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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[37]

No. 3.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


 

Lore von Tollen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
(Fortsetzung.) Roman von W. Heimburg.


Die Majorin hörte nicht, was Lore sprach; sie war wie abwesend. „So gar kein Glück, so gar kein Glück!“ flüsterte sie; „o mein Gott, was habe ich für ein Leben gehabt! Nichts wie Sorge, nichts wie Arbeit und Kampf um das bißchen traurige Dasein! Wie schwer seid Ihr mir geworden, und was ist der Dank dafür?“

„Mama!“ schrie Lore auf. Sie hatte die geduldige Frau nie so sprechen gehört, es schnitt ihr ins tiefste Herz. „Mama, rede nicht so, ich will ja alles thun für Dich – Du sollst nicht so etwas sagen, ich habe Dich so lieb –“

„Ja Du, Du! Aber was soll denn aus Euch werden? Keine Nacht schlafe ich vor Kummer bei dem Gedanken, was werden soll, wenn Euer Vater stirbt. Ach Gott, der Vater, er überlebt es nicht, Lore; er darf es nicht wissen.“

In diesem Augenblick gellte die Klingel der Hausthür von unten herauf und ein lustiges Pfeifen erscholl, dann Käthes Stimme:

„Nun, Rudi, wie war’s denn im Sommertheater?“

„Lauf’ hinunter,“ sagte Frau von Tollen, „er soll zu mir heraufkommen, ehe er zu Papa geht.“

Das junge Mädchen that, wie ihr geheißen. Der Bruder neckte sich in der Eßstube mit seiner kleinen Schwester; er hatte ihre beiden schlanken Hände in die seinen genommen. „Kniee nieder,“ befahl er scherzend.

„Ich will aber nicht!“ schrie Käthe; „Du sollst mich loslassen, Rudi! – Du hast mit Adalbert Becker Freundschaft geschlossen und deshalb kann ich Dich nicht mehr leiden –“

„Du bist ein Gänschen,“ sagte er; „Adalbert Becker ist so übel nicht.“

„Rudolf, Mama will Dich sprechen, ehe Du zu Vater gehst,“ fiel Lore ein mit klangloser Stimme. Sie stand wie ein Wachsbild in dem Zimmer.

„Nanu?“ fragte er gedehnt und runzelte die Stirn.

„Helenens Bräutigam hat alles geschrieben,“ sagte sie.

Er pfiff leise vor sich hin. „Aha! Weiß etwa Papa schon?“

„O nein!“ erwiderte Lore bitter.

„Wo ist denn Mama?“

„In meiner Stube.“

„Also vorwärts mit frischem Muth!“ sagte er ironisch und ging aus der Thür. –

„Was giebt’s denn?“ fragte Käthe.

„Nichts!“ erwiderte Lore.

„Doktor Schönberg hat heute in der Litteratur von Deinem Lieblingsdichter geschwärmt, Lore; Du weißt, Mörike. Er hat etwas von ihm vorgelesen. Er liest doch wundervoll, Du hättest ihn hören sollen, wie das aus seinem Munde klang:

‚Ein Schifflein auf der Donau schwamm,
Drin saßen Braut und Bräutigam.‘“

Der Vorläufer. Nach dem Oelgemälde von H. Bever.

[38] „Braut und Bräutigam,“ wiederholte Lore und ging vom Fenster zu dem baufälligen Kachelofen in dessen Röhre ein Wasserkessel summte.

„Du bist so so roth geworden, Lore?“

„So? Bin ich’s? – Hat Papa nicht eben gerufen? Bitte, sieh doch nach.“

„Sieh Du doch nach,“ schmollte Käthe, „Papa ist so sehr schlechter Laune, ich habe sie schon zur Genüge genossen heute abend.“

In diesem Augenblick trat der Bruder wieder ein, er sah ärgerlich aus und forderte seine Mütze, die er nicht finden konnte.

„Willst Du ausgehen?“ fragte Lore.

„Ich habe mich noch mit Becker verabredet.“

„Ich glaube aber, Papa hatte gehofft, Du würdest heute wenigstens bei ihm bleiben?“

Er antwortete nicht und ging suchend aus dem Zimmer; im Flur schien er die Mütze gefunden zu haben, denn er verließ gleich darauf das Haus.

„Lore,“ sagte Käthe, „weißt Du, die haben ein Souper mit den Schauspielerinnen.“

„Schweig doch!“ erwiderte Lore.

„Ich weiß es von der alten Dierks, die hat die Einladungen ausrichten und den Champagner kalt stellen müssen, die Blonde wohnt ja bei ihr.“

„Schweig!“ wiederholte Lore dunkelroth, „es sind das gar keine Sachen, die uns interessiren könnten.“

„Vielleicht mich nicht, aber – Dich.“

„Schäme Dich, Käthe!“

„Warum soll sich denn Rudi nicht amüsiren?“

„Aber, Käthe, ich bitte Dich!“

„Es ist so gräßlich langweilig bei uns, Lore, ich verdenk’s ihm gar nicht, wenn – er nur nicht gerade mit Adalbert Becker –“

„Aber jetzt zum letzten Male, was geht uns das an, Käthe?“ rief Lore empört.

„Vielleicht geht’s uns doch an, Lore.“

Das junge Mädchen kam herüber und blieb vor der schönen schlanken Schwester stehen.

„Lore,“ sagte sie mit sprühenden Augen, „wenn er es wagen sollte, so gieb ihm eine Ohrfeige!“

Wer denn? Was denn?“

„Wenn Adalbert Becker Dich heirathen will, dieser Mensch –“

Lore lächelte plötzlich. „Sei ganz ruhig, Käthe.“

„Ich habe Angst für Dich, Lore, er ist so zudringlich und er ist in Dich verliebt, fürchterlich verliebt.“

„Ich bitte Dich, Käthe, schweig endlich. Thue mir den Gefallen und gehe zu Papa, ja Kleine? Ich habe noch mit Mama zu sprechen.“

Käthe lief, diesmal wirklich gehorsam, aus dem Zimmer. Lore folgte ihr langsam. Da tönte von oben die Stimme des Majors: „Bekümmert sich denn niemand von Euch um Eure Mutter?“

Lore flog die Treppe empor. „Was ist’s mit Mama?“ rief sie angstvoll.

„Was es ist?“ donnerte der alte Herr, „krank ist sie, ihre alten Nervengeschichten hat sie! Hol der Teufel die ganze Wirthschaft im Hause!“

Krachend flog die Thür ins Schloß, während die Töchter nach dem kleinen Schlafstübchen der Mutter eilten und sich um die Kranke zu schaffen machten, die eisigkalt und zitternd auf dem Bette lag und leise stöhnte.

„Aengstigt Euch nicht,“ flüsterte sie, während ein Frost sie schüttelte, „ängstigt Euch nicht, gute Kinder, es geht gleich vorüber.“ Aber Lore saß die ganze Nacht bei ihr und streichelte die Hände der Leidenden, sie kannte ja die Ursache der Krankheit.

Gegen Morgen fuhr sie aus einem leichten Schlummer auf, sie hörte Schritte auf der Treppe, unsichere schwere Schritte. Leise erhob sie sich und öffnete ein wenig die Thür – in dem grauen Morgenlichte erkannte sie den Bruder; er hatte die Mütze schief auf dem Kopfe und sah eigenthümlich blaß aus, und als er über die Schwelle seines Zimmers trat, stolperte er und hielt sich schwankend an dem Pfosten.

Lore wandte sich in das Krankenzimmer zurück mit einem Ausdruck von Ekel auf ihrem Gesichte. Sie wickelte sich fröstelnd in ein Tuch und legte, auf dem Fußbänkchen am Bette der Kranken sitzend, ihren Kopf auf das Kissen der Mutter; sie erwachte erst, als eine heiße Hand sie streifte.

„Du müßtest Dich wohl um die Wirthschaft kümmern, Lorchen,“ schalt die müde Stimme, „wenn ich mich zu Mittag besser fühle, werde ich aufstehen; armes Ding, Du bist gewiß sehr müde?“




Im Beckerschen Hause, das inmitten eines weiten im englischen Stil gehaltenen Gartens lag, begann eben das längst besprochene Fest. Das ganze Parterre der Villa, die in ihrem modernen Ungeschmack einem weißen Würfel glich, war glänzend erleuchtet, der Diener, Kutscher und Gärtner staken in Livree, die nach der Schneiderwerkstatt roch, so neu war sie, und außerdem figurirten die beiden bekannten Lohndiener des Städtchens, als die gewandtesten von allen.

Eben waren die ersten Gäste eingetroffen; seidene Schleppen rauschten durch das teppichbelegte Vestibül nach dem Zimmer, wo die Damen ihre Mäntel abzulegen hatten, und nach einem Weilchen rauschten dieselben Schleppen, anderen Platz machend, in den violett dekorirten Salon der Frau Elfriede Becker, die in bordeauxrother Moireerobe, auf dem stark gefärbten Haar echte Spitzenbarben, von Brillantnadeln fest gehalten, ihre Gäste mit einem Schwall von liebenswürdigen Worten empfing. Ihre Stimme hatte etwas Lautes, Kreischendes, sie war sehr korpulent, von rother Gesichtsfarbe und ihre kleinen dunkeln Augen fuhren blitzgeschwind über die Toiletten der Eintretenden, es sah aus, als kontrollire sie, ob man auch ein festliches Kleid angelegt habe und somit die Ehre ihrer Einladung gebührend zu würdigen wisse.

Herr Adalbert Becker unterstützte seine Mutter mit mehr Gewandtheit, als diese zeigte; er führte die älteren Damen zu den Sofaplätzen unter das lebensgroße Porträt der Frau Elfriede, geleitete die jüngeren in das im Rokokostil gehaltene Boudoir der Mama, klopfte den Herren auf die Schulter und rieb sich, im vertraulichen Geflüster mit verschiedenen jungen Dragoneroffizieren die von X. herübergekommen waren, das Fest zu verherrlichen, die Hände, lachte laut über seine eignen Witze, warf plötzlich das Monocle aus dem Auge und stürzte auf die Thür zu, in welcher soeben Fräulein Melitta von Tollen erschien, hinter ihr Lore.

Frau von Tollen war noch immer leidend; sie hatte ihre Schwägerin bitten müssen, Lore auf dieses Fest zu führen. Das Flehen des jungen Mädchens, sie doch zu Hause zu lassen, war vergeblich gewesen, sie hatte sich seufzend gefügt. Tante Melitta in penseeseidener Robe etwas sehr unmoderner Art, mit einem ebenso unmodernen Spitzenshawl um die mageren Schultern, die Haube mit einem Bouquet Stiefmütterchen verziert, knixte nach allen Seiten und begrüßte ihre „liebe Nachbarin“ mit einer Freundlichkeit ohne gleichen, die dennoch eines Beigeschmacks von Herablassung nicht entbehrte. Lore begnügte sich mit einer graziösen stummen Verbeugung vor der Dame des Hauses.

„Mein liebes Fräulein von Tollen,“ kreischte Frau Becker über das ganze Zimmer hinweg, „wie bedaure ich, daß Ihre Frau Mama unwohl, wie lieb von Ihnen, daß Sie dennoch gekommen sind! – Adalbert! Adalbert! Du hattest doch – Du weißt –“

Der große blonde Mann drängte sich eben wieder durch all die Menschen, die da plaudernd umherstanden, und überreichte Lore einen prachtvollen Strauß aus weißen und rothen Rosen. „Erlauben Sie mir, mein gnädiges Fräulein, und gestatten Sie zu gleicher Zeit die Bitte um den Kotillon.“

Aller Augen richteten sich auf diesen Vorgang.

Lores Kopfhaltung wurde in diesem Moment geradezu hochmüthig. „Ich bedaure sehr, Herr Becker, ich kann selbstredend nicht bis zum Schluß des Festes hier bleiben – Mamas wegen.“ Sie umklammerte dabei mit beiden Händen den einfachen Holzfächer, auf dessen obersten Stab Käthe das Tollensche Wappen gemalt hatte, und wandte sich ab.

„Aber doch die Blumen, mein gnädiges Fräulein,“ bat er, „was haben Ihnen die armen Blumen gethan?“

Er hielt ihr mit lächelnder Miene den Strauß entgegen und seine Augen sahen von unten herauf bittend in die ihrigen.

Lore ward roth. Sie hatte ein erneutes. „Ich danke!“ auf der Zunge, da fühlte sie, wie ihr Bruder leise mahnend ihren Arm drückte.

Er hatte wohl recht; sie stand im Begriff, unartig zu sein dem Manne gegenüber, dessen Gastfreundschaft sie eben, wenn auch widerwillig, in Anspruch nahm.

Zögernd griff sie nach den Blumen.

[39] „Ich habe den Vorzug, Sie zu Tische zu führen?“

Sie neigte leicht bejahend das schöne Haupt und trat in das Rokokoboudoir. Das Gespräch der jungen Damen, die dort mit ihren Theetassen saßen, verstummte, als sie mit dem riesigen Bouquet erschien, das in seiner übereleganten Ausführung seltsam abstach gegen die auffallend einfache Toilette des Mädchens. Sie trug ein weißes Mullkleid, das bis zum Hals hinauf geschlossen war und nur matt den schönen Nacken durchscheinen ließ, einen Gürtel aus rosa Faille, der in einer breiten Schärpe endigte, und eine einzelne Rose im Haar. Es war ein Kleid, das alle Menschen, die die Westenberger Gesellschaften besuchten, genau kennen mußten. Lore pflegte es stets zu tragen. Sie wusch und plättete es eigenhändig und band entweder ein rothes oder blaues Band dazu um, und in diesem Fähnchen trat sie in so vornehmer Haltung auf, als trage sie eine Toilette von Gerson, die aus den kostbarsten Stoffen zusammengesetzt sei.

Sie grüßte freundlich und wandte sich zu einer kleinen brünetten Frau, die in ihrem Brautkleide zwischen all den jungen Mädchen saß, sie hatte vor einigen Wochen aus dem fröhlichen Kreise geheirathet und war Gegenstand allgemeinen Interesses.

„Glücklich zurückgekehrt, Marie?“ fragte Lore.

„Wie Du siehst,“ war die schalkhafte Antwort, „und Du wirst nun wohl die nächste sein, Lore. Sage Deinem Gebieter nur gleich von vornherein, daß er mit Dir bis Neapel hinunter geht; ich hatte vergessen, es vorher auszumachen, und bin nicht weiter gekommen als bis Rom. Wenn Du erst seine Frau bist, hast Du nichts mehr zu sagen.“

Die andern lachten oder zuckten die Schultern und flüsterten mit einander. Lore sah ihre Freundin verwundert an. „Marie,“ sagte sie scherzend, „Du phantasierst doch nicht?“

„Und die schönen Rosen?“ bemerkte die junge Frau.

