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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[21]

No. 2.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


 

Lore von Tollen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
(Fortsetzung.) Roman von W. Heimburg.


An dem Abend, wo Major von Tollen mit seiner Familie in Westenberg eintraf, hatte Tante Melitta alle ihre Puppenanlagen illuminirt und erntete den vollsten Beifall der drei Nichten, von denen die älteste, zwanzigjährige, freilich schon Braut, Lore aber erst zwölf und Käthe erst sechs Jahre zählte. Auf ihren Bruder, den Major, aber hatte Westenberg gleich in den ersten Minuten einen höchst niederschlagenden Eindruck gemacht. Die dreistündige Omnibusfahrt von der letzten Eisenbahnstation mit den unruhigen Kindern und dem vielen Handgepäck hatte seine Nerven gereizt; die Finsterniß des Herbstabends, nur durch spärlich vertheilte, an Ketten über den Straßen schwebende Laternen hier und da erhellt, die gealterte Erscheinung der Schwester, die ihn exaltirt bewillkommnete, der Anblick der alten bekannten Möbel, welche Erinnerungen an längst vergangene bessere Zeiten weckten, alles machte ihn unwirsch und verdrießlich. Er nannte die Puppenanlagen einen verfl… Unsinn, die Betten im Gasthause vorsündfluthlich und schloß mit der Versicherung, daß dies Westenberg allem Anscheine nach das miserabelste Nest sei, das ihm in seinem langen Leben vorgekommen. Er werde sofort die Möbelwagen zurückschicken, woher sie gekommen. Nun, das geschah freilich nicht, schon der Geldbeutel verbot es, aber die Schwester verzieh dem Bruder das Urtheil nie, das er über ihr geliebtes Puppenasyl und über ihr trautes Westenberg gefällt hatte, das Verhältniß blieb ein gespanntes bis auf den heutigen Tag.

Mit der stillen, von Sorgen gequälten Schwägerin ging es desto besser, denn im Grunde war Fräulein Melitta ein gutmüthiges Geschöpf, wenn sie auch, wie man so sagt, ihre Mucken hatte. Ihr Liebling war Lore, das schöne schlanke Mädchen mit der eigenartig stolzen Haltung des kleinen goldhaarigen Kopfes und dem ehrlichen Herzen. Sie hatte das kecke übermüthige Wesen der Jüngsten nie geliebt, Käthe war ihr daher ein Greuel, und seitdem dieser Unband ihr mit einer so frommen unschuldigen Miene zum letzten Geburtstage, am 31. März, Kiebitzeier, in ein Körbchen mit rosa Watte verpackt, geschenkt hatte, die das freche Ding von einem Nachbarsjungen mit unsäglicher Mühe erlangte, wurde sie von Tante Melitta überhaupt nur noch geduldet, denn: „Nicht einmal der Schmerz um den verlorenen Kiebitz ist ihr heilig gewesen! Die heutige Jugend ist entartet!“ hatte sie entrüstet geäußert zu Lore, die eine Viertelstunde später gekommen war und Käthe, blau vor unterdrücktem Lachen, mit einem Tellerchen voll Eierfladen

Ha–a–derlump!
Nach einer Originalzeichnung von Thekla Brauer.

[22] vor sich auf der Fensterbank, im Nebenzimmer fand. Lore ertrug wirklich musterhaft die Launen der alten Dame und würde sie ebenso musterhaft ertragen haben, wenn die Fenster des Wohnzimmers von Fräulein Melitta auch nicht den Blick gewährt hätten, wie sie es wirklich thaten, nämlich über die Straße hinweg zu einem Paar blinkender Fenster mit geblümten Kattunvorhängen, die so bescheiden und versteckt hinter hohen Rüstern lagen, daß sie gar nichts Bemerkenswerthes zu bieten schienen und weder der Tante noch den vielen Leuten auffielen, die dort vorüber gingen, die aber Lore von Tollen doch der schönste Anblick der Welt dünkten.

