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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[261]

Nr. 16.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.
(15. Fortsetzung.)

Der alte Rechtsbeistand des Freyschen Hauses begann die Testamentseröffnung mit ein paar bewegten Worten, die hauptsächlich Antje galten. Er sagte, wie traurig es ihm sei, so bald, so rasch schon diese schwere Pflicht erfüllen zu müssen, die Pflicht, zu der Waise zu sprechen im Namen der Heimgegangenen. Dann erbrach er das gewichtige Aktenstück, nachdem er die Anwesenden sich von dem unversehrten Zustande der gerichtlichen Siegel hatte überzeugen lassen, und begann:

 „Im Namen Gottes!

Nachdem ich gefühlt und mir es auch mein Arzt gesagt hat, daß ich in kurzem zum Sterben kommen werde, habe ich mich angeschickt, meinen letzten Willen aufzuzeichnen. Er ist gefaßt nach reifer Ueberlegung und in voller Uebereinstimmung mit dem, was auch mein seliger Mann oftmals als das Richtige und Nothwendige zum Besten unserer Tochter mit mir besprochen hat. Laut gerichtlich anerkannten Testaments meines lieben seligen Mannes bin ich als seine Universalnachfolgerin in alle seine Rechte eingetreten und von ihm ermächtigt worden, über den gesammten Nachlaß zu testiren. Er wußte, er durfte mir volles Vertrauen schenken, und dieses Vertrauen hat mich mehr erfreut und beglückt als das irdische Gut, das er mir hinterließ.

Demgemäß bestimme ich, daß unser einziges Kind, Anna Clara Jussnitz, geborene Frey, die Erbin unserer gesammten zeitlichen Güter, besonders aber der Schöpfung meines in Gott verstorbenen Schwiegervaters Herrn Christoph Gottlob Frey, des Eisenhüttenwerkes ‚Gottessegen‘, werde, mit Ausnahme eines Kapitals von 60000 Mark (sechzigtausend Mark), welches unser Neffe, Herr Ferdinand Frey aus N., den wir wie einen Sohn lieben, erhält.

Meine Tochter, Anna Clara Jussnitz, geborene Frey, hat ihr Erbe unter folgenden Bedingungen anzutreten:

1) Sie ist gehalten, ihren Wohnsitz auf der Hütte ‚Gottessegen‘ zu nehmen.

2) Es liegt ihr ob, die oberste Leitung des Geschäftes zu übernehmen. Ohne ihre Unterschrift und Einwilligung darf keine Veränderung im Betriebe vorgenommen, kein wichtiges Geschäft zum Abschluß gebracht, noch eine Aenderung des Personals getroffen werden. Sie hat in ihres Vaters und in meinem Sinne als Chef dem Anwesen vorzustehen; zugleich ist der langjährige Werkführer unseres Hauses, Herr Friedrich Kortmer, von mir beauftragt, ihr als Rathgeber zur Seite zu stehen.

Es mag befremdend erscheinen, daß ich solches verlange; es geschieht aus zweierlei Gründen. Den einen derselben kennt meine Tochter und kennt mein Schwiegersohn – ich will beiden die Erörterung desselben an diesem Orte ersparen. Fürs zweite sage ich denen, die da zweifeln könnten, daß eine Frau so großer Aufgabe gewachsen sei, daß ich, die ich keine blindeingenommene Mutter bin, mich überzeugt habe, daß meine Tochter Anna Jussnitz die erforderlichen Fähigkeiten besitzt, Leiterin des Werkes zu werden.

3) Meine Tochter Anna Clara Jussnitz ist gehalten, alljährlich ein Viertheil des Gewinnes aus dem Werke in Ländereien, Forsten oder Häusern anzulegen als Kapital für ihre Erben und ebenso alljährlich eine bestimmte Summe zur Vervollkommnung und Verbesserung des Betriebes zu verwenden, damit das Werk stets auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit bleibe. Ferner ist meine Tochter verpflichtet, innerhalb der nächsten vier

Türkische Sängerin.
Nach dem Gemälde von F. W. Bredt.

[262] Jahre ein Krankenhaus zu erbauen, die Schule zu erweitern, sowie einen Arzt für die Arbeiterschaft der Hütte anzustellen. Sie hat letzterem ein standesgemäßes Wohnhaus anzuweisen. Sie hat ferner das Alteleutehaus auszubauen und mit gesundheitsgemäßen Einrichtungen zu versehen. Ich habe das Vertrauen zu meiner Tochter, daß sie diesen meinen letzten Willen, den sie zugleich als den ihres Vaters zu betrachten hat, ehren und höher stellen wird als etwaige gegentheilige Wünsche von irgend einer Seite.

4) Wollte und könnte aber meine Tochter auf diese Bedingungen nicht eingehen, so ernenne ich, in Uebereinstimmung mit dem Willen meines seligen Mannes, an ihrer Stelle ihre Tochter, Leonie Jussnitz, derzeit drei Jahre alt – oder sollte meine Tochter Anna Clara Jussnitz später noch mehrere Kinder haben, diese ihre sämmtlichen Kinder zu Erben, mit dem Beding, daß, sind es nur Töchter, meine älteste Enkelin, Leonie Jussnitz, ausschließlich Besitzerin des Werkes bleibt, wenn aber Söhne vorhanden, der älteste Sohn die Hütte übernimmt. Der event. Besitzer hat die Geschwister baar auszuzahlen nach amtlicher Schätzung des Werthes des Werkes, es soll denselben aber auch unbenommen bleiben, das Kapital auf dem Gewerk stehen zu lassen, wo es ihnen mit vier vom Hundert verzinst werden soll.

Zum Administrator bis zur Mündigkeit des event. Besitzers ernenne ich in dem Falle, daß meine Tochter auf obige Bedingungen unter 1 bis 3 nicht eingeht, meinen Neffen, den Ingenieur Herrn Ferdinand Frey. Derselbe hat meiner Tochter jährlich 18000 (achtzehntausend) Mark, als zur Führung ihres Hausstandes nothwendig, in vierteljährlichen Raten auszuzahlen. Er selbst, Herr Ferdinand Frey, erhält 9000 (neuntausend) Mark für seine Mühwaltung. Er ist gehalten und hat sich zu verpflichten, alle andern Bedingungen so zu erfüllen, wie ich sie von meiner Tochter – falls diese meine Erbin würde – gefordert habe. Er hat den Ueberschuß an Gewinn zu Gunsten meiner Enkelin Leonie Jussnitz, bezhw. meiner Enkel oder Enkelinnen, in soliden Papieren oder in Grundbesitz anzulegen; er hat für Verbesserungen im Betriebe zu sorgen; er ist verpflichtet, Forderungen meiner Tochter oder ihres Ehemannes, die über die Summe von achtzehntausend Mark jährlich hinausgehen, aufs bestimmteste zurückzuweisen.

Ist der zur Besitzergreifung berechtigte meiner Enkel mündig geworden, so werden diese Anordnungen insofern hinfällig, als das Hüttenwerk sodann in seine Hände übergeht. Derjenige, der es übernimmt, hat, falls er gewillt ist, das Geschäft selbst zu leiten, dem bisherigen Administrator, Herrn Ferdinand Frey, eine Pension auf Lebenszeit von jährlich 4500 (viertausendfünfhundert) Mark zu zahlen.

5) Ich ernenne zu meinem Testamentsvollstrecker meinen Rechtsbeistand, Herrn Justizrath Klein, und mache demselben zur besondern Pflicht, die pünktliche Erfüllung aller meiner Anordnungen zu bewirken und meiner Tochter darin beizustehen, daß sie das schwere Amt und Erbe, das ich ihr hinterlasse, antritt und sich durch keine Hindernisse, von welcher Seite sie auch kommen, in der Befolgung des letzten Willens ihrer Eltern beirren läßt.

Insbesondere lege ich meinem Testamentsvollstrecker die Pflicht auf, darüber zu wachen, daß die alleinige Verfügung über das Erbtheil und über die Einkünfte meiner Tochter nur dieser zusteht, indem ich deren Ehemanne jedes Recht der Verwaltung von Kapital und Zinsen meines Nachlasses entzogen haben will.

Das gilt auch für den Fall, daß nicht meine Tochter, sondern deren Nachkommen meine Erben werden sollten.

6) Ich mache ferner meinen Erben und meinem Testamentsvollstrecker zur Pflicht, alle diejenigen Legate, welche ich zu Gunsten dritter Personen und zum Besten von Kirchen, Schulen und Armenanstalten bestimmt und in einem besonderen, von mir unterschriebenen Verzeichnisse aufgezählt habe, pünktlich auszufolgen.

7) Vorstehendes enthält meinen wohlüberlegten, letzten Willen, den ich eigenhändig niedergeschrieben und mit Unterschrift und Siegel versehen habe.

Ich bitte Gott, daß er alles zum Besten wenden möge. Er helfe, daß ich das Rechte erwählt habe!

So gegeben am 28. März 18 ..

Hütte ‚Gottessegen‘.
Clara Frey, geb. Hansen.“ 

In dem großen Zimmer herrschte eine wahrhafte Todtenstille, nachdem das letzte Wort verhallt war. Jussnitz hatte, die Arme verschränkt, während der ganzen Zeit zum Fenster hinausgesehen, als zähle er jeden Regentropfen, der an den Scheiben hinunterrieselte. Wer ihn sah, der konnte zweifeln, ob er überhaupt ein Wort von dem gehört habe, was hier soeben laut und deutlich gesprochen worden war.

Antje saß und schaute auf die gefalteten Hände in ihrem Schoß, eine Beute tiefster Seelenqualen. Ferdinand Frey ließ keinen Blick von ihr. Sein Gesicht hatte allmählich einen Ausdruck von Mitleid und Aerger angenommen, wie Menschen ihn zeigen, die ein Thier quälen sehen und nicht in der Lage sind, ihm zu helfen. Er war einst seiner Cousine sehr zugethan gewesen und war ihr auch noch heute aufrichtig ergeben, was lag ihm an all dem andern! Er war ein armer Kerl, aber was sollte ihm schließlich das Vertrauen helfen und das stattliche Gehalt, die neue Stellung? Er wußte, in diesen Mauern würde er doch nicht froh werden, denn die Erinnerungen schrieen ihm entgegen aus jedem Winkel.

„Sie haben natürlich einige Wochen Zeit zur Ueberlegung, gnädige Frau,“ begann Justizrath Klein nach einer Pause, „es ist ja alles in den besten Händen unterdessen.“

Antje erhob sich und ging zu dem Tisch hinüber, auf welchem das Testament lag. „Es bedarf keiner Ueberlegung, Herr Justizrath,“ sprach sie laut, indem sie ihre beiden schlanken Hände auf die schwarze Tuchdecke legte, „ich erkläre hiermit, daß ich das Erbe unter sämmtlichen Bedingungen, die meine Mutter vorschreibt, antrete. Ich werde meinen Wohnsitz von nun an hier haben und werde mich bemühen, meine Pflicht als oberste Leiterin des Anwesens so vollkommen zu erfüllen als irgend möglich. Ich glaube damit auch im Sinne des Herrn Jussnitz zu handeln.“

Wiederum eine Pause.

„Sechs Wochen,“ sagte der langjährige alte Rechtsbeistand des Hauses, „sechs Wochen Frist, gnädige Frau.“

„Ich bin fest entschlossen, die Bedingungen zu erfüllen, gewissenhaft zu erfüllen, die meine Mutter mir auferlegt hat,“ wiederholte sie ruhig, aber sehr bestimmt, „und ich wünsche Besitzerin von ‚Gottessegen‘ zu werden. Bitte, nehmen Sie das zu Protokoll noch in dieser Stunde.“ Und sich zu den Anwesenden wendend, fügte sie mit vor Thränen verschleierter Stimme hinzu: „Sie alle werden gewiß im Anfang Nachsicht haben mit mir, die ich vollständig unerfahren, nur mit meinem ehrlichen Willen, das Richtige zu thun, an die Stelle meiner Mutter trete.“

Und sie ging zu ihrem Vetter und reichte ihm die Hand. „Ferdinand, ich weiß, Du verstehst mich!“ Und sie drückte Herrn Kortmer die Rechte. „Nicht wahr, Sie helfen mir?“ Und sie bot dem Pfarrer die Stirn zum Kuß. „Auch Sie, nicht wahr, auch Sie helfen, Herr Pastor?“

Dann, wie von ihrer Bewegung übermannt, schritt sie an ihrem Mann vorüber und verließ das Zimmer.




Sie wußte im Augenblick keinen bessern Platz für sich als das kleine Arbeitszimmer der Eltern; sie war sicher, dort ungestört zu sein. Ueber das, was zunächst geschehen mußte, war sie sich nur in einem klar – Leo durfte nicht hier bleiben! Auge in Auge mit ihm zu unterhandeln, das brachte sie nicht über sich; es widerstrebte auch ihrem Zartgefühl, ihn durch den Notar bitten zu lassen, es möge ihr der Schmerz erspart werden, ihn zu sehen. Sie wollte ihm schreiben, aber sie fand die Worte nicht. Wie sollte man einem Mann schreiben, von dem man im Begriff ist, sich zu trennen? Sie legte die Feder wieder aus der Hand und schaute über den Platz, der in sonntägiger Ruhe dalag. Ach, nur ein Menschenherz, dem sie so recht vertrauen könnte, das ihr den Freundschaftsdienst erwiese, zwischen ihm und ihr die Botschaft zu vermitteln; ihm zu sagen, daß sie entschlossen, unwiderruflich entschlossen sei, ihn von der „Kette“ zu befreien, die ihn so drückte – Nur eines! Nur ein Menschenherz!

Sie richtete sich plötzlich empor und öffnete das Fenster. Doktor Maiberg kam da aus einem der Arbeiterhäuser. Sie rief nicht, sie sah ihm nur entgegen, er aber las wohl eine Bitte aus den traurigen Frauenaugen und trat dicht unter das Fenster. „Wünschen Sie etwas, gnädige Frau?“

„Wenn Sie einen Augenblick Zeit hätten, Herr Doktor!“

„Ich stehe sofort zu Diensten!“ Er erschien nach einigen [263] Sekunden in dem Stübchen. Es war hier stets dämmerig; das einzige Fenster lag in der tiefen, durch dicke Wände gebildeten Nische, und eiserne Gitter spannten sich davor. In der Ecke leuchtete der kleine amerikanische Ofen. Antje stand am Schreibtisch im düsteren Trauerkleid, mit blassem, entschlossenem Gesicht.

„Darf ich Sie um einen Freundschaftsdienst bitten?“ fragte sie.

Er verbeugte sich.

„Sie wissen vielleicht schon von Leo, daß – –“ sie wandte das Gesicht von ihm ab; es war so entsetzlich schwer, es nur auszusprechen, und sie vermochte es nicht – – „Er hat Ihnen nichts mitgetheilt, Herr Doktor?“

„Ich habe keine Ahnuttg, gnädige Frau, was Sie meinen,“ erwiderte er und betrachtete verwundert die am ganzen Körper zitternde Gestalt.

„Leo und ich werden uns trennen,“ stieß sie hastig hervor.

„Das ist nicht möglich, Frau Jussnitz,“ sagte er sehr ruhig.