„Sie sind in der That schön,“ gab Lore zu „es ist schade, sie in der Hand verwelken zu lassen.“ Und mit diesen Worten stellte sie den Strauß in eine der Vasen auf dem Kamin.

Rudolf von Tollen war indeß geschäftig, als sei er der Sohn des Hauses. Er ging eben mit Adalbert Becker Arm in Arm durch das Boudoir und verschwand hinter dem Vorhang der Thür, der zum Speisesaal führte. Lore sah ihnen mit verwunderten Blicken nach.

„Sieh mal, Lore,“ sagte die junge Frau, „sie gehen dahin wie ein paar Brüder – das war doch früher nicht? Weißt Du nicht zufällig, wie das kommt?“

Lore von Tollen wandte sich um. „Nein, Du siehst mich selbst erstaunt,“ erwiderte sie.

„Und wer viel Heu im Stalle hat, dem wird die Kuh nicht mager,
Und wer ’ne schöne Schwester hat, der kriegt bald einen Schwager,“

citirte der kleine Uebermuth im Brautkleid.

Ueber Lores stolzes Gesicht glitt ein unmuthiger Zug. „Ich bitte Dich recht ernstlich, Marie –“

„Ich kann doch nichts dafür!“ schmollte diese.

Indessen half Rudolf von Tollen Tischplätze aussuchen. „Du willst also neben meiner Schwester sitzen?“ fragte er und legte eine riesige blumenverzierte Karte mit Lores Namen auf irgend einen Teller.

„Ich habe die Ehre, Deine Schwester zu führen.“

„Schön! Ich wünsche Dir besten Erfolg,“ sagte der Lieutenant.

„Sie hat etwas gegen mich, ich weiß es,“ gab Becker zu, „indessen –“

„Ah, bah! Mädchenlaunen!“

„Nichts Ernstliches?“ forschte der junge Mann, „auf Ehre nicht?“

„Was sollte denn das sein? Ich wiederhole Dir – Mädchenlaunen. Das ostentative Bouquet konntest Du Dir übrigens sparen, oder denkst Du, die Mädel sind alle über einen Kamm geschoren? Du hast doch nicht die kleine Schauspielerin vor Dir! Damit kommst Du bei Lore nicht an.“

„Das konntest Du mir vorher sagen, mein Bester.“

„Na, es wird ja den Kopf nicht kosten. A propos, morgen möchte ich das Geld abschicken, Adalbert, wenigstens soviel, daß ich den verd… Löwenstein los werde. Der Kerl tritt mich auf die schnödeste Weise; das andere, die Hauptsache, hat ja noch etwas Zeit.“

Adalbert Becker ließ das Monocle aus dem Auge fallen. „Heute noch? Diese Nacht noch?“ sagte er gedehnt. „Ehrlich gestanden, das paßt mir nicht; komme morgen früh her, Tollen.“

„Aber bitte, halte es bereit!“

„Nu, aber sicher – versteht sich – das heißt – – na ja, es wird wohl gehen.“

Der Hausherr schritt nach diesen Worten noch einmal um die Tafel und verschwand dann sehr rasch in das Gesellschaftszimmer. Er begrüßte dort noch einige Bekannte und bot Fräulein Melitta von Tollen den Arm; im Nebensaale begann die Polonaise und alles begab sich dorthin. Der Lieutenant von Tollen kam bei den Klängen eilig durch die jetzt leeren Zimmer zurück, es schien keine Dame für ihn übrig geblieben; oder doch? In dem Boudoir bewegte sich ein Schatten. – Er trat eilig ein.

„Lore?“ fragte er verwundert und enttäuscht.

Sie saß in einem der kleinen Sessel und blätterte in einem Album. „Ich tanze heute nicht,“ sagte sie.

„Du tanzest nicht? Du wirst immer unbegreiflicher! Erst verdirbst Du Beckers die Theateraufführung, und nun spielst Du Dich auf als die Unnahbare? Albern!“

Die Polonaise ging jetzt in einen Walzer über, die älteren Herrschaften kamen in den Saal zurück und Adalbert Becker trat mit tiefer Verbeugung vor das junge Mädchen. „Den Walzer, gnädiges Fräulein – bitte, den Walzer!“ sagte er süß lächelnd, indem er die großen, mit weißen Glacés bekleideten Hände gegen einander legte.

„Ich danke sehr! Ich tanze nicht heute abend. Ich habe soeben erst dem Lieutenant von S. einen Tanz abgeschlagen.“

Das starke rothe Gesicht des jungen Mannes ward blaß, er verbeugte sich und ging ohne ein Wort des Bedauerns.

„Albernes Benehmen!“ wiederholte Lores Bruder und entfernte sich achselzuckend.

Sie sah ihm aufathmend nach und trat ins Fenster hinter die seidenen blumengestickten Gardinen. – Wenn nur der Vorbau der Veranda nicht wäre, dann könnte sie die Giebelfensterchen schimmern sehen; sie wußte, er würde dort stehen und herüberschauen. – Was wollten sie denn nur alle von ihr? Sie war gehorsam hier erschienen, aber das hatte sie nicht versprochen, sich von einem fremden Mann umfassen zu lassen und mit ihm im Tanze dahin zu fliegen, das Recht hatte nur noch Einer, ein Einziger. – Sie preßte die Stirn an das Glas und strengte die Augen an, um durch das Gewirr der Zweige womöglich die Umrisse des kleinen Hauses jenseit der Landstraße zu erkennen, und sie meinte, er müsse diese sehnsüchtigen Blicke fühlen in seinem einsamen Zimmer; müsse ahnen, wie heiß sie an ihn denke.

Die Klänge des Walzers drangen herüber, es war ein Volkslied hinein verwoben; sie kannte die Worte:

„Mein Schatz ist hübsch, aber reich ist er nit,
Was nutzt mir der Reichthum, das Geld küß i nit.“

Ihr ernstes schönes Gesicht war mit einem Male von einem reizenden schalkhaften Lächeln verklärt; ein wahrer Uebermuth im Bewußtsein ihres heimlichen Glückes überkam sie. Was war denn alles Leid in der Welt gegen diese Wonne? Sie hätte hinüberlaufen, in sein Zimmer fliegen und ihm sagen mögen. „Da bin ich! Es ist so dumm von mir gewesen, Dich fern zu halten – komm und wirb um mich – morgen – heute noch, wenn Du willst. Was soll eine Komödie, die mir Stunden des Glückes raubt!“

Sie athmete rasch, während sie das dachte, sie sah ihn aufblicken von seinem Arbeitstisch, sah ihn die Arme ausbreiten: „Lore, meine stolze Lore – –“ Ja, stolz war sie, stolz wollte sie auch bleiben als sein Weib –. Was gingen sie denn diese Menschen an, die sie halb spöttisch, halb mitleidig betrachteten? Da drüben in dem engen Hause, da allein würde sie den Stolz ablegen, in seinem Hause; er sollte eine Frau in ihr finden so demüthig, so bescheiden wie keine, sie würde das Behagen in ihr Heim zaubern, wie es nur die Liebe versteht, sie würde die alte Mutter pflegen, die im unteren Geschoß des Hauses wohnte, die alte mürrische Frau Pastorin, der das Hochdeutsch so schwer wurde, die sich nur wohl fühlte, wenn sie hinter ihren Geranienstöcken am Fenster saß, die Kaffeetasse neben sich, und mit einer Nachbarin über die schlechten Zeiten auf gut Altmärkisch plaudern konnte.

Was die alte Frau wohl für Augen machen würde, wenn sie eines Tages über die Schwelle der Witwenstube trat und „Mutter“ zu ihr sagte?

Und von diesem Bilde flogen ihre Gedanken zu der eigenen Mutter. Sie sah die leidende Frau auf ihrem Bette mit den

[40]

Das Fest der Göttin der Vernunft in Paris 1793.
Nach dem Oelgemälde von Coëssin de la Fosse.[WS 1]

[41] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [42] matten, schlaflosen, fiebernden Augen, und sie hörte die Worte: „Mein Kopf, Lore, mein Kopf! Wenn ich nur nicht denken müßte!“

Arme Mutter! Sie ballte die kleine Hand zur Faust, als sie des Bruders Stimme eben vernahm hinter der Portiere, laut, lustig und lachend.

„Aber, mein liebes Fräulein von Tollen,“ gellte die Stimme der Frau Elfriede Becker, und sie rauschte mit ausgestreckten Händen auf das junge Mädchen zu, das mit traurigen Augen an ihr vorübersah, „hier verstecken Sie sich? Warum ziehen Sie sich denn so zurück? Wenn Sie nicht tanzen, so kommen Sie wenigstens zu uns in den Salon und – bitte, mein Herzchen, geben Sie mir Ihren Arm – so! Ich kann Ihnen nicht beschreiben – unter uns natürlich – wie matt ich mich heute fühle, wie nervös!“

Lore sah auf die kleine kugelrunde Dame hinunter, die wie das Leben selbst erschien. Sie trat, die unaufhörlich Sprechende am Arm, in den Salon, wo ein Kreis älterer Damen auf Sofas und Fauteuils Platz genommen hatte.

„Nicht wahr, meine liebste Frau Landräthin,“ kreischte die Wirthin und legte sich fester auf Lores Arm, „es ist reizend, solch jugendliche Stütze zu haben? Mir fehlt wirklich nichts zu meinem Behagen als ein liebes Töchterchen, man wird doch alt. Ich danke Ihnen, mein Häschen, – setzen Sie sich neben mich, bitte hier!“ Und als Lore zögernd Platz genommen, winkte sie dem jungen Mädchen vertraulich, indem sie ihren Mund an das kleine Ohr brachte. „Ach, liebes Kind, meine Müdigkeit!“ flüsterte sie so laut, daß es alle hören konnten, „würden Sie einen kleinen wirthschaftlichen Gang für mich thun? Ich weiß nicht, wo die Diener mit den Erfrischungen bleiben, vielleicht sind sie beim Arrangement der Tafel beschäftigt – würden Sie vielleicht mir die Säumigen schicken?“

Lores Kopf wich zurück, ihre Miene ward eiskalt. Aber ehe sie noch antworten konnte, hatte Frau Becker schon wieder mit ihrer hohen Stimme das Glück gepriesen, ein so reizendes hilfreiches Töchterchen für diesen Abend gefunden zu haben.

Langsam erhob sich Lore und schritt nach dem Ballsaal, sie dachte nicht daran, den Auftrag auszuführen, die Diener drängten sich schon durch das Gewirr der Jugend mit Präsentirtellern voll Bowlengläsern. Sie blieb am Eingang des Saales stehen und schaute in den Wirbel einer Polka; ihr kam alles so schal und albern vor heute abend. Ihr Bruder machte eben einer niedlichen Blondine so sorglos den Hof, als trübe kein Wölkchen seinen Himmel, als er an ihr vorüberflog mit seiner Dame, deren Fächer er in der Hand hielt, nickte er ihr vergnügt zu.

Sie setzte sich auf das gelbe Seidenpolster einer längs der Wand befindlichen Ruhebank und blieb dort, ohne eigentlich zu hören und zu sehen, bis der Sohn des Hauses ihr seinen Arm bot, um sie in den Eßsaal zu führen. Man speiste heute in zwei Zimmern, die Jugend in dem sogenannten Gartensaal. Lore befand sich an einer Art Ehrenplatz, vor ihr prangte ein wundervoller Blumenkorb, über die ganze Tafel waren Blüthen verstreut, und es funkelte überprächtig von Krystall und Silber; sie hatte noch nie an einer so reichen Tafel gesessen.

„Amerikanische Sitte, gnädiges Fräulein,“ erklärte beflissen Adalbert Becker, dessen Antlitz feucht und roth war vom Tanz, und er deutete auf die Blumen. „In New-York wird ein kolossaler Luxus damit getrieben, jede Dame findet auf ihrem Teller ein immenses Bouquet der seltensten Blüthen und außerdem noch Blumen, wo man sie irgend anbringen kann. Wir haben da mitunter Soupers gegeben, wo ich den Blumenschmuck mit ein paar hundert Dollars bezahlte.“

Lore blieb unhöflich still während des Essens und nippte kaum an ihrem Glase, in dem der Champagner lustig Perlen aufwarf.

Das Lachen und Sprechen an der Tafel ward mit jedem Gang lebhafter und die Gänge wollten kein Ende nehmen, die Luft war so schwül und von dem Geruch der Speisen erfüllt.

Adalbert Beckers Gesicht ward nach jeder Flasche Sekt, die er in den silbernen Eiskübel vor seinem Kouvert stellen ließ, röther, die Augen immer intensiv blauer und glänzender, mit denen er Lore unausgesetzt anstarrte. Beim Nachtisch bot er ihr ein Vielliebchen an.

Sie dankte kurz.

Er sah sie vorwurfsvoll an und rückte ihr näher. Als er den Mund öffnete, um zu sprechen, wandte sie sich zu ihrem andern Nachbar und bat um ein Glas Wasser.

„Gnädiges Fräulein,“ flüsterte da eine leidenschaftliche Stimme, „warum behandeln Sie mich so schlecht? Wenn Sie wüßten – Lore – wenn Sie wüßten –“

„Fräulein von Tollen, bitte!“ erwiderte sie und setzte sich zurück auf ihren Stuhl.

„Ich flehe Sie an, gnädiges Fräulein, lassen Sie mich einen Blick in Ihr Herz thun! Sie können nicht so kalt über mich denken, wie Sie es zeigen. Sie müssen es wissen, daß, seit ich Sie gesehen –“

Der kleine Holzfächer in ihrer Hand brach hart entzwei in diesem Moment; sie machte unwillkürlich eine Bewegung, aufzustehen.

„Um Gotteswillen,“ flehte er, „bleiben Sie, ich bitte! Nach Tische noch ein einziges Wort –“

Sie legte zitternd vor Erregung den Fächer auf den Tisch, mitten durch das Wappen ging der Bruch.

Adalbert Becker winkte noch eine frische Flasche Champagner herbei; als er sein Glas eingeschenkt hatte, rief er nach dem andern Ende der Tafel. „Tollen! Tollen!“ indem er den Kelch hob; „Du weißt schon!“

Lore sah ihren Bruder mit entsetzten Augen an. Wie? „Du“ nannten sie sich?