Das bescheidene Haus gehörte der verwitweten Frau Pastor Schönberg, und hinter den besagten Fenstern wohnte ihr Sohn, der Doktor Ernst Schönberg. Als Lore die Straße herunterkam, der Wind ihr gelbe Blätter entgegen wirbelte und ihr Auge die rothbraune Färbung der Rüstern gewahrte, zog es wie freudige Ueberraschung in ihr Herz – es nahte die Zeit, wo sie nicht mehr auf dem kleinen Balkon an der Hinterseite des Hauses mit Tante zu sitzen brauchte, wo das traute Plätzchen hinter der Filetgardine mit der entzückenden Aussicht wieder zur Geltung kam. Darüber vergaß sie einen Augenblick ihre vielen traurigen Gedanken von heute früh und trat, rosig und rasch athmend vom Gange und der steilen Treppe, in das Zimmer der Tante.

Die alte Dame mit der eigenthümlichen Haarfrisur – an jeder Seite des schmalen Gesichtes hingen drei bis vier Löckchen herunter, die allerdings ungemein an den Behang eines Wachtelhundes erinnerten – saß an ihrem Nähtisch und wühlte in einem Haufen von buntem seidenen Tand umher.

„Gott sei Dank, Lore, daß Du kommst!“ rief sie der Eintretenden entgegen, „der Thee ist schon abgegossen worden, er hätte sich sonst bitter gezogen; lege ab und setze Dich!“ Sie fuhr wieder mit den Fingern in den bunten Läppchen umher und zog einen Brief hervor. „Da ist ein Schreiben von Helene für Dich; sie bat mich, ich möchte es Dir unbemerkt übermitteln – ist wohl wegen Deines Papas Geburtstag, denke ich.“

Lore hatte das Jäckchen abgezogen, den dunkelblauen, sehr einfachen Filzhut von dem blonden Haare genommen und saß nun an ihrem geliebten Fensterplatz mit der interessanten Aussicht, der Tante gegenüber, den Brief in der Hand drehend. Die alte Aufwärterin des Fräuleins brachte Thee und Buttersemmeln, im Ofen brannte ein leichtes Feuer, denn die Herbstkühle war der alten Dame bereits sehr empfindlich, und der gemüthliche Zauber dieser wunderlichen Altjungfernstube, der die Puppenanlage einen heiteren kindlichen Ausdruck verlieh, theilte sich auch Lores jungem Herzen mit.

„Danke schön, liebe Engeln,“ sagte sie freundlich, der alten Frau die Tasse abnehmend und den Brief bei Seite legend. Dann wandte sie sich wieder zu der Tante: „Rudi ist gestern gekommen, er wird mich nachher abholen, um Dich zu begrüßen.“

„Weißt Du nicht, wie weit er mit seinem Interesse für die schöne Blondine in seinem Album gekommen ist?“

„Welche?“ fragte Lore belustigt. „Er hat Blondinen und Brünetten zu halben Dutzenden darin. Aber nun verzeih einen Augenblick, Tantchen, ich möchte den Brief erst lesen.“

Die Handschrift der Schwester erschreckte sie; die sonst so gleichmäßigen Schriftzüge hatten sich diesmal fast unleserlich gestaltet, als seien sie in Aufregung und Hast über das Papier gestreut.

„Liebste Lore!

Soeben beifolgende Zeilen meines Bräutigams – ich bitte Dich, was soll daraus werden? Am liebsten käme ich selbst, um die Sorgenstunden mit Euch zu tragen, aber die Pflicht fesselt mich hier; ich wäre zu undankbar, wollte ich meine Schwiegermama verlassen auf ihrem Krankenlager.

Ich kann mich nicht entschließen, Mama zu schreiben, wie Franz es wünschte –. Du bist so ruhig und verständig, in Deine Hände lege ich es; siehe zu, wie Du es den Eltern am besten beibringst.
 In treuer Liebe
  Deine Helene.“

Zitternd griff Lore nach dem Briefblatt, das mit des Schwagers Handschrift dicht bedeckt war. Noch suchte sie sich zu beherrschen, ihren Schrecken zu verbergen, da klopfte es an die Thür, und auf das „Herein!“ von der schrillen Stimme Tante Melittas erschien auf der Schwelle ein junger Mann in einem Besuchskostüm allerneuester englischer Mode.

„Mille pardon, meine Gnädigste, wenn ich störe! Schon lange beabsichtigte ich, unserer hochverehrten Nachbarin meine Aufwartung zu machen – Ah!“ unterbrach er sich, „Fräulein von Tollen – welch glücklicher Zufall! Eben ist meine Mutter bei Ihrem elterlichen Hause vorgefahren, um Ihnen, ganz speciell Ihnen, einen Besuch abzustatten. – Erlauben die Damen?“ Er hatte währenddem einen Stuhl herangezogen, um sich an Fräulein Melittas Seite niederzulassen, die mit einer gewissen altmodischen Feierlichkeit im Sofa Platz genommen.

