiderte sanft:
„Also grüße die Mutter, und ich käme übermorgen wieder.“
Sie hatte, vor ihm stehend, der Straße den Rücken zugekehrt, und als sie sich jetzt umwandte, schrak sie zusammen. Erasmus Lüdinghausen ging eben mit raschen Schritten auf das Haus zu. Er hatte sie schon gesehen und erkannt. Nun stand er vor ihr und ergriff ihre Hand.
Ihre Blicke versenkten sich tief ineinander, wie damals an dem Unglückstag.
„Ich danke Ihnen für das, was Sie an diesen Leuten gethan haben. Ich bin beschämt, denn ich hatte ihrer Noth eine Weile vergessen,“ sagte sie leise.
„O, ich war so glücklich, hier von Ihnen sprechen zu können, von dieser guten, anhänglichen Frau mir aus Ihrer Kindheit erzählen zu lassen. Ich habe im Eigennutz gehandelt. Vor Ihnen wenigstens soll mein Thun nicht den Schein selbstloser Wohlthätigkeit haben.“
Er fühlte, wie ihre Hand in der seinen zitterte. Ihre Augen, die an ihm hingen, waren feucht.
Er sah, daß auch sie schmerzlich bewegt war, und mit festerem Druck umschloß er ihre Hand, welche sie ihm jetzt entzog.
[435] Nur unhörbar kam ein Abschiedswort von ihren Lippen, und dann enteilte sie.
Ihr war, als sei sie auf der Flucht; sie ging so schnell, daß ihr Athem hastig wurde.
Lüdinghausens Wagen stand auf der Landstraße, der Kutscher grüßte Rahel, ohne daß sie es bemerkte.
Sie befand sich in einer wunderlichen Verfassung.
Die Brust war ihr so eng, die Welt so kein; sie hätte weinen, die Arme nach der dämmernden Ferne ausstrecken, hätte fliehen mögen. Nur hinaus, hinaus aus den beklemmenden Schranken des menschlichen Lebens.
Eine süße Traurigkeit ergriff ihre ganze Seele, ein Schmerz, den zu empfinden ihr doch eine Art von Lust schien. Ihre Gedanken verloren sich ins Grenzenlose, in weltvergessene Träumerei. Ihre Schritte wurden immer langsamer und ein müdes Gefühl ging ihr durch alle Nerven.
Ein großes Sehnen nach Einsamkeit und Ruhe bemächtigte sich ihrer.
Aus den menschenleeren Feldwegen, in deren Furchen sie wohl eine Stunde lang umhergewandert war, ohne daß sie des mehr für Wagenräder als für Damenschuhe geeigneten Pfads geachtet hätte, kam sie in den Park. Die Wege waren von gelben Blättern überdeckt, die vom beginnenden Abendthau des Herbstes sich stark gefeuchtet hatten.
Im braunen Geäst spielten noch zitternd verlorene Reste des Laubes. Der blasse Himmel sah da hinein, wo sonst die Sonne dichte Schatten geworfen hatte. In einer hohen Pappel hielt ein Rabenvolk lärmende Versammlung.
Abendkälte durchschauerte herb die Luft, und Rahels ungewisses Träumen wandelte sich in tiefe Trauer. Die Herbststimmung ergriff ihre in diesem Augenblick so wehrlose Seele. Sie weinte. –
Alle Rechte vorbehalten.
Bilder aus Spanien.
Die beste der Welten, sagt ein humoristischer spanischer Schriftsteller, ist Europa; die beste der Nationen Europas ist die spanische, und das Beste von Spanien ist Madrid.
Am oft sehr wasserarmen, zu Wasch- und Trockenplätzen benutzten Manzanares gelegen, erscheint die Stadt von weitem wie eine aus der Ebene aufsteigende Bastion. Stolz ragt an der Flußseite der mächtige weiße Schloßbau, die königliche Residenz, empor. Aber keine Stadt in Spanien hat in ihrer äußeren Erscheinung so wenig Spanisches wie Madrid. Es ist wie ein Stück Paris und ganz modern; nichts Alterthümliches und geschichtlich Ehrwürdiges darin. Es ist nicht so groß, als man sich gemeinhin vorstellt, und es ist auch nicht so schön, als man glauben sollte nach dem Ruf, der über das Leben daselbst sich verbreitet hat. Aber immerhin ist es großstädtisch, luxuriös, heiter und volkreich. Das Beste oder das Interessanteste darin ist die Puerta del Sol, ein Platz mitten in der Stadt, auf welchen zehn Straßen aus allen Weltgegenden münden; besonders geräumig ist er nicht, und wenn man die Kathedrale von Toledo dahin stellen würde, hätte sie lange nicht Platz genug. Aber über ihn fluthen von früh bis spät in die Nacht die lärmenden Wellen geschäftigen Verkehrs. Hier kreuzen sich die zahllosen Wagen, Karren und Pferdeeisenbahnen; hier bummeln die reichen und die armen Müßigganger; hier haben die Bettler jeder Art ihr Hauptquartier und erfüllen Verkäufer aller Art die Luft fort und fort mit ihrem Geschrei. Jeder von den 470 000 Einwohnern Madrids, meint man, müsse wenigstens einmal des Tages oder des Abends über die Puerta del Sol gehen. Hier schlägt in Wahrheit das Herz von Madrid.
Gearbeitet wird nicht sehr viel in dieser Hauptstadt Spaniens. Sie besitzt keine Fabriken, keine Industrie. Daher sind die Hauptstraßen nach der Puerta del Sol immer voll Menschen, die sich in der frischen Luft oder in der Sonne von ihrer häuslichen Anstrengung erholen; die großen Kaffeehäuser sind niemals leer. Und abends ist alle Welt, die es haben kann, in den Theatern, deren es mehr als ein Dutzend giebt. Für öffentliche Schauspiele und Festlichkeiten ist keine Stadt so geeignet wie Madrid; es hat die Plätze dazu, gleichsam die Bühnen mit Dekorationen und Coulissen, und die stets zur Schaulust bereite Menge. In ihren Festen spiegelt sich der Geist der Stadt. Werfen wir daher hier einen Blick auf einige dieser öffentlichen Schauspiele. Und da das Militär zu den glänzendsten Erscheinungen des öffentlichen Lebens gehört, mögen auch die militärischen Schauspiele, die große Parade, die Manöver voranstehen.
Als Platz für die Paraden dient der „Prado“, die beliebte breite Promenade, die sich in ihren mit Baumalleen und Palästen versehenen Fortsetzungen um halb Madrid zieht.
Die spanischen Truppen sind ähnlich uniformiert wie die französischen, nur in der Kopfbedeckung unterscheiden sie sich merklich von diesen. Sie sind elegant und gediegen ausgestattet, und zumal in Madrid liegen die schönsten Regimenter. Freilich besitzen sowohl Infanterie- wie Kavallerieregimenter eine im Vergleich zu unseren deutschen Verhältnissen äußerst geringe Friedensstärke. Erstere erreichen kaum den Mannschaftsstand eines deutschen Bataillons. Ihrer sechzig, im Frieden je etwa sechshundert Mann stark, sind über die spanischen Provinzen und Kolonien vertheilt. Die Kavallerie zählt 28 Regimenter mit je vierhundert Pferden, darunter Ulanen mit blanken Stahlhelmen, Husaren und Chasseurs, letztere unsern Dragonern entsprechend.
Die ganze Armee übersteigt in Friedenszeit kaum hunderttausend Mann und soll in Kriegsstärke auf 800 000 gebracht werden können. Erst unter König Alfons XII. wurde anstatt der früheren zehnjährigen Präsenzzeit die dreijährige mit Reservepflicht nach deutscher Weise eingeführt. Wenn auch jeder Spanier neuerdings zum Kriegsdienst verpflichtet ist, so kann er sich doch vom aktiven Dienst mit einer Summe von fünfzehnhundert bis zweitausend Pesetas (1 Peseta gleich einem Frank zu rechnen) loskaufen. Natürlich sind es infolgedessen die armen Landleute, aus denen sich die Armee zum größten Theil zusammensetzt; jährlich werden ihrer bis zu zwei vom Hundert ausgehoben, blutjunge kleine Kerle, oft noch knabenhaft in ihrem Erscheinen, aber flink und zäh. Aehnlich wie bei den Italienern ist auch bei der spanischen Infanterie das Marschtempo ein ganz erstaunlich schnelles, 125 Schritte in der Minute, während die deutschen Bataillone [436] auch nach der neuerdings eingeführten Beschleunigung nur 114 Schritte in der Minute machen, und es ist daher ein flotter Anblick, wenn so eine Truppe unter den melodiösen Weisen ihrer „Banda“ den Prado heruntermarschiert.
Das vornehmste Corps in der spanischen Armee ist die „Guardia civil“ zu Fuß und zu Pferde. Sie versieht im ganzen Lande den Gendarmeriedienst, und die Pflichttreue und der persönliche Muth, welchen sie stets beweist, haben ihr eine hohe Achtung und das Wohlwollen aller ordnungsliebenden Bürger in Spanien gesichert. Sie ist der Schrecken der Banditen und gilt als die zuverlässigste Stütze der Regierung. Als einmal wiederholt Eisenbahnzüge in den einsamen Gebirgsstrecken des Landes nächtlicherweile überfallen wurden, da ließ man in jeden Nachtzug mehrere dieser Guardias civil einsteigen, und ihre Anwesenheit genügte, um die Passagiere über die Sicherheit ihrer Person und ihrer Habseligkeiten zu beruhigen. Als alte gediente Männer machen sie schon durch ihr Aeußeres einen gebietenden Eindruck; sind es doch meist stattliche Gestalten, deren verwetterte Gesichter mit dem starken schwarzen Schnurrbart sich im Zusammenwirken mit der Uniform äußerst martialisch ausnehmen.
Diese Uniform, von der unser Anfangsbildchen eine Vorstellung zu geben vermag, besteht aus einem dunklen Leibrock mit rothem Brusteinsatz und silberbordierten Aufschlägen, aus weißledernen Kniehosen, schwarzen wollenen Gamaschen und einem Dreispitz als Kopfbedeckung. So erinnern die Leute lebhaft an die Grenadiere Friedrichs des Großen, und ihre malerische Tracht gewinnt noch bei denjenigen, welche beritten erscheinen.
In der Zuneigung des Publikums steht der Guardia civil am nächsten die Gebirgsartillerie; die nebenstehende Abbildung zeigt uns eine Abtheilung derselben auf schmaler Bergstraße. Die Geschütze sind zerlegt in ihre Bestandteile, Rohr, Räder, Protzkasten etc., und sichergehende Maulthiere tragen auf eigens zugerichteten Sätteln die einzelnen Lasten. Handelt sich’s aber um eine Parade, dann bewähren sich dieselben Mulos gleich vortrefflich als leistungsfähige Zugthiere, und im Galopp geht’s mit den kleinen gedrungenen Geschützen und den Protzkasten voll Kanonieren den Prado hinunter.