In dem bunten Durcheinander beim Aufheben der Tafel hoffte sie entschlüpfen zu können, sie wollte fort! Das war ihr einziger Gedanke, aber als es so weit war, erwies es sich als unmöglich. Sie wurde in dem Strom mit fortgerissen, der in den kühlen Salon und den Tanzsaal führte, die Klänge eines Walzers empfingen die vom Wein erregte Gesellschaft und die Paare begannen zu tanzen, etwas weniger korrekt, aber lebhafter, feuriger.

„Rudolf, ich muß Dich sprechen!“ flüsterte Lore, die an einer schwarzen Marmorsäule stand, welche eine Terpsichore trug; hinter ihr, erhitzt und verstimmt, befand sich Adalbert Becker, der sie abermals um einen Tanz bestürmt hatte. Sie hielt ihren Bruder am Arme fest, als er an ihr vorüber wollte mit seiner Dame. „Gleich!“ erwiderte er und tauchte in dem Wirbel unter.

„Ein Wort! Ein Wort, gnädiges Fräulein!“ flüsterte es hinter ihr, „ich liebe Sie von ganzer Seele –“

Sie stand mit zusammengepreßten Lippen, bleich wie die weiße Wand des Saales, und that nicht, als habe sie es gehört.

„Sie sind ein so wunderschönes Mädchen, Lore – ich muß – ich – Sie machen mich verrückt durch Ihre Kälte!“

Sie fühlte den heißen Athem an ihrer Wange, eine warme Berührung an ihrem Ohr – sie lief plötzlich quer durch den Saal und stand vor Rudolf, der eben ausruhte vom Tanze. „Bringe mich nach Hause!“ forderte sie mit bebenden Lippen, „sofort! Ich fühle mich nicht wohl!“

Sie sah ihn so verängstigt an mit den vor zorniger Erregung flimmernden Augen, und ihr Gesicht war so bleich, daß er aufsprang, sich bei seiner Dame entschuldigte und, ihr den Arm bietend, sie nach der Garderobe führte. Tante Melitta fand sich händeringend dort ein, ihre Whistkarten in der Hand, als Lore bereits in Mantel und Kapuze stand.

„Was um Gotteswillen ist Dir denn, mein Engelchen?“

Rudolf brummte etwas von „Launen“, während er den Paletot umnahm.

„Bleib’ bei Deiner Whistpartie, Tante,“ bat Lore, „mir ist nicht wohl, ich habe Kopfschmerz. Du weißt, ich schlief wenig in der letzten Zeit.“

Sie küßte das kleine bekümmerte Gesicht unter den Pensees und huschte die Treppe hinab in den hallenartigen Flur; sie lief dann, wie gejagt, ins Freie hinaus, den Gartenweg entlang, hinter ihr war Adalberts Stimme erklungen, heiser und aufgeregt. Ihr Bruder holte sie erst an der Gartenpforte des Beckerschen Parkes ein.

„Recht angenehm, so heißgetanzt diese unerwartete Promenade machen zu müssen,“ sagte er ärgerlich. Und als sie schwieg. „Was fällt Dir ein, so davon zu laufen?“

„Ich bedaure von Herzen, daß ich Dich bemühen muß, Rudi, aber an wen soll ich mich wenden, wenn nicht an Dich?“ sprach sie mit bebender Stimme.

(Fortsetzung folgt.)
[43]

Die Landenge von Panama.

1. Die Ueberschreitung des Isthmus.
Von Dr. Emil Jung.

Nicht Meeresräume, und seien sie auch noch so weit und stürmisch, sind es, welche hemmend sich zwischen den Verkehr der Menschen miteinander legen, viel größere, schwerer zu bewältigende Hindernisse bietet das feste Land, das doch unsere eigentliche Heimath ist. Wenigstens gilt dies, wenn einmal die ersten Kulturstufen überwunden sind. Den Phöniciern wurde es leichter, von den fernen Gestaden Britanniens Zinn zu holen, als in das Innere ihres asiatischen Kontinents zu dringen. Sie brachten dem weisen König der Juden die Kostbarkeiten Indiens, sie umsegelten Afrika, aber weite Landexpeditionen waren ebenso unerhört, wie sie für unmöglich galten.

Nirgends scheint bei Gestaltung unserer Erdkruste die Natur launischer verfahren zu sein, als bei Verknüpfung der beiden Hälften Amerikas durch den schmalen Isthmus von Panama. Er zwingt die von Europa zur Ostküste Amerikas, zum Stillen Ocean, nach Australien und Ostasien fahrenden Schiffe zur Reise durch Mittelmeer, Rothes Meer und Indischen Ocean, verbietet dieselbe Seglern wohl ganz oder nöthigt sie, den Weg um die Südspitze Amerikas durch sturmgepeitschte, nebelreiche Meeresengen zu tasten.

Es war natürlich, daß man das Hinderniß zu beseitigen suchte. Der Besitz „der Pforte zu den Oceanen, des Schlüssels des Universums“ war freilich an sich schon wichtig genug, aber er mußte sich nach Beseitigung der hemmenden Schranken ins Unendliche steigern.

Dies Bestreben ist so alt wie die Entdeckung des Hindernisses selber. Aber obwohl bereits von den ersten spanischen Eroberern geplant und wiederholt zum Gegenstand vielseitiger Diskussion gemacht, ist die Inangriffnahme eines der vielen befürworteten Projekte erst in unserer neuesten Zeit erfolgt. Und auch seine Vollendung ist noch nicht sichergestellt. Die früheren unruhigen Zeiten waren solchen Unternehmungen nicht günstig. Als man endlich es gelernt hatte, die mächtige Kraft des Dampfes in den Dienst des Menschen zu bannen, da begnügte man sich mit einer leichter zu schaffenden Landstraße.

Der Versuch, die trennende Schranke zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ocean mittels eines Kanals zu durchbrechen, fällt erst in die allerjüngsten Jahre. Wann und wie derselbe mit Erfolg gemacht sein wird, dies entzieht sich freilich auch heute noch der Berechnung, nun das großartige Unternehmen des Franzosen Lesseps, des berühmten Urhebers des Suezkanals, dem Scheitern nahe ist.

Angesichts dieser alle Welt bewegenden und in ihren Folgen noch unabsehbaren Thatsache scheint es angezeigt, jenem Isthmus unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden, dessen Fahrbarkeit für die Schifffahrt dem Weltverkehr und Welthandel ganz neue Bahnen zu weisen bestimmt ist. -

„An Kastilien und an Leon gab eine neue Welt Colon“, so lautet die Inschrift, mit welcher König Ferdinand den Sarg des großen Entdeckers ehrte, den wir gemeiniglich Columbus nennen.

Und doch war der große Mann aus der Welt geschieden ohne eine Ahnung, daß er einen neuen Welttheil gefunden habe. Hartnäckig hielt Columbus bis zu seinem letzten Athemzuge an dem Wahne fest, daß Kuba ein vorgestrecktes Glied des asiatischen Festlandes, eine Provinz des chinesischen Reiches, und Hispaniola oder, wie wir heute sagen. Hayti, Marco Polos Zipangu oder Japan sei, daß zwischen dem karibischen und bengalischen Golfe keine wasserbedeckte Halbkugel liege. Und als ob seine Ansicht dadurch festeren Boden gewinnen könnte, ließ er sie sogar von seinem gesammten Schiffsvolk feierlich beschwören. Selbst als er die Ostküste des Isthmus van Darien betrat und Kunde erhielt von dem nicht fernab liegenden westlichen Meere, wurde sein Vertrauen auf die asiatische Zugehörigkeit der von ihm entdeckten Länder nicht erschüttert. Er glaubte sich dem goldenen Chersonnes nahe und meinte, daß nur wenige Tagereisen ihn von der Mündung des Ganges trennten. In diesem glorreichen Wahne befangen, stieg er ins Grab, und wohl für ihn, daß es so sich fügte, denn tief erniedrigt wäre ihm seine That erschienen, hätte er jenseit des amerikanischen Festlandes ein neues Weltmeer gewahren müssen.

Erst sieben Jahre nach dem Tode des großen Genuesen wurde es dem Spanier Balboa vergönnt, den Großen Ocean zu erreichen und den Irrthum des Columbus nachzuweisen. Doch war es nicht der Drang, durch Erschließung neuer unbekannter Gebiete unsterblichen Entdeckerruhm zu erwerben, sondern der längst alle edleren Regungen zurückdrängende Hunger nach Gold, welcher zu solcher That trieb. Denn überall auf den Inseln und an den Küsten Amerikas fand man in verschwenderischer Fülle in den Palästen der Häuptlinge wie in den Hütten ihrer Unterthanen das edle Metall, das die Eingeborenen leicht an die Spanier hingaben, deren Goldgier ihnen völlig unverständlich erschien. Immer und immer wieder drängt sich uns bei der Betrachtung jener Zeiten die Wahrnehmung auf, daß nur niedrige Habsucht es war, welche das Vorrücken abendländischer Gesittung bewirkte.

Vasco Nunez Balboa gehörte zu jener zahlreichen Klasse von Abenteurern, welche die Kunde von den Schätzen des westlichen Wunderlandes aus der Dürftigkeit der Heimath übers Meer führte. Und wie so viele andere wurde er bitter enttäuscht. Auf Domingo hatte er viele Jahre Feldbau getrieben, gerieth hier aber in drückende Schulden denen er sich gern durch Flucht entziehen wollte. Aber er mochte nicht nach Spanien zurückkehren um in Gesellschaft von Leidensgefährten seine Armuth auf öffentlichen Plätzen, an den Thüren der Kirchen, insbesondere vor dem Herrscherpaar Ferdinand und Isabella vorwurfsvoll zur Schau zu tragen, er wünschte die Neue Welt nicht zu verlassen, die ihm noch verheißungsvoll genug erschien er wollte nur ein neues Feld seiner Thätigkeit aufsuchen und damit seinen immer dringender werdenden Gläubigern entgehen. In gleicher Lage befand sich noch mancher andere Pflanzer auf Domingo, aber ihre Absicht, das lästige Schuldbuch in dieser einfachsten Weise gründlich zu tilgen, wurde durch die Wachsamkeit des Admirals Diego Colon vereitelt: denn es bestand in der spanischen Kolonie, dem Sitz zahlloser Abenteuerer, ein weises Gesetz, nach dem kein Schuldner ohne Wissen seiner Gläubiger die Insel verlassen durfte. Nur Balboa gelang es, in einer Tonne versteckt, sich als Passagier eines nach Darien absegelnden Schiffes durchzuschwärzen, freilich nicht, ohne sich der Beschimpfung seitens des Kommandanten auszusetzen.

Bolboa war von guter, wenn auch nicht vornehmer Abkunft, hoch und kräftig gewachsen, stand er damals in der Blüthe seiner Jahre, im Ertragen von Entbehrungen und Beschwerden kam ihm keiner gleich. Mit durchdringendem Verstande begabt, dabei furchtlos jeder Gefahr ins Auge schauend, wußte er geschickt seine Gefühle zu verbergen und die Vergeltung für empfangene Kränkungen hinauszuschieben, geduldig wartend auf die Zeit, die ihm die Mittel zur Heimzahlung in die Hand gab. Wenigstens fügte er sich dem bestehenden Regimente, bis seine Stunde schlug. Es wurde dem ehrgeizigen Manne nicht allzu schwer gemacht, sich zum Haupte der Ansiedelung in Darien empor zu schwingen, waren doch die spanischen Auswanderer immer eher geneigt, sich den Führer aus ihrer Mitte zu wählen, und hingen sie doch stets weit treuer an den Offizieren, die sie zum Aufruhr verführt hatten, als an den Obrigkeiten, die mit Pergament und königlichem Brief unter sie traten. Freilich ruhte auf der Umsicht und Tapferkeit Balboas bald die ganze Wohlfahrt der neuen Kolonie, ihn allein fürchteten die Indianer mehr als hundert Degenspitzen.

Der königliche Statthalter zögerte nicht, den erfolgreichen Usurpator obrigkeitlicher Gewalt mit der Ernennung zum Generalkapitän des eroberten Gebiets zu belohnen, aber in Madrid war man weniger geneigt, zu verzeihen. Und als die Kunde von der Absendung eines neuen Statthalters als Richters des Geschehenen nach Santa Maria del Antigua, der kleinen Hauptstadt von Darien drang, da reifte in Bolboa der Entschluß, alle seine Ankläger durch eine ungewöhnliche That zum Schweigen zu bringen.

Auf Seinen Streifzügen hatte ihm ein freundlicher Häuptling von einem Meere jenseit des vor seinen Blicken sich erhebenden [44] Bergkammes gesprochen, welches von Fahrzeugen nicht geringer als die spanischen Karavelen befahren werde, die wie diese auch Segel und Ruder führten. Ueber diese Berge, zu jenem Meer sollten die Spanier ziehen, wollten sie ihren Heißhunger nach Schätzen befriedigen. Balboa hatte sich früher zu schwach gefühlt, jetzt trieb die Notwendigkeit, er beschloß, das geheimnißvolle Meer zu erreichen, von dessen Gold- und Perlenschätzen er so berauschende Dinge erfahren hatte, obschon er sehr wohl wußte, daß ihm die Straße über unwegsame Gebirge von kriegerischen Fürsten streitig gemacht werden möchte, deren Muth und Kräfte man allmählich achten gelernt hatte.

Denn während jetzt eine fast menschenleere Wildniß die schmale centralamerikanische Landenge erfüllt, waren diese Thäler zu Balboas Zeit noch dicht bevölkert. Können wir den spanischen Geschichtschreibern nicht unbedingten Glauben schenken, wenn sie uns versichern, daß der Isthmus von zwei Millionen Menschen bewohnt gewesen sei, so wissen wir doch, daß im Thal des Chucunaque allein ein Dutzend Häuptlinge residirte, von denen jeder einige hundert Streiter ins Feld stellen konnte.