„Freut mich sehr – äußerst angenehm, Herr Becker!“ lispelte sie.

Lore war ruhig auf ihrem Platz verblieben. Sie kam sich vor, als sei sie gelähmt, so rieselte ihr noch immer der Schreck über das Gelesene durch die Glieder. Die Anwesenheit Adalbert Beckers ward ihr zur psychischen Qual. Er richtete jetzt das Wort an sie, und sie sah ihn verständnißlos an, ohne eine Antwort zu finden. Er war gewissermaßen eine hübsche Erscheinung, dieser große blonde Mensch, nur lag in seinen feuchten hellblauen Augen ein Schimmer, der Lore stets mit Widerwillen erfüllte, ohne daß sie wußte, weshalb. Das rosige Gesicht war gedunsen, wie es denen passirt, die gern gut diniren und den Sekt dabei nicht sparen. Seine Toilette war elegant, aber nicht die eines Gentleman; er trieb einen wahnsinnigen Luxus in Kravatten und Hemdknöpfen, besaß die kleinsten Taschentücher mit den größten Monogrammen und die unmöglichsten Parfüms. Die Verbeugungen seines großen starken Körpers mißriethen meistens kläglich, und im Verkehr mit Damen warf er mit Komplimenten um sich, so groß und grob wie Bomben. Er sprach überdies gern von seinem Gelde und taxirte jedes Ding auf seinen Werth. Im großen und ganzen hatte er sich in den drei Jahren, die er in Westenberg verlebte, den Ruf eines „guten Kerls“ erworben, und in der That gab er nicht geringe Summen für wohlthätige Zwecke aus. Das neue städtische Krankenhaus war zum großen Theil aus seinen Mitteln erbaut, er hatte einen Brunnen auf dem Markt gestiftet und zu Kaisers Geburtstag speiste er den ganzen Kriegerverein in der „Krone“. Lauter Lobenswerthes; aber Lore von Tollen dachte anders. Sie hielt ihn für roh; sie hatte diese Ansicht von ihm, seitdem er ein edles Pferd, das er auf einem Wettrennen zu schanden geritten – es trug einen unheilbaren Schaden des rechten Vorderbeines davon und hustete – an einen Karrenfuhrmann verkauft. – Das Thier, das sich kaum zu schleppen vermochte, zog jeden Tag die schwere Sandkarre vor der eleganten Villa vorbei, in deren Ställen es noch vor wenigen Monaten gestanden, verhätschelt und geliebkost; und jedesmal machte das Thier Halt und wieherte leise, als ob es eingelassen werden wollte, und Herr Adalbert Becker sah es ruhig mit an – hatte er doch sechs Thaler für den Gaul bekommen!

Zufällig hatte Lore das erfahren; seitdem haßte sie den Mann, der für die beste Partie im Städtchen galt und der Gegenstand vieler heimlicher Berechnungen besorgter Mütter war, die heirathsfähige Töchter besaßen. Sie meinte, wer für Thiere kein Erbarmen habe, fühle auch Menschenleid nicht mit. Und dieser Mann widmete seine ausschließliche Huldigung Leonore von Tollen, und trotz der kühlen Nichtachtung wurde er immer eifriger in seinen Aufmerksamkeiten.

Nun saß er dort bei der Tante, bei der alten einsamen Person, die gar nicht Anspruch machte auf Besuche junger Lebemänner. Lore wußte ganz genau, es war wiederum ein Versuch, sich ihr und ihrer Familie zu nähern.

„Sie ahnen nicht, mein gnädigstes Fräulein, was meine Mutter Ihnen für eine Bitte vortragen wollte; da ich glücklicher bin als sie und Sie so unvermuthet hier treffe, darf ich Sie wohl damit bekannt machen? Es handelt sich um eine kleine Aufführung für unseren Ball – wir rechnen dabei auf Ihre Gnade. – Würden Sie die Rolle der französischen Bäuerin in dem kleinen Singspiel ‚Kurmärker und Pikarde‘ übernehmen? Diese entzückende Rolle wäre durch Ihre Grazie und Eleganz entschieden verkörpert.“

Er legte seine in helle Glacés gepreßten Hände bittend zusammen und sandte einen wahrhaft feurigen Blick zu dem jungen Mädchen hinüber.