Manöver in unserem Sinne, wo große Verbände, Divisionen, Armeecorps, gegeneinander operieren, giebt es in Spanien nicht, jeder Truppentheil führt irgend eine Aufgabe für sich aus. Der Grund liegt in der heißblütigen Leidenschaftlichkeit der spanischen Natur, und es hat sich gezeigt, daß eine Felddienstübung mit Partei und Gegenpartei nicht ohne Gefahr ist. Die gegenseitige Eifersucht von Waffengattung gegen Waffengattung, von Regiment gegen Regiment artet dabei leicht in ernsthafte Händel aus, bei denen alle Disciplin in die Brüche geht. Vor etwa fünfzehn Jahren wurde einmal zu Ehren des Kaisers von Marocco ein richtiges Manöver spanischer Truppen veranstaltet. Eine fingierte Feste auf einem Berg sollte genommen werden. Als man aber zum Sturm vorging, da wollte die Besatzung um keinen Preis dem Plan zuliebe weichen, sie mißachtete alle Signale und Befehle, es kam zu scharfen Schüssen und zu Verwundungen hüben und drüben – die Besatzung der Festung behauptete ihre Stellung, unbekümmert darum, daß der Generalstab es anders vorgeschrieben hatte.
Es kennzeichnet diese Geschichte die Eigenwilligkeit der spanischen Regimenter, die sie so oft schon zu schweren Verletzungen der Disciplin geführt hat und insbesondere auch in ihrer Betheiligung an der Politik zu Tage tritt. Die Soldaten in Spanien bilden in der That die Menschenklasse, welche am meisten Politik treibt, und alle Ueberwachung der Kasernen konnte nicht verhindern, daß darin oft genug Verschwörungen geplant und angezettelt wurden. Die Sergeanten waren gern die Häupter dabei, weil sie Offiziere werden wollten, und die Offiziere liebten ihrerseits das Revolutionspielen, weil sie sonst nie oder doch nicht schnell genug ihren Traum von den Generalsschnüren erfüllt sahen.
Doch kehren wir zurück zu Madrid und seinen Festen. Die militärischen Schauspiele, so wichtig und so zahlreich im Leben des Berliners und Parisers, nehmen nur einen bescheidenen Raum ein in dem des Madriders. Hier beansprucht eine Gattung den Vorrang vor allen andern, das sind die Stierkämpfe in der Arena, die „Corridas de Toros“.
Als seinerzeit im November 1883 der deutsche Kronprinz und nachmalige Kaiser Friedrich III. zum Besuche des Königs Alfons XII. nach Madrid kam, war die Herbstsaison der Stiergefechte eben zu Ende gegangen. Aber selbstverständlich wurde für den hohen Gast eine außerordentliche Vorstellung veranstaltet. Der Spanier meint ja niemand eine höhere Ehre erweisen zu können, als wenn er eigens für ihn ein Stiergefecht ansetzt. Das von ihm selbst so leidenschaftlich geliebte Nationalvergnügen, welches an den Sonntagnachmittagen die zehn-, zwölf-, ja fünfzehntausend, nebenbei bemerkt, gar nicht billigen Plätze der städtischen Arenen füllt, es ist das Höchste, was er bieten kann. Eine Mißachtung dieser alten blutigen Spiele, eine Verurtheilung derselben als eines widerwärtigen Auswuchses menschlicher Grausamkeit würde den Spanier aufs tiefste verletzten, und allerdings kann er von dieser überlieferten Gewohnheit öffentlicher Volksbelustigung nicht denselben Eindruck haben wie der Fremde, welcher zum ersten Mal mit ihr Bekanntschaft macht.
Man muß die Stiergefechte eigentlich mit Theateraufführungen vergleichen, die im Frühjahr und Herbst in den offenen Arenen (plazas de toros) stattfinden, von denen jede größere Stadt in Spanien eine besitzt. Wie einem Schauspieldirektor, so wird einem Unternehmer diese Arena für einen bestimmten Preis gegen die Verpflichtung zu einer bestimmten Anzahl von Stierkämpfen verpachtet. Einer der Alcalden (Stadträthe) ist jedoch immer so etwas wie Generalintendant dafür, er ist als Präsident der Torospiele bei einem jeden derselben in seiner besonderen Loge zugegen, um für eine gute Vorstellung den Dank der Zuschauer, für eine schlechte ihren sehr kräftig sich ausdrückenden Unwillen davonzutragen. Selbstverständlich sichert sich deshalb auch dieser Alcalde den nöthigen Einfluß auf den Gang der Handlung. Der Unternehmer seinerseits hat dagegen in erster Linie die Sorge für die Anwerbung des auftretenden Personals.
[437]
[438] Dieses besteht zunächst aus den Inhabern der Hauptrollen, den „Espadas“ (Degen), die in ihrer Kunst einen mehr oder minder glänzenden Ruf genießen, in den öffentlichen Anzeigen der Aufführungen daher mit Namen genannt und landauf landab zu Gastrollen berufen werden. Wer wollte auch nicht einmal Don Rafael, den „Igel“, oder Don José, den Krauskopf – Spitz- oder Schmeichelnamen haben sie alle – bewundern? Sie sind die Angesehensten ihrer Gilde, nennen den Herzog so und so ihren Freund und die Condesa so und so ihre huldvolle Gönnerin und tragen sich außer Dienst untadelhaft in ihrer eigenartigen Kleidung. Der Name „Matadores“, d. h. „Schlächter“, wie sie der Fremde meist irrthümlich nennt, würde sie schwer beleidigen; diese Benennung kommt, wie wir später sehen werden, ganz anderen Persönlichkeiten zu. Sie kennzeichnen sich wie durch die Kleidung und durch ein feines Zöpfchen im Nacken so durch eine typische Physiognomie, und es ist beinahe schwierig, auf flüchtigen Blick hin zu unterscheiden, wer jung oder alt von ihnen ist. Sie sind schlank, von theatralischem Gebahren; ihre Gesichter sind völlig bartlos, bleichgrau oder bronzefarbig, hart in den Zügen, und ihre Augen von stechendem Ausdruck mit muthigem, stolzem, kaltblütigem Blick. Sie sind berufen, dem Stier mit ihrem Degen den Tod zu bringen.
Eine zweite Gattung dieser „Toreros“ – dies die Gesammtbezeichnang aller in einem Stiergefechte auftretenden Personen – sind die „Banderilleros“, die in ihrer Besonderheit nicht minder gerühmt werden und eigentlich die liebenswürdigste Rolle bei einer Corrida haben. Ist der Espada des Stieres Tödter, so schmückt der Banderillero das Opfer, ehe es fällt. In der malerischen Festkleidung, der bunt und goldgestickten Sammetjacke, den seidenen, mit breiten Stickereien an den Seiten gezierten Kniehosen, den weißen Strümpfen und leichten, offenen Schuhen, dem roth- oder gelbseidenen Mantel, gleichen sich beide; aber die Rolle des Espada ist eine tragische, die des Banderillero eine mehr humoristische. Er spielt mit dem Stier, er tanzt vor ihm und wirft ihm dabei kühn und gewandt die mit farbigem Papierschmuck umhüllten Harpunen in den Nacken – die Banderillas –, die ihm gleich Federbüschen anhaften bleiben, sehr wider seinen Willen und sein Gefallen, denn ihre Widerhaken sitzen schmerzhaft in seinem Fell.
Die dritte Stufe in der Rangordnung nehmen die athletischen „Picadores“ ein, welche zu Pferde in der Arena erscheinen und mit langen, kurzstacheligen Lanzen die ersten ernsten Angriffe auf den Stier machen und ihm blutige Wunden beibringen. Ihre Aufgabe ist meist die aufregendste und grausamste; durch sie nimmt das Spiel erst eine ernste Wendung. Während bis dahin mit dem Stier nur eine Art Neckerei getrieben wurde, schreibt ihm der Picador mit Blutschrift gleichsam sein Todesurtheil auf den Leib, und der Stier rächt sich dafür, indem er die Pferde mit seinen Hörnern niederstößt. Der Picador selbst ist in ein Gewand von dickem gelben Leder mit Eisenschienen darunter gehüllt, so daß er zu Pferde vor dem Angriff des gereizten Thieres gesichert ist. Aber wenn sein Roß zum Tode getroffen zusammenstürzt, so sinkt er hilflos in seiner Rüstung mit zu Boden, und aus dieser gefährlichen Lage müssen ihn seine Genossen schnell befreien.
Außerdem giebt es noch „Mantelschwenker“, „Capeadores“, ihrer zehn, zwölf bei jeder Vorstellung, welche, ebenfalls in Torerotracht, ihre rothen oder gelben Tücher dem Stier vor Augen halten und ihn bei der Jagd, die er danach macht, in Wildheit zu versetzen suchen. Das übrige Personal besteht aus einigen Reitern, Herolden in altspanischer Tracht, die nur beim Anfang zur vollständigen Räumung des Kampfkreises in der Arena erscheinen, und aus den Wächtern in dem freien Rundgang unmittelbar hinter der Barriere, in welchen sich der in die Enge getriebene Torero mit keckem Sprunge flüchten kann und wohin oft der mächtige Körper des Stiers auch selber übersetzt, um dann durch die schnell geöffneten Innenthüren wieder in den verhängnißvollen Kreis zu traben.
Der Pächter hat auch die Stiere und die Pferde zu besorgen, welche bei der Corrida nöthig sind. Er schließt zu diesem Zweck feste Verträge ab, insbesondere wird er darauf sehen, daß der Stierlieferant schon durch seinen Namen eine gewisse Bürgschaft für die Tüchtigkeit seiner Thiere biete; denn es kommt viel darauf an, ob der Stier aus Andalusien oder aus Galicien stammt, ob er von dieser oder jener Rasse, ob er muthig oder phlegmatisch ist. Er darf auch auf der freien Heide, wo er aufwuchs, noch nicht viel mit Menschen in Verkehr gekommen sein, und der Hirt darf ihn nicht schon durch Spielereien mit dem Mantel verdorben haben. In aller Naturwüchsigkeit muß er vor versammeltem Volk erscheinen und sie in einem grausamen Spiel beweisen, bis er den Todesstoß empfängt.
Die den Picadores gestellten Pferde sind natürlich zum Tode verurtheilt und daher ausgesucht aus der Schar solcher, deren Leben nicht mehr für werthvoll erachtet wird. Der Lieferant hat nur ein Interesse daran, daß ihrer möglichst wenig in einem Gefechte fallen, weil er den ganzen Bedarf gegen eine Pauschalsumme beschaffen muß. So sucht er denn die Picadores zu gewinnen, daß sie die Thiere nicht unnöthig opfern, während der Pächter-Direktor seinerseits den Picadores empfiehlt, zur Befriedigung des Publikums es auf ein paar Pferde mehr oder weniger nicht ankommen zu lassen.