„Doch! Ja! Ich sehe es ein, die Frau eines Künstlers soll anders sein als ich, nicht so prosaisch, so schrecklich unbedeutend – Maiberg, ich weiß, daß Leo unter diesen meinen Eigenschaften leidet, weiß es aus seinem eigenen Munde – er liebt mich nicht. Sie ist furchtbar, diese Gewißheit, aber doch leichter zu tragen als das Leben in letzter Zeit. Maiberg, sagen Sie nichts, ich bitte Sie; versuchen Sie nicht, mir einzureden, es walte ein Mißverständniß ob,“ fuhr sie fort, „führen Sie mich nicht aufs neue in den Kampf, aus dem ich kaum als Siegerin hervorgegangen bin. – – Was ich von Ihnen will – Sie sind ja Leos Freund – ist nur das eine, bitten Sie ihn in meinem Namen, daß er noch heute abend abreist; ich ertrage es nicht, ihn länger hier zu wissen, es ist unter diesen Verhältnissen unmöglich. Sagen Sie ihm, daß er seiner ‚Kette‘ ledig ist, schon jetzt; sagen Sie ihm, daß er es auch vor der Welt werden soll, sobald die erste tiefe Trauerzeit um Mama vorüber ist; ich und auch er sind es ihr schuldig, diese heilige Zeit nicht mit einem Ehescheidungsprozeß zu entweihen.“

„Darauf war ich nicht gefaßt,“ entgegnete Maiberg finster.

„Aber ich kann nicht anders handeln, ich kann nicht!“

„Und was soll aus Leo werden, wenn Sie ihn verlassen?“

„Ein glücklicherer Mann als bisher, ein großer Künstler, Herr Dokor!“

„Gnädige Frau,“ sagte er, „Sie sind überreizt, sind im höchsten Grade nervös; beruhigen Sie sich, ich werde Leo fortschicken. Bleiben Sie hier, erholen Sie sich, fassen Sie frischen Muth, und eines Tages werden Sie die trüben Gedanken bannen und mit neuer Freudigkeit die allerdings nicht gerade leichte Aufgabe, Leos Frau zu sein, übernehmen. Aber – –“

Ein unbeschreiblich trauriges Lächeln zog um ihren Mund. „Niemals!“ klang es leise und bestimmt. „Ich bleibe hier, muß hier bleiben - seine und meine Wege sind getrennt für immer. Aber ich möchte, Herr Doktor, daß Sie ihm sagten, ich hätte, so lange ich ihn kenne, an nichts anderes gedacht als an sein Glück - doch nein!“ unterbrach sie sich, „sagen Sie ihm das letzte nicht, weshalb auch?“

„Gott weiß, ob Sie das Richtige thun!“ erwiderte Maiberg.

„Gehen Sie,“ bat sie, „gehen Sie! Wenn er den Abendzug noch erreichen will, so muß er bald fahren.“ Sie setzte sich, als verließen sie plötzlich die Kräfte, auf den Schreibstuhl vor dem Arbeitstisch.

Mit einem langen ernsten Blick auf sie verabschiedete sich der junge Arzt. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß zwischen diesen beiden Menschen alles aus sei, daß diese sonst so sanfte duldsame Frau nicht anders handeln könne. Was aber, um Gotteswillen, war geschehen? Hildes Bild trat ihm einen Augenblick vor die Seele, aber er wies den Gedanken, der sich mit ihm verband, voller Entrüstung zurück. Sie war tollköpfig, kokett, ungezogen und leidenschafllich, aber – –

„Wo ist Herr Jussnitz?“ fragte er ein Hausmädchen, das über den Flur ging mit einem Tablett, auf dem Weingläser standen.

„Herr Jussnitz ist nach der Testamentseröffnung in sein Zimmer gegangen, seitdem habe ich ihn nicht gesehen.“

Maiberg suchte ihn daselbst, aber vergebens. Leos elegante Toilettengegenstände lagen wie immer in genialer Unordnung umher, auch ein Skizzenbuch fand sich darunter, und in der Ecke neben dem Ofen lehnten Feldstuhl und Malerschirm. Der Koffer, der dort mit aufgeklapptem Deckel stand, war von ziemlicher Größe, so, als ob sein Besitzer an einen längeren Aufenthalt gedacht hätte. Maiberg wußte zwar, daß Leo seit seiner Verheirathung es als unmöglich betrachtet haben würde, mit einem Ränzel auf dem Rücken eine Studienreise zu machen; dazu war er zu vornehm geworden und zu verwöhnt. Aber trotzdem war ihm die Anwesenheit dieser Gegenstände doch eine Beruhigung; er wenigstens schien hiernach nicht unversöhnlich gestimmt zu sein. Oder hatte er keine Ahnung, daß diese „unbedeutende Frau“ denn doch ein Herz besaß, und neben diesem Herzen – Willen und Kraft und gerechten weiblichen Stolz?

Maiberg suchte den Freund im ganzen Hause, dann im Garten, endlich kehrte er wieder zurück. In der Wohnstube saß die Trauergesellschaft bei einem einfachen Abendimbiß; die beiden alten Tanten hatten rothgeweinte Augen trotz ihrer Freude über die hübsche kleine Erbschaft, die es ihnen ermöglichte, die Hundesteuer für den geliebten Moppel ohne ängstliche Berechnung und ohne sich einer allzu großen Verschwendung zeihen zu müssen, aufzubringen. Sie hielten sich bei den Händen und priesen die Verstorbene in allen Tonarten. Auch hier hatte niemand den Begehrten gesehen.

Maiberg lugte sogar ins Kontor, aber da stand Herr Kortmer an seinem Pult noch im feierlichen schwarzen Anzuge und schrieb. Als er Geräusch hinter sich hörte, wandte er sich um, und den jungen Arzt gewahrend, sagte er verlegen: „Hab’ nur die Anzeige der Firmenveränderung aufgesetzt, Herr Doktor; – muß sofort gedruckt werden.“

„Was?“ fragte Maiberg, „ist durch das Testament die Hütte etwa in andere Hände – –“

Ueber die Züge des alten Herrn blitzte es wie ein Sonnenstrahl durch trübe Wolken.

„Wir werden fortan zeichnen ‚Christoph Gottlob Freys Nachfolgerin‘. – Nun, wer ist diese Nachfolgerin, Herr Doktor? Unser Kind ist’s! Hätten Sie sie gesehen, wie sie vor dem Notar stand und ganz einfach und bestimmt sagte: ‚Ich bleibe hier!‘ rief sie. Da liegt Charakter drin, Selbständigkeit, das ist die echte Frey, und glauben Sie mir, das will etwas heißen für unser Geschäft.“

„So? Frau Antje wird Chef?“

„Frau Antje ist Chef! –“

„Können Sie mir nicht sagen, wo Jussnitz zu finden ist?“ fragte Maiberg.

„Herr Jussnitz? Hm! Es waren gerade keine angenehmen Dinge, die für ihn in dem Testamente standen. – Na, er konnte nichts anderes erwarten, Herr Doktor, die Selige hat kaum sterben können vor Sorge um seinetwillen. Aber Sie wollen wissen, wo er ist? Meine Zeit, wo wird so ein Herr sein? Spazieren gegangen wird er sein, Stimmungen und Beleuchtungen studieren, im Walde, am Fluß hinauf, ich weiß es nicht, denke es aber.“ Und wieder griff er zu dem Entwurf. „Wir werden künftig zeichnen ‚Christoph Gottlob Freys Nachfolgerin‘!“

Maiberg nickte dem alten Herrn zu; es war ihm plötzlich eingefallen, Jussnitz könnte in der Kinderstube sein. Immer zwei Stufen mit einem Male nehmend, erstieg er die Treppe und pochte bald darauf an die Thür, hinter der er die Kleine und Hilde von Zweidorf wußte.

„Herein!“ scholl es leise, und er öffnete. Es war beinahe finster in dem Zimmer, wenigstens erschien es ihm so, da er von dem erleuchteten Flur kam.

„Sind Sie hier, Fräulein von Zweidorf?“

„Ja!“ scholl es aus der Sofaecke, „treten Sie leise auf, die Kleine schläft.“

„Und was thun Sie in dieser Dämmerung?“

„Ich gräme mich – ich will fort!“ antwortete sie in ihrer abweisenden Art.

„Wohin?“

„Irgend wohin, nur fort von hier!“

„Es hält Sie ja niemand,“ sagte er.

„Nein – aber ich kann ja nicht, wie ich will. Bitten Sie Frau Jussnitz, daß sie mich reisen läßt.“

„Irgend wohin!“ sprach er leise; es klang so traurig. „Wissen Sie,“ fragte er dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, „wissen Sie auch, daß Frau Jussnitz hier bleiben wird für immer?“

[264] „Für immer?“ klang es ungläubig. „Und was sagt er dazu?“

„Er?“

„Ja – er!“

„Er bleibt nicht hier!“

Maiberg hörte plötzlich ein schweres banges Athmen. „Und wo bleibt er?“ fragte ihre Stimme fast heiser.

„Irgendwo!“ erwiderte er.

Sie schnellte von dem Sofa empor, und als sie sich vorbog, erkannte er trotz der tiefen Dämmerung die unnatürlich erweiterten angstvollen Augen des jungen Mädchens. „Was wollen Sie damit sagen?“ stieß sie hervor und faßte mit bebender Hand nach seinem Arm.

„Daß sich zwei Menschen trennen wollen für alle Ewigkeit!“

Sie sank zurück mit einem wimmernden Schrei: „Um mich! Um mich!“

Maiberg betrachtete sie bewegungslos. Also doch! – Ein erschütterndes Schluchzen packte das Mädchen; sie weinte, wie nur ein Kind weinen kann, herzzerreißend, jammervoll, wie ein hart bestraftes Kind, dessen Ehrgefühl aufs tiefste getroffen ist. Und auf einmal lag vor dem Manne eine schlanke junge Gestalt auf den Knieen, ein Paar heißer fiebernder Hände faßte die seinen und unter Schluchzen kamen die Worte hervor: „Ich hab’s mir ja nicht überlegt, was ich that, ich wollte ja nur – – Denken Sie nicht schlecht von mir – ich – ach Gott, ich kann es nicht sagen – – Bitten Sie, daß Frau Jussnitz mich anhört – bei Gott, ich – –“ das andere erstarb im Weinen.

Er hielt die bebenden kleinen Hände fest; ihre feuchte Wange lag auf seiner Rechten; er hatte nicht das Herz, sie fortzuweisen.

„Hilde, Sie lieben ihn, nicht wahr?“

„Ja – ich hatte ihn einmal lieb, damals, als er mich in seinem Stadtatelier malte, als ich noch nicht wußte, daß er verheirathet sei. Es war so schön – ach, und ich bin so unglücklich gewesen, als ich es erfuhr –“

„Und jetzt?“

Sie antwortete nicht, sie schüttelte nur heftig den Kopf.

„Sie haben gespielt mit ihm, gnädiges Fräulein; mit eigenen Augen habe ich es gesehen.“

Eine Weile blieb es still. „Ja!“ sagte sie dann.

„Sie mußten sich doch klar machen, daß – – aber Sie haben nicht gewußt, was Sie thaten, nicht wahr?“

„Doch!“ klang es so leise wie ein Hauch.

„Ich bitte Sie – that Ihnen die Frau nicht leid?“

„Nein!“ erwiderte sie. „Ich dachte, es sei wahr, was sie alle sagten, daß sie außer ihrer Wirthschaft für gar nichts Sinn habe. Sie war doch auch immer so anders als die andern! – Ach, mein Leben gäbe ich, hätte ich ihn nie gesehen!“ Und wieder begann sie zu weinen.

Eine wunderliche Rührung bemächtigte sich Maibergs. Er mußte an den Blick denken, mit dem sie an jenem Weihnachtsabend bei Barrenberg wie hilfesuchend seinen Arm erfaßt hatte. „Armes, kleines, dummes Mädel!“ murmelte er.

„Wie sagen Sie? Um Gotteswillen, Herr Doktor, was soll ich beginnen? Man wird fragen, weshalb sie sich trennen – großer Gott – und wenn mein Name dabei genannt würde! Lieber Herr Doktor, der Vater schießt mich todt, der Vater ist so furchtbar streng in solchen Dingen und – er hat recht.“

„Ihr Vater liebt Sie eben sehr.“

„Ja, ja,“ betheuerte sie heftig, „er liebt mich und er ist so gut, und ehe ich vor ihm stehe und seine Augen auf mich gerichtet sehe voll Vorwurf und Kummer, möchte ich lieber sterben – es ist auch das Beste für mich!“

Ihr Kopf sank wieder auf seine Hand und abermals fühlte er die rinnenden Thränen.

„Wird man mir etwas nachsagen dürfen? – Ich that ja unrecht, aber ich war doch nicht schlecht, lieber Herr Doktor,“ schluchzte sie.

„Es wird wohl kaum ausbleiben,“ bemerke er ruhig.

Sie hörte auf zu schluchzen in starrem Schreck. „Aber warum nahm sie mich mit hierher, warum jagte sie mich nicht fort?“ sagte sie endlich.

Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Weil Frau Antje eine edle vornehme Natur ist,“ sprach er langsam, „weil sie die keiner Nachrede aussetzen will, die einst an ihre Stelle treten wird. Haben Sie das nicht herausgefühlt?“

Ein leiser Schrei erklang; Hilde war jäh aufgesprungen. „Ich – an ihre Stelle? O niemals, niemals! Von dem Augenblick an, wo ich erfuhr, daß es eine Frau Jussnitz giebt, habe ich ihn“ – sie rang nach einem passenden Ausdruck – „zuerst gehaßt! Nein – doch nicht – zuerst – das weiß ich nicht, es war so schrecklich – dann gehaßt, gehaßt, so sehr ich konnte – und jetzt – –“

„Hilde!“ klang es vorwurfsvoll.

Sie blieb eine Weile still, nur ihr hastiges Athmen war hörbar.

„Ich will mit ihr sprechen,“ sagte sie endlich entschlossen, „und dann will ich fort, weit fort – nach England – noch weiter, nach Amerika!“ Und als ob ihr plötzlich etwas einfalle, fügte sie hinzu: „Geben Sie mir eine Empfehlung nach Brasilien, Sie waren ja so lange dort.“

„Und was wollen Sie in Brasilien?“ fragte er mild wie ein Vater.

„Mein Brot verdienen! – Es gehen doch so viele in die Fremde.“

Er lächelte und meinte: „Vorerst bleiben Sie hier; es ist das einzige, was Sie jetzt thun können; andern Rath vermag ich Ihnen nicht zu geben. Ich werde mit Frau Antje sprechen, nicht Sie, aber gegenwärtig ist nicht der richtige Zeitpunkt dazu. Und nun gute Nacht, gnädiges Fräulein,“ – er war plötzlich wieder sehr förmlich – „geben Sie sich Mühe, ruhiger zu werden.“

Als er die Thür geöffnet hatte, um hinauszugehen, wandte er sich noch einmal um, und in dem hellen Schein, der von draußen hereinquoll, sah er Hilde stehen: die wunderschönen Augen hingen an ihm mit einem so hilflosen, verzweifelten Ausdruck, und das Haar fiel ihr in losen Strähnen um das verweinte Gesicht.

Er erschrak. „Kopf hoch, Fräulein Hilde!“ sagte er ernsthaft; aber das Herz klopfte ihm plötzlich stark, er hätte das dumme kleine Mädel, das in seiner Leidenschaftlichkeit so heilloses Zeug anrichtete, am liebsten in heller Angst an seine Brust gezogen und gesagt, er ängstige sich um sie. Dann jedoch fühlte er auf einmal, daß er da allzu lange stand, und so grüßte er zu ihr hinüber und machte die Thür zu, viel ungestümer, als man die Thür einer Stube schließt, in der ein Kind schläft.

Draußen nahm sein Gesicht einen ärgerlichen Ausdruck an. Alter Freund, tadelte er sich, mach keine Geschichten! Es ist gar nicht – aber auch rein gar nicht das, was Du suchst, verstanden? Sei vernünftig, richte Deine Bestellung an Leo aus und denke daran, Deinen Koffer zu packen, hier kann Deines Bleibens nicht sein!