„Ich bedaure sehr, ich spiele grundsätzlich nicht Komödie.“

„O, aber – warum nicht?“

„Weil ich es nicht liebe.“

[23]Warum lieben Sie es nicht? Sie sollten es lieben, denn es giebt keine Gelegenheit, in der sich eine reizende Dame –“

Er brach ab vor ihrem großen kühlen Blick, der, wie erstaunt über dieses dringende Zureden sein Gesicht streifte. Ihr feiner Mund zog sich unmerklich etwas herab, und dieser Zug verlieh dem Gesicht etwas Stolzes, Hochmüthiges.

„Weshalb wollen Sie nicht? Weshalb weisen Sie mich ab?“ stotterte er verlegen.

Sie antwortete auch jetzt nicht sogleich, sie erhob sich in ihrer ganzen schlanken Höhe und, die Briefe in der Hand dem Nebenzimmer zuschreitend, wandte sie an der Thür den goldschimmernden Kopf noch einmal halb zurück, wie eine Königin es nicht stolzer gethan haben könnte. „Sie werden sich mit der einfachen Thatsache begnügen müssen,“ sprach sie.

Im nächsten Augenblick war sie allein in dem Schlafzimmer der alten Dame, flüchtete mit den erhaltenen Briefen an das Fenster und las mit klopfendem angstvollen Herzen.

„Zu meinem großen Schmerz, liebste Helene, muß ich Dir mittheilen, daß Dein Bruder Rudolf sich abermals in einer peinlichen Lage befindet, man kann wohl sagen, in einer schlimmeren noch als im vorigen Jahre. Er wandte sich auch diesmal wieder an mich mit der Bitte, meinen Kredit bei irgend einer geldverleihenden Persönlichkeit für ihn eintreten zu lassen. Ich verstehe Rudolf nicht – er kennt meine Verhältnisse, weiß, daß ich über die allergeringsten Mittel verfüge, eine alte kränkliche Mutter besitze und jeden Groschen spare, um mit Dir vereinigt zu werden.

Ich habe ihm nicht allzufreundlich geantwortet, ihn aber vor allen Dingen gebeten, die Natur seiner Verlegenheit klarzulegen. Wie er mir darauf mittheilt, hat er durch unglückliches Spiel und durch Pferdekäufe und -Verkäufe sich in eine Ueberlast von Verbindlichkeiten hineingeritten, die er jedoch, wie er mir gestand, durch irgend einen Glückscoup loszuwerden hofft. Wie es mir scheint, bewog er einen Kameraden, für ihn gut zu sagen; nach Rudis Angabe soll sich derselbe dazu erboten haben – – Verzeihe, liebste Helene, wenn mir einige Zweifel an dieser Geschichte aufsteigen. Thatsache bleibt, daß Rudolf keineswegs im stande ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen.

Wäre ich nur annähernd in der Lage – es handelt sich jedenfalls um eine größere Summe – so würde ich eintreten des armen Kerls wegen, der in Hangen und Bangen Rudolfs Bescheid entgegensieht, welcher ihm versprach, das Geld zu schaffen; sie gehen andernfalls beide um die Ecke. – Wenn Dein Vater sich trotzdem weigerte, seinen letzten Nothgroschen zu opfern, so kann ich ihm nicht Unrecht geben angesichts Deiner, der unversorgten Schwestern und Deiner guten Mutter. – Wie ein Ausweg gefunden werden soll, ist mir schleierhaft.

Ich schreibe es Dir, damit Du Deine Angehörigen etwas vorbereitest, die Katastrophe muß über kurz oder lang eintreten. Gräme Dich nicht, mein Liebling –“

Lore ließ das Blatt auf die Fensterbank sinken und preßte die Hände ineinander. Was sollte daraus werden! Das Blut stieg ihr heiß in die Wangen, und die Augen füllten sich mit Thränen. Wer sollte helfen? Fieberhaft jagten sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. Onkel? Viktor? Ach Viktor, wenn er gewollt hätte! Aber dort war Rudolf bereits gewesen. – Und durfte sie es ihm verdenken? Er hatte Kinder und – er kannte den unverbesserlichen Leichtsinn des Bruders.