Vor Beginn der Vorstellung spielt eine Musikkapelle ihre Stücke, sie füllt auch die Pausen aus; denn eine Corrida dauert drei Stunden und länger. Nicht als ob es so lange währen würde, bis ein Stier schließlich unter dem tödlichen Stoße zusammenbricht; nein, die unersättliche Schaulust der Menge verlangt eine mehrmalige Wiederholung des wilden Spieles, und oft fallen sechs bis acht Thiere hintereinander einer einzigen Corrida zum Opfer. In der Hauptsache gleicht natürlich ein Gefecht dem andern; aber häufig kommt es doch vor, daß die besondere Kraft und Tücke eines Stiers oder außerordentliche Zufälle ernstester Art eine „interessantere“ Abwechslung herbeiführen.
Ein Schauspiel von echt spanischem Glanz und südländischer Farbenfülle leitet die Vorstellung ein. Von Fanfaren angekündigt, begrüßt von Musik und von dem tausendstimmigen Beifallruf der Menge, hält die „Quadrilla“ ihren Einzug in die Arena. Vorauf [439] die berittenen Herolde in altspanischer Tracht, dann die drei Espadas, dahinter fünf bis acht Banderilleros und ebensoviel Picadores zu Pferde, mit breitkrämpigem Hute, und endlich in losen Reihen die Mantelschwenker. Angethan mit ihren Galagewändern, schreiten sie quer über den glattgestampften feinen gelben Sand des Kampfplatzes bis vor die Loge des Hofes oder des Präsidenten, bringen ihren Gruß dar und ziehen sich dann alsbald hinter die Einzäunung in den leeren Gang zurück, welcher die eigentliche Arena von den amphitheatralisch aufsteigenden Sitzreihen trennt.
Nun öffnen sich auf ein Trompetensignal die Flügel des Eingangs auf der Stallseite, und in den leeren Raum trabt der Stier herein. Geschrei und Gepfeife empfängt ihn; er stutzt, sieht sich um und schreitet dann ahnungslos nach Belieben über den Sand. Jeder Schritt setzt ihn der lärmenden Kritik des Publikums aus; bei jeder seiner Bewegungen wird er mit hoffnungsvollem Zuruf beehrt oder schon ausgelacht und gehöhnt.
Jetzt erscheinen die Capeadores, die Mantelschwenker, mit ihren grellen rothen und gelben Tüchern und beginnen den Stier zu reizen. In erwachendem Unmuth läßt er sich auf die Neckerei ein, geht mit gesenkten Hörnern in noch schwerfälligem Stoß drauf los und geräth in steigende Wuth, wenn er merkt, daß er immer ins Leere trifft. Nun kommt es aber vor, daß er bei seinen Ansätzen auf dem glatten Sande ausgleitet; daß er die Lust verliert, sich durch die vorgehaltenen Tücher oder Mäntel weiter äffen zu lassen; daß er selbst den Picadores auf ihren Pferden, die sich an der Cirkuswandung aufgestellt haben, seine völlige Mißachtung bezeigt. Dann reißt die Geduld der Zuschauer. Sie sind empört, daß ein so untauglicher, feiger Toro auf die Scene zu kommen wagt. Ihre Zinnpfeifen schrillen ohrenzerreißend, ihre Stöcke stampfen den hohlen Bretterboden. „Hinaus! hinaus!“ ertönt es von allen Seiten immer wüthender, man ballt die Fäuste oder schwingt die Stöcke gegen die Loge des präsidierenden Alcalden. Diesem bleibt nichts übrig, als dem Willen des souveränen Volks zu gehorchen und den schlechten Stier abführen zu lassen. Auf seinen Wink erscheinen munter trabend vier hellfarbige Ochsen Kopf an Kopf in der Arena, und kaum sehen sie den Geschlechtsverwandten, so nehmen sie ihn in ihre Mitte. Er geht auch hochvergnügt sogleich mit ihnen und verschwindet, ohne die Schmach seines schlechten Debuts zu empfinden und ohne sich durch das ihm nachfolgende Hohngeschrei der Menge irgendwie beleidigt zu fühlen. Es ist eine ebenso heitere wie überraschende Scene für den Fremden, zu sehen, welche Macht die Ochsenfreundschaft auf den Stier ausübt, wobei zu bemerken ist, daß diese Freundschaft auch das beste Mittel bildet, um den Stier ohne Beschwerde von der Weide weg nach der Stadt seiner Triumphe oder Niederlagen zu befördern.
Ist der Sohn der Wildniß bei diesem ersten Auftreten nicht so glücklich, „den Ochsen zu verfallen“, so wird ihm der Sand des Cirkus unfehlbar zum Sterbelager. Die Picadores greifen ihn mit ihren Lanzen an, einer nach dem andern, und seine Haut röthet sich vom herausrieselnden Blut. Ein Pferd um das andere stößt er wüthend nieder, ein Picador um den andern stürzt hilflos in den Sand. Sache der Mantelschwenker ist es, in solchen Augenblicken dem gefährdeten Kameraden zu Hilfe zu eilen und den Stier von ihm ab auf sich zu lenken, bis es jenem gelungen ist, ein frisches Roß zu besteigen. Zugleich greifen aber unter neuem Trompetengeschmetter die kühnen Banderilleros ins Gefecht ein. Sie umspringen und umtanzen das gereizte Thier, stoßen ihm ihre bändergeschmückten Harpunen in das Fell des tief gesenkten Nackens, – immer reichlicher rinnt sein Blut und immer höher steigt seine Wuth.
Abermals ein Signal – und der Espada betritt den Kreis.
Es ist ein feierlicher Augenblick, wenn er, den entblößten Degen und die „Muleta“, das grell rothgelbe Tuch an einem kurzen Stock, in der Linken vor die Loge des Alcalden tritt, seine Mütze abzieht und die Phrase pathetisch hinaufspricht: „Ich sterbe oder ich siege!“ Mit dem Gefolge aller Capeadores wendet er sich sogleich dem Stier zu, um seine Kühnheit und Gewandtheit im kecksten Spiel mit der Muleta bewundern zu lassen. Immer erregter wird das Publikum. Der Espada legt endlich den Stahl aus und stellt den wild die Augen rollenden Stier, der mit gesenkten Hörnern auf ihn zustürmt. Jetzt ein kühner Stoß mit dem Degen, ein gewandter Sprung zur Seite – und wie vom Schlag getroffen bricht das gehetzte Thier mitten im vollsten Anlauf zusammen. Der Espada hat glücklich die einzige Stelle des Nackens getroffen, deren Verletzung den sofortigen Tod des Stiers zur Folge hat. Ein wahres Beifallstoben bricht über den glücklichen Sieger herein: Orangen, Geldstücke, Hüte, Stöcke, Cigarettentaschen, Regenschirme, Fächer und allerlei andere Dinge regnen in die Arena, Geschenke, welche dem Bewunderten von den begeisterten Männern und Frauen gespendet werden und die man ihm entweder läßt oder nachher auslöst.
Inzwischen ist das mächtige Thier verendet, Musik ertönt ihm zur Todesfeier. Knechte erscheinen mit einem Dreigespann von lustig aufgeputzten Maultieren und schleifen erst die todten Pferde, dann den todten Stier hinaus vor die Thore der Arena, wo der letztere sofort ausgeschlachtet und verkauft wird. Drinnen fegt man den Sand über die Lachen von Blut, die letzte Spur des Kampfes wird vertilgt – eine neue Fanfare: und ein neuer Stier betritt den Kreis.
Nicht immer aber ist der Stoß des Espada so glücklich. Es kommt vor, daß der Stier nicht zusammenbricht, daß er weiterrast mit dem Degen im Nacken. In solchem Falle erscheint der „Matador“; er giebt mit seinem kurzen Schlachtmesser dem Thiere den Todesstoß. Der ungeschickte Espada aber mag sich hüten vor der Ungnade des verwöhnten Publikums; so freigebig es mit seinen Gunstbezeigungen ist, so rücksichtslos drückt es seinen Unwillen aus, und es sind nicht die saubersten Dinge und nicht die schmeichelhaftesten Benennungen, die um die Ohren des Unglücklichen sausen.
Unser Blick aber wendet sich trotz aller malerischen Farbenpracht, die sich in einem solchen Stiergefecht darbietet, trotz aller Bewunderung für die hochgesteigerte menschliche Kraft und Gewandtheit, welche in den Leistungen der Toreros sich entfalten, doch mit innerem Grausen ab von einer Schaustellung, die so sehr auf die rohen Leidenschaften der Menge berechnet ist, und wir müssen jener verwandten Erscheinungen unter den Vergnügungen des alten Roms gedenken, jener Thierhetzen im Amphitheater, die nicht den Aufstieg, sondern den Niedergang des Römervolkes begleiteten.
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Beichte.
(Schluß.)
„Immer seltener theilte Eduard mir nun neue Entwürfe mit,“ fuhr Frau Cilli in ihrer Erzählung fort. „Wenn er von seinen dichterischen Bestrebungen redete, so geschah es mit recht unbehaglicher Ironie. Nicht daß er das Bedenken ausgesprochen hätte, sich in seiner Befähigung getäuscht zu haben. Gewiß nicht! Aber er fing an, zu klagen, daß er die Zeit nicht habe, sich in eine Arbeit zu vertiefen, die den ganzen Menschen in Anspruch nehmen müsse, wenn sie gelingen solle; daß ihn sein wissenschaftliches Studium austrockne und ernüchtere; daß er auch da nie die freien Höhen erreichen und befriedigende Ausschau halten, sondern in einem armseligen Schulamt verkümmern werde. Er sei kein Philologe nach dem Herzen gewisser bei ihren Fachgenossen hochberühmter Universitätsprofessoren; das ewige Wiederkäuen der alten Speisen mache ihn stumpf und dumm. Er erkenne, daß er seinen Beruf verfehlt habe; ganz mit Leib und Seele Schriftsteller hätte er werden müssen! Die Muse fordere volle Hingabe oder wende sich erzürnt ab. Ich glaubte darin nur den Unmuth lesen zu dürfen, daß ihm nichts recht nach Wunsch gelingen wollte, und vertröstete ihn auf die Zeit, in der er wieder mehr Freiheit haben werde, sich nach Neigung zu beschäftigen. Er brachte denn auch, was mit jenen Klagen nicht recht stimmen wollte, seine Examina nicht nur glatt, sondern mit Auszeichnung hinter sich. Freilich, der darauf folgende Entschluß, eine Hauslehrerstelle anzunehmen, betrübte mich; doch war ich weit entfernt, ihn durch den Vorwurf zu quälen, daß er unsere Vereinigung in immer weitere Ferne hinausschiebe. Er gab mir zu verstehen, daß die Absicht, Ersparnisse
[441] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [442] zu machen, nur so mitlaufe; leitend für ihn sei vielmehr der Gedanke, sich einmal für längere Zeit in die ländliche Einsamkeit zurückzuziehen, um sich ganz seinen dichterischen Plänen hingeben zu können. Nun müsse sich’s zeigen, was er zu leisten vermöge.