(Fortsetzung folgt.)




Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[1]
Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller.
4. Deutsche Hinterwäldler.
b. Der Auerhahn.

In den ersten Wochen des einziehenden Frühjahrs, unmittelbar sich anreihend an den „Schnepfenstrich“, beginnt auch die Minnezeit des Auerwilds. Der Auerhahn erhebt sein merkwürdiges, berühmt gewordenes „Balzen“.

Tief im vereinsamten Gebirgswalde „steht“ (verweilt) dieser Hinterwäldler, der die Kultur flieht, ja haßt. In die urwaldliche Natur der Gebirge hinein muß der Jäger steigen, um das im ewigen Düster des Nadelholzes oder in den von Mischhölzern bewachsenen Einöden hausende Wild in seinem geheimnißvollen, abgeschlossenen Lebenswandel kennenzulernen.

Hier ist es vorzugsweise, wenn nicht ausschließlich, die Jagd, welche zur Beobachtung dieser ungemein scheuen Waldwesen führt,

[265]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.
Frühling im Spreewalde.
Nach dem Gemälde von O. Piltz.

[266] und wir verlassen gern den trocken beschreibenden Ton und ergreifen die Gelegenheit, eigene Erlebnisse vorzuführen.

Wir genossen einmal das Vergnügen, ganz unverhofft bei einer Waldtour in nächster Nähe eine höchst unterhaltende Liebesbegrüßung der pathetischen Waldwesen zu belauschen. Gedeckt, ohne Jagdgewehr, im Gehölze stehend, um den Auerhahn zu „verhören“, das heißt den Stand oder Aufenthalt desselben während seiner Balzzeit auszukundschaften, sahen wir nach und nach acht Hennen auf einige Kiefern sich einschwingen und alsbald darauf einstreichen auf eine mit Heide bewachsene Blöße ganz in unserer Nähe. Nach einer Weile kam in der Dämmerung ein starker Hahn angestrichen und „stand" unter lautem Geprassel auf die nächste Kiefer „ein". Sofort entfalteten die Huldinnen ihre Netze, indem sie ihre Hälse aus der Heide emporreckten und mit Bücklingen sich präsentirten. Von diesen Artigkeiten gereizt, stand der Hahn sogleich vom Baume ab und fiel auf die Blöße ein. Erst ließ er ein Grunzen hören, das Zeichen verliebter Ueberschwänglichkeit, dann hob er fächernd das „Spiel“ (Schwanz), ließ die Flügel hängen und rauschte zur nächsten gackernden Henne. Kaum stolzirte er vor dieser einher, da ließen die anderen Hennen sich mit hellem „Gack! Gack!“ vernehmen, so daß der von einer Seite zur anderen sich wendende Galan in einem wahrhaften Komplimentirtanze auf der Lichtung herumgetrieben wurde. Da urplötzlich brauste ein Nebenbuhler heran, ein sehr starker Hahn, der, kaum auf einer Kiefer gebaumt, blindlings auf den Courschneider da unten stürzte. Nun entstand ein hartnäckiger Kampf. Unter lauten Flügelschlägen sprangen die riesenhaft aufgeblasenen Kämpen in hohen Sätzen aneinander in die Höhe, bis einer derselben endlich wich - welcher von beiden es war, konnte in der eingebrochenen Düsterheit nicht mehr festgestellt werden. Doch mitten in der noch etwas schimmernden Blöße stand der mit Hennengegacker begrüßte Sieger aufgerichtet, eine dunkle Waldmajestät, geringschätzig dem davonstreichenden „abgekämpften“ Gegner nach „äugend“. Darauf baumte der Hahn sammt den Hennen, und einige Zeit darauf schlichen wir behutsam mit dem Vorsatze davon, im folgenden ersten Morgengrauen den so unverhofft verhörten Hahn auf der Balze zu erlegen.

In einer Köhlerhütte übernachteten wir, nachdem wir uns von einem der Köhler von zu Hause Jagdgeräthe nebst etwas Erfrischungen für den nächsten Morgen hatten holen lassen.

Schon in der zweiten Stunde nach Mitteenacht trieb uns die rege Erwartung auf den Weg zum Balzplatze, den wir noch in der Dunkelheit erreichten. Das Werter war still, und der klare, gestirnte Himmel ließ eine gute Morgenbalze erwarten. Etwas über hundert Schritte an die Kiefer, worauf der siegende Hahn am gestrigen Abend eingestanden, „gepürscht“, warteten wir in weidmännisch geduldiger Haltung das erste Zeichen des kommenden Tages ab.

Ein leiser Luftzug begleitete eben die im fernen Osten sich bildenden matten Silberstreifen und brachte die sanfte abgebrochene Strophe der feierlichen Weise des erwachenden Rothkehlchens zu unserem Gehöre. Aufmerksamer horchend, vernahmen wir plötzlich, wie sich's auf der Kiefer regte: - der Hahn schüttelte sein bethautes Gefieder und ließ sein unbeschreibbares „Wurgen“ oder „Kröpfen“ hören. Jetzt hub ganz leise, wie verzagt, das Vorspiel des Balzens an in einem abgebrochenen Satze „Bö - lü - bö“ - und tiefe Stille trat ein. Der alte, mißtrauische Waldvogel „sicherte“ (äugte umher).

Eine Weile - dann hebt das „Knappen“ wieder an - leise, zögernd, unbestimmt, wie ein Hall von ferne, nach einigen Pausen aber stärker, bestimmter, nach einer neuen Tour entschiedener und in beschleunigtem Tempo. Endlich geht das rascher und immer rascher fortschreitende Knappen - ein Geräusch, als wenn zwei Stöcke leise aneinander geschlagen würden - über in das „Trillern“, und sofort erfolgt der Ruck des „Hauptschlags“ mit dem Laute „Glack“ und das ersehnte „Schleifen“: dies sind die zischenden, einige Sekunden währenden Laute, bei welchen der Balzende im Höhepunkte der Liebesleidenschaft nichts hört und dem Jäger so Gelegenheit giebt, näher heranzukommen.

Die ersten drei Gangschritte sind gethan, und wir haben die Genugtuung, den Hahn noch „ausschleifen“ zu hören. Beim Einsatze der zweiten und dritten Schleiftour gelangen wir bis zur Blöße, auf welcher der gestrige Kampf stattfand. Vor uns steht, unweit der Kiefer, ein starker Busch, den mir uns beim nächsten Schleifen in einiger rascher und weiter ausholenden Sätzen zur Deckung ausersehen. Nach dem Ueberspringen über die Blöße setzt der Hahn plötzlich im Balzen ab. zu unserer Freude aber nur einige Sekunden, um dann aufs neue feuriger als zuvor zu beginnen.

Hierdurch gelingt es, bis zu einem Horste deckender junger Föhren etwa 40 Schritte von der Kiefer heranzukommen. Aber durch die sehr dichte Beastung derselben vermag das Auge beim schärfsten Hinsehen in der schwachen Dämmerung nur allmählich und undeutlich einen schwarzen Klumpen zu erkennen. Auf diesen richtet sich während erneuten Schleifens des versteckt Balzenden der Schuß - doch unbeweglich bleibt der dunkle Gegenstand in der Kiefer, aus der nur in leisem Geriesel Aestchen und Nadeln statt des Hahnes herunterfallen.

Der Donner des Schusses verhallt, unverändert bleibt der schwarze Punkt im Baume, nichts regt sich, ein Zeichen, daß die Ladung Nr. 1 in eine dichtverwachsene Astpartie gegangen ist und der in der Schleiftour taube Hahn den Knall des Gewehres nicht vernommen hat. Jetzt gilt es, aufs vorsichtigste den Stand des räthselhaft Verborgenen zu erspähen. Ein wiederholt verschärftes Aufhorchen während des wieder beginnenden Balzens erzeugt in uns die Vorstellung, als wechsele der Hahn während des Balzens seine Stelle. Der hier sich plötzlich aufdrängende Grundsatz, daß man sich ein zu erforschendes Ding von mehreren Seiten betrachten müsse, treibt uns an, einige Schritte seitwärts um die Kiefer herumzugehen. Jetzt mit einem Male bietet sich uns der überraschendste Anblick: - der Hahn zeigt sich gegen den Himmel in scharfer Silhouette auf einem wagrecht abstehenden dürren Aste. In seiner steif feierlichen Gangart hat er eben das Ende des Astes erreicht und ausgeschleift, als er erneut in der Dur-Tonart zu knappen und bei dem Moll des Schleifens gravitätisch rückwärts zu rauschen beginnt. Der im Taumel der höchsten Liebesverzückung Getroffene stürzt zu Boden. Im weidmännischen Triumphe hoben wir den „Verendeten“ empor - ein wahres Kabinettstück von einem Auerhahn.

Fürwahr, dieser Vogel ist das Urbild seiner Sippe, ja der ganzen Familie der Hühner. An Leibesgröße einer Truthenne gleich, bietet ein alter, ausgefiederter Hahn ein dunkelprächtig glänzendes Gefieder im Metallschimmer. Den sammetschwarzen Kopf ziert über den Augen eine hochrothe warzige Haut, die sogenannte „Rose“, die Kehle ein schwarzer Federbart, der hakige, kurze Schnabel spielt ins Gelbliche, Hals und Brust tragen eine schwarzblaue, gewässerte Zeichnung, seitlich sieht sich der Hals aschgrau an, die Brust schillert vorn grün metallisch und heißt in der Jägersprache das „Schild“. Der Rücken und die Decken der kurzen, muldigen Flügel sind schwärzlich wellenförmig durchschossen. Das Achselgelenk zeigt einen charakteristischen dreikantigen, blendendweißen Fleck, weidmännisch ausnahmsweise bei diesem Wilde der „Spiegel“ genannt. Der schwarze Bauch ist spärlich mit weißlichen Punkten versehen und den schwarzen Schwatz, „Stoß“ oder bezeichnender „Spiel“ genannt, ziert am Ende ein Kranz weißlicher Punkte. Die „Ständer“, oder „Tritte“, sind am Laufe bis zu den drei am Grunde gehefteten Zehen haarartig braungrau befiedert. Die Seiten der Zehen haben steife, hornartige Fransen, die sogenannten „Balzstifte“.

Bei dieser Beschreibung der äußeren Gestaltung des Hahnes, der hier unserer Aufgabe gemäß hauptsächlich in Betracht kommt, mag es sein Bewenden haben. Nur vorübergehend sei erwähnt, daß die um ein Drittel kleinere, schwarz, aschgrau , braun und rostgelb gescheckte Henne eine stärkere Befiederung an den Ständern trägt, also nach unserer Bezeichnung gewissermaßen die „Hosen“ anhat.

Merkwürdigere Aufschlüsse giebt die Betrachtung der Organe in Hinsicht auf die Bedeutung mancher Gliedmaßen und Gebilde an dem Vogel.

Nach Nitzsch ist die Luftröhre durchaus weich und enthält nur Knorpelringe, von welchen eine ziemliche Anzahl der letzten Strecke hinten oder auch zugleich vorne mit einander in einem mittleren Längsstreifen verschmolzen sind, während sie an den Seiten getrennt bleiben und da häufige Zwischenräume zwischen sich lassen. Der unterste Theil der Luftröhre, die Trommel, ist nach demselben Forscher noch weiter ausgezeichnet durch eine Umhüllung mit einer rundlichen, gallertartigen, mit Zellengeweben durchsetzten Masse. Die Luftröhre erscheint locker und nachgiebig angeheftet durch sehr breite, lange und geschmeidige, Bänder, sowie [267] durch gestreckte, schmale Muskeln und weiter – wie der aufmerksame Dr. Wurm nachgewiesen hat – durch zwei feste, halbkreisförmige Biegungen in ihrem unteren Theile, von welchen die erste, obere, nach außen, die andere, untere, nach innen mit ihrer Wölbung gebogen ist. Der Umstand, daß der Kinnmuskelapparat sehr verlängert erscheint und die Eigenschaft besitzt, Zunge und Luftröhre auffallend zu heben oder zu senken, ist die Ursache, daß in der Ruhe oder dem Tode die schlaff gewordenen Bänder und Muskeln in den Hals sinken und die Biegungen der Luftröhre sich zu einer Schleife gestalten. Diese auffallende Erscheinung führte bei dem phantasiereichen Jägerstande zu dem Glauben, der Auerhahn habe keine Zunge oder beiße sich dieselbe beim Verenden ab. Die Henne entbehrt dieser organischen Merkmale, mit ein Beweis, daß dieser Apparat wesentlich das Stimmwerkzeug abgiebt, das die sonderbaren Balztouren hervorbringt.

Die Aufklärung der Ursache, weshalb der Auerhahn während des Schleifens tatsächlich nichts hört, verdanken wir wiederum Wurm. Er gewahrte bei der Sektion, daß ein beiderseits vom Unterkieferwinkel entspringender, etwas ausgebogen und sich verjüngend nach oben und wenig nach hinten verlaufender, 23 bis 25 mm langer Knochenfortsatz nach vorne sich über die Ohröffnung zieht, sobald sich der Schnabel des Hahnes weit öffnet, was thatsächlich beim Schleifen stattfindet. Dieser Verschluß des Gehörganges wird um so dichter, als in dieser Zeit die Ohröffnung durch die angeschwollene Haut daselbst ohnedies verengert ist. Das Gesicht zeigt sich jedoch beim Vorspiel des Knappens thätig, ist aber ganz gewiß während der hohen Erregung des Schleifens umflort, denn der Hahn hebt in solchen Augenblicken auch noch die Nickhaut der Augen. Die Erregung und die körperliche Anstrengung hierbei ist aber auch so stark, daß das Vibriren des balzenden Vogels sich dem Standbaum mittheilt, also daß die an den Stamm angelegte Hand das Zittern verspürt. Schließlich verdient erwähnt zu werden eine ebenfalls von Wurm zuerst beobachtete merkwürdige Eigenthümlichkeit des Vogels, daß nämlich alljährlich die Hornscheide des Schnabels wie auch die Nägel der Zehen sich ablösen und neu gestalten.


Sind das nicht absonderliche Eigenthümlichkeiten eines so vielfach interessanten Wald- und Jagdthieres? Ja, der Auerhahn ist eine der hervorragendsten Originalgestalten in den Reihen unseres vaterländischen Wildgeflügels. In ihm verkörpert sich die Majestät, die Abgeschiedenheit und Mystik des Gebirgswaldes, in der Jagd nach ihm die hohe Romantik des Weidwerkes. Wer ihn je in seiner vollen Pracht gesehen hat, den Hahn des einstigen Urwaldes, der vergißt seine auffallende Erscheinung nimmermehr. Hoch aufgerichtet wie ein krähender Haushahn oder mit weit vorgestrecktem Halse und Kopfe steht er während des Knappens, um dann mit dem Einsetzen des Schleifens den Hals höher zu recken und das gefächerte Spiel aufzurichten. Es nähern sich so Kopf und Spiel während des Schleifens und gehen wieder auseinander nach vollendeter Balztour; oder der Vogel balzt, je nach seiner Individualität, so, „als ob er auf die Erde herabfliegen wollte, mit gesenkter Brust und wagrecht vorwärts, selbst etwas nach abwärts gestrecktem Kragen.“

In diesem von heftiger Leidenschaft getragenen Minnespiele mag der prächtige Hinterwäldler noch eine Weile unter seinem grünen Laubdache sein abenteuerliches Wesen treiben; bald wird er nur noch in traurigen Resten als ausgestopfter Balg in den Museen oder als Jagdtrophäe in der Gewehrstube des Jägers an die entschwundene Poesie unseres einst wildreichen deutschen Waldes wehmütig gemahnen! Laßt ihn unbehelligt, ihr Männer im grünen Kleide, seine Knospen äsen, die der Wald in seiner Lebensfülle alljährlich wieder durch Millionen anderer ersetzt; laßt ihn in überschwänglicher Minne noch eine Zeit lang balzen zum Hochgenuß des „unterspringenden“ Weidmannes! Wie lange wird es währen, da balzt der Auerhahn im deutschen Wald nicht mehr, wie der Edelhirsch bald seinen letzten Brunftschrei in den immer wildleerer werdenden Revieren durch die Morgendämmerung geschickt haben wird!