Die braunen, wohlgebauten Bewohner dieser Landschaften verdienten damals keineswegs den Namen von Wilden, mit denen der europäische Kulturmensch gern alle Naturvölker brandmarkt. Verschmähten es auch die Männer, ihre oft herkulischen Gestalten in die ihnen unbequeme Kleidung zu zwängen, so gefielen sich doch die Frauen aus berechnender Eitelkeit in Schnürbrüsten aus Gold- blech, oft kunstvoll mit getriebenen Thiergestalten verziert, und in baumwollenen Gewändern, die bis zu den Knöcheln herabfielen. Die Paläste der Fürsten zeugten von nicht gemeiner Kunstfertigkeit. Vier Flügel bildend von 150 Schritt Länge und 80 Schritt Breite, waren sie mit Steinmauern umgürtet und die Gemächer kunstreich mit einem Dachstuhl überbaut. Hier und da erhoben sich über die Wohnungen Thurmspitzen. Die Magazine fand man mit Brotfrüchten, Fischen und Wildbret gefüllt, die Keller mit Chicha, einem gegohrnen Getränk aus Mais und Früchten, das die Spanier für trefflicher erklärten als baskischen Apfelmost oder flandrisches Bier. In den Todtenkammern der Dynasten hingen in baumwollenen Schlingen, belastet mit Geschmeide und Talismanen, die Mumien der Ahnherren des Reichs, „gleichsam als Urkunden und Pergamente ihrer eigenen Königszeit, während geheiligte epische Gesänge, annalenartig das Gedächtniß des Vergangenen rettend, um die Grüfte schwebten.“

Balboa wählte zur Durchquerung die schmalste Stelle des Isthmus, an der sich die atlantischen und pacifischen Gewässer einander bis auf neun Meilen nähern. Man darf aber nicht die Schwierigkeit des Unternehmens nach der Meilenzahl abschätzen. Ist auch die Erhebung der Cordillera, welche den Isthmus durchzieht, eine so geringe, daß nirgends die Gipfel 1200 Meter erreichen, liegen auch die Joche kaum mehr als 300 Meter über dem Meeresspiegel, so bedeckte doch ein Urwald von mächtigen Stämmen, gefesselt und umwoben von Schlingpflanzen und Schmarotzerreben, das Land von einem Ocean zum andern. Wochenlang mochte sich der Wanderer durch diese Wälder bewegen, ohne daß sich ihm eine Lichtung öffnete, und selbst von den höchsten Baumwipfeln suchte das forschende Auge vergebens etwas anderes zu erblicken, als die ununterbrochene Oberfläche eines endlosen grünen Laubmeeres. Hier gab es keine anderen Wege, als die schmalen versteckten Kriegspfade, auf denen ein Kazike zum Ueberfall auf den anderen sich heranzuschleichen pflegte. Noch im Jahre 1853 hat der bekannte Reisende Karl von Scherzer vergeblich den Versuch gemacht, an einer anderen Stelle den Isthmus zu überschreiten. Nach mühevoller Arbeit von 16 Tagen mußte er, obwohl von 30 Trägern begleitet und von Ingenieuren unterstützt, sein Vorhaben aufgeben. „Der Wald war überall so dicht, daß nur ein fahler Schein, der durch die Blätternacht brach, die Tageszeit verkündete.“

Am 1. September 1513 segelte die aus 190 Spaniern und 600 eingeborenen Lastträgern bestehende Expedition den schmalen Meereseinschnitt hinauf bis zu dem Punkte, wo die Landenge ihre größte Verjüngung findet. Nachdem Balboa eine Abtheilung zurückgelassen, setzte er seinen Marsch am 6. September fort. Wohl stellten sich ihm die Kaziken an der Spitze ihrer Krieger entgegen, aber was vermochten ihre Keulen und Holzspeere gegen europäische Feuerwaffen, welche die Indianer mit dem unheimlichen Glauben erfüllten, daß die Fremdlinge Blitz und Verderben aus ihrem Munde zu schleudern vermöchten? Und nicht am wenigsten furchtbar als Mitkämpfer der Spanier waren jene mächtigen Bluthunde, welche diese in allen Kriegen gegen die Indianer mit sich führten, die auch nur zu oft das Henkeramt an den Unglücklichen verrichteten, welche spanische Habsucht oder Politik zum Tode verdammte.

Am 25. September morgens erreichte die Expedition den waldentblößten Kamm, von welchem das andere Meer erblickt werden konnte. Die indianischen Führer hatten Balboa schon früh dessen Nähe angezeigt; in kurzer Entfernung vom Gipfel gebot er seinen Leuten Halt und schritt allein vorwärts, um der Erste zu sein, welcher das östliche Weltmeer begrüßte. Und wie nun in den Strahlen der Sonne ein gliederreicher Golf vor seinen entzückten Blicken sich ausbreitete, da warf sich der Entdecker auf die Kniee und mit erhobenen Armen jauchzte er den australischen Gewässern zu, indem er in unbegrenzten Dank für die göttliche Gnade ausbrach, die ihn, „einen so gering begabten Mann unadeliger Abkunft“, eine solche That vollbringen ließ. Dann rief er seine Leute herzu, mit ihm in ein diesmal aus innerstem Herzen kommendes Tedeum einzustimmen und auf dem höchsten Punkte des Uebergangs das Symbol des christlichen Glaubens aufzurichten.

Nun ging es abwärts, und als man am vierten Tage an den Ufern des Savanasflusses lagerte und das Meer fluthend in das durch die Ebbe geleerte Bett heraufstieg, da erfaßte Balboa eine Fahne mit dem Bilde der Jungfrau und des Jesusknaben, zu dessen Füßen das Wappen von Kastilien und Leon prangte, sprang hinunter in das Wasser und nahm im Namen der Krone Spanien feierlich Besitz von „diesen australischen Meeren, Ländern, Gestaden, Häfen und Inseln“ und forderte laut jeden zum Kampfe heraus, der dieses gute Recht bestreiten wolle. Die einsame Wildniß blieb die Antwort schuldig, und so war das spanische Königreich um eine große Provinz reicher.

Noch zog Balboa an den Golf hinunter, dessen Gestade er in indianischen Barken umschiffte, wobei er sich von dem ungeheuren Reichthum des neuen Meeres an Perlen überzeugte, dann trat er seinen Rückmarsch an und erreichte nach einer Abwesenheit von mehr als 100 Tagen am 19. Januar 1514 glücklich wieder Santa Maria, mit kostbarer Beute beladen und ohne den Verlust eines einzigen Spaniers zu betrauern.

Wohl war die durchzogene Strecke eine geringe, aber groß waren die Hindernisse, welche der furchtlose Entdecker glücklich zu überwinden wußte, und noch größer die Resultate des Unternehmens, welches mit einem Schlage die neue Welt von der ihr irrigerweise aufgezwungenen Verbindung mit der alten loslöste. War Columbus der Entdecker des westlichen Welttheils, so war es Balboa, der seine Selbständigkeit feststellte. Aber noch bitterer als jenen sollte Balboa das Los treffen, welches zu dieser Zeit so manchen verdienstvollen Mann als Lohn seiner Mühe erreichte. Hartnäckig wurde er von dem argwöhnischen Gouverneur verfolgt, und aus nie bewiesene Anklage fiel sein Haupt im Jahre 1517 auf dem Marktplatz von Santa Maria del Antigua, dem langjährigen Schauplatz seiner bewährten Thätigkeit.

Die Handel treibenden Seefahrer überzeugten sich aber bald, daß die mit Urwald bedeckte Landenge für ihre Unternehmungen ein unüberwindliches Hinderniß bildete. Jahrzehnte lang wurde im Norden und Süden von Panama ein Wasserweg nach dem Stillen Ocean gesucht. Wohl löste später Magalhàes das „Geheimniß der Durchfahrt“, indem er die Südspitze von Amerika umschiffte, aber diese Lösung entsprach nicht den gehegten Erwartungen. Was das große Zeitalter der Entdeckungen hoffte, das sollte erst das noch gewaltigere Zeitalter des Dampfes vollbringen. Es ward dazu berufen, die Schranken niederzuwerfen, welche die Natur dem Verkehr entgegensetzte, es legte den sicheren Schienenweg über den unzugänglichen Landstreifen, und es reiht eben an die Großthat Balboas jenes große Unternehmen des Panamakanales, mit dessen Vollendung das „Geheimniß der Durchfahrt“ durch den Spaten der Arbeiter und die Schaufeln der Maschinen ebenso kraftbewußt gelöst sein würde, wie einst der Gordische Knoten zerhauen wurde durch das Schwert des großen Alexander.



[45] 

Riesen und Zwerge in der Thierwelt.
Nach einer Originalzeichnung von H. Leutemann.

[46]

Riesen und Zwerge in der Thierwelt.[1]

Die sieben Wunder der Thierwelt“, so wurde von dem Unternehmer eine Schaustellung von Thieren genannt, welche im verflossenen Jahre auch in Leipzig zu sehen war und aus theils sehr großen, theils sehr kleinen Thieren gewisser Arten bestand. Ein großer Strauß, ein großes Nilpferd und ein noch ganz kleiner Elefant waren darunter die Vertreter der wilden Thiere, während von den unserer Theilnahme selbstverständlich viel näherstehenden Hausthieren Rind, Pferd und Esel je in einem sehr großen und auch erstaunlich kleinen Thiere vertreten war. Gern habe ich den Wunsch der Redaktion erfüllt und eine bildliche Zusammenstellung dieser letztgenannten gegeben, und es möge zur Erläuterung dieser in ihren Gegensätzen jedenfalls merkwürdigen Thiererscheinungen das Folgende dienen. Dabei sind im wesentlichen die Mittheilungen zu Grunde gelegt, welche Herr Geheimrath Professor Dr. Julius Kühn, der Direktor des großen Landwirthschaftlichen Instituts an der Universität Halle, mit dankenswerther Bereitwilligkeit für den vorliegenden Zweck mir gegeben hat. –

Ist die eine Hauptfrage, von welchen wilden Thieren unsere Hausthiere abstammen, zum nur sehr geringen Theil bis jetzt gelöst, so ist eine zweite, die nämlich, wie sich die so außerordentlich verschiedene Rassen unserer Hausthiere erklären lassen, schon weniger schwer, wenn auch durchaus noch nicht ausreichend, zu beantworten, da man durch eigene Versuche in der Züchtung diese Lösung unterstützen kann. Ein Theil der Aufklärung liegt auch z. B. schon in der zulässigen Annahme, daß man manche unserer Hausthiere keineswegs als nur von einer wilden Art abstammend anzunehmen gezwungen ist, und diese Annahme ist bei dem Hund, der ja die merkwürdigsten Verschiedenheiten zeigt, eine fast zwingende, wie z. B. die Aehnlichkeiten, welche die Hunde der Eskimos und der nordamerikanischen Indianer mit den Wolfsarten jener Gegenden bekanntlich zeigen, auf die wenigstens theilweise Abstammung von denselben zweifellos hindeuten.

Etwas anderes ist es aber, wenn man bei den Hausthieren nicht die äußere Form oder Farbe, sondern die Verschiedenheit in der Größe ins Auge faßt, da hier, wie man bereits aus sicherer Erfahrung weiß, die Art und Weise der Zucht und Pflege, verbunden mit Ort und Klima, eine ganz wesentliche Einwirkung hat.

So zeigt das Bild in der Größe der beiden dargestellten Esel eine ganz auffallende Verschiedenheit; weiß man aber, daß der größere ein spanischer, der kleine aus Ceylon ist, so liegt schon die Erklärung verhältnißmäßig nahe. Zwar wird in der, gelegentlich genannter Schaustellung, vertheilten Beschreibung gesagt, daß dieser kleine Esel von einer größeren Eselin stamme, aber einerseits muß man gegen dergleichen sehr mißtrauisch sein und dann spricht auch die Wohlgestalt des Thieres keineswegs für seine Zwergeigenschaft. Alle wilden Eselarten sind Steppenbewohner auf den trockenen Hochebenen Asiens und Afrikas; ein Klima wie das der heißfeuchten Insel Ceylon ist also nicht das von der Natur ihnen zugewiesene, und wie der Nordeuropäer im heißen Indien nicht gedeiht, so ist demnach auch dem Esel kein Vorwurf zu machen, wenn er sich in solchem Klima nicht wohl befindet und, doch zum Dortleben gezwungen, nach und nach verkümmert und besonders auch in der Größe zurückbleibt. Dahingegen bieten die Länder, welche man gewöhnlich unter dem Namen des Orient begreift, in ihrem meist trockenen Klima dem Esel sicher viel mehr die seiner Ursprungsheimath ähnlichen Bedingungen; es läßt sich daraus mit die oft sehr ansehnliche Größe und Schönheit vieler Esel in Aegypten, Kleinasien etc. erklären, und auch Spanien, wohin ja während der maurischen Herrschaft die Hausthiere des Orients, also auch dessen Esel, gebracht wurden, dürfte in seinem Klima, welches bekanntlich die Dattelpalme des Orients prächtig gedeihen läßt, dem Gedeihen des Esels nur förderlich sein. Nimmt man dazu eine langdauernde, besonders gute Zuchtpflege, z. B. auch nicht zu frühes Ausnutzen des Thieres an, so lassen sich solche besonders groß gewordene Rassen schon ziemlich gut erklären.

Der hier dargestellte kleine Esel hatte eine Widerristhöhe von 0,81 Meter, der große (ein Hengst) eine solche von 1,51 Meter,[2] während eine früher im Landwirthschaftlichen Institut zu Halle befindliche Eselstute aus Poitou in Frankreich (wo auch eine große Eselrasse gezogen wird) auch 1,45 Meter hoch war. Eine ganz besondere Wichtigkeit haben die großen Eselrassen für die Maulthierzucht, da sie eine wesentliche Bedingung für die Erzielung großer und kräftiger Maulthiere sind, deren Vater bekanntlich stets ein Esel, deren Mutter immer ein Pferd ist.

Aehnliche, wie die genannten Gründe, sind es auch, welche die außerordentliche Größenverschiedenheit der Pferde erklärlich erscheinen lassen, nur kommt hier der geflissentliche Wille des Menschen, die Größe und damit die Leistungsfähigkeit der Pferde, als der noch viel wichtigeren Thiere, möglichst zu steigern, noch viel mehr zur Geltung. Da alle verwildernden Hausthiere erfahrungsgemäß in den späteren Nachkommen der Abstammungsform ähnlicher und auch die Pferde in solchem Falle kleiner werden, es auch bereits feststeht, daß die Abstammungsform des Pferdes ein kleineres Thier als unser jetziges Hausthier war, so geht schon daraus hervor, daß dasselbe nur durch die Zucht, und meist durch die absichtlich geförderte Zucht großer Thiere zur jetzigen Größe gekommen ist. Am sichersten ist dies bei solchen gewaltigen Pferden, wie es die großen englischen und die flandrischen Rassen sind, z. B. die englische Carthorse-Rasse, zu welcher die berühmten Londoner Brauerpferde gehören, von welchen manche eine Höhe von 1,90 bis 1,94 Meter erreichen. Das hier bei der Schaustellung gezeigte Pferd, ein Schimmelwallach, 1,82 Meter hoch, stammte aus Irland, welches zwar keine eigene große Pferderasse hat, wohin man aber die ebenfalls große Suffolk-Rasse (aus der englischen Grafschaft Suffolk) verpflanzt hat, welche eine Höhe von 1,75 Meter und darüber erreicht.