Es zeigte sich nicht. In jedem Briefe beschwerte er sich, daß das gesellschaftliche Leben in dem reichbegüterten gräflichen Hause ihn abziehe und zerstreue, daß er’s mit lauter Menschen zu thun habe, die ihn nicht fördern. Es gelang ihm endlich doch, eines seiner älteren Dramen auf einer Provinzialbühne zur Aufführung zu bringen. Er selbst wohnte der Darstellung bei und berichtete mir noch in der Nacht sehr glücklich, das Spiel sei vorzüglich gewesen, das Publikum habe andächtig gelauscht und auch Beifall gespendet. Ein Rückschlag der Stimmung erfolgte nur zu bald bei ihm, als die Zeitungen von dem Achtungserfolg eines unbekannten, nicht talentlosen, aber offenbar ganz bühnenunkundigen Dichters sprachen, dessen rhetorisches Pathos zwar im Augenblick hinreiße, dem es jedoch noch nicht gelinge, eine packende Fabel zu erfinden und seine Figuren ausreichend zu individualisieren. Die Besprechungen schlossen mit einer freundlichen Ermunterung, auf dem beschrittenen Wege vorwärts zu gehen und bald ein neues Werk zu bringen, das bessere Aussicht habe, sich einen dauernden Platz auf der Bühne zu erringen. Der Direktor hatte nur eine Wiederholung gewagt.
Mich schmerzte diese Abfertigung tief, und das um so mehr, als ich den kritischen Richtern nicht Unrecht geben konnte. Niemals hätte ich dazu gerathen, gerade dieses Drama der Gefahr eines halben Erfolges, das hieß in diesem Falle eines Mißerfolges, auszusetzen. Sehr merkwürdig war mir aber die Erfahrung, daß Eduard, sonst so empfindlich gegen die zartesten Einwendungen, sich jetzt den Anschein zu geben suchte, gar nichts anderes als ein bedingtes Lob erwartet zu haben. Man habe ja nur zu sehr recht: er sei bühnenunkundig und überdies besser in den alten Schmökern als in der wirklichen Welt zu Hause. Man spreche ihm ja keineswegs die Begabung ab und ermuntere ihn zu glücklicheren Versuchen. Ach! wie mich diese Selbsttäuschungen des geliebten Mannes peinigten! Und ich durfte ihm nicht einmal zurufen, sich vorzusehen, er hätte das von mir nicht verstanden. Ich schwieg, wo ich ihm nicht beitreten konnte, und sprach nur die Hoffnung aus, dieses neue Werk, das entscheidend sein solle, werde nicht lange auf sich warten lassen.
Dann kamen seine Briefe seltener und unregelmäßiger, aber sie waren voll von Betheuerungen seiner Liebe, voll von Dankbarkeitsbezeigungen, daß ich so großmüthig Geduld mit ihm habe. Endlich blieben sie einen Monat lang ganz aus, und dann eines Tages …“
Frau Cilli sprach plötzlich mit schluchzender Stimme und deckte die Hand über die feuchtglänzenden Augen.
„Eines Tages –?“ fragte ich gespannt.
„Es muß doch gesagt sein,“ begann sie wieder, die schmerzliche Bewegung überwindend. „Eines Tages überraschte mich Eduard durch seinen Besuch. Er umarmte und küßte mich mit stürmischer Leidenschaft; und dann warf er sich mir zu Füßen und rief: ‚Ich liebe Dich, Cäcilie, ich liebe Dich noch immer so innig, wie ich Dich je geliebt habe. Ich werde unglücklich sein, wenn ich Dich verliere – aber nur so kann ich meinen Lebensberuf erfüllen, ein Dichter werden, Du hast ein großes Herz, eine edelmüthige Seele – gieb mich frei! Was ich mir bisher erarbeitet habe, hatte nur den Zweck, mir eine Lebensstellung zu gewinnen, die ich mit Dir theilen könnte. Ich muß diese Hoffnung abwerfen, wenn ich dem Genius folgen will, der mich zu sich hinaufruft. Nochmals muß ich neu beginnen und ich werde Jahre lang zu hungern und zu darben haben. Dir darf ich nicht anbieten, ein solches Los mit mir zu theilen; ich liebe Dich zu sehr, um mit leichtem Gemüth über die tägliche Sorge hinwegsehen zu können, die ich Dir bereiten muß. Nein, Liebste, nein! Lieber jetzt den tödlichsten Trennungsschmerz als später ein langsames erbärmliches Sichverlieren. Ich weiß jetzt, daß ich nur in voller Freiheit dichterisch schaffen kann. Sei edelmüthig – gieb mich frei! Du hast mein Wort und ich werde als ehrlicher Mann daran festhalten, so lange Du selbst es forderst – das kam ich Dir zu sagen. Aber zu Deinem eigenen Heil flehe ich Dich an: fordere es nicht! Es wäre unser beider Elend. Gieb mich frei, Cäcilie!‘
Ich war vom Schreck wie gelähmt. Das völlig Unerwartete war geschehen, Eduard verlangte sein Wort zurück. Nicht weil er mich nicht mehr liebte, nicht weil er an meinem Gefühl für ihn zweifelte, nicht aus irgend einem Grunde, der das Wesen unseres Herzensbundes berührte. Er wollte frei sein, weil er meinte, ohne seinen Lebensnerv zu vernichten, dürfe er das Amt nicht annehmen, auf das er sich so viele Jahre vorbereitet hatte. Ich hob ihn auf, schloß ihn in meine Arme, suchte ihn zu beruhigen. Er war entsetzlich bleich und zitterte am ganzen Leibe. Ich mußte ihn für krank, vielleicht für geistig gestört halten – er war mir im Augenblick ganz unfaßlich; nur daß ich ihn aufs tiefste zu bemitleiden hätte, war mir gewiß. Wir sprachen hin und her, er wiederholte immer dieselben Worte. Ich bat ihn endlich um vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit. ‚Entscheide Dich gleich,‘ rief er, ‚folge Deinem ersten Gefühl! Wie Du bist, kannst Du nicht anders als großmüthig handeln. Warum diese Qual verlängern? Du wirst einsehen, daß ich ein gewissenloser Mensch wäre, wenn ich gezögert hätte, Dir über mich die ganze Wahrheit zu sagen. Was kann ich Dir jetzt noch sein?‘
Allein mit jeder Minute wurde mir’s gewisser, daß ich mich sammeln, zu ruhiger Ueberlegung zwingen müsse. So blieb ich dabei, daß ich ihm erst am andern Tage Antwort zu geben vermöge. Ich forderte ihn auf, noch nicht fortzugehen: wir wollten versuchen, den wunden Punkt nicht zu berühren. ‚Glaubst Du mir Unmenschliches zumuthen zu können?‘ erwiderte er. ‚Ich sehe, daß Du mich schon nicht mehr mit jener Seelengröße liebst, mit der ich Dich liebe!‘ Er stürmte fort.
O diese entsetzlichen vierundzwanzig Stunden! Wie konnte ein Menschenhirn und ein Menschenherz mit ihnen fertig werden! Wenn ich eine gemeine Natur gewesen wäre, wenn ich es fertig gebracht hätte, mit Entrüstung von dem Abtrünnigen mich abzuwenden oder aus selbstsüchtigen Beweggründen ihn beim Wort zu halten, an das er sich ja doch gebunden fühlte! – Verstehen Sie mich recht, bester Freund. Die Frage war erlaubt und gar nicht zu umgehen, ob die gemeine Natur hier nicht guten Grund hatte, entscheiden zu wollen, ob es nicht eine Verirrung war, ihre Regungen gewaltsam niederzudrücken und eine höhere Warte zu erstreben, von der aus doch nur ein allwissender Gott richten konnte. Hatte ich nicht Grund, zu zürnen, mich stolz abzuwenden? Und andererseits – wer hätte mir’s verargen können, wenn ich bedachte, daß ich früh mein Schicksal vertrauensvoll in seine Hand gelegt, ihm die besten Jahre meiner Jugend hingegeben, eine berechtigte Hoffnung genährt hatte, die nicht durch eine Laune zu Schanden gemacht werden durfte? Und etwas Drittes gab es ja gar nicht, als ihn fortzustoßen oder ihn festzuhalten. Wenn ich diese natürlichen Regungen fernhielt und andere Gründe für meine Entscheidung aufsuchte, wer sagte mir, ob jene nicht doch im geheimen mächtig seien, ob ich mich und ihn nicht betrog, wenn ich mir einbildete, sie überwunden oder nie empfunden zu haben?
Wie schwer ist es, in solcher Lage ganz ehrlich zu sein! Und doch – es blieb mir nur dies übrig: mein Herz zu reinigen von Selbstsucht und zorniger Leidenschaft, so weit es ein Mensch vermöchte, und dann abzuwarten, ob mir ein Licht käme, das Dunkel zu erleuchten. Nein! ich zürnte nicht, wahrhaftig! ich zürnte nicht. Und wie sehr ich ihn liebte, wie viel ich mit ihm verlor, zu seinem Verderben wollte ich ihn nicht halten. Aber das gab noch kein Licht, kaum einen Dämmerschein. Sagte mir Eduard nicht, daß er mich liebe, daß er unglücklich sein werde ohne mich? Und das war keine Lüge, nicht einmal eine Selbsttäuschung. Es war gar nicht anders möglich, er liebte mich noch immer und er konnte nie wieder glücklich sein, wenn ich seinen Wunsch erfüllte; er hatte ein so warmes Herz und ein so zartes Gewissen! Und wenn ihn die Hoffnung, einen Ersatz zu finden, betrog? Wenn er nie ein Dichter wurde trotzdem – oder wenn er dennoch ein Dichter war … Das war das Furchtbarste. Wer deutete mir da den rechten Weg? Und gerade hier wurzelten alle meine Zweifel. Ich wühlte aus seinen Briefen die Gedichte heraus, die mir gewidmet waren; ich las die Dramen, von denen ich ihm Abschrift gefertigt hatte, mit peinlichem Eifer vom ersten bis zum letzten Wort, auch das aufgeführte, das er auf seine Kosten hatte drucken lassen – ich las die ganze Nacht hindurch und mit brennenden Augen in den Tag hinein … Wie geschah es nur, daß ich nicht glauben konnte? O mein Gott! wenn er irrte, wenn er sein Herz unselig machte und nichts dafür gewann – wenn eine Zeit kam, in der er seine Verblendung so klar erkannte wie ich jetzt? Dann war sein ganzes Dasein verfehlt – und ich trug mit ihm die Schuld. – –
[443] Als er dann kam, als ich in seine lieben Augen sah, war ich plötzlich entschlossen. ‚Ich habe Dein Wort,‘ sagte ich ihm, ‚und ich gebe Dich nicht frei. Thu’, was Du willst!‘
Das kam ihm offenbar unerwartet, aber es regte ihn nicht auf. ‚Ich hätte es wissen können,‘ antwortete er nach einer Weile in kaltem und schneidendem Ton. ‚Du bist ein Weib!‘ Damit kehrte er sich ab.