Truggeister.

Roman von Anton von Perfall.
(Schluß.)


Bertha eilte durch die leerstehende Werkstatt, sie rief nach Therese – da öffnete sich die Thür und Vater Margold trat heraus.

„Wo ist Georg?“ rief Bertha, obwohl sie die Antwort zum voraus wußte.

„Verhaftet!“ erwiderte finster Margold.

Bertha verbarg ihr Antlitz in die Hände.

„Ja, so weit kann man kommen mit der verdammten Gier nach dem Geld, die den Menschen packt wie ein Geier und ihm jede ehrliche Arbeit verleidet! Er hat am Ende nur einen Räuber bestohlen, der die Sache im großen betrieb, er ist gewiß nicht schlechter als der, aber das macht die Sache nicht besser. Dieser ehrliche fleißige Georg!“ Margold schüttelte verzweifelt den Kopf.

„Aber wer sagt Dir denn, daß Georg wirklich der Dieb ist?“ brach Bertha plötzlich los.

„Wer mir das sagt? Glaubst Du denn, man verhaftet einen Bürgersmann heutzutage ohne triftigen Grund, so mir nichts dir nichts! Wer mir das sagt? Sein fieberndes gieriges Auge, seit er in diesem verfluchten Keller gewesen ist, sein Haß gegen alle Arbeit sagt es mir, von dem alles Schlechte kommt. O, ich habe schon lange für ihn gefürchtet, der verdammte Schwindelgeist hatte ihn ganz in seinen Klauen.“

„Und Therese? Wo ist Therese?“ fragte Bertha.

„Komm nur herein, da liegt sie, das arme Wesen, fast besinnungslos vor Entsetzen.“

Bertha trat ein; auf dem braunen alten Sofa lag Therese, totenbleich, das Haar hing wirr in die thränennassen Wangen, sie athmete schwer; jetzt schlug sie die Augen auf, aber beim Anblick Berthas brach eine neue Thränenflut sich Bahn.

„Therese, glaubst Du auch an die Schuld Deines Mannes?“ fragte Bertha, vor sie hintretend.

„Ich muß ja, ich muß ja!“ jammerte sie. „Er sprach ja von nichts mehr als dem Schatz bei Stefanelly, er hatte ganz den Kopf darüber verloren, und wie er heute nacht nach Hause kam – dieser scheue Blick! da ahnte ich schon, daß etwas Entsetzliches geschehen war. Bertha! Wer hätte das gedacht vor einem Jahre – wir waren so glücklich, er das Muster eines Mannes, und jetzt – – O, sieh mich nicht so verächtlich an, ich weiß es ja, ich bin mit schuld an dem Verbrechen, ich habe den Keim gelegt mit meinem selbstsüchtigen, unzufriedenen Wesen – o, ich ertrag’ es nicht – meine arme Mutter – Lili – mein Kind!“

Sie sank stöhnend zurück.

In Bertha stürmten Schmerz, Scham und Freude durcheinander.

„Wenn ich Dir aber sage, Dein Mann ist unschuldig!“ rief sie.

Ein Aufschrei Thereses antwortete ihr; wie eine Wahnsinnige blickte sie aus der dunkeln aufgelösten Haarfluth.

„Unschuldig? Georg? Er sagte es ja auch, er hat es beschworen, aber ich glaubte ihm nicht. – Bertha –“ sie fiel auf die Kniee und rutschte auf dem Boden zu ihr hin mit aufgehobenen Händen, – „Bertha! Woher – wie –“

Die Sprache versagte ihr, nur ein stummes gieriges Flehen lag auf ihrem Antlitz.

„Vollständig unschuldig, der Thäter ist bekannt und in einer Stunde ist Dein Mann frei!“

„Frei! Frei!“ kreischte Therese auf. „Aber das ist ja nicht möglich, und wie kannst Du das alles wissen? Sprich doch, Bertha, sprich ums Himmels willen!“

[268] „Das darf ich nicht. Laß Dir vorerst daran genügen, daß ich es weiß, das Uebrige wirst Du bald erfahren.“

Ihr Athem flog, sie machte sich aus der Umklammerung der erschütterten Freundin los, die vergebens um weitere Aufkärung in sie drang, und ging hinaus. Draußen nahm sie den Vater bei der Hand und sagte: „Jetzt komm Du mit mir nach Hause, Du bist dringend nothwendig dort. Es hat Eile, rasch!“

Sie ließ ihm nicht Zeit, andere Kleider anzuziehen. Auf der Straße erzählte sie stoßweise die Ereignisse der verwichenen Nacht und den Entschluß des alten Herrn von Brennberg, dem Gerichte den ganzen Thatbestand mitzutheilen; er, der Vater, solle ihm Muth zusprechen für den schweren Gang. Und trotz seines Entsetzens über diese Nachrichten, die ja auch seinen Sohn betrafen, sah Margold doch in der Entscheidung Brennbergs auch die Heilung von seinem Wahn.

Als sie in der Brennburg ankamen, ging Berti zuerst allein zu ihrem Schwiegervater, um mit ihm zu sprechen und ihn auf den Besuch des Vaters vorzubereiten. Sie erschrak vor seinem Anblick: die Nacht hatte eine fürchterliche Verheerung angerichtet in diesem Antlitz. Er sprach eben mit Theodor, der Muth schien beide verlassen zu haben vor der nahenden Entscheidung. Sie erklärten Bertha, mit der Anzeige noch warten zu wollen; am Ende würde dieser Bergmann gar nicht verhaftet bei dem Mangel sonstiger Beweise, dann wäre ja die Anzeige ein nutzloses, wahnsinniges Opfer.

Da erzählte Bertha, woher sie kam und was sie gesehen. Die Verhaftung des Schlossers war bereits vollzogen.

Diese Thatsache schmetterte Christian nieder. Jetzt war kein Ausweg mehr, der furchtbare Gang mußte gethan werden, das Schicksal wollte es so.

Da öffnete Bertha die Thür, Margold trat ein, tief gebeugt.

Der Baron schrie auf und wanke ihm entgegen.

Margold ergriff seine Hand und wollte sie nach alter Gewohnheit küssen. Das war zu viel für Christian. Der Geist längst vergangener glücklicher Zeiten umwehte ihn, er brach in Thränen aus und sank dem alten Freund und Diener laut schluchzend an die Brust.

„Muth, Herr von Brennberg, der alte Gott lebt noch, und was Sie jetzt thun, sühnt alles! Sehen Sie dort, über den Bäumen,“ – er deutete zum Fenster hinaus – „die Stadt hat es noch immer nicht aufgezehrt, das gute Schönau. Ich habe so einen Gedanken, es ist mir immer, als warte es auf uns zwei Alte!“

„Du bist grausam, Margold, ich bin ein Bettler.“

„Unsinn, Herr von Brennberg! Es ist ja das erste Mal in meinem Leben, daß mir das Geld eine Freude macht. Ja, jetzt macht es mir eine Riesenfreude, weil ich sagen kann: es langt für uns alle, wenn es auch kein Reichthum ist, und an dem, meine ich, haben wir uns alle, wie wir da stehen, satt gesehen. Also frisch herausgeschnitten die Pestbeule und dann wieder ein bißchen altmodisch! Es brancht dazu nicht den kaffeebraunen Rock und die gelben Stiefel, so lieb sie mir auch waren, aber das alte Herz, die alte Freude an der Arbeit, dann geht es schon! Nicht wahr, Herr Theodor? Habe ich nicht recht? Sind Sie nicht auch dabei? Bertl kann es Ihnen erzählen, es waren gewiß nicht ihre schlimmsten Tage draußen an der Landstraße.“

Theodor reichte dem schlichten Manne schweigend die Hand; er fühlte wohl den edlen Kern dieser Worte, aber er sah die Lösung nicht in so rosigem Licht.

Eine Viertelstunde darauf fuhr der Aufsichtsrath von Brennberg mit Bertha zum Staatsanwalt, um offene Beichte abzulegen.




9.

Das verhängnißvolle Ereigniß im Keller des Stefanellyschen Hauses, welches an jenem Festabend die Tanzenden so erschreckt hatte, war nur der Vorläufer der großen Katastrophe gewesen, deren Opfer eine Woche später die Straßen M...s theils klagend, theils drohend durchirrten. Der Zusammenbruch vollzog sich mit blitzartiger Schnelligkeit und riß alles mit nieder, was in seinem Bereich lag.

Schon die Nachricht von dem Diebstahl in dem Gewölbe Stefanellys während des vielbesprochenen Festes wurde mit sonderbarem Schweigen aufgenommen; man glaubte nicht recht daran und ahnte Schlimmeres. Die weitere Kunde von der Verhaftung des Diebes in der Person eines Schlossers aus der Vorstadt hob wieder die Gemüther.

Da, Mittag war es, zuckte der Strahl, der gefürchtete, und er schlug furchtbar ein. Stefanelly war verhaftet sammt seinem Agenten Margold und dessen Frau, der bekannten Loni. Die Bank war vom Gericht geschlossen und Gendarmen wehrten die tobende Menge von den verschlossenen Thüren ab. Rasch wurde bekannt, daß der in der Frühe verhaftete Schlossermeister als völlig unschuldig wieder entlassen worden war, und von diesem Augenblick an wußte man auch, warum der Stefanelly verhaftet worden war – er selbst war der Dieb!

Die Nacht brach an, was würde der nächste Tag bringen?

Was er bringen mußte: den Zusammensturz der Stefanellyschen Gründungen, eine wahnsinnige Panik auf der Börse mit all ihren schrecklichen Folgen, Jammer, Thränen, Haß, Erbitterung – bei den Vernünftigen aber reuevolle Einsicht, bittere heilsame Erkenntniß des Abgrundes, an dem alles gewandelt und von dem nun die derbe rücksichtslose Faust des Schicksals die Bethörten zurückgerissen hatte.

Das gerichtliche Verfahren gegen Stefanelly, welches von den Behörden möglichst beschleunigt wurde. begann mit der Anklage wegen des Kassendiebstahles, während die schwierigen und verwickelten Erhebungen über die schwindelhaften und betrügerischen Gründungen ihren Fortgang nahmen. Es mußten dabei unerhörte Dinge zu Tage kommen; jeder wußte, daß sich ein in den grassesten Farben gemaltes abschreckendes Bild der Zeit entrollen werde, daß in diesem Prozeß die ganze entartete Gesellschaft auf der Anklagebank saß.

Jeden Tag erhöhten neue Gerüchte die gespannte Erwartung. Der Rath Stürmling, der in der letzten Zeit offenkundig zum Agenten Stefanellys geworden war, verschwand spurlos – es hieß, er habe sich erschossen. Minister Graf Derwitz erhielt plötzlich seinen Abschied.

Der Name des Aufsichtsrathes Brennberg, gegen welchen ebenfalls Anklage erhoben wurde, war in aller Mund. Er sollte den Stein ins Rollen gebracht, den unschuldigen Schlossermeister durch seine offene Aussage befreit haben.

Endlich brach der Tag des Gerichtes an, des lang erwarteten, von vielen gefürchteten Gerichtes.

Alle Arbeit ruhte, stumm, wie in sich selbst verkrochen, lag M.... da, von Gewissensschauern geschüttelt. Nur um das Gerichtsgebäude wogte eine stürmisch bewegte Volksmasse.

„Räuber! Spitzbuben! Gebt den Raub heraus!“ tönte es wild durcheinander und geballte Fäuste hoben sich drohend gegen die Fenster des Gerichtssaales.

Diesen füllte eine dichtgedrängte Menge aus allen Ständen. Männer und Frauen, Betrogene mit verweinten Augen, begierig, jede Masche des Netzes zu sehen, in dem sie sich gefangen hatten, Neugierige, die nur die Sucht nach Aufregung und Nervenkitzel hergetrieben hatte.

Alles starrte auf die noch unbesetzten grünen Tische mit den bereit liegenden Akenbündeln, aus denen endlich der Sieg der Wahrheit und des Rechts über die Lüge und das Unrecht sich entwickeln sollte.

Eine schwüle lautlose Stille herrschte. Ein jeder fühlte an sich selbst das Messer des Arztes, das ihn befreien sollte von jahrelangen Gebresten.

Die Angeklagten betraten den Saal. Zuerst Stefanelly, ein höhnisches Lächeln um die bleichen Lippen, von dumpfem Brausen empfangen, das sich lawinenartig fortpflanzte bis auf die Straße. Dann eine gebeugte Gestalt, der Aufsichtsrath Brennberg; weiter ein junger Mann in auffallender Kleidung, mit scheuem Blick und kränklichem Aussehen, Hans Margold, der Agent. Zuletzt, kokett gekleidet, einen frechen Blick über den ganzen Saal werfend, die gefeierte Loni, die Königin all der üppigen Feste des Hauses Stefanelly, die verkörperte geschminkte Lüge, die ausgesprochene Vertreterin der morschen, zerfressenen Zeit.

Ein Gemurmel des Unwillens empfing sie.

Dann nahm das Richterkollegium Platz am erhöhten Tische, in der Mitte des Saales, zur Seite die Geschworenen; die Wichtigkeit des Augenblicks, das Gefühl, Gericht zu sitzen über ihre Zeit – und damit vielleicht auch über sich selbst – lastete sichtlich auf ihnen.

[269] Die Anklage des Staatsanwaltes hallte durch den schwülen Raum, vernichtende Worte von krankhaftem Taumel, der alles ergriffen, von verbrecherischer Genußsucht, vom Hohn auf jedes Recht, von gleißnerischen Ehrbegriffen. „Die Achtung vor dem Eigenthum ist erstickt, die Liebe zur Arbeit verschwunden aus den Herzen, die Litteratur, das Theater athmen Schwelgerei und Sittenlosigkeit, der Preis der Tugend findet keine Sänger mehr; die rohe Kunst, sich zu bereichern ohne Arbeit, ohne Fleiß, ohne Ausdauer, ohne Genie, ist die einzig gepflegte, sie ist die moderne Pest der Staaten. Die heute hier als Angeklagte stehen, sind nur die sichtbaren Vertreter der allgemeinen Fäulniß, nicht über sie allein halten wir heute Gericht, nicht sie allein klage ich an, sondern die ganze Gesellschaft, die nach denselben Grundsätzen, in denselben Trieben gehandelt und gelebt hat seit Jahren. Sie alle stehen heute vor dem Richterstuhl, und das Urtheil, das heute hier gesprochen wird, gilt für sie alle; möge es die Donnerstimme der Gerechtigkeit sein, die unsere Zeitgenossen in ihrem Innersten aufwühlt und sie zur Erkenntniß bringt, wohin dieser Weg führen wird, oder vielmehr schon geführt hat – zur völligen Verderbniß, zur Selbstvernichtung.“ –


Kriegsrath bei Friedrich dem Großen.
Nach dem im Besitze der Kunsthandlung Fr. Schwarz in Wien befindlichen Gemälde von Johann Hamza.

[270] Wie Keulenschläge fielen diese Worte; die Köpfe der Menge beugten sich darunter, die Gewissen erwachten – der Abgrund gähnte, den ein verführerischer Nebel bisher verdeckt hatte.