Auch die in Südschottland gezogenen Clyderdale-Pferde sind mächtige Thiere von 1,60 bis über 1,75 Meter. Ein im Hausthiergarten des Landwirthschaftlichen Instituts zu Halle geborenes und aufgezogenes reinblütiges Clyderdale Hengstfohlen wog mit Jahresalter 972 Pfund, an seinem zweiten Geburtstage 1570 Pfund, eine gewiß gewaltige Entwickelung.

Fast ebenso massige Pferde werden in den deutschen Alpen gezogen, wie denn die schwere Pinzgauer Pferderasse eine Höhe von 1,65 bis 1,70 Meter erreicht. Diese genannten großen Pferderassen rechnet man zu den kaltblütigen, unter denen man im allgemeinen die weniger erregbaren im Gegensatz zu den erregbareren, also den nervöseren oder warmblütigen Rassen versteht. Sind diese meist kleiner, wie z. B. vor allem die arabischen Pferde (von 1,48 bis 1,60 Meter Höhe), so bilden doch die englischen, zu den warmblütigen gehörigen „Vollblutpferde“ eine erhebliche Ausnahme, da sie durchschnittlich die Höhe von 1,68 zuweilen aber bis 1,80 Meter erreichen.

Eine höchst eigenthümliche Pferdeerscheinung sind im Gegensatz zu den genannten durch ihre Kleinheit die Ponies. Jedermann hat sie, besonders im Cirkus u. dergl., gesehen, und man könnte vielleicht ihnen einen besonderen Ursprung zuschreiben, aber es fehlen dafür alle Belege. Dagegen liegt es nahe, bei der allmählichen Entstehung dieser kleinen Pferde auch eine steigende Verkümmerung infolge ungünstiger Verhältnisse anzunehmen, wie dies schon bei der kleinen Eselrasse erwähnt wurde. Die kleinsten Ponies sind die Shetlands-Ponies, und da diese unwirthliche Inselgruppe mit ihrem rauhen Klima, welches den dortigen Ponies im Winter einen pudelartigen Pelz aufzwingt, mit ihrer kärglichen Grasnahrung die Kleinheit dieser Pferde nur zu erklärlich erscheinen läßt, so können auch die Ponies, welche in entgegengesetztem Klima, also einem heißfeuchten, etwa gezogen werden, dort ebenso den ihre Verkümmerung fördernden Boden gefunden haben, denn auch das Stammthier unserer Pferde ist ein Steppenthier, und zwar der [47] kälteren Hochebenen Asiens, deswegen gedeiht unser Hauspferd immerhin noch, wenn eben auch verkümmert, in den kälteren Ländern, wo der Esel nicht mehr fortkommt.

Zu den hier nicht zu übergehenden Ponies gehört nun das auf dem Bilde dargestellte kleine Pferd nicht, es ist dies vielmehr ein eigentliches Zwergpferd, das heißt ein von einer großen dänischen Stute stammendes, aber in der Entwickelung ausnahmsweis zurückgebliebenes Thier. Es fehlen ihm demzufolge der dicke Poniekopf, die buschige Mähne und die feinen Beine, dahingegen ist es durch die gedrungenen Formen, wie sie den Zwerggebilden meist eigen, sehr gekennzeichnet. Die naheliegende Vermuthung, daß von solchen zufälligen Zwergen die kleinen Hausthierrassen, also hier die Ponies abstammen könnten, ist unzulässig, da sich solche seit dem Alterthum einzeln vorkommende Naturlaunen, wie Zwerge und Riesen, weder bei Menschen noch Thieren als dauernd erblich erwiesen haben, was beiläufig nur zu billigen ist, denn sonst würde es von überflüssigen Zwergen und Riesen längst schon wimmeln, während sie jetzt als Schaustücke immerhin noch einen geschäftlichen Werth haben.

Ist bei der Züchtung möglichst großer Pferderassen selbstverständlich die Erreichung großer Kraftleistung der treibende Beweggrund, so bei der Rindviehzucht hingegen, wenn man, als nicht hierher gehörend, von dem Milchertrag absieht, die in kürzester Zeit zu erreichende große Fleischfülle. Das große, schnell mastfähige Rind gilt also als wichtiges Zuchtziel. Die eine hier zu besprechende Eigenschaft, die Größe anbelangend, so ist das osteuropäische graue Rind eine der größten zahmen Rassen, von mitunter 1,88 Meter Höhe. Ursprünglich und noch jetzt im südlichen Rußland lebend, ist es schon längst nach Ungarn und Italien eingeführt worden, und von letzterem Lande, von der romanischen Rasse, stammt der Riesenochse der dargestellten Gruppe, von auch 1,88 Meter Höhe. Noch höhere Thiere dürften selten vorkommen, denn selbst die nächstgrößten Rinder der westlichen Normandie in Frankreich kommen nur bis 1,80 Meter Höhe, die größten Schweizerrassen bis 1,60 Meter. Sonderbarerweise hat auch Frankreich eine der kleinsten Rinderrassen in der Bretagne von nur 1 Meter Höhe, in dieser Kleinheit wohl nur noch übertroffen von dem Zwergzebu in der Mitte unseres Bildes.

Die Zebus sind höchst merkwürdige und in mancher Beziehung noch ganz besonders räthselhafte Rinder. Man kennt sie aus altindischen und ägyptischen Darstellungen als uralte Hausthiere (wohl auch ein Grund mit für Cuvier, sie für die Urform des Hausrindes überhaupt zu halten), und aus einer Zeburasse, dem jetzt sogenannten, nur noch in Abessinien lebenden Sanga-Rind, wurde ja sogar der heilige Apis-Stier gewählt. Ganz besonders merkwürdig sind die Zebus durch ihre außerordentliche Verschiedenartigkeit in der Hörnerform und -Größe, in der Färbung, vor allem aber in der Größe der Gestalt. So konnte denn, um zu dem Riesenthier aus den Rindern bei der genannten Schaustellung den größten Gegensatz zu finden, derselbe nur in der Zeburasse gesucht werden, die bis zu 0,78 Meter Höhe (hinter dem Höcker) herabreicht, von welcher Höhe auch ungefähr das dargestellte Thier ist, welches aus Ceylon stammt. Dort werden diese kleinen Zebus, wie auch auf dem indischen Festland, zum Ziehen kleiner zweirädriger Wagen benutzt, da sie außerordentlich flink und ausdauernd laufen.

Dürfte nun aus der bildlichen Darstellung im Verein mit diesen wenigen Erläuterungen von neuem hervorgehen, daß der Einfluß des Menschen auf die verschiedenartige Entwickelung der Hausthierformen in Verbindung mit dem Klima ein außerordentlich großer ist, so sind die Forschungen nach den Bedingungen solchen Einflusses um so gerechtfertigter, als sie, abgesehen von der wissenschaftlichen Bedeutung, den Thierzüchter immer mehr in Stand setzen, bestimmte Ziele mit Bewußtsein zu verfolgen. Und daß jetzt die Verwendung, d. h. Ausnützung der Hausthiere bei der stetigen Bevölkerungszunahme in den Kulturstaaten eine immer wichtigere Angelegenheit wird, kann von niemand bezweifelt werden. Heinrich Leutemann.




Die Vermählung der Todten.

Von Isolde Kurz.
(Fortsetzung.)


Ein stechender Schmerz brachte Leonardo endlich wieder zur Besinnung, er fand sich im Dunkeln allein auf dem Pflaster liegend und wußte nicht mehr, was mit ihm geschehen war. Aber er wußte, daß im Kirchlein von Sant’ Andrea die Eine auf ihn wartete, die ihm theurer war als das Leben. Er raffte sich auf, um zu ihr zu eilen, doch schon nach wenigen Schritten mußte er sich wankend an ein Haus lehnen und das warme Naß wegwischen, das ihm über die Augen troff. Er befühlte sich am ganzen Körper, und es war ihm, als sei er in einen Brunnen verwandelt, der aus allen Röhren rinnt. Doch tastete er sich im Finstern mit zitternden Händen an den Mauern der Häuser vorwärts, und ein Wunder war es, daß er die Richtung nicht verfehlte. Die Kirche von Sant’ Andrea stand noch klar vor seinen verwirrten Sinnen; dorthin mußte er, und sollte der Weg Jahre dauern. Mehr als einmal stürzte er zu Boden und erhob sich immer wieder, er fühlte, wie mit dem rinnenden Blut seine Lebensgeister hinschwanden, er dachte nur noch die Kirche zu erreichen, dort sein Haupt in Ginevras Schoß zu legen und in ihren Armen zu verbluten.

Wenige Schritte vor dem Portale strauchelte er und stürzte noch einmal; jetzt fehlte ihm die Kraft, sich zu erheben, sein Hirn vermochte nicht mehr zu denken; aber sein Ziel gab er auch jetzt nicht auf, und wie man zuweilen ein schon getödtetes Thier sich noch vom Platz bewegen sieht, krochen die kraftlosen Glieder noch am Boden hin bis zu den Stufen der Kirche, die das Mädchen mit ihrer Dienerin schon lange verlassen hatte.

In der Frühe des folgenden Morgens war dem schaulustigen Volk von Florenz ein aufregender Anblick beschieden: zwei Sbirren hoben vom Portal der Andreaskirche eine leblose, vor Kälte halb erstarrte Männergestalt aus einer großen Blutlache auf, und die herbeigeeilten Nachbarn erkannten in dem Ohnmächtigen, dessen Körper von Wunden bedeckt war, des alten Rondinelli einzigen Sohn. Man wußte nicht, wer die That gethan, noch wann sie geschehen war, denn niemand hatte in der Nacht Waffenlärm oder Hilferuf vernommen, und was die Neugierigen am meisten beschäftigte, war eine starke Blutspur, die von dem Kirchlein weg durch mehrere Gassen auf eine kleine Piazza führte. Warum der Verwundete sich den weiten Weg bis zur Andreaskirche geschleppt hatte, gab den guten Florentinern viel zu denken, sollte ihnen aber auf ewig ein Geheimniß bleiben. Sie legten ihn auf eine Bahre und trugen ihn so vor seines Vaters Haus, eine Menge Volkes drängte sich nach, und wenig fehlte, so wären die beiden Liebenden auf dem traurigen Wege einander begegnet. Denn gleichzeitig setzte sich eine seltsame Prozession vom Markusplatz, wo das Kloster der heiligen Ursula stand, nach dem Mercato in Bewegung; zwei Knechte der Amieri trugen eine verschlossene Sänfte, zu deren Seite Messer Cione degli Amieri und sein Schwiegersohn waffenklirrend einherritten, daß es aussah, als würde ein gefährlicher Staatsgefangener, nicht ein gebrochenes, fieberndes, halb bewußtloses Mädchen des Weges geführt.

Als Messer Cione hoch zu Roß mit seinem Schwiegersohne vor der Pforte des Klosters erschienen war, um seine Tochter zurückzufordern, denn durch Laurella wußte er schon, daß das Fräulein sich nach dem verfehlten Stelldichein unter den Schutz ihrer Tante geflüchtet, da hatte die Aebtissin sich wohl gehütet, den Zorn des Bruders zu reizen, und das unglückliche Mädchen war, von zwei Klosterfrauen mehr geschleppt als gestützt, ihren Verfolgern ausgeliefert worden.

Als sie im fahlen Morgenlicht an der Seite Messer Ciones die hagere Gestalt ihres Verlobten erblickte, richtete sie sich hoch auf, eine rasche Gluth stieg in ihr bleiches Gesicht, um dort als einzelner rother Fleck zurückzubleiben, ihre erloschenen Augen blitzten auf und sie sagte langsam mit lauter Stimme:

[48] „Messer Ricciardo, da Ihr mein Herr sein sollt, so bin ich Euch wohl ein Bekenntniß schuldig. Wißt, daß ich diese Nacht dem väterlichen Dach entflohen bin, um in die Arme eines andern zu eilen – dieser andere hat mich verschmäht. – Ist ein so edler Herr wie Ihr nicht zu stolz, die verlassene Geliebte eines Rondinelli zum Weib zu begehren?“

Vater und Bräutigam wichen vor ihr zurück, als sie ihnen so mit verwandelten Mienen wie ein Gespenst entgegenschritt; aber nur kurz dauerte der Bann, denn Ginevra hatte ihre Kräfte überschätzt, die Kniee begannen ihr zu zittern, es wurde dunkel vor ihren Augen, und aufschluchzend sank sie in die Arme der herzugeeilten Laurella.

Von den Ereignissen dieses Tages behielt sie ihr Leben lang nur eine dämmernde Erinnerung; sie ließ es betäubt und willenlos geschehen, daß sich fremde Hände mit ihr zu schaffen machten, daß sie in köstliche seidene Gewänder gehüllt und ein Kränzlein von goldenen Blättern in ihre schöngescheitelten Haare gesetzt wurde, aber sie selbst regte keinen Finger, und als die Mädchen ihr zuletzt einen Spiegel vorhielten, damit sie sich in ihrer ganzen Schönheit sehen könne, wandte sie stumm die Augen ab; doch leistete sie auch keinen Widerstand mehr, es konnte scheinen, als bewegten sich ihre Glieder nur noch mechanisch und als sei die Seele schon entflohen. Endlich fand sie sich halb gezerrt und halb geschoben an der Seite ihres Verlobten vor dem Altar; nur wie durch einen Nebel hindurch sah sie die Gestalten ihres Vaters, Messer Baldassarres und einer ehrwürdigen Matrone, die ihr freundlich zulächelte; aber als der Priester nach florentinischem Brauch ein großes reichgesticktes Tuch über das Brautpaar ausbreitete und ihre Hand in die Messer Ricciardos legte, um sie in Ewigkeit zusammen zu geben, da verließ sie das Bewußtsein, und während die Glocken läuteten und von dem Thurm der Andreaskirche die Banner der beiden vereinigten Familien lustig flatterten, wurde die ohnmächtige Braut in das Haus ihres Vaters zurückgetragen.