Was blieb übrig? Er würde sich wiederum an den Vater wenden, an den verbitterten, kränkelnden mißtrauischen Mann, dem schon eine Kleinigkeit das Signal war zum Stöhnen, Schimpfen, Tyrannisiren. Die Zeiten standen abermals vor der Thür des kleinen Hauses, in denen kaum ein scheues Wort gesprochen wurde, wo man sich mit rothgeweinten Augen sah, wo selbst Käthe still und gedrückt umherschlich und heimlich ihre Schulbücher herumstieß und die Fäuste ballte. Und dann die Nächte, wo die Kopfkissen naß wurden von Thränen!

Und diesesmal, diesesmal – mußte es nicht noch tausendmal schrecklicher werden, da die Mittel zur Rettung thatsächlich am Ende waren? Weil noch ein anderer rettungslos mit hinein- gezogen wurde in den Untergang? Sie meinte noch des Vaters Stimme zu hören, wie er im vorigen Jahre den Posteinlieferungsschein des Geldbriefes aus Käthes Hand nahm und ihn in das Fach des Schreibtisches schleuderte mit den Worten: „So, das ist fort – ein Weiteres unmöglich, denn wo nichts ist, da hat selbst der Kaiser sein Recht verloren!“

Sie fuhr empor – da klang ja Rudolfs helle Stimme zwischen das belegte tiefe Organ Adalbert Beckers hinein, ein fröhliches, sorgenloses Sprechen. „Ist Lore nicht hier?“

Das junge Mädchen stand auf und entschlüpfte durch eine Tapetenthür in den kleinen Alkoven, den die Tante als Garderobe benutzte. Wunderlich geschnittene Gewänder hingen in musterhafter Ordnung an hölzernen Haken; es war eine dumpfe Luft in dem Gelaß, wie sie aus Kleiderspinden zu quellen pflegt, die selten geöffnet werden. Lore senkte den Kopf gegen den Pfosten der Thür, sie hätte ihren Bruder jetzt nicht sehen können, ohne ihm zu sagen, daß sie alles wisse. Sie legte die Hand auf ihr stark klopfendes Herz und biß die Zähne aufeinander. Nebenan war die Thür gegangen, und durch die Bretterwand, die den Alkoven nach dem Flur abschloß, hörte sie, wie Adalbert Becker sich von ihrer Tante verabschiedete. Die alte Dame dankte einmal über das andere für den Besuch und versprach, sich den Park anzusehen, es war ein wortreicher Abschied. „Adieu, Tante!“ scholl nun auch Rudolfs Stimme, „sollte sich Lore wieder einfinden, so entschuldige mich, und sie möchte zu Hause bestellen, ich käme nicht zum Abendessen.“

Lore athmete auf, sie schob die Briefe tiefer in die Tasche und ging in die Wohnstube der Tante zurück. Die wieder eintretende alte Tante traf sie bereits im Hut und Jäckchen.

„Lore,“ sagte Tante Melitta mit hochgerötheten Wangen und die Seitenlöckchen zitterten unter ihrer zornigen Erregung, „ich bin erstaunt, Dich auf einem so großen gesellschaftlichen Fauxpas zu ertappen! Eure gute Mutter ist doch in dieser Beziehung allzu nachsichtig, Du und Käthe, Ihr benehmt Euch, wie Ihr wollt und nicht wie Ihr sollt.“

Sie war bei diesen Worten näher gekommen und öffnete ein Fenster, um dem betäubenden Jockeiklubgeruch, den Adalbert Becker zurückgelassen, Abzug zu gewähren „Bei meiner Mutter, in unserem Hause ging die gute Haltung über alles,“ fuhr sie fort, „über alles! Aber was ist Dir denn, Lore? Du siehst so verblichen aus!“

Das Mädchen wandte den Kopf. „Verzeihe mir!“ flüsterte sie und zog die Hand der alten Dame so ehrfurchtsvoll an die Lippen, als wollte sie die Worte Lügen strafen, die sich auf ihre mangelhafte gesellschaftliche Haltung bezogen. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.