Ich ließ mich nicht beirren. ‚Höre auch dies,‘ fuhr ich fort; ‚Du sollst volle Freiheit haben, Dir Deine Lebensarbeit zu wählen. Erprobe, ob Du ein Dichter von Gottes Gnaden bist – ich werde Dich nicht hindern, und ich weiß, Deine Liebe wird Dir kein Hemmniß sein, wenn sie keine Pflicht mehr auferlegt. Du sollst meinetwegen kein lästiges Amt erstreben. Komm nach Jahren, wenn Deine freie Thätigkeit Dir reiche Frucht gebracht oder – wenn alle Deine Hoffnungen Schiffbruch gelitten haben, Du wirst mich finden, wie Du jetzt von mir gehst. Komm’ nie … aber ich lasse nicht von Dir.‘
Er ging, ohne mich noch eines Wortes zu würdigen. Erst nach Monaten erhielt ich von ihm wieder einen Brief. Sein Inhalt überraschte mich aufs äußerste. Er hatte die Hauslehrerstelle aufgegeben, nicht um in die Nähe des Theaters überzusiedeln oder ein Centrum litterarischer Thätigkeit aufzusuchen, sondern – um an einem Gymnasium Unterricht zu ertheilen, wo man ihm nach Ablauf der Probezeit eine Anstellung zugesagt hatte. ‚Ich halte mein Wort,‘ schrieb er, ‚bereite alles zur Hochzeit vor!‘
Im ersten Augenblick war ich tief erschrocken, auf mich fiel jetzt doch die ganze Verantwortung. Aber dann fühlte ich’s wie eine Erleichterung. Wenn der Genius in ihm so stark gewesen wäre, wie er damals meinte, nie hätte er sich so entschieden! Er selbst mußte schwankend geworden sein. Und wenn das möglich war, dann … Ach! verzeihen Sie mir, lieber Freund, wenn ich nach diesem Strohhalm griff, um mich aus einer verzweifelten Stimmung zu retten.
Heute vor fünfundzwanzig Jahren haben wir Hochzeit gemacht – es war kein froher Tag wie dieser. Eduard hätte freilich nicht der edle Mensch sein müssen, der er war, wenn er nicht bemüht gewesen wäre, mir ein heiteres Gesicht zu zeigen und beruhigende Worte zu sagen. Vielleicht hatte seine Liebe auch wirklich das peinigende Gefühl der Enttäuschung überwunden, vielleicht überwand sie es jetzt, da sich ihm ein doch langersehntes Glück erfüllte. Vielleicht – ach, nur vielleicht! Ich fühlte dennoch, daß er mir ein Opfer gebracht zu haben glaubte. Von der Höhe, auf die er mich gestellt hatte, war ich in seiner Schätzung tief, tief hinabgestiegen, er sprach mit mir gar nicht von dem, was vergessen sein sollte. Wie ein Druck lag es auf unseren Herzen, wir vermochten es nicht, ihn abzuschütteln. Was ich mir da am Altar gelobte … Nein! das läßt sich nicht in Worte fassen.“ –
Sie schwieg. Die Erinnerung hatte sie tief erschüttert. Ich ließ ihr Zeit, ihr Gemüth zu beruhigen.
„Und dann?“ fragte ich, da ich merkte, daß es sie drängte, ihre „Beichte“ fortzusetzen.
„Eduard widmete sich mit ganzem Eifer seinem Schulamt,“ fuhr sie fort, „und in den Freistunden wissenschaftlichen Arbeiten. Mit einem Eigensinn, der mir wohl begreiflich war, aber mich deshalb nicht weniger besorgt machte, enthielt er sich aller dichterischen Versuche und sprach nicht einmal von der Möglichkeit, sie wieder aufzunehmen. Ich hoffte, die Lust zum Fabulieren werde mit der Zeit schon übermächtig werden. Er mußte sich ja überzeugen, daß ihn seine Frau nicht hinderte, eher alles aus dem Wege räumte, was den freien Flug seiner Gedanken hätte niederhalten können. Allein es blieb so, und endlich meinte ich, es sei gar nicht mehr Eigensinn, daß er so sein einstiges Ich verleugne, sondern er wisse jetzt, daß ihm die Kraft versage, und wolle es nur nicht eingestehen. Und junge Eheleute, die sich aus wahrer Herzensneigung vereinigt hatten! Man konnte uns für sehr glücklich halten, und wir waren es auch. Das erste Kind wurde uns geboren und dann der Sohn. Eduard war ein so zärtlicher Vater! Er schien ganz vergessen zu haben, daß er sich das Leben anders gedacht hatte.
Und trotzdem blieb ein Rückschlag nicht aus, es kamen Jahre schwerer Sorge für mich, ob ich den Sieg behalten würde. Die beiden kleinen Kinder nahmen mich vielleicht zu sehr in Anspruch, ich mußte den lieben Mann zu viel sich selbst überlassen. Da verfiel er denn wieder in den grüblerischen Gedanken, daß sein Dasein verfehlt sei, daß ihm zu spät die Einsicht komme, er hätte für die Göttin etwas wagen sollen. Mit Unlust ging er zur Schule, verschob die Korrektur der schrifllichen Arbeiten bis auf den letzten Tag, träumte ins Weite und blieb die halben Nächte in seinem Zimmer auf. Ich merkte, daß er heimlich etwas schrieb, aber auch Papiere verbrannte. Vergeblich suchte ich mich in sein Vertrauen einzuschmeicheln, seine Haltung gegen mich wurde eine fast feindliche. Es kam über ihn wie eine tückische Krankheit, die sich lange in unzugänglichen Schlupfwinkeln versteckt gehalten hat und dann plötzlich vorbricht, um alle gesunden Säfte aufzuzehren. Einmal erfolgte eine heftige Aussprache. Er ließ ein Wort fallen von ‚Flucht aus dem Kerker‘. Ich griff es auf und antwortete ihm trotzig. ‚Du bist nicht gefangen – öffne die Thür und geh’, wohin Du willst; für mich und die Kinder werde ich sorgen!‘
Das brachte ihn wieder für längere Zeit zur Besinnung. Seine nächtlichen Arbeiten setzte er fort, ich wußte auch, daß er einen heimlichen Briefwechsel unterhielt. Und dann eines Abends reiste er wirklich ab, ohne auch nur von seinem Direktor Urlaub genommen zu haben. Ich glaubte ihn für uns verloren.
Doch nach vierzehn Tagen kam er wieder, völlig verändert in seinem Wesen. Ich empfing ihn mit heller Freude wie einen von der Reise zurückgekehrten lieben Hausgenossen, kein Laut des Vorwurfs kam über meine Lippen. Das schien ihm sehr wohl zu thun. Er umarmte mich, küßte meine Stirn und hielt mich lange an seine Brust gedrückt. ‚Du hast doch recht gehabt,‘ sagte er mild und herzlich, ‚hier ist mein Glück.‘ Er eilte zu den Kindern und konnte nicht aufhören, sie an sich zu pressen. Die Reise nannte er seine ‚letzte Irrfahrt‘, bat mich aber, nicht weiter darüber sprechen zu müssen, und ich ließ ihn gern gewähren. Nicht ohne unangenehme Folgen blieb sein Vergehen gegen die Amtsvorschriften, zumal er sich nicht mit ganzer Offenheit entschuldigen wollte oder konnte. Er sei krank gewesen, versicherte er, und einem übermächtigen Zwange gefolgt. Er erhielt einen Verweis und nahm ihn ohne Murren hin. Bald darauf bemühte er sich um seine Versetzung hierher; mit bestem Erfolg, da seine Lehrkraft sehr geschätzt war. Hier ist uns auch unser jüngstes Töchterchen geboren worden. Unser häusliches Glück war nun ungetrübt. Wie Sie Eduard gestern und heute gesehen haben, so zeigte er sich die ganze Zeit – mir, seinen Kindern, seinen Mitbürgern. Mit vollstem Recht genießt er die allgemeine Liebe und Achtung. Sie sind ja Zeuge gewesen, wie dankbar man ihm ist.
Mir jedoch, lieber Freund, hat’s nicht aus dem Sinn gehen wollen, ob meine Entscheidung damals wirklich die richtige gewesen ist. Verdiente ich dieses Glück? Sie, der Sie außen stehen und doch uns beiden nahe genug, sehen vielleicht mit klareren Augen. Ach, Sie wissen nicht, wie mir die Seele zagt – –“
Ich reichte ihr die Hand über den Tisch hinüber.
„Sie können ganz ruhig sein,“ sagte ich ihr, Sie waren sein guter Engel. Hätten Sie ihn seinem Schicksal überlassen, er würde sich im vergeblichen Kampf um den Lorbeer des Dichters zu Grunde gerichtet und der Welt nichts genützt haben. Es giebt solche Begabungen, die einen gewaltigen Anlauf nehmen, aber über eine halbe Höhe nicht hinaus kommen. Wohl dann noch denen, die sich auf der Spitze wähnen, weil sie nicht über sich sehen können! Wer aber den Blick in ferne Höhen hat und nicht das Vermögen, sich zu ihnen aufzuschwingen, der ist ein Unseliger, wenn er sich losgelöst hat von allem, was den Menschen am Menschen hält und uns Mittelmäßigen die Erde als einen schönen Garten erscheinen läßt, der die redliche Arbeit lohnt. Man will den Satz nicht gelten lassen, das Genie breche sich unter allen Umständen Bahn; aber ich glaube doch an ihn. Beweist es sich nicht, so ist es nicht. Und das soll man mir am wenigsten einreden, daß es nur bestehen könne bei einem Verzicht auf häusliches Glück und reinmenschliches Mühen. Es ist Geist vom Geiste und wird von des Lebens Wohlthat so wenig berührt als von des Lebens Noth. Hätten Sie unrecht gehabt, unser Freund wäre trotzdem geworden, was er nun, da Sie im Recht waren, nicht geworden ist. Aber durch Sie, durch Ihre Liebe ist er davor bewahrt worden, an seiner Unzulänglichkeit zu Grunde zu gehen. Wie viel ist das, daß er ein glücklicher Mensch geworden ist!“
Wir hatten beide nicht bemerkt, daß Eduard vor die Laube getreten war und jetzt am Eingang stand. Vielleicht hatte er meine letzten Worte gehört, da ich sie mit lauter Stimme sprach. Er nickte wie zustimmend und legte lächelnd die Hand auf die Schulter seiner Frau, die erschreckt zurückblickte.