Wochenlang lag Ginevra zwischen Leben und Sterben, ein bösartiges Fieber fraß an ihrem zarten Körper, dem überdies die herbeigerufenen Aerzte durch abenteuerliche Pillen und Mixturen zusetzten. Oft rief sie in ängstlichen Phantasien Leonardos Namen aus; wenn aber auf einen Augenblick der Schleier des Wahns zerriß, so sah sie stets ein ehrwürdiges Angesicht voll göttlicher Milde, das nur durch einen leisen Kummer wie gedämpft schien, über ihr Kissen gebeugt und eine kühle Hand legte sich liebkosend auf ihre heißen Schläfen, bis sie die Augen aufs neue zu unruhigem Schlummer schloß.

Endlich siegte des Mädchens Jugend über die Krankheit und die Kunst der Aerzte, und als sie aus tiefem wohlthätigen Schlaf erwachend zum ersten Mal mit hellen Augen um sich sah, hafteten ihre Blicke wiederum auf der Gestalt der freundlichen Wärterin an ihrer Seite, die nicht mit den Wahngebilden des Fiebers verschwunden war; ein edles Frauengesicht, von Alter und Sorgen gefurcht, aber von zwei tiefen seelenvollen Augen mild wie eine Mondlandschaft erleuchtet, lächelte sie unter einer weißen Haube voll Liebe an.

Ginevra, der mit den Fieberträumen auch die letzten Ereignisse vor ihrer Erkrankung völlig aus dem Gedächtniß geschwunden waren, ließ sich die Pflege der edlen Frau dankbar gefallen, ohne zu forschen, wer sie sei; es dämmerte ihr nur, als hätte sie diese Gestalt schon früher einmal in einem schweren Augenblick gesehen; aber was damals geschehen war, wußte sie nicht und wollte es auch nicht wissen, denn sie vermied es instinktmäßig, nach ihrem Namen zu fragen, und da sie hörte, daß das Gesinde die edle Greisin Madonna Alessandra nannte, so redete auch Ginevra sie mit diesem Namen an und nur in Augenblicken dankbarer Aufwallung nannte sie sie „Mutter“, ohne zu wissen, wie nahe sie damit der Wahrheit kam.

Solange Ginevras Rekonvalescenz dauerte, blieben die beiden Frauen unzertrennlich. Madonna Alessandra leistete der Genesenden alle jene kleinen Dienste, die man am liebsten aus mütterlichen Händen empfängt; sie leitete sie, als ihr das Aufstehen gestattet wurde, an ihrem eigenen Arm auf den Söller, um gemeinsam der frischen Luft zu genießen, und führte sie, wenn sie müde war, wieder in ihr Bett zurück. Und wie sie sich im Gehen auf den Arm der hohen Frau stützte, so ward Ginevra ganz unmerklich daran gewöhnt, sich auch in ihrem Fühlen und Denken von der edlen Pflegerin leiten zu lassen, wozu ihre langen Zwiegespräche häufige Veranlassung boten.

Wer sich aber mit dem langsamen Gang der Dinge durchaus nicht zufrieden gab, das war Messer Ricciardo. Die vielen Hindernisse, die sich seiner Werbung in den Weg gestellt, hatten seine Leidenschaft für Ginevra noch mehr angefacht und er brannte vor Ungeduld, das schöne Geschöpf, das nun bereits sein angetrautes Weib war, auch wirklich heimzuführen. Er stand oft stundenlang unter dem Palast der Amieri, um die Heißbegehrte wenigstens von fern zu sehen, wenn sie auf den Söller steige, und häufig machte er seiner Mutter Vorwürfe, daß sie ihm nicht behilflich sei, rascher an das Ziel seiner Wünsche zu gelangen, wogegen ihm Madonna Alessandra milde entgegenhielt, daß sie Ginevra, die ihre Vermählung ganz vergessen zu haben schien, langsam auf ihr Schicksal vorbereiten müsse.

Aber dem Sohne wurde die Zeit zu lang und mit Zustimmung Messer Ciones, der auch nicht viel auf lange Umschweife und zartes Zuwarten hielt, trat er eines Tages, als Madonna Alessandra sich eben entfernt hatte, unerwartet in das Zimmer seiner jungen Gemahlin.

Bei seinem plötzlichen Erscheinen gab Ginevra keinen Laut des Schreckens von sich, sie drückte nur beide Hände auf die Brust und starrte ihn mit weit offenen, ängstlich forschenden Augen an, als suche sie halbverwischte Eindrücke in ihrem Gedächtniß zusammen; da er aber mit schmeichelnden Worten näher trat und ihr die zusammengepreßten Hände von der Brust ziehen wollte, stieß sie einen tiefen Seufzer aus, ihr Gesicht entfärbte sich und sie brach ohnmächtig zusammen.

Ricciardo mußte sich erschrocken und ingrimmig zurückziehen, während die rasch herbeigerufene Frau Alessandra sich um das Mädchen bemühte.

Aber sobald ihr die Besinnung zurückkehrte, zerfloß Ginevra in Thränen und wies auch Alessandras Pflege von sich, indem sie sagte:

„Ja, nun erinnere ich mich: Ihr standet an meiner Seite, aber bei Euch war Einer, den ich fürchte, Einer, dessen Anblick mir das Herz versteinert. – Der Priester legte meine Hand in die seinige – ein Tuch fiel über mich schwer und schwerer, bis es ein Bahrtuch ward und mich erstickte. – Wie ein böser Traum hat mich das Bild verfolgt, aber nun weiß ich – Ihr seid seine Mutter.“

Diesmal verhüllte ihr keine wohlthätige Betäubung das Bewußtsein ihrer Lage, sie wälzte sich in Thränen auf ihrem Bette und flehte tausendmal den Tod um Erlösung an, dann erhob sie sich schwach wie sie war vom Lager, kniete vor der Matrone nieder und sagte flehend:

„Mutter, ist denn keine Rettung mehr für mich?“

Alessandra weinte mit ihr, sie zog sie in ihren Armen in die Höhe und liebkoste sie, wie man ein Kind beschwichtigt.

„Hätt’ ich es doch zu hindern vermocht!“ sagte sie. „Aber was bleibt Dir übrig? Er ist nun einmal Dein Gatte.“

„Sieh,“ fuhr sie fort, „wir leben in grausamen Zeiten, wo das Frauenschicksal ein Märtyerthum ist, denn die Kämpfe der Männer haben Zustände geschaffen, die wir wie eine göttliche Weltordnung hinnehmen müssen. Vielleicht werden einst für unsere späten Enkelinnen bessere Zeiten kommen – wir können nur beten und uns beugen. – Hat man Euch jungen Mädchen denn nie von den alten Geschichten dieser Stadt, von dem Bürgerkrieg mit all seinem Elend und Greuel erzählt?“

Ginevra nickte und leise Röthe stieg in ihr Gesicht, denn sie dachte an Leonardo und den Brand ihres Palastes, aber die Matrone achtete nicht darauf; ihre Gedanken flogen weiter zurück.

„So müßt Ihr auch wissen, was das Los Eurer Mütter und Großmütter gewesen ist. Und Du konntest glauben, Du armes Kind, Du allein werdest eine Ausnahme machen, Du allein werdest Rosen pflücken und auf Blumenteppichen wandeln, wo für alle andern nur Dornen gewachsen sind?“

Ginevra stand mit gesenkten Augen, denn die Greisin hatte in ernstem Ton wie noch nie zu ihr gesprochen.

Madonna Alessandra streichelte ihr die Wangen und zog sie zu sich auf den gepolsterten Sitz nieder.

„Du sollst heute die Geschichte meines Lebens hören,“ sagte sie, „wie ich sie jeder meiner Töchter am Hochzeitstag erzählte, damit sie daraus die Ergebung in einen höheren Willen lernen sollten. Man trägt ja leichter seine eigenen Schmerzen, wenn man die Härte eines fremden Geschickes erfahren hat, und Du bist nun ganz und gar meine eigene liebe Tochter geworden.

[49]

Schluß der Gemeinderathssitzung.
Nach dem Oelgemälde von Hans Bachmann.

[50] Ich stamme aus dem Hause der Bardi, wie Du wissen wirst, einem der ersten und ältesten in Florenz. Die Sonne des reinsten Glückes strahlte über meiner Jugend, denn vom Himmel war mir die seltene Gnade zu theil geworden, daß die Neigung meines Herzens mit der Wahl meiner Eltern zusammentraf. Der Gegenstand meiner heimlichen Liebe wurde mir von den beiderseitigen Familien zum Gatten bestimmt. Mein ganzes Leben hindurch unter den härtesten Prüfungen, die mir das Schicksal auferlegte, stand die Erinnerung an jene goldenen Zeiten wie ein tröstlicher Stern über meinem Haupt. Nichts stellte sich der Verbindung in den Weg, die sofort mit großem Pomp in Gegenwart aller Verwandten gefeiert wurde, und wohl nie hat eine Braut mit seligeren Gefühlen den Ring aus der Hand des Bräutigams entgegengenommen. Aber die Ehe begann unter trüben Vorzeichen.

Ein begüterter Popolane, dessen Bewerbungen um meine Hand von meinem Vater zurückgewiesen worden waren, hatte eine falsche Denunziation gegen meinen Gatten vorgebracht und es einzurichten gewußt, daß der unglückliche Piero mitten aus den Vermählungsfeierlichkeiten heraus, noch ehe er mich in sein eigenes Haus abgeholt hatte, vor die Signoria gestellt und von da ohne Urtheil noch Verhör ins Gefängniß geworfen wurde, wo er zwanzig lange Monate schmachtete.

Ich ward von dem Gipfel des Glücks plötzlich in die Nacht der tiefsten Verzweiflung hinabgestürzt. Tage lang stand ich vor dem Gefängniß und starrte die düstern, fensterlosen Mauern an, die mein köstlichstes Kleinod verschlossen. Noch hatte ich ihn nicht ein einziges Mal ans Herz gedrückt und doch war er mein, mein Gatte, dem jedes Haar von meinem Haupte gehören sollte. Und ich wußte nicht, ob er aus den Kerkermauern je wieder an das Tageslicht zurückkehren würde, denn schon mancher war hinter jener schwarzen Eisenthür auf immer verschwunden. Alle Schritte, etwas von dem Gang des Prozesses und dem Schicksal des Gefangenen zu erfahren, waren vergeblich. Man begann mich als eine Witwe zu betrachten, neue Freier stellten sich ein, die den geschlossenen Bund für ungültig erklärten, da ich ja das Haus meines Gatten noch nicht betreten hatte, aber ich wies sie mit Entrüstung zurück. Auch jener Popolane wiederholte seine Bewerbungen, indem er durchblicken ließ, daß meine Antwort auf das Los des Gefangenen von Einfluß sein könnte, und noch jetzt danke ich es meinem Vater, daß er den Versucher mit Schimpf aus dem Hause trieb, ohne mich den Seelenqualen einer solchen Entscheidung auszusetzen.

Endlich, nach fast zwei Jahren, wurde Piero in Freiheit gesetzt[WS 2], ohne je eine Erklärung über die Ursache seiner Gefangenschaft zu erhalten. Die Denunziation hatte sich als falsch erwiesen, aber von einer Bestrafung des Schuldigen war nie die Rede. Doch sollten wir auch jetzt keines ungetrübten Glückes genießen, denn Pieros Gesundheit hatte unter der langen Haft und den vielen Entbehrungen und Mißhandlungen schwer gelitten.

Ein Jahr nach unserer endlichen Vereinigung ward uns zur Erfüllung unserer heißesten Wünsche ein Knäblein beschert und wir glaubten darin ein Zeichen zu sehen, daß der Grimm des Schicksals nun versöhnt sei. Aber dieser flüchtige Sonnenstrahl war nur der Vorbote neuer entsetzlicher Stürme.

Ein paar Wochen nach der Geburt unseres Sohnes ward mein Vater unter Anklage des Hochverraths verhaftet. Seit der ungerechten Gefangennahme Pieros hatte ihm der Groll über die Unterdrückung des Adels keine Ruhe mehr gelassen und er war – ohne unser Wissen, das kann ich bei Christi Blut beschwören – einer Verschwörung beigetreten, die den Umsturz des Staates bezweckte. Das Komplott wurde entdeckt. Wie Feuer flog die Nachricht von Haus zu Haus, ganz Florenz gerieth in Bewegung, alle Handwerker stellten ihre Arbeit ein, die Glocken wurden geläutet, die Läden geschlossen und in den Straßen wogte es Kopf an Kopf, als feiere Florenz ein Freudenfest. Die Zünfte traten unter Waffen und sperrten mit wehenden Fahnen den Zugang zu meinem väterlichen Palast.

Ich stand in einem Nachbarhause am Fenster, meinen säugenden Pierino auf dem Arm, und wartete mit Zittern auf das Gericht, das über uns hereinbrach. Noch meine ich den dröhnenden Schritt der Hellebardirer zu hören, der näher und näher die Straße heraufkam. Mit teuflischer Zerstörungswuth und unter dem Beifallsgeschrei der Menge warfen sich die Maurer und Zimmerleute mit eisernen Werkzeugen bewaffnet auf unser Haus; ich vergoß heiße Thränen, als ich die liebe Heimstätte meiner Kindheit, Stein um Stein krachend, in Schutt und Trümmer stürzen sah. Ach, es waren nur Steine, um die ich weinte, ich ahnte nicht, daß zu gleicher Stunde im Gefängnißhof auch das theure Haupt meines Vaters fiel.“

Die Greisin lehnte sich erschöpft an die Wand zurück und schloß die Augen. Ginevra drückte sich schauernd an sie und hielt ihre beiden Hände fest.