Es wäre ihr nicht möglich gewesen, gleich nach Hause zu gehen, sie mußte erst ruhig überlegen, auf welche Weise sie die Eltern vorbereiten sollte. Zuerst natürlich die Mutter, die arme Seele, die weiter nichts gethan im Leben, als dulden und – arbeiten. Jetzt kamen ihr mit einem Male die Thränen brennend in die Augen, während sie, ohne zu wissen was sie that, ihre Schritte den Anlagen zulenkte. Auf dem stillen Flüßchen neben ihr schwammen gelbe Blätter, und jenseits über den Wiesen brauten weiße Nebelmassen, immer dichter quollen sie aus dem bruchigen Lande, fast gespenstisch anzuschauen in dem Dämmern des Herbstabends.

Sie ging rasch, wie von innerer Unruhe getrieben. In den Wegen der Anlagen war es völlig einsam, sie achtete nicht darauf. An einem schirmartigen Gartenpavillon, der sich inmitten eines Rondels erhob, machte sie endlich Halt und setzte sich auf die Bank unter dem hölzernen, vielfach schadhaften Dach. Sie that es ganz instinktiv, denn es hatte angefangen zu regnen. Die Bäume standen unbeweglich, es herrschte völlige Windstille, nur leise rauschten die Tropfen hernieder und hier und da sank ein welkes Blatt zur Erde. Unbeweglich saß sie und schaute in den grauen Nebelschleier hinein, aber wie sie auch grübelte und sann, nirgends fand sie einen Ausweg. Soviel stand fest, der Vater würde es nicht überleben, wenn sein Lieblingssohn mit Schimpf und Schande die Uniform ausziehen mußte – von der Mutter gar nicht zu reden. Und es würde doch so kommen, mußte so kommen! –

Sie hörte vor dem lauten bangen Schlagen ihres Herzens nicht den eiligen festen Schritt, der hinter ihr erscholl, dann stand sie plötzlich auf und in ihr feines Gesicht stieg langsam eine dunkle Röthe.

„Eingeregnet?“ sagte fröhlich eine wohlklingende Männerstimme, „erlauben Sie, Fräulein von Tollen, dieses Familiendach reicht für uns beide; – es ist doch gut, wenn man zuweilen [24] ein gehorsamer Sohn ist; meine Mutter redete so lange um die Mitnahme dieses vorweltlichen Institutes, bis ich ihr, halb ärgerlich, halb lachend, den Gefallen that. Aber, was ist denn? Haben Sie Unannehmlichkeiten gehabt, Fräulein Lore?“

Während er sprach, hatten sich ihre Augen mit Thränen gefüllt, und indem sie dem schlanken jungen Manne im dunklen Ueberrock, der scherzend einen riesigen altmodigen Regenschirm aufgespannt hatte, einen Augenblick ihre Hand reichte, brachte sie mühsam und mit erstickter Stimme die Worte hervor: „Fragen Sie mich nicht!“

„Doch! Doch! Natürlich frage ich Sie,“ erwiderte er besorgt und schloß den Schirm, indem er zu ihr in den Pavillon trat. „Ich habe zwar eigentlich kein Recht, es zu thun, Fräulein Lore, ich weiß es, aber,“ fuhr er fort, „wenn einem so ein lieber freundlicher Morgengruß zufliegt, wie mir heute, dann ist man glücklich für den ganzen Tag, und Glück macht Muth. – Sagen Sie mir, Lore, was Sie verstimmt, ich bitte Sie – ich kann Sie so traurig nicht sehen.“

Sie hatten sich wieder die Hände gereicht; beide Hände diesmal, der Schirm lag neben ihm am Boden und in Lore von Tollens schönen Augen lenchtete es durch die Thränen wie heller Sonnenglanz.

„Wenn ich es aber nicht sagen kann, Herr Doktor –“

Er sah sie groß und bittend an.

„Herr Doktor?“ wiederholte er, „wann werde ich das nicht mehr hören, Lore?“

Sie ward noch röther. „Ernst!“ sagte sie leise. Und im nächsten Augenblick hatte er sie an sich gezogen, ihr Kopf ruhte an seiner Schulter und ein heftiges Schluchzen schüttelte sie.

Er sah zu ihr hinunter und streichelte das blonde Haar, aber er sprach kein Wort. Er ließ sie weinen; hatte er doch Mühe, die eignen Thränen zurückzudrängen, die ihm in die Augen traten, ihm war schwindlig vor Glück. „Endlich! Endlich!“ flüsterte er kaum hörbar. – Ringsum kein Laut, als das leise Rieseln des Regens und um sie her die tiefe Dämmerung des Herbstabends.