„Nun?“ fragte er, „hast Du’s vom Herzen herunter, Liebste?“
[444] Frau Cilli fiel ihm um den Hals. „Eduard,“ rief sie, „bist Du ein glücklicher Mensch?“
„Ich bin’s,“ versicherte er, „und Dir danke ich es, daß ich’s bin. Es ist mir schlecht genug bekommen, daß ich einmal daran zweifelte. Höre denn heute auch mein Bekenntniß in Gegenwart dieses wissenden Freundes; es geht mir schwer über die Lippen, aber es wird Dich völlig beruhigen. Ich habe damals die Probe gemacht: das Drama, um das ich Weib und Kinder vergessen konnte, ist – kläglich durchgefallen, und ich selbst war der eifrigste, den Dichter auszuzischen, der sich zum Glück nicht mit seinem rechten Namen genannt hatte. Jedoch zum Hausgebrauch war mein Talent mehr als ausreichend, und so hat es denn auch dem Kreise gedient, in den ich durch meinen Beruf gestellt war. Hier“ – er zog ein Papier aus der Tasche und reichte es ihr hin – „hier hast Du Dein Carmen zur silbernen Hochzeit! Es ist soeben fertig geworden. Du siehst, die Tinte ist noch nicht recht trocken.“
Ihre Thränen fielen auf das Blatt. Nie habe ich einen Menschen so glückselig weinen gesehen.
Ueber Sicherheitsvorrichtungen auf den Eisenbahnen.
Geistesgegenwart ist nicht jedermanns Sache, und im Augenblicke drohender Gefahr werden von den Betheiligten vielfach Maßregeln getroffen, die dem ruhigen Beobachter unbegreiflich erscheinen und ihm die Aeußerung entlocken: „Das hätte ich entschieden anders gemacht“.
Das Verhalten des Bedrohten ist zum mindesten unberechenbar und oft geradezu verderbenbringend. Um aber einen richtigen Entschluß sofort fassen zu können, ist ein klares Verständniß und rasches Ueberschauen der vorliegenden Umstände erste Bedingung.
Wohl in keinem andern Betriebe wird die Geistesgegenwart so oft auf eine harte Probe gestellt als bei der Eisenbahn, und aus dem Grunde ist man von jeher bestrebt gewesen, die Sicherheitsvorrichtungen von den menschlichen Entschließungen möglichst loszulösen dadurch, daß man jene selbstthätig gestaltet. Wo das nicht angeht, sucht man die Verantwortlichkeit in die Hände weniger, besonders geschulter Bediensteter zu legen, die für alle voraussehbaren Ereignisse ihre Weisungen haben. Allerdings sind auch diese Leute nicht frei von menschlichem Irrthum und menschlicher Befangenheit, und trotz aller Sorgfalt wiederholen sich die Eisenbahnunfälle von Zeit zu Zeit. Auch wird es dem menschlichen Scharfsinn nicht gelingen, alle Möglichkeiten und Zufälligkeiten des Betriebes vorauszusehen und demgemäß vollkommen vorbeugende Maßregeln zu treffen. Aber durch jeden Unfall wird die Aufmerksamkeit neu angeregt und der Scharfsinn der Techniker wiederum auf die Verbesserung der Sicherheitsvorrichtungen und die Beseitigung der verhängnißvollen Zufälligkeiten, sowohl auf den Bahnhöfen als an dem fahrenden Zuge, gelenkt.
Manche dieser Einrichtungen, selbst die zum allgemeinen Gebrauch bestimmten, sind dem großen Publikum noch mehr oder weniger unbekannt, und so soll Nachstehendes dazu dienen, einige Aufklärung über die wichtigsten Sicherheitsvorrichtungen auf der Eisenbahn zu geben. Die Kenntniß des rastlosen Strebens, mit welchem die Technik die Sicherheit der Reisenden auf der Bahn zu vervollkommnen sucht, wird den Lesern aber auch ein Gefühl der Beruhigung mittheilen gegenüber den erschütternden Wirkungen, welche die Kunde von vereinzelten grauenerregenden Unglücksfällen auf alle Mitempfindenden jederzeit ausübt.
Die große Gefahr, welche in der Verwendung eines einzigen Geleises für die in entgegengesetzter Richtung fahrenden Züge liegt, hat man schon in der ersten Zeit des Eisenbahnbetriebes erkannt und danach getrachtet, das Doppelgeleise als das normale einzuführen. In der That kann man eingeleisige Bahnen mit Ausnahme der Sekundärbahnen als berechtigt nicht mehr ansehen, und die Aufsichtsbehörde sollte deren Beseitigung in allen Fällen verlangen, beziehungsweise veranlassen. Denn jene sind von jeher der Schauplatz der schwersten Unfälle gewesen, trotz der durch die neueren telegraphischen Verkehrsmittel ermöglichten leichten Verständigung an den Abgangsorten.
Aber auch bei den zweigeleisigen Bahnen hat sich eine Sicherheitsvorrichtung dafür als unerläßlich herausgestellt, daß die in derselben Richtung fahrenden Züge nicht aneinander gerathen. Die für die deutschen Eisenbahnen gültigen Polizeivorschriften schreiben u. a. vor, daß die Züge einander nur in Stationsabstand folgen dürfen. Da nun die Fahrdauer zwischen zwei Stationen mitunter eine sehr große ist, so könnten sich die Züge nur in sehr langen und unnöthig ausgedehnten Zeiträumen folgen. Es sind deshalb auf Bahnlinien mit lebhaftem Verkehr in bestimmten, zwischen den eigentlichen Stationen liegenden Bahnwärterhäusern sogenannte „Blockstationen“ eingerichtet. Diese haben weithin sichtbare Signalmaste, mittels deren einem durchfahrenden Zuge das Signal zum Halten oder zur Durchfahrt gegeben werden kann. Die Blockstationen haben ihre Telegraphenapparate, mit denen sie nach den beiden angrenzenden Stationen in Verkehr treten können.
Innerhalb einer Blockstrecke darf sich stets nur ein Zug auf demselben Geleise bewegen; ein diesem nachfolgender Zug wird zur Verhütung des Auffahrens am Anfange der Strecke durch ein dem Lokomotivführer an dem Signalmaste gegebenes Haltesignal aufgehalten oder, wie der technische Ausdruck lautet, „abgesperrt“, und zwar so lange, bis der vorauffahreude Zug die nächstvorliegende Blockstation überschritten hat. Darüber, daß dies geschehen ist, erhält der Blockstationswärter von dort ein elektrisches Zeichen. Auf manchen Eisenbahnen besteht sogar zwischen dem elektrischen Blockapparate im Wärterhause und dem Mastsignale eine mechanische Verbindung, welche den Beamten verhindert, vor Eintreffen jener Meldung der ihm vorliegenden Blockstation das Signal für freie Fahrt überhaupt zu geben, somit die Weiterfahrt des Zuges zu gestatten.
Das optische Signal besteht aus einem hohen Mast mit einem in der Regel wagerecht liegenden Arme, welcher zum Zeichen der erlaubten Durchfahrt unter einem Winkel von 45 Grad nach aufwärts gezogen wird. Bei Dunkelheit wird die wagerechte, zum Halten des Zuges auffordernde Stellung des Armes durch eine oben am Signalmaste angebrachte Laterne mit rothem Lichte, das Zeichen der gestatteten Durchfahrt durch weißes Licht dem Zugführer kenntlich gemacht.
Die Sicherheit innerhalb der Bahnhöfe hat eine große Vervollkommnung erfahren durch die centrale Signal- und Weichenanlage, deren Einführung insbesondere auf größeren Bahnhöfen unerläßlich ist. Eine derartige Anlage verfolgt den Zweck, die ungefährdete Befahrung eines Bahnhofes und der Einmündung zu demselben dadurch zu sichern, daß stets nur für diejenigen Züge das Signal „freie Fahrt“ gegeben werden kann, deren Fahrt wirklich ungehindert ist und für welche die Weichen richtig gestellt sind. Zu diesem Zwecke sind in angemessener Entfernung vor dem nächsten gefährdeten Punkte Sperrsignale aufgestellt, welche den zum Centralapparat gehörigen Geleisebereich begrenzen. Der Centralapparat enthält eine Reihe Hebel, von denen ein Theil „Weichenhebel“, die übrigen „Signalhebel“ sind. Diese Hebel stehen durch Drahtzüge, Ketten oder durch eine Wellenleitung mit den zugehörigen Weichen oder Signalen in Verbindung und sind in geschickter, wohl überlegter Weise untereinander so in Verbindung gebracht, daß an den Sperrsignalen das Signal „freie Fahrt“ für Züge, die sich gegenseitig gefährden könnten, niemals gleichzeitig gegeben werden kann. Welche [445] Signal- oder Weichenhebel ohne Gefahr gleichzeitig in Thätigkeit gesetzt werden können, ist dem Beamten, der die Centralweichenstellung besorgt, außerdem durch eine besondere Tafel, die ihm vor Augen aufgestellt ist, noch ausdrücklich bekannt gegeben. Der Centralapparat ist, wie die Abbildung 1 zeigt, in einem erhöhten Gebäude untergebracht, dessen Glaswände dem Beamten gestatten, den ganzen Bahnhof zu übersehen.
Bei den Personenzügen, welche keine von der Lokomotive aus zu bedienende Bremsen haben, ist behufs Verständigung zwischen dem Fahrpersonal und dem Lokomotivführer eine über sämmtliche Personenwagen hinwegführende Signalleine in Gebrauch, die dazu dienen kann, im Falle der Gefahr den Zug sofort zum Halten zu bringen. Durch das Anziehen der Leine wird nämlich die Lokomotivpfeife geöffnet, und der Führer ist angewiesen, im Falle des Ertönens derselben sofort zu halten. Diese Leine führt oben an den Wagendächern vorüber, und zwar stets an der rechten Seite der Fahrtrichtung; sie ist vom Fenster aus ohne Schwierigkeit zu erreichen. Kommt also etwas Ernstliches vor, sagen wir etwa ein Brandschaden, oder holpert der Wagen, was auf einen Radbruch hindeuten würde, so weiß der Reisende, was er zu thun hat. Er springt an die rechte Seite des Wagens und zieht herzhaft an der Leine. Aber zum Spaß darf er’s nicht thun, denn dann kostet’s 30 Mark, mitunter noch mehr. Bei gemischten Zügen oder Güterzügen mit Personenbeförderung wird die Leine nur bis zum wachhabenden Zugsbeamten, der in der Regel auf den ersten Wagen seinen Platz hat, geleitet; der Reisende kann sie sonach nicht benutzen.
Anstatt der Signalleine wird bei verschiedenen Eisenbahnen, fast durchgängig bei den österreichischen, ein elektrisches Signal benutzt. Durch die sämmtlichen Wagen des Zuges führt eine elektrische Doppelleitung, an welche der Stromerreger nebst Wecker und in den Wagenabtheilungen sowie in den Bremserhäuschen Taster angeschlossen sind. Bei gewöhnlicher Schaltung ist der elektrische Schließungsbogen offen, also außer Wirksamkeit. Wird jedoch ein Taster niedergedrückt oder die Drahtverbindung auseinander gerissen, wie es bei einer Abtrennung von Zugtheilen der Fall sein würde, so tritt der elektrische Strom in Thätigkeit und läßt den warnenden Wecker ertönen.