Die Zeugenaussagen gegen Stefanelly waren erdrückend, ein häßlicher Knäuel von Lüge, Betrug, Fälschung, gewissenlosem Wagniß entwirrte sich. Wie Schuppen fiel es von den Augen aller der Geblendeten.

Dann erzählte der Aufsichtsrath Brennberg in schlichten Worten seinen Weg von dem einsamen Schönau bis in diesen Gerichtssaal, den er willenlos gegangen sei unter der zwingenden Macht Stefanellys; er schilderte, wie ihn nach einem arbeitsvollen einsamen Leben allmählich in seinen alten Tagen die entnervende Luft der Großstadt förmlich vergiftet und zu Grunde gerichtet habe, schilderte die qualvollen Nächte, in denen er mit sich gerungen habe und doch unterlegen sei, schilderte alles das in Worten, die mächtig zu seinen Hörern sprachen.

Ja, diese giftdurchtränkte Luft hatten sie alle eingeathmet, die Menge hier auf den Bänken und draußen auf der Straße, die Geschworenen, die Richter – alle – alle!

„Ich habe ernten wollen, ohne zu säen, ich, ein Mann, der dreißig Jahre die Scholle seiner Ahnen bebaut hatte, der aus dem Gleichniß der Natur erkennen mußte, daß dies nicht möglich sei, daß es mit rechten Dingen dabei nicht zugehen könne. Keine Strafe wird mir zu schwer sein, um zu sühnen, was ich gethan habe.“

So schloß der alte Baron seine Rede.

Ein jäher Sturm brach los im Zuhörerraum, Schluchzen, Weinen, beifällige Zurufe. Wie eine Erlösung aus unheimlichem Bann klangen die Worte, wie die Verheißung einer besseren Zukunft. Der Präsident selbst fühlte die Heiligkeit dieser Erregung und ließ sie austoben.

Berthas schwer belastende Aussage gegen Loni wurde vernommen, der vorgebliche Diebstahl unter den Füßen der sorglos tanzenden Gäste im Prunksaal Stefanellys: wieder ein furchtbar erschütterndes, bedeutungsvolles Bild.

Zwei Gärtnerstöchter von der Landstraße, zwei Nachbarskinder, standen sich da gegenüber, die auch der Zeitgeist hineingetrieben hatte in die Stadt aus ihren friedlichen Häuschen und ihrem friedlichen Thun. Die eine hatte sein Hauch längst durch und durch vergiftet, die andere hatte ihm siegreich widerstanden, war gesund geblieben an Geist und Leib. Alles blickte erquickt auf das blühende Weib, das unbeirrt, seines eigenen Vortheils nicht achtend, für die Wahrheit und die Unschuld eingetreten war und der Schlange des Trugs auf den Kopf trat. Es war, als ob ein freundliches, hoffnungsvolles Licht von ihr ausginge in dem düstern, schwülen Raum.

Die Vertheidigung hatte einen schweren Stand. Das Urtheil lag in der Luft, auf jeder Lippe, es war unabänderlich. Sie konnte sich nur auf einzelne Milderungsgründe beschränken, jeder Versuch, psychologische Spitzfindigkeiten anzubringen, wurde, trotz aller Mahnung des Präsidenten zur Ruhe, im Publikum mit Hohn aufgenommen.

Das Gewissen des Volkes war erwacht und saß selbst mit zu Gericht.

Stefanelly wurde als der Hauptschuldige unter gebührender Würdigung seines ganzen, auf Lug und Trug gerichteten Gebahrens, namentlich der nichtswürdigen Abwälzung des Verdachts auf einen völlig Schuldlosen, wegen gemeinen Diebstahls von Kassengeldern zu fünf Jahren Gefängniß verurtheilt und aller Ehren verlustig erklärt; Loni und Hans erhielten aber wegen Theilnahme an diesem verbrecherischen Treiben eine dreijährige Gefängnißstrafe; Brennberg wurde zwar eines in Gemeinschaft mit Stefanelly begangenen Kassendiebstahls für schuldig befunden, jedoch unter Berücksichtigung der mehrfachen ihm zur Seite stehenden Milderungsgründe, namentlich auf Grund der Annahme, daß er die veruntreuten Gelder aus seinem allerdings nun gleichfalls verlorenen Vermögen zu ersetzen beabsichtigte, nur mit sechsmonatigem Gefängniß bestraft.

Mit lauten Zurufen wurde dieser letzte Satz des Urtheiles begrüßt.

Dem Baron drangen diese Kundgebungen tief ins Herz und ein Thränenstrom brach ihm aus den Augen.

Er fühlte es, hier erhob der Geist seine Stimme, der sich immer wieder Bahn bricht, der Geist der Gerechtigkeit und der Wahrheitsliebe, der Sieger über die verhaßten Truggeister. – Erst als die schmale Thür, die zu den Haftlokalen führte, sich hinter den Verurtheilten geschlossen hatte, leerte sich der Saal lautlos, ohne Gedränge.

Auch die Menge vor dem Gebäude verzog sich wider Erwarten ruhig, das Urtheil lastete auf jeder Brust. Der Staatsanwalt hatte wahr gesprochen: sie alle hatten heute vor dem Richterstuhle gestanden.

*               *
*


Nach sechs Monaten hielt gegen Abend ein Wagen vor der Stadtvogtei, in welcher Christian seine Strafzeit verbüßt hatte. Ein Kommissar meldete eben dem Freiherrn den Ablauf derselben mit dem Hinzufügen, zwei Herren und eine Dame erwarteten ihn.

Es war für Christian eine harte Zeit gewesen voll bitterer Selbstvorwürfe, Angst für die Zukunft und Kummer für seine Kinder, aber auch eine Zeit ernster Einkehr in sich selbst, völliger innerer Heilung.

Eine erschütternde Nachricht war für ihn die Kunde von der Geburt eines Enkels, eines Stammhalters gewesen. Früher hatte er sich dieses süße Glück gar nicht zu träumen gewagt, jetzt ward es ihm zu Theil, während er im Gefängniß saß, und er durfte sich nicht einmal darüber freuen. Der Name Brennberg war ja durch ihn befleckt, entehrt, dem Elende preisgegeben, und was er einst ersehnt hatte, erschien ihm jetzt wie ein Fluch. Dann aber kamen wieder Stunden, wo er den Knaben wonnetrunken in seinen Armen sah, auf seinen Knieen schaukelte auf der Terrasse von Schönau, den künftigen Erbherrn – und furchtbar war dann das Erwachen, wenn die Kerkermauern, welche die erhitzte Phantasie gesprengt hatte, sich wieder schlossen vor dem beseligenden Bild.

Jetzt, wo sich dem Gefangenen die Thür zur Freiheit öffnete, traten wieder dunkle Schatten vor seine Seele. Welchem Leben ging er entgegen? Einem Leben der Schande, der Noth vielleicht. Warum hatte ihn der Tod nicht erlöst, ihn, der jetzt nur eine Last war für seinen durch ihn ruinirten Sohn? Der Herr von Brennberg auf Schönau trat aus der Stadtvogtei an das Licht des Tages und starb nicht vor Scham! Und doch kamen sie, ihn abzuholen, Theodor und Bertha! Sie haßten ihn also nicht, sie hatten ihm gewiß alles vergeben und er durfte sein Enkelkind in die Arme schließen! –

Aber der Kommissar hatte doch von zwei Herren gesprochen! Wer konnte nur dieser zweite sein? Freund oder Feind? Lauerte vielleicht ein neues Unglück auf der Schwelle.

Christian schwindelte es fast, als er die Treppe hinunter stieg. –

Da streckte ihm auf halbem Weg ein Mann beide Arme entgegen.

„Margold! Du!“ rief der Freiherr aufjauchzend. „Das ist ein gutes Zeichen, jetzt hoffe ich wieder!“

Und die beiden Männer umarmten sich schluchzend, dann gingen sie hinab, wo Theodor und Bertha ihrer harrten.

Schweigend stieg man in den Wagen. Die Bewegung war in allen zu groß für Worte. nur die Thränen sprachen, die zitternden sich pressenden Hände.

„Wohin denn?“ fragte der alte Herr von Brennberg, als der Wagen sich in Bewegung setzte. Er wußte, die Brennburg war längst verkauft.

„Nach Hause,“ sagte Margold.

„Nach Hause!“ wiederholte Christian herb.

Der Wagen fuhr durch die Stadt, über die bereits ein schwüler Augustabend sich herabsenkte. Das toste und brauste wie vor einem halben Jahre, als wäre nichts geschehen; über die Opfer der Katastrophe spann das rastlose Leben schon längst eine neue bunte Decke.

Jetzt ging’s durch eine Vorstadt: da grinsten vorwurfsvoll die leeren Fensterhöhlen unvollendeter Häuser. Die Spinne hatte ihre Fangarme zu weit ausgestreckt, der Lebenssaft fehlte ihr, sie mußten verdorren.

Der alte Baron empfand eine geheime Schadenfreude über das verstümmelte Ungeheuer und vergaß darüber ganz, zu fragen, wohin denn eigentlich die Fahrt gehe.

[271] Jetzt hörten die Häuser auf, wogende Felder breiteten sich in der einbrechenden Dunkelheit aus.

„Ja, wohin führt Ihr mich denn? Doch zu Dir, Margold, in Dein Haus.“

„Ich habe kein Haus mehr,“ erwiderte Margold lachend.

„Und Ihr wohnt nicht mehr in M ...?“

„Nein, aber in der Nähe, Vater,“ sagte Theodor.

„In der Nähe? Ihr verbergt mir etwas, ein neues Unglück! Wo ist Euer Kind, mein Enkelsohn?“

Eine jähe Angst vor etwas Ungewissem hatte den erregten Mann gepackt.

„In einigen Minuten bist Du bei ihm,“ war die Antwort.

Der Wagen fuhr jetzt eine Pappelallee entlang. Brennberg erblickte die langen Schatten im matten Mondlicht. Ein Zittern befiel ihn, er lehnte sich weit hinaus.

„Schönau!“ schrie er, „Schönau! Was wollt Ihr in Schönau?“

In diesem Augenblick hielt auch der Wagen. Der Freiherr riß den Schlag auf, sprang hinaus und erblickte die blendendweiße Front des Schlößchens vor sich, dessen Fenster alle hell erleuchtet waren.

Er stieß einen gurgelnden Schrei aus und fiel auf die Kniee nieder.

„Schönau! Heiliger Gott! Schönau!“

Margold und Theodor hoben ihn auf.

„Unser Schönau!“ flüsterte Theodor.

Christian breitete die Arme aus wie vor einer himmlischen Erscheinung und sah fragend auf Margold.

Ja, Herr, unser Schönau, das Heirathsgut der Bertl. Ich sagt’ es ja, es hat auf uns gewartet, fast geschenkt haben sie mir den ‚alten Kasten‘, wie ihn die Aktionäre nannten. Den alten, lieben Kasten – und da – da kommt auch der künftige Herr von Schönau, Sie zu begrüßen.

Bertl war es, die sich schnell in das Schloß gestohlen und jetzt mit ihrem Kinde auf dem Arm heraustrat vor den Großvater.

„Unser Sohn,“ stammelte die selige Mutter.

Christian schloß den Kleinen trunken von all dem unerwarteten Glück in die Arme.

Im Norden zog ein rother wallender Dunst empor über die Bäume des Parkes, Christian blickte feindselig darauf, dann aber nahm er den Kleinen fester in die Arme und betrat mit ihm das Haus seiner Väter.




Als Bergmann an jenem Nachmittage zurückkam aus dem Gefängniß und sein Weib ihn mit Thränen der Freude empfing, da wehrte er ihrer Zärtlichkeit und nahm sie mit sich in die Kammer.

„Du glaubtest an meine Schuld, nicht wahr, Therese?“ sagte er.

Scham und Schmerz ließen sie lange nicht antworten.

„Mußte ich nicht, da Du, der sonst so hitzige Mann, Dich widerspruchslos, ohne ein Wort der Rechtfertigung, mit fortnehmen ließest? Warum hast Du das gethan?“

„Weil ich wirklich mich schuldig fühlte, Therese, deshalb that ich’s. In jener furchtbaren Nacht faßte ich in meiner Gier nach dem Golde den festen Entschluß, bei Stefanelly einzubrechen; ich war eben mit dem Plane fertig, da kamen sie, mich zu holen. Das packte mich, ich glaubte die Stimme der rettenden Vorsehung zu vernehmen, das entsetzliche Fieber wich, der halbe Tag im Gefängniß hat mich ganz davon geheilt. Jetzt bringe mir das Kind, ich hatte keines bisher – und dann zur Arbeit, damit das Fieber nicht wiederkommt.“

Seit der Zeit sprühen wieder lustig die Feuer in der Werkstatt, der Meister selber steht vom Morgen bis zum Abend am Ambos. Die Sparkasseneinlagen Thereses wuchsen von da an zwar langsamer aber stetig, und heute ist Bergmann schon längst Eigenthümer des ehemaligen Margoldschen Hauses.

Theodor ist ein gelehriger Schüler des alten Margold geworden. Aus der Armee infolge der Verhaltnisse verabschiedet, von der Gesellschaft, deren Gunst ihm einst alles geschienen, mit scheelen Augen betrachtet, trieb ihn zuerst Trotz und bittere Verachtung aus dieser Welt des Scheines, da öffnete sich ihm der einst so verachtete, geringgeschätzte Schönauer Boden und zeigte seine verborgenen, nie geahnten Schätze. Theodor erkannte, worin die volle Heilung liege, der einzige Trost, die letzte Ehre in der Hebung dieses Schatzes, den er einem Phantom geopfert. – Und er hob ihn mit starker Faust, treulich unterstützt von seinem Weibe, von Bertha. Duftiger, üppiger Segen breitete sich unter ihren emsigen Händen. Die weithin berühmten Brennbergschen Gärten versehen halb M ... mit ihren reichen Erträgnissen.

Blicken jetzt des Abends der alte Baron und Margold im Kreise ihrer Lieben in den rothen wallenden Schein, der ihnen einst so drohend aufzusteigen schien über dem Wald wie der Athem eines alles verheerenden Dämons, so denken sie zurück an ihren einstigen Wahn und erklären dem horchenden Enkel, was es sei, der Athem rastloser Arbeit, ehrlichen Schaffens und Strebens, kühnen Vorwärtsschreitens, der Athem des wahren, ewigen Zeitgeistes, der sich immer wieder siegreich erhebt über die Geister des Truges und der Lüge.




Bei den darbenden Webern im Glatzer Gebirg.


Eine Charwoche liegt hinter mir, deren „grüner Donnerstag“ ohne den Hoffnungsgruß von Lenzesgrün verlief und auf die kein Osterfest folgte, dessen Glockentönen mir das Herz mit frohem Auferstehungsglauben erfüllt hätte. Weiße Ostern – das waren die Tage auch für all die Vielen, welchen der Schneesturm den Osterausflug verdarb, graue Ostern, grau wie Frau Sorge in Goethes Faust, so muß mein Reisetagebuch diese Woche verzeichnen, in der mich das Interesse der „Gartenlaube“ für die nothleidenden Weber im „böhmischen Winkel“ Deutsch-Schlesiens und ihr Wunsch nach Klarstellung des Charakters dieser Nothlage durch Sturm und Regen in die verschneiten Thäler zwischen Mensegebirg und Heuscheuer, Heuscheuer und Eulengebirge fahren und hinauf in die entlegenen Dorfeinöden der Grafschaft Glatz wandern ließ. Denn auch der Glanz der Frühlingssonne hätte das Grau dieser trostlosen Lebenseindrücke, hätte die Bilder unheilbaren Menschensiechthums, die mich hier erwarteten, nicht zu verklären vermocht, und auch die Zaubermacht der Ostersonne, mit dem goldnen Faden ihrer Strahlen selbst die Flicken des Bettlerelends zur Schönheit verweben zu können, würde versagt haben an den düstern Stätten des Hungers und Elends dort oben, auf welche seit Wochen der Hilferuf edler Menschenfreunde das allgemeine Interesse im Vaterlande gelenkt hat.