„Es war nur der Anfang meines Elends,“ fuhr sie fort. „Doch ich will Dein weiches Herz nicht mit all den schauerlichen Einzelheiten des Prozesses, in den wir alle verwickelt wurden, zerfleischen. Das Ende war, daß die Güter meines Vaters, wie die der andern Verurtheilten, eingezogen wurden und die Familien der Verschworenen, darunter ich mit all meinen Brüdern, in die Verbannung wanderten. Mein Gatte ging wie durch ein Wunder frei aus, denn seine Kränklichkeit ward für einen Beweis seiner Unschuld aufgenommen, während falsche Zeugen meine Mitwissenschaft beschworen. Doch konnte ich mich nie des Verdachts erwehren, daß die, welche mein Unglück wollten, nur diesen Weg gewählt hatten, um mich durch die Trennung noch schmerzlicher zu treffen, denn meines Gatten inständige Bitte, mich ins Exil begleiten zu dürfen, wurde von den Mächtigen abschlägig beschieden. Bologna ward uns als Aufenthaltsort angewiesen; ich nahm mein säugendes Kind auf die Arme und Piero durfte mich bis zum Thor begleiten. Unter dem Bogen der Porta al Prato hielt er mich zum letzten Mal im Arm; ich war so erstarrt vor Jammer, daß ich seinen Abschiedskuß nicht erwidern konnte, meine Brüder machten mich aus seinen Armen los und hoben mich wie eine leblose Statue aufs Pferd. Ich habe ihn nie wieder gesehen.“

Madonna Alessandra schwieg aufs neue und ihr Geist schien sich ganz in die alten Erinnerungen zu versenken. Erst nach einer Weile nahm sie den Faden ihrer Erzählung wieder auf:

„In Bologna lebten wir ungefähr vier Jahre. Wir waren nicht gänzlich mittellos, denn mein Vater hatte, ehe er den verhängnißvollen Schritt that, Sorge getragen, einen Theil seiner Habe bei auswärtigen Banken zu sichern. Obwohl es Florentinischen Bürgern bei schwerer Strafe untersagt ist, mit Verbannten die mindesten Beziehungen zu unterhalten, hatten Piero und ich doch Mittel gefunden, um in stetem schriftlichen Verkehr zu bleiben. All seine Briefe strömten über von Sehnsucht und dem Wunsch, mich in Bologna aufzusuchen, aber ich wußte ihn durch dringende Vorstellungen zu beschwichtigen, denn ich fürchtete nichts so sehr, als daß er durch eine solche Uebertretung der Gesetze neue Gefahren auf sein Haupt herabbeschwöre; waren wir doch von Spionen umringt. O, daß ich so verblendet war, sein Kommen zu hintertreiben! Aber wessen Seele von so viel Schicksalsschlägen zermalmt ist, der wird feige und wagt das Glücksspiel nicht mehr, in dem alles gegen alles gesetzt werden muß.

Plötzlich, gerade um die Zeit, wo mein Heimweh aufs höchste gestiegen war, blieben Pieros Briefe aus. Wochen und Monate vergingen, ohne daß ich Nachricht erhielt, ich schlich immer noch wie ein Schatten umher und hätten meine Brüder mich nicht aufs schärfste bewacht, ich glaube, ich wäre zu Fuße auf und davon gegangen. Doch eines Tages – ich meine, es sei gestern gewesen – hielt mir ein Mann in Lumpen, dessen Gesicht mir bekannt schien, auf der Straße die Hand entgegen. Ich wollte im Vorübergehen eine Münze hineinlegen, da knitterte ein Papier zwischen meinen Fingern. Mein Beichtvater schrieb mir, daß Piero schwer krank sei und unfähig die Feder zu halten, er bitte um einen letzten Abschiedsgruß von meiner Hand und um ein Löckchen unseres Kindes, das ihn in die Erde begleiten solle.

Als ich dieses Schreiben erhielt, hatte all mein Schwanken und Fürchten augenblicklich ein Ende und der Entschluß, zu gehen und meines Gatten letzten Seufzer zu empfangen – sollte es auch das Leben kosten – stand fest. Meinen Brüdern, die ihre Gewalt über mich brauchen wollten, um mich zurückzuhalten, antwortete ich kühn: Wenn Ihr Männer das Recht habt, Euren Kopf feilzutragen für eine Chimäre von Staatsverfassung, die nicht länger dauert als von Weihnachten bis Ostern, wie sollte es da einem Weibe nicht gestattet sein, für ihre Pflicht und Liebe dasselbe zu wagen?

Meinen süßen kleinen Pierino übergab ich meinem ältesten Bruder und dessen Frau, und der sinkende Abend sah mich unterwegs nach Florenz, nachdem ich schon die Nachricht von meiner [51] Ankunft durch einen vertrauten Diener vorausgesandt hatte, der die Unterstützung erhabener Freunde für mich werben sollte, um mir in die Stadt zu helfen.

Aber ach, das Glück, das mir niemals lächelte, versagte auch bei diesem Unternehmen seinen Beistand. Mein Bote, der ein gutes Wams trug und ein edles Roß ritt, um schneller vorwärts zu kommen, wurde auf Florentiner Markung von bewaffneten Dieben angefallen und ausgeraubt. Als sie statt Geldes meinen Brief bei ihm fanden, beschlossen sie, aus diesem Funde Nutzen zu ziehen und den hohen Preis, der auf die Entdeckung staatsgefährlicher Umtriebe – denn so nennt man den Verkehr mit den Verbannten – gesetzt ist, zu verdienen.

Ich erreichte Florenz am andern Morgen und stahl mich mit einem Knecht, der mir gefolgt war, verkleidet durch den Thorweg, durch denselben, auf dem ich vor vier Jahren von Piero Abschied genommen hatte im herzbeklemmenden Vorgefühl, es könne der letzte sein. Laß mich schweigen von der entsetzlichen Aufnahme, die mir bereitet war! Kannst Du Dir den äußersten Schimpf vorstellen, der je einer Frau widerfahren ist? Kannst Du Dir denken, daß man Matronen aus edlen Häusern, Frauen wie die Landstreicherinnen auffängt und sie entblößt unter dem Hohngelächter und den Kothwürfen der Menge durch die Straßen von Florenz peitschen läßt? An diesem schrecklichen Tage haben selbst die Engel Gottes ihr Haupt verhüllt!

Im Gefängniß fand ich meine Besinnung wieder, aber mein Gott, in welcher Gemeinschaft! Mit schlechten Dirnen, vagabundirenden Weibern, die man täglich von der Straße auflas, mit Diebinnen und Kupplerinnen wurde die Tochter des stolzen Alessandro de’ Bardi zusammengeworfen, denn sie hatten, um mich desto tiefer zu demüthigen, meine Uebertretung als Landstreicherei bezeichnet. Zuerst erstarb jedes andere Gefühl in mir, nur der tödliche Haß gegen das übermüthige, frevlerische, von Gott verfluchte Krämergeschlecht tobte in meiner Seele. Aber Monde um Monde vergingen, ohne daß ich eine Aenderung erfuhr, ohne ein Zeichen von der Außenwelt, allein, der schmachvollsten Gesellschaft preisgegeben, die quälende Angst um meinen Gatten und um mein verlassenes Kind im Herzen. Meine Mitgefangenen wechselten, denn die einen starben weg, die andern wurden freigegeben, und für mich schlug die Stunde der Erlösung nicht.

Da fiel endlich in meine verfinsterte Seele ein Strahl der Gnade, ich überdachte all das entsetzliche Leid, das seit Anbeginn auf Erden gewaltet hat, und wie keiner verlangen darf, vor seinen Mitgeschöpfen bevorzugt zu sein.

Ich warf meine Augen umher und sah meine Mitgefangenen leiden; nun verachtete ich sie nicht mehr, sondern richtete sie auf und suchte sie zu trösten, und ich fand auch noch inmitten der tiefsten Verderbniß Spuren der Menschlichkeit. Auch rief ich mir zurück, was ich von den alten Geschichten dieser Stadt gehört hatte, und ich erkannte, daß die Vergehen von beiden Seiten gleich gewesen vor dem Herrn, und daß jede Partei ihre Stärke gemißbraucht habe. Da beugte ich meine Seele nicht vor den Menschen, aber vor Gott.

Doch der Herr hatte mir das Herz nur gereinigt, um mich auf neue noch härtere Prüfungen vorzubereiten. Während ich im Gefängniß schmachtete, war in Florenz die Verfassung umgestürzt worden, die Granden behielten wieder einmal auf kurze Zeit die Oberhand und die Verbannten wurden zurückgerufen.

Meine Brüder suchten mich monatelang vergeblich, denn in der allgemeinen Unordnung waren die Listen der Gefangenen vernichtet worden, und sie begannen mich schon für todt zu betrachten, als sie mich eines Tages im Grund meines schmutzigen Kerkers entdeckten. Ich sah die Sonne nur wieder, um sie zu hassen; am selben Tag, wo ich schmachvoll durch die Gassen von Florenz gezerrt wurde, hatte mein theurer Gatte, ohne zu ahnen, wie nah ich ihm sei, in den Armen meines Beichtvaters die Seele ausgehaucht und sein letzter Seufzer war mein Name gewesen. Einige Monate später war mein holdseliger kleiner Pierino, mein Liebling, das Kind meiner Liebe, einer in Bologna ausgebrochenen Kinderkrankheit erlegen. Ich erfuhr das alles und lebte noch.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Die neue Biographie Schillers von Otto Brahm (im Verlag von Wilhelm Hertz in Berlin) ist keine Anhäufung todten Materials, obschon alle Mittheilungen, auch manche erst neuerdings bekannt gewordene Korrespondenzen benutzt worden sind. Die ganze Darstellung ist in lebendigem Fluß gehalten; die einzelnen Kapitel runden sich zu selbständigen Lebensbildern ab, und als Medaillons in diesem Fries der fortlaufenden Erzählung sind die Charakteristiken der einzelnen Dichtwerke angebracht. Es handelt sich in diesem Bande besonders um die drei Jugenddramen: „Die Räuber“, „Fiesco“, „Kabale und Liebe“. Ueber die Quellen, aus denen Schiller bei diesen Werken geschöpft hat, ist ja schon sehr viel gesagt worden, aber eine so erschöpfende und überzeugende Darstellung, nicht bloß dieser Quellen, sondern auch der Anregungen und Vorbilder Schillers bei seinen Jugenddichtungen haben wir in den bisherigen Biographien noch nicht gefunden. Die Kritik trifft die Schwächen der Dichtungen, besonders in Motivirung und Aufbau; aber sie thut der warmen Anerkennung ihrer Bedeutung keinen Eintrag. So sagt Brahm von „Kabale und Liebe“: „Je weiter wir von dem Werk abstehen, je unbefangener wir seinen socialen und seinen poetischen Gehalt haben kennen lernen, in desto wärmerer Bewunderung treten wir vor diese einzige Schöpfung hin. Unzerstört und unzerstörbar ist der dramatische Gehalt des Werkes; und wie hoch auch Schiller an ästhetischer Einsicht und ethischer Klarheit noch gestiegen ist, unmittelbarere Bühnenwirkung hat er nirgends erzielt als hier. In dem weitverzweigten Gebirgsstock, welchen wir das deutsche bürgerliche Drama nennen, ist ‚Kabale und Liebe‘ der alles überragende Gipfelpunkt, und wo immer eine kräftige Weltanschauung modernes Leben abzuspiegeln sucht im Lichte der Scene, mag sie an diesem durch die Folge der Zeiten weithin sichtbaren Bilde sich in Größe und unerschrockener Wahrheit stärken.“

In der That ist die Bühnenwirkung des zweiten Aktschlusses von dem Dichter selbst kaum wieder erreicht worden; sie zündet überall, selbst bei mäßiger Darstellung. Und so war’s schon bei der ersten Aufführung des Stücks im Frühjahr 1784 in Mannheim: „Als die großartige Ensemblescene mit feuriger Wahrheit war gespielt worden, geschah etwas ganz Ungewöhnliches: die Zuschauer erhoben sich enthusiastisch von den Sitzen und brachen in ein stürmisches, einmüthiges Beifallrufen und Klatschen aus.“ Und mit demselben Enthusiasmus wird dieser meisterhaft sich steigernde Aktschluß auch noch jetzt nach hundert Jahren aufgenommen.

Der erste Band der Biographie Otto Brahms umfaßt die Heimathsjahre und Wanderjahre des Dichters und reicht bis zu der Zeit, wo er den Süden Deutschlands verließ und sich nach Leipzig wandte.

Die Knabenjahre des großen Dichters werden uns recht anschaulich geschildert, ebenso die Jünglingsjahre mit ihrer spannenden Romantik: die Flucht aus Stuttgart, der Aufenthalt in Mannheim, Oggersheim und Baumbach. Zum ersten Male wird darauf näher eingegangen, daß Schiller eigentlich schon in Ungnade gefallen sein mußte, als er die Karlsschule verließ; denn der Herzog wies ihm die subalterne Stellung eines Regimentsmedikus ohne Portepée mit 18 Gulden Monatsgehalt an. Schillers Vater ohne die acht Jahre akademischen Studiums hatte es als Regimentsfeldscheer bei seinen Husaren einst auf das Doppelte gebracht. Den Freunden aus der Akademie, welche in den Militärdienst getreten waren, sah sich Schiller nun untergeordnet: Lieutenant Scharffenstein und Lieutenant Kapff waren seine Vorgesetzten. Bei 21 Jahren und dem Ehrgeiz Schillers war über solche Rangfragen mit keiner Philosophie hinwegzukommen; seinen Degen ohne Quaste sah er als ein Abzeichen an, das ihn unablässig an die Subordination erinnern sollte.

Die Bilder der andern Charaktere, welche in Schillers Leben damals eingriffen, sind alle durchaus anschaulich und mit lebensvollen Farben geschildert. Das gilt besonders von Schillers Vater, über den alle Ueberlieferungen sorgfältig zusammengetragen und zu einem mit Vorliebe ausgeführten Bilde verwerthet worden sind. Auch das Bild des Herzogs Karl tritt in scharfen Umrissen vor uns hin, der tyrannische Zug in ihm wird aus dem Geiste seiner Zeit begriffen.

Von den Jugendgenossen Schillers treten der wackere Streicher und Scharffenstein am meisten in den Vordergrund. Der Theaterintendant Freiherr von Dalberg wird ohne Ueberschätzung geschildert, seinem Enthusiasmus der Vorwurf eines flüchtigen Strohfeuers nicht erspart. Wohl gelungen, nach guten Vorlagen gezeichnet und retouchirt sind die weiblichen Gestalten, welche den Antheil des jugendlichen Dichters gewannen, vor allem Margarethe Schwan und Charlotte von Kalb. Doch man darf aus dem Gefüge dieser künstlerisch aufgebauten Lebensbeschreibung, deren Stil ein maßvoller und wohlerwogener ist, nicht einzelne Steine herausbrechen; man muß sich ihrer Gesammtwirkung erfreuen, und diese ist, soweit das Werk erschienen, eine durchaus harmonische. Diese neueste Biographie des unsterblichen Lieblingsdichters des deutschen Volkes wird – wir zweifeln nicht daran – zu einem Lieblingswerke der Deutschen werden.  