„Lore! Lore!“ sagte er innig und drückte sie an sich.

Sie fuhr erschreckt empor und drängte ihn zurück. „Ich muß heim!“

„Lore!“ bat er und wollte sie wieder an sich ziehen.

„Nein! Nein!“ wehrte sie. „Mein Gott – ich –“

„Aber ich lasse Dich nicht so, jetzt nicht – ich will Gewißheit, Lore, ich will die Erlaubniß, mit Deinen Eltern sprechen zu dürfen –“

Ihre Augen sahen plötzlich todeserschreckt aus dem farblosen Gesicht. „Es geht nicht,“ sagte sie heftig, „es geht bei Gott nicht, jetzt nicht, warten Sie noch, warten Sie –“

„Warum?“ fragte er traurig.

„Ich kann es nicht sagen, Herr Doktor –“

„‚Ernst‘,“ verbesserte er.

„Ernst,“ wiederholte sie leise und duldete seinen Kuß, es war der erste, den sie sich gaben. „Kommen Sie!“ bat sie dann erglühend.

Er spannte wieder den Schirm auf, und unter diesem alten ehrwürdigen Familieninventar schritten sie durch die dunkeln einsamen Gänge, er fühlte das heftige Zittern ihrer Hand und drückte ihren Arm leise an sich. „Wann spreche ich Dich wieder, Lore?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte sie.

„Du weißt es nicht, Lore? Du sollst es aber wissen. Ich habe es bis jetzt ertragen, Dich nur selten und flüchtig zu sehen, aber nach dieser Stunde ertrage ich es nicht mehr. Sieh’, ich bin nun ’mal kein Freund von Heimlichthuerei, es ist unser beider unwürdig, wir lieben uns, und warum soll das nicht alle Welt wissen? Ich bitte Dich nochmal, Lore, laß mich morgen mit Deinem Vater sprechen!“

„Nein, nein!“ bat sie dringend, „es ist unmöglich.“

„Wie lange soll ich warten damit?“

„Bis – ich werde es Ihnen – Dir – mittheilen.“

„Lore,“ begann er, „wenn Du wüßtest – – Ich hatte beim Spaziergange gerade so lebhaft an Dich gedacht, ich denke ja überhaupt nichts anderes mehr, als an Dich. Heute war ich in der Erinnerung in der Kirche, wo ich Dich zuerst sah bei der Trauung Deiner Schulfreundin, Du standest so deutlich vor meinen Augen in dem weißen Kleide, den Veilchenkranz im blonden Haar – Lore, es giebt nichts auf der Welt, was Dir gleicht!“

Sie waren wieder stehen geblieben, und den großen Regenschirm mit einer Hand haltend, hatte er den Arm um sie gelegt und seine Augen schauten in die ihren. „Und so treu ist mein Schatz und so ehrlich in seinem Lieben,“ fuhr er fort, während sie mit gesenktem Haupte lauschte, „nicht einmal hast Du Versteckens mit mir gespielt, wie es sonst Mädchenart ist; – ich war Deiner Neigung so sicher, obgleich wir uns kaum ein Wort darüber gesagt. Ich brauchte immer nur in Deine Augen zu sehen, dann wußte ich es. Sie liebt Dich, die schöne stolze Lore von Tollen liebt Dich.“

„Ja,“ sagte sie laut, „ich liebe Dich!“

Er küßte sie noch einmal und sie gingen stumm weiter.

„Aber wann werden wir uns sehen?“ wiederholte er nach einer Weile.

„Wenn Du mit den Eltern gesprochen hast,“ erwiderte sie, „und – vom Fenster aus, wie immer.“

„Ach, Lore!“ sagte er vorwurfsvoll.