Solch einem Hilferuf hatte zu Anfang März auch die „Gartenlaube“ Verbreitung gegeben, nachdem der von ihr um Auskunft angegangene Gewährsmann, Herr Pastor Klein in Reinerz, schon Wochen vorher im engeren Kreise jener Gegend durch öffentlichen Aufruf und praktische Organisation der Privatwohlthätigkeit zu Gunsten der Nothleidenden gewirkt hatte. Aber viel früher schon, bereits im Mai vorigen Jahres, hatte eine Petition von Webern des Eulengebirgs an den Kaiser, hatten Nachrichten der Presse über die Absichten der Regierung, mit dem chronischen Nothstand der schlesischen Handwerker einmal gründlich aufzuräumen, die allgemeine Aufmerksamkeit wieder jenen Mißständen zugelenkt, die nun schon über ein Jahrhundert lang nach dem Ausdruck eines bedeutenden Nationalökonomen „einen Schandfleck unserer wirthschaftlichen Geschichte“ bilden. Schon war es in den Verhandlungen zwischen den Ministerien in Berlin, der Provinzialregierung in Breslau und den Landrathsämtern der betreffenden Bezirke zugegeben, daß die allgemeinen Verhältnisse die Handweberei Schlesiens mit einer neuen Krise bedrohen, schon häuften sich auf den grünen Tischen die Akten mit Material für die Vorbereitung der Abhilfe, da drang mitten aus dem Herzen der Gegend, in welcher das Elend der Handweber schon längst alle Grenzen des Erträglichen überschritt, der laute Hilferuf des Reinerzer Pfarrers hinaus in die Welt im tausendstimmigen Echo der Presse. Wohl könne den Webern für die Dauer nur durch wirthschaftliche Heilmittel geholfen werden, die dem Uebel an die Wurzel gehen, aber zur Bekämpfung der augenblicklich gesteigerten Noth sei auch augenblicklich eingreifende Hilfe nöthig, Hilfe der freien Barmherzigkeit, die Nahrung, Heizung, Kleidung in die [272] Hütten der Darbenden bringe. Der Aufruf beruhte neben der persönlichen Erfahrung des Pfarrers auf Angaben der Ortsvorsteher der betreffenden Gemeinden selbst, der Kern seines Inhalts fand die Bestätigung der Regierungsbeamten des „Kreises“, und das Landrathsamt in Glatz setzte, ganz wie auch das von Neurode am Eulengebirg, Nothstandskommsssionen ein, deren Mitglieder unter Führung des Landraths einen amtlichen Aufruf im Amtsblatt des Kreises mit der Bitte um Hilfe erließen.

Was war auch natürlicher, als daß die Regierung, ohnehin schwer belastet von der Sorge um die Beseitigung des chronischen Nothstandes, die Stillung der akuten Noth der Privatwohlthätigkeit überließ!

Da – gerade als der Aufruf des Pastors Klein in der „Gartenlaube“ erschienen war, änderte sich auf einmal das Bild. Die kurz vorher von den Behörden selbst angerufene Wohlthätigkeit weiterer Kreise wurde in einer Konferenz beim Handelsminister, welcher verschiedene schlesische Landtagsabgeordnete und der Regierungspräsident aus Breslau anwohnten, als „entbehrlich und bedenklich“ bezeichnet, da eine über das Bedürfniß hinausgehende Unterstützung nur „demoralisirend“ wirken könne. Die in die Presse gelangten Schilderungen der stellenweise ja vorhandenen Nothstände seien zum Theil übertrieben. Am 10. März aber erschien dann von dem Kommunalarzt in Reinerz in einem Berliner Blatt eine Erklärung, welche jede Art akuten Nothstandes in der Gegend in Abrede stellte, ja behauptete, daß es den armen Webern daselbst „von Jahr zu Jahr immer besser gehe“. Die Erklärung gipfelte in der Aussage, daß Pastor Klein durch eine „wilde regellose Armenpflege“ mehr Schaden als Nutzen gestiftet und in Kreisen, wo bisher Zufriedenheit und Arbeitslust geherrscht, „Unzufriedenheit und Begehrlichkeit“ geweckt habe. Diese Erklärung ist dann durch den offiziösen Telegraphen in einer Form verbreitet worden, die ihr den Schein eines amtlichen Charakters verlieh. Welche Anschuldigung für alle die Blätter, welche den Aufruf des Pfarrers verbreitet, Gelder für seine „wilde“, „regellose“ und „demoralisirende“ Hilfsthätigkeit eingesammelt hatten! Das hehre Amt der Presse, in Nothstandsfällen, die schnelle Hilfe fordern, den Nothschrei der Bedrängten nach allen Richtungen zu verbreiten, dem guten Willen der weit zerstreut wohnenden Menschenfreunde sich als Vermittler darzubieten, war hier in verletzendster Form in seinem Ansehen getrübt! Aber wie viel sprach doch auch für die Unberechtigtheit der Anschuldigung! Hatten nicht die berufensten und angesehensten Männer der Gegend einen Monat vorher selbst einen amtlichen Hilferuf unterschrieben? Da hieß es: selbst zuschauen und prüfen, der Wahrheit der Thatsachen festen Blickes auf die Spur zu gehen.

In frühen Jahren – auf meiner ersten Reise von Dresden ins Riesengebirge – bin ich auch zum ersten Male in Berührung mit dem schlesischen Weberelend gekommen. Der uns begleitende Lehrer wollte uns einen Begriff geben von der altehrwürdigsten aller Hausindustrien, die schon im Alterthum die gefeierten Königinnen der homerischen Heldensage geübt. Wir überraschten die blassen armen Leute bei ihrem Mittagessen. „Haben die fleißigen Weber nichts besseres zu essen als Mehlsuppe?“ frug ich erregt beim Verlassen der Hütte. – „Mehlsuppe oder Kartoffeln – einen Tag wie den andern.“ – „Nie Fleisch?“ – „Das mögen sie gar nicht.“ – „Sind die aber arm!“ – „Freilich – arm. Aber das war immer so. Das ist eben das Schicksal der Weber ...“

Heute bildeten Schriften und Aufsätze, die dem Ernst meiner Sendung entsprachen, meine Gesellschaft auf der Fahrt über Görlitz nach Glatz. Untersuchungen über die Ursachen der Webernoth, Vorschläge zu ihrer Bekämpfung, Rückblicke auf ihre Geschichte, das vortreffliche Buch von A. Zimmermann: „Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien“. Und seltsam – auch hier kehrte der Bescheid bei Besprechung der Verbesserungsversuche wieder: „Das war immer so; das ist eben das Schicksal der Weber!“

So oft seit dem Untergang der Blüthe des schlesischen Leinwandhandels durch die Kontinentalsperre die schon damals vorhandene Armuth der Handweber im Gebirge den Charakter eines akuten Nothstands annahm, tönte es vom Regierungstisch zurück: Das ist keine akute Erscheinung, die Noth ist eine chronische. „Sie war immer so – das ist eben das Schickal der Weber!“ So war schon 1793 das Ergebniß der Versuche des Ministers von Struensee, den Nothstand zu bekämpfen: die Resignation. Als 1819 die Einführung des mechanischen Webstuhls aufs neue einen akuten Nothstand erzeugte und die Nachricht davon die Aufmerksamkeit in Berlin erregte, da hatte der Regierungspräsident in Breslau nichts anderes zur Antwort, als die Ableugnung des akuten Nothstands, da derselbe chronisch sei – „das ist eben das Schicksal der Weber.“ 1844 war das Elend so arg, daß der Hungertyphus auftrat, selbst der saure Mehlkleister, den die Weber zum Anfeuchten des Garns als „Schlichte“ benutzen, wurde damals von Hungrigen aufgezehrt. Als Wohlthätigkeitsvereine entstanden, die schlesische Webernoth zum erstenmal in allen Blättern Deutschlands erörtert wurde und der König von Preußen aus eigenen Mitteln 10000 Thaler zum Hilfsfonds beisteuerte, war die Erklärung der Provinzialverwaltung: es sei auch jetzt nur der allbekannte unverbesserliche Nothstand; man müsse die Weber sich selbst überlassen und die Wohlthätigkeitsvereine unterdrücken – „das ist eben das Schicksal der Weber!“ In jenem Jahre, als der freiheitliche Zug der nationalen Entwickelung auch Luft und Licht in die Versumpfung des „chronischen Nothstands“ zu bringen begann, als der Geist, der in Frankfurt ein nationales Parlament erstehen ließ, welches die Grundrechte des deutschen Volkes berieth, selbst in die schlaffen Webergemüther im Eulengebirge fuhr, da begleitete Ferdinand Freiligrath die Bewegung mit jenem herzergreifenden Gedichte, das uns einen armen Weberjungen vorführt, der in seiner Verzweiflung den Schutzgeist des Riesengebirgs, Rübezahl, beschwört, daß er – der Freund der Armen und Bedrängten – den brotlosen Eltern helfe. Heute wissen wir, daß die Lage der Handweberei im Riesengebirge, in den Gegenden von Waldenburg und Schweidnitz, wo sich, belebt vom Eisenbahnverkehr und dem ergiebigen Steinkohlenbergbau, eine große Fabrikindustrie entwickelt hat, die von der schlichten, billigsten Leinenherstellung längst zu komplizierten Woll- und Baumwollwebereien übergegangen ist, ganz andere wirthschaftliche Bedingungen hat als die armseligen, weltabgeschiedenen Weberdörfer der Grafschaft Glatz, die mit ihren rastlos arbeitenden Webstühlen oft meilenweit von dem nächsten Industrieort, der ihnen Beschäftigung giebt, und von der nächsten Eisenbahnstation gelegen sind.

Auch längs der Bahn, die zwischen Dittersbach und Waldenburg abzweigt und, über Neurode, Glatz, Habelschwerdt, Mittelwalde führend, die Grafschaft in zwei Hälften theilt und mit Oesterreich bei Grulich verbindet, sieht man aller Orten nicht nur an neuen großen Fabrikanlagen, sondern auch am Aeußern vieler Privatwohnungen, daß hier in Wechselwirkung mit dem endlich seit zehn Jahren durch die Bahn vermittelten Verkehr sich ein Wohlstand entwickelt hat, welcher der ganzen Gegend mit ihren malerischen, zwischen Waldbergen eingebetteten Thälern und Mulden ein lebensfreudiges, farbiges, einladendes Gepräge giebt. Wer hier den mit Recht berühmten Quellenbädern der Landschaft entgegenfährt, den Sinn erfüllt von den Reizen ihrer geschützten Lage inmitten dichtbewachsener Waldberge, dem wird es kaum denkbar erscheinen, daß auf den halb aufgerodeten Abhängen und im Hinterland dieser Berge tausende von Menschen wohnen, die bei angestrengtestem Fleiß zu einem beständigen Kampf mit der drückendsten Noth verurtheilt sind. Die Hauptstadt Glatz, unser nächstes Reiseziel, mit den die Neisse beschattenden malerischen Resten ihrer einstigen Festungswerke macht gleichfalls keinen ärmlichen Eindruck. Von hier öffnet sich das Thal der Wilden Weistritz, in welches nunmehr meine Fahrt einlenkte, denn in ihm liegen außer den waldumhegten trefflichen Kurorten Reinerz und Cudowa abseiten der Straße all die Ortschaften, in denen das Weberelend diesen Winter, chronisch wie es schon ist, zum Theil jene außerordentliche Höhe erreicht haben sollte, über welche sich der merkwürdige unwürdige Wortstreit entsponnen hat, ob der Nothstand die Bezeichnung als „akuter“ verdiene oder, weil er „nur chronisch“ sei, keinen Anspruch auf die private Wohlthätigkeit habe.

Kolossale hochstämmige Forsten, meist königliches Dominium, haben im engeren Verlauf des Thales der um Glatz herum blühenden Landwirthschaft hier von alters her wenig Raum gelassen. Der Bergbau auf Eisenerz, einst um Reinerz mit Erfolg betrieben, hat seit Jahrhunderten keine Pflege mehr gefunden. Die riesigen Sandsteinflötze des Heuscheuergebirges – Millionen an Werth in herrlichstem Baumaterial – sind bis vor kurzem fast unberührt geblieben und ihre Verwerthung, zum Theil zu nichts geringerem als dem Ausbau des deutschen Reichstagsgebäudes bestimmt, hat erst seit Anfang des Jahres sich eines einigermaßen nahen

[273]

Der Zoologe.
Nach dem Gemälde von Fritz Werner.

[274] Verladungspunkts für den Eisenbahnversand zu erfreuen. Die seit Dezennien als nothwendig erkannte, seit zehn Jahren in Vorbereitung befindliche Bahn, die Glatz über Rückers, Reinerz, Lewin und Cudowa mit der böhmischen Grenzstadt Nachod verbinden soll, ist nämlich im Laufe der letzten vier Jahre glücklich bis zu ersterem Ort fertig gestellt worden und in Erwartung ihrer Fortsetzung hat die Industrie bereits in den genannten Städten einen bedeutenden Aufschwung genommen.