Die Göttin der Vernunft. (Mit Illustration S. 40 und 41.) Das lebendige Gemälde von Coëssin de la Fosse[WS 3] zeigt uns das in den stürmischen Jahren der ersten französischen Revolution feierlich begangene Fest der Vernunftgöttin, welche die Freigeister des Konvents, die Stürmer und Dränger der Kommune an die Stelle der bisher andächtig verehrten Gottheit setzen wollten. Anacharsis Cloots, der Apostel des Menschengeschlechtes, Chaumette, der Syndikus der Pariser Gemeinde, Hebert, der Herausgeber des Schmutzblattes „Père Duchesne“, und andere Gleichgesinnte waren die Urheber dieses Festes, welches die Bevölkerung der Hauptstadt in einen wilden Taumel versetzte und mit der Entweihung der Kirchen und wüsten Gelagen jeder Art verbunden war. Die damaligen Machthaber Frankreichs, vor allem Robespierre, hielten sich grollend beiseite, ließen das Volk eine [52] Zeitlang austoben, bis der Rausch vorüber war. Dann schickte der tugendhafte Advokat von Arras die Veranstalter dieser großartigen Volkskomödie aufs Schaffot und feierte selbst das Fest des höchsten Wesens, das ebenfalls mit großen Umzügen, glänzendem Pomp und symbolischen Schaustellungen begangen wurde.

Ein schönes Weib sollte die Göttin der Vernunft vertreten; in Paris war es beim ersten Festzug die Schauspielerin Maillard, welche in der duftigen Tunika, den Speer in der Hand, auf hohem Thronsessel durch die Straßen getragen wurde, vom Jubel des Volkes begrüßt; wir sehen sie im Mittelpunkte unseres Bildes, mit der Haltung einer Viktoria, stolz herabsehen auf die vielköpfige Menge. Ein Geleite von Frauen und Mädchen in weißen Gewändern, mit luftigen Schleiern, umgiebt sie; doch es fehlen auch im Zuge nicht die Furien der Guillotine, nicht die wildesten, blutdürstenden Jakobiner. Voraus zieht die Bürgergarde; ihr Musikcorps beginnt den Zug und mischt seine schmetternden Klänge in das Jauchzen des Pöbels. Wo dieser sich zu weit vordrängen will, hemmen ihn die Stadtmilizen und die vorgestreckten Speere der Pikenträger; doch die Neugierigen sind auf Gerüste aller Art und auf Wagen geklettert, um „die Göttin“ und den Zug mitanzusehen. Freche Dirnen im Vordergrunde freuen sich der neuen „Religion“ und glauben, daß ihre Stunde jetzt geschlagen hat; vielleicht fällt auch ihnen das Los zu, einmal die Göttin zu spielen und vor dem ganzen Volk von Paris mit ihren Reizen zu glänzen; aber auch an Mißvergnügten fehlt es nicht, die mit düsteren Mienen und geballter Faust auf diese Entweihung des Heiligen, auf diese Wiedergeburt eines die Sinne berauschenden Heidenthums blicken.  

Ein gefährlicher Feind der Pflanzenwelt. Wie die Entwickelung kleinster mikroskopischer Lebewesen im thierischen Körper zu epidemisch auftretenden, wahrhaft verheerenden Krankheiten die Veranlassung werden kann, so finden wir auch im Reich der Insekten ganze Reihen von Arten, die durch ihr massenhaftes Auftreten in der Pflanzenwelt die kolossalsten Verwüstungen angerichtet haben. Viele von unseren Lesern haben schon gewiß von dem furchtbaren Eingriff gehört, welchen in der Mitte der fünfziger Jahre die Raupe der Nonne (Liparis monacha L.) in die ausgedehnten ostpreußischen Forsten machte und in ein paar Jahren, trotz des Einsammelns von etwa 300 Pfund, ungefähr 150 000 000 Eiern und der Unschädlichmachung von 1 500 000 weiblichen Schmetterlingen, eine Gesammtfläche von 32 931 Morgen in eine mit Baumleichen bedeckte Wüste verwandelte. Oder von der Larve des Getreidelaufkäfers (Zabrus gibbus F.), die in Mähren, Böhmen, im Mansfelder Kreise etc. während weniger Nächte große Flächen Weizen- und Roggensaat verschwinden ließ.

Das bandfüßige Grünauge.
a natürl. Größe. b vergrößert. c „Gicht“ des Gerstenhalmes.

Oder von dem kleinen, kaum 1 Linie langen Fichtenborkenkäfer (Bostrychus typographus L.), der in den siebziger Jahren die schönsten Fichtenbestände des Böhmerwaldes schonungslos dem Tode weihte. Oder soll ich etwa hinweisen auf die Kalamität, welcher die schönsten Weinkulturen Frankreichs, Ungarns und bereits auch schon unseres deutschen Vaterlands durch die Reblaus (Phylloxera vastatrix Pl.) bis auf den heutigen Tag noch ausgesetzt sind?

Vor kurzem vernahmen wir laute Klagen über die in einzelnen Theilen Schwedens von Insekten angerichteten Verwüstungen, namentlich auf Gersten- und Roggenfeldern. Auf der Insel Gottland war, nach dem Bericht des schwedischen Staatsentomologen Herrn Holmgren, durch die Larve einer Fliegenart, der Kornfliege oder des bandfüßigen Grünauges (Chlorops taeniopus Mg.) die Gerste zur Hälfte zerstört worden im Werthe von etwa anderthalb Millionen Kronen oder gegen zwei Millionen Mark, und nach den Angaben des Herrn von Post ist in der Provinz Upland wenigstens ein Drittel der Roggenernte durch das übermäßige Auftreten derselben Fliege zu Grunde gegangen.

Dieses kleine, anderthalb bis höchstens zwei Linien messende grünäugige Insekt ist großentheils glänzendgelb. Die am queren, gelben Kopfe sitzenden Fühler mit den kreisrunden Endgliedern sind durchaus schwarz wie auch das kleine Scheiteldreieck, dessen Spitze vorn etwa bis zur Mitte der Stirn reicht und dessen hinterer Rand sich mit den schwärzlichen Striemen des Hinterkopfes vereinigt. Das gelbe Brustschild trägt auf seinem Rücken drei breite, glänzend schwarze Längsstreifen, deren mittelster, durchaus gleichbreiter bis zur Basis des gelben Schildchens reicht, während die beiden seitlichen sich nach hinten zu etwas verschmälern und nach vorn hin abkürzen. Außerdem finden wir noch einige schwarze Punkte und Strichelchen über den Flügelwurzeln und an den Brustseiten sowie auf dem kurzen Hinterleibe vier schwarzbraune Querbinden. Die Beine sind durchaus gelb, nur die vordersten an den Füßen schwarz, beim Männchen mit einem gelben Mittelringe gebändert.

Zur Zeit, wo die Aehre noch tief unten im Halme verborgen sitzt, legt unser Grünauge seine Eier zwischen die Blätter. Die nach ungefähr 10 Tagen ausschlüpfenden Larven fressen gewöhnlich vom obersten Knoten aufwärts, weil dort noch der Halm am zartesten ist, unregelmäßige und bald braun werdende Furchen, wodurch knotige Anschwellungen und Verdickungen entstehen, die von den Engländern als „Gicht und Podagra“ bezeichnet werden. Natürlich kann unter solchen Umständen sich keine gesunde Aehre entwickeln; dieselbe bleibt vielmehr zwischen den Blättern sitzen und wenn sie ja zu Tage sich quält, so trägt sie doch keine oder höchstens nur wenige unvollkommen entwickelte Früchte.

Oberes Halmstück von Weizen mit der Fraßstelle, welche durch Wegnahme der Scheide bloßgelegt ist.

„Die erwachsene, etwa 2 Linien lange Larve verpuppt sich in der Regel am Halme oder in der Aehre. Curtis fand die Tonnenpüppchen am 7. August an Weizenhalmen und erhielt daraus am 16. die Fliege. Am 2. Juli fand er dieselben an geil gewachsenen Gerstenpflanzen, die äußerlich ganz gesund aussahen; aber beim Entfalten der Blätter ergab sich eins der Herzblätter als gelb, todt und angefressen und der Halm zerstört. Einen Zoll etwa vom Knoten entfernt saß die braune Tonnenpuppe zwischen den Blättern; bei einer andern Pflanze befand sich dieselbe etwas höher, die junge Aehre war zerstört und an der Spitze gebräunt.“ Nach 17 bis 21 Tagen Puppenzustand kommt die Fliege zum Vorschein.

Es giebt sehr viele und ähnliche Chlorops-Arten, die auch in der Lebensweise übereinstimmen, bisweilen in ungeheuren Schwärmen vorkommen und dann natürlich der Landwirthschaft großen Schaden verursachen. Die Berliner entomologische Zeitschrift veröffentlichte 1857 Folgendes: „Im Spätsommer stiegen von dem Dache eines Hauses in Zittau dichte Wolken auf und glichen so täuschend einem aufwirbelnden Rauche, daß man mit Spritzen und Wasser herbeieilte, um das vermeintliche Feuer zu löschen. Die genauere Untersuchung ergab, daß Millionen einer kleinen Fliegenart, des großnasigen Grünauges (Chlorops nasuta M.) aus einer durch einen abgebrochenen Dachziegel entstandenen Lücke im Dache hervorschwärmten und so zu der Täuschung Veranlassung gaben. Gleichzeitig fand sich dieselbe Fliege in und an einigen anderen Häusern der Stadt in ungeheuren Mengen.“ Ob etwa Stroh oder Heu auf den Böden der in Rede stehenden Häuser aufbewahrt gewesen, wurde leider nicht gesagt. Die größte Vorsicht ist diesem verwüstenden Insekt gegenüber geboten, und genaue Beobachtungen desselben werden hoffentlich die Mittel zu seiner rechtzeitigen Vernichtung erkennen lassen.

Schluß der Gemeinderathssitzung. (Mit Illustration S. 49.) Trotz der Schwüle des heißen Sommertages ist die Berathung des Gemeindevorstandes eine sehr lebhafte und eingehende gewesen. Das ist, namentlich nach einer üppigen Mahlzeit, eine anstrengende Thätigkeit, da sie einen bedeutenden Aufwand geistiger Spannkraft erfordert. So ist denn auch die anregende Debatte unter Mitwirkung der schwerlastenden Verantwortlichkeit des zu verwaltenden Amtes auf eines der imponirendsten Mitglieder des hohen Rathes nicht ohne merklich erfolgreichen Einfluß geblieben. Von der Sorge um das Gemeindewohl getrieben, ist der wohlbeleibte Gemeinderath, über die beste Lösung der heiklen Fragen und Probleme nachgrübelnd, in tiefandächtige Betrachtung versunken. In seinem anerkennenswerthen Ringen nach Klarheit zum Heile seiner Mitbürger scheint er sich auf dem besten Wege zu befinden oder gar bereits das rechte Universalmittel entdeckt zu haben, wie sich wohl aus einem wiederholten energischen Nicken des runden rothen Hauptes sowie aus dem diese Bewegungen begleitenden wohlgefälligen Grunzen schließen läßt. Seine neben ihm sitzenden Kollegen aber sind boshaft genug, die Gestikulationen und schnarrenden Baßlaute als Symptome eines gesunden Mittagsschläfchens zu deuten. Und schließlich scheinen sie mit ihrer Voraussetzung in der That nicht so unrecht zu haben. Bleibt doch der Wackere, als die Sitzung geschlossen worden und die edlen Rathsherren einer nach dem anderen ganz sachte auf den Zehen davonschleichen, um den in süßem Schlummer Befangenen nicht aufzuwecken, allein auf seinem Platz in unverändert gemächlicher Lage zurück. An der Thür aber fassen die Schelme Posto, um von hier aus den Effekt des gelungenen Streiches zu beobachten, gespannt auf das verdutzte Gesicht des durch einen Ruck des Zufalls plötzlich Aufwachenden, der sich auf einmal ganz allein hier auf der Bank findet und nun die erst noch langsam zurückkommenden Geisteskräfte vergeblich anstrengt, zu ergründen, wo er ist und wie er hierhergekommen. Darüber wird ihn dann allerdings das kaum noch zu unterdrückende Kichern der jubelnden Schalksnarren, die es übermäßig amüsirt, den stolzen Hofbauern so hänselnd auf den Leim geführt zu haben, nicht lange im Zweifel lassen.

Diese komische Situation hat Hans Bachmann, der durch seine lebensvollen Bilder „Weihnachtssingen in Luzern“ (Nr. 50, 1887) und „Der Arzt“ (Nr. 48, 1888) unsern Lesern bereits bekannt ist, in seinem Bilde „Schluß der Gemeinderathssitzung“ mit köstlichem Humor, und mit voller Naturwahrheit geschildert. Auch hier bewährt sich der Künstler wieder als der scharfe Beobachter, der das Landvolk wirklich daheim in seinem ernsten oder harmlos ungezwungenen Thun und Treiben zu belauschen und ebenso natürlich darzustellen weiß. D. 


Inhalt: Lore von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 37. – Der Vorläufer. Illustration. S. 37. – Die Landenge von Panama. 1. Die Ueberschreitung des Isthmus. Von Dr. Emil Jung. S. 43. – Riesen und Zwerge in der Thierwelt. Von Heinrich Leutemann. S. 46. Mit Illustration. S. 45. – Die Vermählung der Todten. Von Isolde Kurz (Fortsetzung). S. 47. – Blätter und Blüthen: Die neue Biographie Schillers. S. 51. – Die Göttin der Vernunft. S. 51. Mit Illustration S. 40 und 41. – Ein gefährlicher Feind der Pflanzenwelt. Mit Abbildungen. S. 52. – Schluß der Gemeinderathssitzung. S. 52. Mit Illustration S. 49.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s' Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Der Urheber des vorliegenden Bildes und Textes ist derselbe, den älteren Lesern der „Gartenlaube“ gewiß noch erinnerliche Künstler, der früher diesem Blatte ein Vierteljahrhundert lang seine Mitarbeiterschaft in Wort und Bild schon gewidmet hat. Seit 1880 auf einem Auge ganz erblindet, auf dem andern sehr geschwächt, hat er die keineswegs gebesserte Sehkraft einigermaßen wieder gebrauchen gelernt, und es freut uns, hierdurch den Lesern einen Beweis dafür geben zu können. Die Redaktion der „Gartenlaube“.
  2. Bei allen weiteren Größenangaben ist stets die senkrechte Widerrist- (Schulter-) höhe gemeint.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Coëssin de la Tolle
  2. in der Vorlage: gegesetzt
  3. Vorlage: Coëssin de la Tolle