Der im Nothfalle von den Reisenden zu benutzende Taster, meistens ein durch die Aufschrift „Nothsignal“ kenntlich gemachter Knopf, liegt gewöhnlich hinter einer Papierscheibe, die durchstoßen werden muß, wenn der Knopf zugänglich gemacht werden soll. Der behutsame Reisende wird durch eine rasche Umschau sich beim Einsteigen über diese Dinge unterrichten, um im Augenblicke der Gefahr gerüstet zu sein.
Unstreitig die wichtigste Sicherheitsvorrichtung ist die Bremse. Sie muß um so sorgfältiger konstruiert und gehandhabt werden, mit je größerer Geschwindigkeit die Züge fahren sollen. Die mit der Hand bewegten Spindelbremsen lassen für schnell fahrende Züge manches zu wünschen übrig. Deshalb wurde den Eisenbahnverwaltungen von seiten der Aufsichtsbehörde die Verpflichtung auferlegt, bei allen Zügen, die eine größere Geschwindigkeit als 60 Kilometer in der Stunde haben, durchgehende Bremsen einzurichten, die von der Lokomotive aus bedient werden können. Diese Verpflichtung ist durch verschiedene Bremssysteme erfüllt worden.
In Süddeutschland wird vielfach die Heberleinbremse verwendet. Diese ist eine unter Umständen auch selbstthätig wirkende Zugbremse, bei der sämmtliche Einzelbremsen durch eine über den ganzen Zug hinweggeführte Leine in Verbindung gesetzt werden. Durch Anspannen der Leine werden alle Bremsapparate gelöst, dagegen durch Nachlassen, sowie durch Zerreißen der Leine derart eingerückt, daß die Bewegung des Zuges selbst das Anziehen aller Bremsklötze bewirkt.
Wie dies geschieht, das zeigen die Abbildungen 2 und 3, [446] von denen Abbildung 3 eine vergrößerte Darstellung der Bremsvorrichtung an den Rädern enthält. Die Leine Z ist nachgelassen und das Gewicht K hat seine tiefste Stellung eingenommen. Wie aus dem Hebelwerk zu ersehen ist, wird dadurch auch die Scheibe B an die auf der Wagenachse befestigte Scheibe A angedrückt und in der Richtung des Pfeiles gedreht. Mit der Scheibe B dreht sich die Rolle C, auf welche sich eine Gliederkette aufwickelt, welche die Bremsklötze ans Wagenrad drückt. Das Anziehen und Nachlassen der Leine Z kann sowohl von der Maschine aus (Abbild. 2 bei N) wie von dem Wagen aus (Abb. 2 bei M) erfolgen.
Sonst ist in Deutschland bei den Schnellzügen zumeist die Luftbremse nach einem der Systeme Westinghouse, Carpenter oder Schleifer in Gebrauch, welche außerordentlich schnell und kräftig wirkt. Diese Bremse, bei welcher Preßluft als Kraft verwendet wird, ist „continuierlich“ und „automatisch“, continuierlich oder zusammenhängend, weil bei ihr von einem Punkte aus sämmtliche Bremsklötze des Zuges in Thätigkeit gesetzt werden können; automatisch oder selbstthätig, weil sie bei der geringsten Beschädigung der Leitung, also auch bei Zugtrennungen oder dergl., sofort von selbst in Thätigkeit tritt.
Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß Sicherheitsvorrichtungen, sie mögen eine noch so sorgfältige und durchdachte Einrichtung haben, im Falle der Noth gar oft versagen. Dann ist ein winziges Schräubchen eingerostet, oder es fehlt etwas an der Leitung, das Ventil hat sich aufgehängt, und wie die Unfälle alle heißen, kurz: die Einrichtung versagt. Die sehr weise Vorschrift der Feuerwehren, die Brandspritzen jedesmal drei Tage vor dem Brande zu untersuchen, wird auch häufig versäumt. Zufälle dieser Art sind bei der Luftbremse, die übrigens vor Abgang eines jeden Zuges auf der Ausgangsstation probiert wird, auf eine sehr sinnige Weise dadurch beseitigt, daß die Bremse gerade dann, und zwar sofort, sich geltend macht, wenn irgend etwas nicht in Ordnung ist. Die Bremse für sich allein hat stets das Bestreben, zu wirken, sie wird von dieser Wirkung durch gepreßte Luft zurückgehalten und tritt bei der geringsten Unordnung augenblicklich in Thätigkeit. Nachstehende Beschreibung der Westinghousebremse (Abbild. 4) wird das Gesagte näher erläutern.
Während des dienstbereiten Zustandes sind sämmtliche Wagen und Bremsapparate durch Rohrleitungen E unter einander und mit einem auf der Maschine des Zuges befindlichen Luftbehälter C in Verbindung. Die durch eine Luftpumpe A von der Maschine in diesen Behälter gepreßte Luft geht durch ein Druckverminderungsventil und einen Bremshahn – beide bei I an der Lokomotive befindlich – in die Leitungsröhren E der Fahrzeuge und gelangt aus dieser Leitung, beziehungsweise aus dem unter dem Fahrzeuge angebrachten mit Preßluft gefüllten Behälter G in einen ebendaselbst befindlichen Behälter H, der aus einem Cylinder mit darin beweglichem Kolben besteht. Eine mit letzterem verbundene Stange greift an das Gestänge der Bremse und bewirkt dadurch das Andrücken der Klötze an die Räder und damit Stillstand des Zuges. Ist die Leitung E mit Preßluft gefüllt, so sind die Bremsklötze von den Rädern abgehoben; wird aber die Leitungsluft mittels des Bremshahns der Lokomotive oder an irgend einer Stelle der Leitung, sei es absichtlich oder zufällig, zum Ausströmen gebracht, so treten sämmtliche Bremsen sofort in Wirksamkeit.
Um auch den Reisenden eine Einwirkung auf die Bremsen zu ermöglichen, ist in allen Wagenabtheilungen ein Nothbremshebel (bei K) angebracht, dessen genauere Einrichtung Abbildung 5 zeigt. Der Hebel K wird im Nothfalle nach rechts, in der Pfeilrichtung verschoben; aus seiner ersten Lage, wo er mit „zu“ bezeichnet ist, kommt er so in die Stellung „auf“ und läßt alsdann die Luft aus der Leitung E entweichen, d. h. er setzt sämmtliche Bremsen in Thätigkeit und stellt den Zug.
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Bei den österreichischen Verwaltungen wird die Bremse mit Luftverdünnung nach Hardys Bauweise bevorzugt. Auch bei dieser Bremse sind die wesentlichsten Bestandtheile eine von der Lokomotive aus unter dem Zuge hingeführte Luftleitung E; in Verbindung mit derselben steht ein senkrechter Bremscylinder H, mit Kolben und Kolbenstange. Sollen die Bremsen angezogen werden, so setzt der Lokomotivführer einen ihm zur Hand befindlichen Hebel D in Thätigkeit, mittels dessen die Luft aus der Leitung und den Bremscylindern oberhalb des Kolbens in H ausgesaugt, also eine Luftleere (Vacuum) oder wenigstens eine so große Luftverdünnung geschaffen wird, daß der Kolben sich nach aufwärts bewegt. Durch diese Bewegung wird, wie dies Abbild. 6 zeigt, das mit dem Kolben verbundene Bremsgestänge gehoben, wobei wie bei einer gewöhnlichen Presse die Bewegung in der Richtung der Pfeile erfolgt und die Bremsung bewirkt wird. In der Abbildung bedeutet E die zu den einzelnen Bremsen abzweigende Rohrleitung, A ist die zur Erzielung der Luftleere dienende, durch Dampf getriebene Luftpumpe, C ein großer und G ein kleiner Behälter, beide für verdünnte Luft bestimmt und mit den Ventilen I versehen.
Um die Bremsen zu lösen, wird von der Lokomotive aus Luft von gewöhnlicher Spannung in die Rohrleitung und oberhalb des Kolbens in die Vacuumcylinder eingelassen. Da nun auf beiden Seiten der gleiche Luftdruck wirkt, so sinken die Kolben durch ihre eigene Schwere und lösen die Bremsklötze von den Rädern.
Trotzdem die besprochenen Bremsen sehr rasch wirken, ist es in Fällen dringender Noth, in denen eine einzige Sekunde verlorener Zeit verhängnißvoll werden kann, erwünscht, auch den geringen Zeitverlust zu vermeiden, welcher dadurch entsteht, daß die ganze Menge der Bremsluft durch eine einzige Oeffnung entweichen muß. Nach einem vor kurzem versuchten System wird daher die Ausströmung der Preßluft an allen Bremsen gleichzeitig bewirkt, und zwar mittels einer elektrischen Leitung, die nach einem dem früher erwähnten ähnlichen Prinzip eingerichtet ist, das heißt, sie wirkt, sobald irgend etwas nicht in Ordnung ist. Nunmehr genügt ein leiser Fingerdruck auf den Knopf der elektrischen Leitung und im nächsten Augenblick steht die ganze Masse des Zuges unbeweglich still – unsäglicher Jammer ist vielleicht verhütet.
So sehen wir, daß der menschliche Erfindungsgeist rastlos daran arbeitet, allen möglichen Gefahren, die nun einmal mit dem Eisenbahnbetrieb verknüpft sind, vorbeugend entgegenzutreten, die Bändigung der Naturkraft, welche er in seinen Dienst gezwungen hat, zu einer immer vollständigeren zu machen. Freilich, Menschenwerk bleibt Stückwerk, das muß sich auch hier bewahrheiten. Das Eisenbahnunglück wird nicht aus der Welt verschwinden, so lange es Eisenbahnen giebt. Aber die Zahl und die Heftigkeit solcher Unfälle auf ein möglichst kleines Maß zu beschränken, klein jedenfalls im Verhältniß zu der riesigen Ausdehnung des Verkehrs, diesem Ziel schreiten wir näher und näher – und daraus mögen wir Beruhigung schöpfen, wenn traurige Berichte an unser Ohr dringen und uns in ängstliche Zweifel stürzen wollen. W–r.
Blätter und Blüthen.
Der Vogel und der Wind. Die neueren Forschungen haben uns manche Aufklärung über das Räthsel des Vogelfluges gebracht. Eine der merkwürdigsten ist die Feststellung der Wechselbeziehungen zwischen dem Vogelfluge und dem Winde. Der letztere, gegen den die Luftschiffer vergeblich ankämpfen, ist für den Vogelflug keineswegs eine feindliche Macht. Der Wind, und zwar der Gegenwind, trägt sogar gleichsam den Vogel. Es ist eine bekannte Thatsache, daß die Vögel beim Auffliegen stets die Richtung gegen den Wind einzuschlagen pflegen, und dies geht so weit, daß sie zutreffenden Falls selbst über dem Feuerrohr des Jägers oder dem Nachen des Verfolgers aufzusteigen suchen. Die schöne Art des Fluges, die wir z. B. beim Kreisen der Störche beobachten, der Segelflug, bei welchem der Vogel nicht mit den Flügeln schlägt, sondern sie ausgebreitet hält und nur zeitweise richtig einstellt, er ist ohne Wind nicht möglich. Diese Thatsache ist den Falknern schon in alten Zeiten bekannt gewesen, da sie oft beobachten konnten, daß bei den Kämpfen, welche verschiedene Vögel hoch in den Lüften ausführten, der Wind dem mit dem Segelflug ausgestatteten Vogel den Sieg sicherte. Unser Storch, der zwischen den Bäumen ein Stümper im Fluge ist, erweist sich als Meister, wenn er in höheren Regionen den frischen Windzug unter seinen Flügeln spürt. Wenn die Vögel ihre weite Reise nach dem Süden antreten, so benutzen sie dazu den Gegenwind, und wenn sie unterwegs aufs äußerste ermattet auf Schiffe niederfallen, so geschieht das vielleicht deshalb, weil der Wind umgeschlagen hat.