Nur eine Industrie, aber freilich gerade diejenige, welche bei weitem die Mehrzahl der Bewohner der Gegend beschäftigt, hat sich dieser belebenden Wirkung noch nicht zu erfreuen gehabt: eben die Handweberei. Sie ist gerade im letzten Jahre wieder bedeutend zurückgegangen, wie ich nicht nur aus dem Munde vieler armen Handweber selbst, sondern auch aus demjenigen verschiedener Garnausgeber, die ich Auge in Auge darüber befragte, sowie aus Rundschreiben und Erklärungen gerade solcher Größindustrieller gehört und ersehen habe, welche, wie sie sagen, in der Gegend „längst nur noch aus Mitleid“ haben arbeiten lassen, da die mechanische Herstellung ja viel billiger sei. Auch in den Protokollen der Nothstandskommissionen, die ich einsehen durfte, und von erfahrenen Orts- und Amtsvorstehern, die ich aufsuchte, fand ich diese Hauptursache der Noth bestätigt. Am besten unterrichtete mich über diese allgemeinen Verhältnisse aber der langjährige Bürgermeister von Reinerz, Herr Dengler. Nicht mündlich, denn heute steht derselbe auf dem die akute Hilfsbedürftigkeit ableugnenden Standpunkt, wohl aber durch eine Denkschrift über die Nothwendigkeit der Eisenbahnlinie „Glatz-Reinerz-Nachod“, die er auf Grund seiner damals schon siebenjährigen Erfahrung in seinem Amt bereits vor sieben Jahren geschrieben hat. In dieser wird von der Textilindustrie der Landschaft offen eingestanden, daß sie in fortwährendem Niedergange begriffen sei und ihre Lage von Jahr zu Jahr schlechter werde. „An eine Besserung ist nicht mehr zu denken und seit Elsaß-Lothringen unserem Vaterlande einverleibt ist, kann der hiesige Weber, der nur die gewöhnliche Arbeit gelernt hat, überhaupt nicht mehr aufkommen.“ Als auch die anderen Webergegenden der Grafschaft noch keine Eisenbahn besaßen, da sei auch in seinem Bezirke die Fabrikation baumwollener Waren und leinener Stoffe durchweg selbständig gewesen. Es konnten die Fabriken in Rückers und Gellenau z. B. mit Langenbielau, Reichenbach, Waldenburg konkurriren. Dort seien seitdem neue Färbereien, Druckereien, Bleichen, Appreturanstalten entstanden, hier seien sie eingegangen. Die damals selbständigen Fabrikanten und Geschäftsleute seien jetzt Agenten, Kommissionäre, „Garnausgeber“ geworden, die mit den Handwebern in den Dörfern als Mittelsleute verkehren. „Dem Fabrikanten ist es nicht zu verdenken, daß er für die näher wohnenden Weber besser sorgt, als für die entfernten, ihm nicht bekannten, die er durch einen Dritten beschäftigen läßt. Dabei aber giebt er die guten Garne den Arbeitern seiner Fabrik und die schlechten den Handwebern, weil die Maschinen schlechte Garne nicht leiden.“ Kurz, alles, was von Pastor Klein in seinem Aufruf in Nr. 10 der „Gartenlaube“ von den wirthschaftlichen Nothständen in den Weberdörfern um Reinerz behauptet und dem dann von anderer Seite in so bedenklicher Form entgegengetreten worden ist, hat der soeben nach fünfundzwanzigjährigem Stadtregiment zum drittenmale feierlich neu eingesetzte Bürgermeister von Reinerz schon vor sieben Jahren – nur auf Grund reicherer Erfahrung, eingehender und mit schärferen Ausdrücken – im Interesse der Gegend drucken lassen. Daß er jetzt, wie er mir selbst sagte, auf Seiten Derer steht, welche dem Pastor Klein vorwerfen, er habe übertriebene Berichte in die Welt gesandt, nimmt seinem in jener Denkschrift enthaltenen Gutachten gewiß nichts von seinem Werth. Wir können die Ursachen seiner veränderten Auffassung nicht angeben, doch dürften sie ähnliche gewesen sein, wie die, welche inzwischen drei Ortsvorsteher bewogen haben, ihre Unterschrift von der neulichen Erklärung zurückzuziehen. Wir halten uns an das, was er damals geschrieben: daß von Jahr zu Jahr immer größere Lohnabgänge erfolgen, daß die Weber kaum noch imstande sind, sich das Allernothwendigste zu beschaffen, daß, wenn Mißernte war, die dauernde Noth dann in potenzierter Form auftritt. „Wir sehen sie bei sirengen Wintern hier unter den armen Webern als ein schleichendes Gespenst herumziehen ... Eine Degeneration von Geschlecht zu Geschlecht ist bei den Webeen typisch geworden ... So geht es stetig bergab ... Die Zeit der Kretins wird bald gekommen sein und Exemplare solcher können in hiesiger Gegend schon nachgewiesen werden!“ ... Was ist denn aber die potenzierte Form der dauernden Noth anders als der akute Nothstand? Und nun gar in einem Winter, dem eine ganz außerordentlich schlechte Ernte vorausgegangen war, dessen ganz außerordentliche Kälte und Härte ungewöhnlich früh einsetzte und kein Ende nehmen wollte, in einem Winter, wo die Rückwirkung des allgemeinen Niedergangs der schlesischen Weberindustrie sich nirgends schärfer geltend machen mußte und geltend gemacht hat, als in diesen gottverlassenen Weberdörfern. Und solchen Zuständen gegenüber soll die Privatwohlthätigkeit entbehrlich und verderblich sein?

Trotz all dem Vielen, was ich in den letzten Monaten und jüngst erst über das Weberelend in diesen Bezirken gelesen, die Zustände, wie ich sie nun in Rückers, in den Ddrfern Goldbach, Hummelwitz, Ratschendorf, Friedersdorf. Johannisdorf bei Reinerz, um Lewin und Cudowa kennenlernte, so herzangreifend und jammervoll hatte ich sie mir doch nicht gedacht!

Schon die einsame Lage fast jeder einzelnen dieser Hütten, das kahle Heideland, dem die Väter dieser Web-Bauern das kleine, jetzt meist verschuldete Ackerstück abgewonnen, das die mit Hypotheken belastete Hütte umgiebt, die nur aus Lehm und Brettern gefügten, mit Schindeln bedeckten, stallähnlichen Hütten selbst, die mit ihren niedrigen Thüren, lichtlosen Eingängen, kleinen Fensterchen und hohen Dächern aussehen, als kauerten sie sich selbst zusammen vor den Stürmen, die hier den ganzen Winter lang über die Höhen brausen – welch kläglicher Eindruck! Ich hatte mir doch wenigstens richtige Dörfer mit Gassen vorgestellt, Dörfer mit Schulhaus und Pfarrhaus, mit einer Schänke, Arbeiter, die zwar zerlumpt gekleidet und schlecht genährt, doch auch auf ihre Weise ihren Sonntag haben und in Feierstunden bei einem Gläschen Schnaps das, was ihnen wohlthut, suchen – Vergessenheit ihrer Lage.

Doch diesen Arbeitern bringt das Leben keine Art solcher zerstreuenden Unterbrechung, sie hocken über Webstuhl und Spulrad von Sonnenaufgang bis zum späten Abend, bis ihnen unter der Petroleumlampe die immer müden Augen zufallen. Für die meisten ist der Schulbesuch der Kinder, weil mehrere der zerstreuten Ortschaften nur einen Lehrer haben, der Kirchgang zur Stadt, die Ablieferung der Arbeit ein bedeutender Verlust an Arbeitszeit und Verdienst; wenn es nicht sein muß, geht daher des Winters kaum jemand ins Freie, oft bildet auch die ganz unzulängliche Kleidung ein Hinderniß. Hier hat die Armuth alles aus dem Dasein gestrichen, was ihm sonst Schmuck und Weihe giebt. Nichts zeigte in den Webeerhütten, die ich am Gründonnerstag, am Charfreitag besuchte, einen Widerschein der kirchlichen Feste, obgleich kirchlicher Sinn und Frömmigkeit, wie ich überall merkte, kaum einem abgeht. Es wurde „gearbt“ und „gewebert“. In einer Hütte traf ich einen einsamen Greis, in die elendesten Lumpen gehüllt. Er fuhr bei unserm Eintritt von seinem Sitz in die Höhe. Auf dem alten zerbrochenen Spulrad, das vor ihm stand, war kein Faden mehr. Wie vom Tode noch einmal erwacht, stierte er aus seinen kaum sichtbaren, von entzündeten Lidern umschwollenen Augen auf uns.

Er hatte die Hände erhoben. Er meinte, seine Frau käme. „Hast Du neues bekommen?“ fragte er. Sie war mit dem von ihnen gespulten Garn weggegangen, um es abzuliefern. Als er seinen Irrthum erkannte, knickte er enttäuscht zusammen und fuhr sich verlegen über die weißen Stoppeln am Kinn. „Bringen Sie mir zum Spulen, gnädiger Herr?“ Weiter wollte er nichts von uns. Er war 76 Jahre alt. Und Arbeit war sein einzig Begehr – Arbeit und ein baldiger Tod. Alle Kinder waren ihm weggestorben, der letzte Webstuhl verkauft. So fristete er mit Spulen sein Dasein sammt seiner Frau, die gleich ihm während des Winters wochenlang „nischtnützig“, d. h. arbeitsunfähig, gewesen war.

Meist aber sind die Weberstuben überfüllt, denn die Weberfamilien sind kinderreich.

Jede dieser Hütten besteht aus zwei Theilen. Links die aus Lehm aufgemauerte Stube, der einzige Wohnraum; rechts ein verwetterter Bretterverschlag, der Stall. Dieser steht verlassen, jene hat aber oft keinen Platz für den neu eintretenden Gast. Auch die Ziege, die man der Kinder wegen nicht hat verkaufen mögen, zählt da und dort zu den Mitbewohnern der Stube und hat zwischen dem Ofen und dem Bett einen offenen Verschlag. Den Hauptraum beanspruchen die großen, bis zur Decke reichenden, oft sehr schadhaften Webstühle, die fast immer in Thätigkeit sind. [275] Alt und Jung löst sich ab; den gebrechlichen Großvater die heranwachsende Enkelin, das schulpflichtige Kind seine Mutter. Die Spulräder werden fast nur von ganz jungen oder ganz alten Familienmitgliedern besorgt. Oft ist kein Tisch, kein Stuhl im Raum, die Ofenbank muß beider Dienste thun und für die fehlenden Betten der Ofen selbst eintreten. Ich sah selten mehr als zwei Betten auch in Stuben, wo doch sechs, sieben Menschen jeden Alters zu nächtigen hatten. Ja, wo die Noth einmal seßhaft geworden, da wird bald die bloße Diele zum Lager, oft ohne Kissen und Decken. In diesem Winter, wo schon um Weihnachten vielfach die Kartoffelvorräthe, auch die für die Neusaat bestimmten, aufgezehrt waren und gerösteter Sommerhafer als Ersatz für die sonst doch übliche Cichorie dienen mußte, gab es hunderte von Weberhütten, in denen weder Betten, noch Schuhwerk, noch genügende Kleider zum Ausgehen vorhanden waren. Ich hörte von Kranken, die ungebettet und ungekleidet auf der Diele liegend gestorben. Herr Oberförster Beck auf Tscherbeney bei Cudowa versicherte mir, daß in seinem Bezirk auch gegenwärtig noch viele Kinder und Erwachsene der nöthigsten Kleidung ermangeln, nachdem das Liebeswerk des Pastors Klein doch auch hier die schreiendste Noth gelindert hat. Und doch sind diese Leute darauf angewiesen, ihr Garn vom Garnausgeber an entferntem Orte zu holen und das Gewebe auf verschneiten Wegen durch Sturm und Wetter hinzutragen, wo sie den sauren Lohn für ihre Arbeit empfangen.

Diese Hütten, nie gelüftet im Winter, bald überheizt, bald der Kälte preisgegeben, oft von Menschen überfüllt, mit verklebten Fenstern, faulendem Gebälk in Wand und Diele, mit allen Miasmen schlechter Ausdünstung, auch von Thieren, erfüllt, sind selbstverständlich wahre Brutstätten gesundheitsschädlicher Bacillen. Im Kern gesund ist von diesen Webern kaum einer, auch die jungen kräftigen Männer sind es nicht, die seit Erschließung der Steinbrüche sich an der dort verlangten schweren, aber auch bei weitem besser bezahlten Arbeit betheiligen können. Schwerhörigkeit, frühes Erblinden, Blödsinn, Mißwuchs der Arme und Hände wurden mir von berufener Seite als häufige Erscheinung bezeichnet, und mit Grausen traf ich auch Kretinismus wiederholt an. Sehr viele aber von denen, die ich sprach, hatten die äußeren Merkmale der Schwindsucht. Und selbst da, wo einmal die unverwüstliche Lebenslust der Jugend aus hellen Leichtsinnaugen mir entgegenlachte und das Geständniß der Zufriedenheit über die raschelnden Garnketten am Webstuhl mir entgegenklang, erkannte mein prüfender Blick, daß auch in diese junge Menschenblüthe der Keim zu späterem Siechthum gelegt war. Aber freilich, die Weberschwindsucht gehört auch nicht zum akuten, sondern zum chronischen Nothstand! In der Mehrzahl sich selbst überlassen, siechen die Einödweber unter den verderblichsten hygieinischen Bedingungen dahin. Brave Aerzte helfen ihnen gewiß in schweren Krankheitsfällen, wenn sie von ihnen erfahren; die Vortheile der Krankenkasse sind aber nur von den wenigsten zu erwerben, wie ihnen ja auch die Segnungen der sozialen Arbeiterschutz-Gesetzgebung zur Zeit nicht zu Gute kommen. Auch in dieser großen Hilfsaktion des Staats blieben diese Aermsten der Armen wieder einmal vergessen – vergessen in ihrem vergessenen Winkel ... „Das ist einmal das Schicksal der Weber!“

Es ist wohl kaum nöthig zu sagen, daß es in den kleinen Weberhäusern der großen Ortschaften an der Landstraße, vor allem in dem stattlichen Reinerz selbst, nicht ganz so trostlos aussieht. Verdient zwar auch hier ein guter Weber kaum mehr als 50 Pfennig täglich, also den dritten Theil von dem, was ein fiskalischer Straßensteinklopfer sich verdienen kann, so hat er doch viel leichter feste Beziehungen zu den Garnausgebern und Fabrikanten und braucht seine Zeit nicht zu verlaufen. Im Sommer aber geht ein großer Theil von ihnen auf andere Arbeit, die lohnender ist, wie auch die kräftigen unter den Webbauern der nach Habelschwerdt zu gelegenen Walddörfer im Sommer als Holzhauer ergiebigere Beschäftigung finden. Die Weber aber, für welche dieses Frühjahr die Folgen eines akuten Winternothstandes bringt, für welche gesammelt wurde, sind zu siech und schwach und willenlos, als daß man von ihnen andere Arbeit fordern, sie zu anderer Arbeit erziehen könnte. Ihnen kann nur durch unmittelbare Aufbesserung ihrer Lage, ihrer Wohnart, ihres kleinen Feldbaues im Sommer und vor allem ihres Gewerbes geholfen werden. Es ist kein Zweifel, daß diesmal die Regierung gewillt ist, dem dauernden Nothstand einen dauernden Abschluß zu geben. Es ist dabei nur zu bedauern, daß die Einführung der Jacquardweberei in diese Hütten vom Programm der Regierung gestrichen wurde. Jenseit der österreichischen Grenze hat man durch Errichtung der Webeschule in Nachod und Veredlung der Handweberei durch Ergänzung der Webstühle mit dem Jacquardschen Apparat ähnliche Noth dauernd beseitigt. Dies Beispiel sollte nicht übersehen werden.

Wie aber auch immer das chronische Weberelend in der Grafschaft Glatz von der Regierung gehoben werde: daß die Privatwohlthätigkeit in diesem Winter zur Linderung akuter Noth angerufen worden ist und wirksam eingegriffen hat, war dringend nöthig. Es wurde mir allerseits, wo nicht persönliche Verstimmung oder Rücksichten anderer Art dies hinderten, von Beamten und Bürgern jeder Art, vor allem aber von den Webern der Gegend selbst als eine Gutthat gepriesen, die namenloses Elend von den bedrängtesten Weberfamilien im Heuscheuer-, wie auch im Eulengebirge bei Neurode, abgehalten hat. Was aber die jetzt unterbrochene Gabenvertheilung durch Pastor Klein betrifft, so ist dieselbe als eine musterhaft geregelte zu bezeichnen; über jede Gabe ist Buch geführt worden und niemand erhielt etwas, dessen besondere Bedürftigkeit nicht vorher vom Ortsschulzen amtlich beglaubigt war.
Johannes Proelß. 
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Soweit unser Berichterstatter.

Was Herr Pfarrer Klein in Reinerz geschrieben, was die Erklärung von Amts- und Gemeindevorstehern in der Beilage zu Nr. 14 zu seiner Rechtfertigung gesagt, findet sich durch diese Schilderung in einer Weise bestätigt, die uns aufs neue mit tiefstem Mitleid mit dem Los jener Unglücklichen erfüllt.

Es kann nach diesen Beobachtungen unseres Berichterstatters kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß ohne die Thätigkeit des Pastors Klein und ohne die Unterstützung der Presse die Zustände unerträgliche geworden wären, daß sie auch heute noch unmittelbarer, nicht nur organisatorischer Hilfe bedürfen.

Wenn dennoch die opferfreudige, wohlerwogene und wohlgeregelte Privatwohlthätigkeit, wie in diesem Falle, gelähmt und aufgehalten wird, so ist es Pflicht der Presse, dagegen Verwahrung zu erheben. Es ist das Recht derselben, solchen Nothständen, die von elementaren Gewalten über ganze Menschengruppen verhängt werden, als stets bereites Organ der Hilfe zu dienen. Es ist das Recht des Menschenfreundes, der zuerst solchen Nothstand in seiner Bedeutung erkennt, diese Hilfe anzurufen. Es ist das Recht der Hilflosen, in solcher Noth sich an das Mitleid ihrer Volksgenossen zu wenden. Diese Rechte werden wir wahren – in diesem Falle wie immer. Das Bedauerliche aber bleibt, daß durch die geschilderten Angriffe und abschwächenden Darstellungen das Ergebniß der von der Presse angeregten Sammlungen nicht unwesentlich beeinträchtigt worden ist.

Fern hat es uns aber gelegen, mit unserem Hilferufe irgend einem einzelnen Stand, wie den vielfach selbst schwer bedrängten Garnausgebern, die Schuld an dem Elend der armen Weber aufzubürden. Dieses Unglück ist durch Ereignisse beeinflußt, für die einzelne nicht verantwortlich gemacht werden können. Wenn der Aufruf des Herrn Pastor Klein in dieser Hinsicht zu Mißverständnissen Anlaß gegeben hat, so wird dies weit aufgewogen durch die hochherzige Hilfsthätigkeit, welche dieser Mann den armen Webern gewidmet hat. Nach den Beobachtungen und Erkundigungen unseres Berichterstatters ist die Lage der Handweberei in Schlesien heutigen Tages so beschaffen, daß allerdings weder die Fabrikanten noch die Garnausgeber an der Arbeit der Hausindustrie reich werden können.

Die Forderung aber glauben wir zum Schlusse mit allem Nachdruck erheben zu dürfen, daß nun einmal alle Hebel angesetzt werden, um dem Nothstand, ob man ihn „akut“ oder „chronisch“ taufe, ein für allemal ein Ziel zu setzen. Was heißt überhaupt akute, was chronische Noth? Noth tut weh, und es kann den Hunger von heute nicht erträglicher machen, zu wissen, daß dieser Hunger auch gestern und vorgestern und vor einem Jahre, daß er immer vorhanden war. Nur eines ist imstande, den nagenden Schmerz zu lindern, das ist die Gewißheit: die Hilfe ist nahe! Und ausreichende Hilfe ist nach unserer Ueberzeugung nur möglich, wenn die Regierung es nicht verschmäht, Seite an Seite mit der Privatwohlthätigkrit vorzugehen. Die Redaktion.     




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Blätter und Blüthen.


Frühling im Spreewalde. (Zu dem Bilde S. 265.) Die Mark Brandenburg, „des heiligen römischen Reiches deutscher Nation Streusandbüchse“, hat seit jeher in Verruf gestanden, das denkbar möglichste in landschaftlicher Einförmigkeit zu leisten. Wer sich noch niemals an den geheimnißvollen Reizen der stillen märkischen Seen erquickt, nicht ein einziges Mal dem traulichen Murmeln und friedlichen Plätschern der dortigen, bedächtig dahinfließenden Gewässer gelauscht hat; wessen Fuß noch nie die stattlichen brandenburgischen Buchenwälder betrat: der freilich vermag unbedacht in ein solch absprechendes Urtheil einzustimmen. Wie anders würde er reden, wenn er Land und Leute jener Provinz aus eigener Anschauung kennen lernte! Das ist nun aber nicht jedermann möglich, und so müssen wir dem Maler O. Piltz dankbar sein, daß er mit seinem Künstlerstifte in dem Frühlingsbilde aus dem Spreewalde ein Stück märkischer Erde aufs Papier bannte und weiten Kreisen zur Betrachtung darbot.

Der Spreewald, einige Meilen in fast südlicher Richtung von der Reichshauptstadt, nicht weit von der reichen Tuchmacherstadt Kottbus gelegen, ist sowohl in landschaftlicher wie in völkerkundlicher Hinsicht von hervorragender Eigenart. Mit wohl dreihundert Armen durchschneidet die Spree dieses Stücklein Erde, so daß wie in Venedig und vielfach in Holland das Wasser die einzige Verbindungsbahn zwischen Gehöften und Dörfern abgiebt. Von der Wiege bis zur Bahre ist darum der Kahn des Spreewäldlers stets hilfsbereiter Gefährte. Der Nachen führt ihn zur Taufe wie zur Trauung und schließlich, nach des ärmlichen Lebens Mühen und Sorgen, zum stillen Frieden des Grabes. Der Name „Spreewald“ für jene Gegend könnte heutigen Tages freilich angefochten werden; er entstammt einer Zeit, die allerdings erst kaum ein halbes Jahrhundert hinter uns liegt, – jener Zeit, in der die Waldungen zwischen dem vielmaschigen Spreenetze noch nicht wie jetzt gelichtet und zum Theil abgeholzt waren, sondern als geheimnißvoller Urwald wildem Gethier sichere Zufluchtsstätten boten. Aber der verbliebene Rest jenes Waldes ist trotzdem noch von malerischer Schönheit, besonders zur Zeit, wenn linde Lüfte in Wald und Wiese neues Leben wecken und die Mensch aus ihren strohbedachten, grün umrankten Blockhäusern an den warmen Sonnenschein hervorlocken.

Ein Frühlingsidyll auch ist es, das unser Künstler im Spreewalde belauscht hat. Die junge Mutter auf der Schnitzbank, der das Mutterglück aus dem Gesichte strahlt, stellt ihren zum Besuche gekommenen beiden jüngeren Schwestern deren erste Nichte vor. An dem zutraulichen Gebahren der Kleinen ergötzen sie sich allesammt, besonders auch der Großvater, der in heller Freude über die kluge Enkelin vielleicht gar noch die von ihm unzertrennliche Tabakspfeife erkalten lassen wird. – W. M.-M.     

Kriegsrath bei Friedrich dem Großen. (Zu dem Bilde S. 269.) Man giebt sich wohl gern der Anschauung hin, daß Friedrich der Große, dieser Meister der Strategie, wie es deren wenige in der Geschichte und keinen zweiten unter seinen Zeitgenossen gab, seine Kriegs- und Schlachtenpläne ganz allein entworfen hätte, daß sie als fertige Befehle an seine Generale ergangen wären. Dem ist nicht so; der König hielt sich nicht für zu gut, die Meinung anderer zu hören.

Unser Bild stellt uns einen Kriegsrath bei Friedrich dem Großen dar. Es handelt sich offenbar um den allgemeinen Entwurf eines Feldzugsplanes und der König hört mit ruhiger Aufmerksamteit den Vorschlägen des Grafen Schwerin zu, der, mit dem Zeigefinger der Linken auf die Karte weisend, seine Ansichten entwickelt. Auch die übrigen Generale horchen mit Aufmerksamkeit den Auseinandersetzungen des Redners zu und es scheint, daß sie im großen und ganzen einleuchtend finden, was er vorträgt. Wir erkennen links, in den Sessel zurückgelehnt, die charakteristische Gestalt des alten Ziethen, an dessen rechter Seite Feldmarschall Keith sitzt. Zur Linken von Ziethen folgen der berühmte Reiterführer Seydlitz und, im Hintergrunde, der Prinz Ferdinand von Braunschweig. Unter den übrigen müssen wir noch die markige Gestalt des Generals Winterfeld erwähnen, der, mit dem Rücken gegen das Fenster stehend, sich mit der Linken auf ein zierliches Rokokotischchen stützt.

Wenn Friedrich von einem seiner Generale einen Widerspruch erfuhr, so konnte er wohl grimmig aufbrausen, aber er ließ sich ebenso leicht durch den Erfolg wieder versöhnen. Als beim Beginn der Schlacht von Zorndorf gegen die Russen der preußische linke Flügel in arge Bedrängniß gerieth, da sandte der König an Seydlitz den Befehl, mit seiner Kavallerie vorzurücken. Aber Seydlitz hielt den Augenblick noch nicht für gekommen, er wartete ruhig zu. Der König wurde ungeduldig und ließ dem General sagen, er werde nach der Schlacht mit seinem Kopfe Rechenschaft zu geben haben. Seydlitz aber blieb und ließ zurückmelden: „Nach der Schlacht steht dem König mein Kopf zu Diensten!“ Endlich schien ihm der richtige Augenblick da und er brach mit seinen Schwadronen los; rasch hatte er die feindliche Kavallerie, gleich darauf die Infanterie geworfen, um dann auch dem rechten preußischen Flügel Hilfe zu bringen. Am Abend nach der Schlacht aber, als Seydlitz in des Königs Zelt trat, umarmte ihn dieser und sagte: „Auch diesen Sieg habe ich Ihm zu danken.“ Die anfängliche Unbotmäßigkeit seines treuen Generals hatte er ganz vergessen.

Türkische Sängerin. (Zu dem Bilde S. 261.) Das farbenreiche Leben des Orients hat den Malern immer einen dankbaren Stoff für ihren Pinsel geboten, und gerade F. M. Bredt hat sich in zahlreichen Gemälden als einen ausgezeichneten Kenner und Darsteller desselben erwiesen. Unser heutiges Bildchen stellt eine türkische Sängerin dar, wie man sie in der Hauptstadt am Bosporus vielfach trifft. Sie vertritt dort etwa die Stelle des Bänkelsängers oder Drehorgelmanns, oder besser der Gesangskünstlerin dritten Grads, die sich bei uns in den Wirthschaften oder bei öffentlichen Volksbelustigungen hören läßt. In den Kaffeehäusern oder auch in den Privatwohnungen trägt sie mit singendem Tone Märchen vor oder spielt zum Tanze auf, – ja manchmal vereinigt sie beide Künste in ihrer Person und tanzt selbst etwas vor zu den schlichten Weisen ihrer zweisaitigen Guitarre.

„Bunte Blüthen“ von Rudolf von Gottschall. Nicht bloß der Litterarhistoriker, auch der Dichter Gottschall ist unsern Lesern eine vertraute Erscheinung. Sie alle kennen seine formschönen, stimmungsvollen, von edlem Gedankengehalt getragenen Gedichte, kennen seine Kunst, die Erscheinungen der Natur und der Geschichte poetisch zu verarbeiten. Nun hat Gottschall wieder eine Reihe seiner Schöpfungen zu einem kleinen Bändchen zusammengestellt, das unter dem Titel „Bunte Blüthen“ im Verlage der Schlesischen Buchdruckerei, Kunst- und Verlagsanstalt, vormals S. Schottländer in Breslau erschienen ist. Die ganze Vielseitigkeit des Dichters, sein ganzer Reichthum an Tönen und Farben prägt sich in dieser Sammlung aus. Da finden wir das hingehauchte leise klingende Lied, die rauschende Ballade, das philosophirende Stimmungsbild, das schwungvolle und sinnreiche Gelegenheitsgedicht, das stille Ergebniß des Herzens, die träumenden Phantasien der Seele, das Ereigniß des Tages und die Entscheidungen der Weltgeschichte, alles fügt sich dem Geiste des Dichters, daß es, von ihm gestaltet, hinaustrete in die Welt, sie zu erfreuen und zu erheben.

Der Zoologe. (Zu dem Bilde S. 273.) In diesem trefflichen, nach dem Leben entworfenen Bilde werden wir in die geheimen Räume eines zoologischen Museums eingeführt. Der „Zoologe“, der mitten unter allerlei Sammlungen steht, führt in der Regel den Titel „Konservator“ und hat die schwierige Aufgabe, die neu eingegangenen Sendungen einzuordnen und sie in den Stand zu versetzen, in dem sie das Auge des Besuchers erfreuen. Forscher aus allen Welttheilen bereichern das Museum durch ihre Zusendungen, und da wird der Konservator oft vor die schwierigsten Aufgaben gestellt; die Freude über die werthvollen Eingänge wird alsdann durch Sorge getrübt, und besorgt ist gewiß der Herr Konservator auf unserem Bilde. Aber die Sorge wird nicht lange dauern; nach und nach wird der Wirrwarr sich lichten und der Konservator zufrieden lächeln, wenn die Thiere und Vögel, Reptile und Fische ferner Länder ausgestopft, präparirt und etikettirt in die lange Reihe der Museumsschätze einrücken.

Der Künstler, welcher unser Bild geschaffen hat, der 1828 zu Berlin geborene und auch heute dort ansässige Maler Fritz Werner, ist nicht zu verwechseln mit dem Historienmaler Anton von Werner; erst Kupferstecher, hat er sich erst im reiferen Alter, mit fünfunddreißig Jahren, der Malerei zugewandt und sich zunächst unter dem Einfluß Adolf Menzels, dann aber hauptsächlich unter dem seines Freundes und Lehrers Meissonier jene Kunst der feinen Charakteristik, der sorgfältigsten Beobachtung des Lebens angeeignet, welche wir auch in unserem Bilde wiedererkennen.

Die „Fornarina“. (Zu unserer Kunstbeilage.) Das Bildniß einer schönen Frau, welches wir in unserer heutigen Kunstbeilage den Lesern vorführen, galt nach alter Ueberlieferung als ein Werk Rafael Santis aus Urbillo und war auf dessen Geliebte, die schöne römische Bäderstochter, die „Fornarina“ getauft. Eines der schönsten Kleinodien unter den reichen Kunstschätzen von Florenz, fesselt es noch heute die Besucher der Arnostadt durch seine wunderbare Anumth, ist aber auch merkwürdig durch einen eigentümlichen Streit der Kunstgelehrten, der sich daran knüpfte.

Es hat nämlich mit unserem Bilde eine eigene Bewandtniß. Als ein Werk Rafaels galt es schon im 16. Jahrhundert, aber es führt in den ältesten Verzeichnissen nur den einfachen Titel „una donna“, d. h. eine Dame. Erst im 18. Jahrhundert wurde dieser „Donna“ der Name der „Fornarina“ beigelegt, ohne daß sich, wie es scheint, diese bestimmte Namengebung mit zwingenden Gründen belegen ließe. Man nahm eben an, daß eine schöne von Rafael gemalte Frau niemand anders als seine Geliebte sein könne. Und neuerdings endlich haben die Kunstgelehrten gar das ganze Werk dem Rafael selbst abgesprochen und es einem Zeitgenossen und Nebenbuhler des großen Urbinaten, dem Sebastiano del Piombo, einem engen Freunde Michelangelos, zugeschrieben.

Wie dem auch sein mag, jedenfalls haben wir in unserem Bilde ein Meisterwerk aus der Blütezeit der italienischen Malerei vor uns, wohl werth der Bewunderung, die ihm gezollt wird.



manicula Hierzu Kunstbeilage V: Die „Fornarina“.

Inhalt: Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg (15. Fortsetzung). S. 261. – Türkische Sängerin. Bild S. 261. – Originalgestalten der heimischen Vogelwelt. Thiercharackterzeichnungen von Adolf und Karl Müller. 4. Deutsche Hinterwäldler b. Der Auerhahn. S. 264. Mit Abbildung S. 267. – Frühling im Spreewalde. Bild S. 265. – Truggeister. Roman von Anton von Perfall (Schluß). S. 267 – Kriegsrath bei Friedrich dem Großen. Bild S. 269. – Bei den darbenden Webern im Glatzer Gebirg. Von Johannes Preetß. S. 271. – Der Zoologe. Bild S. 273. – Blätter und Blüthen: Frühling im Spreewalde. S. 276. (Zu dem Bilde S. 265.) – Kriegsrath bei Friedrich dem Großen. S. 276. (Zu dem Bilde S. 269.) – Türkische Sängerin. S. 276. (Zu dem Bilde S. 261.) – „Bunte Blüthen“ von Rudolf von Gotschall. S. 276. – Der Zoologe S. 276. (Zu dem Bilde S. 279.) – Die „Fornarina“. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 276.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.