Ein französischer Forscher, Mouillard, beobachtete einen höchst bezeichnenden Fall. Ein Adler saß auf dem Gipfel einer Esche, da strich eine frische Brise durch die Luft, der Vogel breitete seine Schwingen aus und ließ sich gegen den Wind fallen. Er wurde von dem Winde auf eine Strecke von etwa 100 m um 50 m emporgehoben, ohne daß er einen Flügelschlag gethan hätte. – Die Menschen mühen sich ab, das Geheimniß des Fluges zu entschleiern und auch das Reich der Lüfte zu erobern. In dem Luftballon stiegen wir schon seit über hundert Jahren, aber nicht wohin wir wollen, sondern wohin der Wind will; der Wind in seiner Unberechenbarkeit ist der größte Feind der Luftschiffer. Allein er ist, wie die Forschung uns gezeigt hat, ein Beförderer des Vogelfluges, und diese Wahrnehmung macht es uns wahrscheinlicher, daß eine Lösung des Flugproblems nicht unmöglich ist. *
[448] Die Namen Tippu-Tipps. Seit der Tragödie, die sich bei der von Stanley am Aruwimi zurückgelassenen Nachhut abgespielt hat und deren Schuld bald auf Stanley, bald auf den todten Barttelot, bald auf den treulosen Tippu-Tipp abgewälzt wurde, ist der Name dieses mächtigsten mittelafrikanischen Sklavenjägers und Elfenbeinhändlers allen europäischen Zeitungslesern geläufig. Der alte Araber, der Sohn eines Kaufmanns aus Maskat und einer Negerin von der ostafrikanischen Küste, heißt eigentlich Hamed bin Mohammed. Den Namen Tippu-Tipp, Tipo-Tipo oder Tibbu-Tib haben ihm die Eingeborenen in den Wildnissen des dunklen Welttheils beigelegt. Was bedeutet er? Livingstone hat ihn zuerst erwähnt und dahin gedeutet, daß Tippu-Tipp einst Beute, die er in Nsama erobert hatte, dichter zusammengeschoben und gesagt habe: „Jetzt bin ich Tippu-Tipp,“ d. h. „Sammler von Reichthum“.
Ward und Jameson, die bei der Nachhut Stanleys am Aruwimi thätig waren, berichten in ihren neuesten Werken, der Araber sei darum so genannt worden, weil bei den Angriffen der Beutejäger das rasch wiederkehrende Knallen der vielen Gewehre in den Pflanzungen der Dörfer den erschreckten Bewohnern wie „tip u tip, tip u tip“ ins Ohr geklungen habe. In den von ihm verwüsteten Gegenden am Kongo führt Hamed bin Mohammed noch andere Namen. „Mkangwa Nsala“, „Furcht vor Hunger“, heißt er, weil er selbst zu sagen pflegt, daß er sich vor keinem Wege scheue, wo es Kämpfe zu bestehen gebe, denn dort seien auch Lebensmittel zu finden; aber einen Weg ohne Kämpfe gehen, heiße Hunger leiden. Sein letzter Name lautet Mtipoora, „Fußtritt“ oder „Fußtapfen“. Wenn die Eingeborenen am Kongo bei einem Dorfe anlangen, welches er angegriffen hat, so sehen sie nach den Fußspuren und sagen: „Tippu-Tipp ist hier gewesen, das ist ein schlechter Platz, wir wollen fort von hier.“
Der Mann hat, wie man sieht, viele Namen und alle sind bezeichnend; ein guter ist nicht darunter.*
Auch eine Art von Kurpfuscherei. Es ist noch nicht so lange her, daß die Sitte, im Sommer aus der heißen Atmosphäre der Städte in irgend einen ländlichen Aufenthalt zu flüchten, allgemeiner in Aufnahme kam; die natürliche Folge davon war, daß eine Reihe von Dörfern und Landstädtchen, welche leidliche landschaftliche Reize für sich anzuführen hatten, in pomphaften Zeitungsanzeigen sich einem verehrlichen Publikum als passende Luftkurorte empfahl. Das hätte nun an und für sich weiter nichts auf sich; denn daß ein paar Wochen auf dem Lande auf den vom Lärm und Dunst der Großstadt geistig und körperlich Erschöpften eine erfrischende Wirkung auszuüben vermögen, das wird ja kein verständiger Mensch in Abrede stellen. Aber vergessen wird vielfach von den Urhebern jener Anzeigen, daß die Würde als Luftkurort auch die Bürde ernsthafter Verpflichtungen nach sich zieht, daß es nicht genügt, ein paar Bänke und Wegzeiger für Spaziergänger anzubringen und allenfalls noch einen Aussichtspavillon anzulegen. Wer sich seinen Mitmenschen als Helfer in der Noth anpreist, wer ihnen Erholung von den Leiden einer vielfach überreizten Kultur verspricht, der muß auch dafür sorgen, daß diejenigen, welche solchen Verheißungen Vertrauen schenken, nicht Gefahr laufen, schwerere Schäden an ihrer Gesundheit davonzutragen, als die waren, von denen sie Heilung suchten. Dazu gehört eine sorgfältige Auswahl der zur Vermiethung an Kurgäste geeigneten Zimmer, eine genaue Kenntniß und gewissenhafte Durchführung der grundlegenden hygieinischen Vorschriften, insbesondere eine strenge Beaufsichtigung der Brunnen und Trinkwasserleitungen. Welch gewissenlose Mißachtung dieser einfachsten Forderungen vorkommen kann, dafür nur ein warnendes Beispiel, das kürzlich durch eine gerichtliche Verhandlung an die Oeffentlichkeit drang und das um so krasser ist, als es sich dabei nicht um einen neu aufgetauchten Luftkurort handelt, sondern um ein seit mehr als einem Jahrhundert besuchtes Bad, und als dabei ein Arzt unmittelbare Mitschuld trägt.
In diesem Bade – wir unterdrücken hier den Namen, weil er an und für sich bedeutungslos ist und weil es sich für uns nicht um eine Brandmarkung desselben, sondern lediglich um die Sache selbst handelt – herrschte im vergangenen Jahre eine Typhusepidemie. Nicht weniger als einundfünfzig Personen erkrankten, mehrere starben. Um aber den Besuch des Bades nicht zu schädigen, unterließ der Badearzt die vorgeschriebene Anmeldung, und das brachte den Mann erst vor das Schöffengericht und dann infolge der Berufung des Staatsanwalts sogar vor die Strafkammer, bei welcher die Anklage gegen ihn erhoben ist, daß er „eine zur Verhütung des Einführens oder Verbreitens einer ansteckenden Krankheit von der zuständigen Behörde angeordnete Maßregel wissentlich verletzt“ habe. Wodurch aber war jene Typhusepidemie entstanden? Durch das verdorbene Wasser eines Brunnens, der sich in unmittelbarer Nähe einer Abortgrube und einer Düngerstätte befand.
Wir führen diesen Fall an als einen Fingerzeig, wo die Sorgfalt der berufenen Verwalter der eingangs besprochenen Kurorte einzusetzen hat, wo die Gefahren lauern, denen zu begegnen ihre ernste Pflicht ist. Eine Versäumniß dieser Pflicht würde sie in eine Linie stellen mit den Lieferanten jener trügerischen Heilmittel, deren Anwendung werthlos oder gar gefährlich ist.
Kleiner Briefkasten.
„Nosce te! 0001!“. Für die „Gartenlaube“ allerdings nicht geeignet.
F. P. in Triest. Nach Heyses Fremdwörterbuch wäre „das Check“ richtig. Doch dürfte im Gebrauch „der Check“ das gewöhnlichere sein.
H. F., Insterburg. Ihre Frage nach der Briefmarkensprache ist beantwortet, ehe sie gestellt wurde. Schlagen Sie einmal in der „Gartenlaube“, Jahrg. 1888, S. 500 nach! Da finden Sie die gewünschten Anhaltspunkte. Eine weitere Ausbildung dieses wahrhaft genialen Verständigungsmittels bleibt Ihrem eigenen Erfindungsgeist anheimgestellt.
Henry und Emma G., New-York. Es drängt uns, Ihnen auch an dieser Stelle unsern besten Dank zu sagen für die hochherzige Spende zu Gunsten der armen Weber. Ihren Brief an Herrn Pastor Klein haben wir an den Adressaten übermittelt.
M. K., Hameln. Wir bedauern, Ihnen über die weiteren Schicksale der „Prinzessin Editha“ nach ihrer Ueberführung in das Irrenhaus keine Angaben machen zu können.
W. N. in Köln. Sie finden den Aufsatz über Kalthoff im Jahrgang 1878, Seite 310.
Miles 100. Eine anschauliche graphische Darstellung der Stärkeverhältnisse der europäischen Heere im Frieden giebt Ihnen eine im Verlag von Otto Liebmann in Berlin erschienene Tafel, die nach amtlichen Quellen bearbeitet ist.
A. O. 2. Triest. Besten Dank für den Logogriph, den wir aber nicht verwenden können.
E. R. in Berlin. Ihren Artikel können wir nicht verwenden; geben Sie uns gefl. Ihre genaue Adresse an, damit wir Ihnen das Manuskript zurücksenden können.
C. M. in Detmold. Eine Anleitung zum Schafkopfspiel finden Sie in dem Buche von Thalberg, „Der perfekte Kartenspieler“. (Berlin, A. Modes Verlag.)
Inhalt: Lea und Rahel. Roman von Ida Boy-Ed. (9. Fortsetzung). S. 429. – Ein lustiges Stück. Bild. S. 429. – An den Ufern des Manzanares bei Madrid. Bild. S. 433. – Bilder aus Spanien. Madrid und seine Feste. Von Schmidt-Weißenfels. S. 435. Mit Abbildungen S. 433, 435, 436, 437, 438, 440 und 441. – Eine Beichte. Novelle von Ernst Wichert (Schluß). S. 439. – Stiergefecht. Bild. S. 440 und 441. – Ueber Sicherheitsvorrichtungen auf Eisenbahnen. S. 444. Mit Abbildungen S. 444, 445, 446 und 447. – Blätter und Blüthen: Der Vogel und der Wind. S. 447. – Die Namen Tippu-Tipps. S. 448. – Auch eine Art von Kurpfuscherei. S. 448. – Kleiner Briefkasten. S. 448.