„Wenn Du willst, schon früher – auf dem Beckerschen Ball. Ach, komm, bitte, komm! Es wäre so schön.“

„Nein!“ sagte er kurz und ohne sich zu besinnen. „Und ich bitte Dich, bleib’ auch davon!“

„Es geht nicht, Mama hat schon zugesagt.“

„So sage ab; – bleib’ daheim und – denke an mich!“

„Ich müßte einen Grund erfinden, und lügen mag ich nicht um so etwas Gleichgültiges wie dieser Ball ist. Komm hin, Ernst, es wäre so schön für mich.“

„Nein,“ wiederholte er ebenso bestimmt wie vorhin, „ich gehe nicht in das Beckersche Haus –. Und Du solltest es auch nicht thun infolge dessen.“

„Ich muß doch vorläufig noch den Eltern gehorchen,“ erwiderte sie kurz, „aber ich will an Dich denken dort.“

Er schien einen Augenblick verstimmt, dann sagte er scherzend: „So geh’, Liebling, es ist wahr, Du bist jetzt noch die Tochter des Hauses, ich weiß ja, daß Du ganz mein sein wirst eines Tages, daß dann eines ohne das andere keinen Schritt mehr thun wird. Lore, ist es nicht wundervoll, das zu wissen?“

Sie schritten jetzt eilig an dem Flüßchen entlang, passirten den dunklen Bogen des uralten Backsteinthores, und Lore von Tollen schlug einen Weg ein, der hinter den Häusern zu dem elterlichen Garten führte. Die Lampe aus des Vaters Krankenstube blinkte über die alte Stadtmauer hinweg durch das Gezweig der Linde.

„Gute Nacht!“ sagte das schöne Mädchen an der kleinen Pforte in der Mauer, während sie den Schlüssel aus dem Arbeitsbeutelchen nahm und aufschloß. Und jetzt bot sie ihm den Mund zum Kuß. „Mir ist so angst !“ flüsterte sie.

„Um Dich und mich? Was könnte uns geschehen? Meinst Du, ich sei Deinen Eltern nicht willkommen?“ fragte er stolz.

„Nein, o nein! Du bist ja mein Halt in all dem Trostlosen. Leb’ wohl, Ernst, bis – – Du weißt schon, ich schreibe Dir, wann Du kommen sollst, aber habe Geduld.“

Sie war plötzlich durch die Gärtenthür verschwunden. Er stand noch ein Weilchen wie im Traume, als wollte er versuchen, durch die Mauer zu schauen, dann wandte er sich zögernd zum Gehen. Aber da that sich noch einmal das Pförtchen knarrend auf und sie stand vor ihm und hielt seine beiden Hände in den ihren. „Ich muß es Dir sagen, Ernst, ich muß es Dir sagen,“ sprach sie innig, „daß Du mein Glück bist, mein heimliches, süßes Glück,“ flüsterte sie. „Als ich eben so allein in dem Gartenwege stand, da kam es über mich mit aller Gewalt –. Sprich, ist es wahr? habe ich es nicht geträumt, Ernst, daß Du mich liebst?“

Heftig zog er sie an sich und küßte sie wieder und wieder. „Lore, meine Lore!“ flüsterte er.

Sie trat wenige Minuten später in das Eßzimmer, wo die Eltern und die Schwester beim Abendbrot saßen, mit einem solchen Ausdruck von Glück in ihrem schönen Gesicht, daß der alte Herr seine verdrießlichen Worte über ihr und des Bruders Ausbleiben zurückhielt und sie staunend ansah.

„Ihr bliebt so lange aus, Lore,“ sagte die Mutter mit müder Stimme, „Rudi ist wohl nach oben gegangen?“

Sie kam erst jetzt wieder zur Besinnung. „Rudi?“ fragte sie, während sie den Hut abnahm. „Er kam nicht mit, er ist – ach ja, er ist mit Herrn Becker irgend wohin geritten.“ Sie blickte dabei mit flehenden Augen ihre Mutter an und beugte sich

[25]

Königin Luise mit den Prinzen Friedrich Wilhelm und Wilhelm.
Nach dem Oelgemälde von Fritz Martin.
Photographie im Verlage der „Photographischen Union“ in München.

[26] hinunter zu ihr. „Sei nicht böse, ich war sehr lange fort – aber ich will Dir nachher erzählen.“

„Da hat man sich nun gequält mit dem Essen für den Jungen,“ sagte Frau von Tollen, sich zum Scherz zwingend; „iß Du wenigstens, Lore.“

„Ich danke, Mama; aber helfen will ich Dir nun gleich.“

„Wo zum Kuckuck ist denn der Bengel hin?“ fuhr der alte Herr jetzt auf; „den ersten Abend gleich fort? Er wird immer rücksichtsloser!“

„Ich weiß es nicht, Papa.“

Käthe, die stumm ihren Thee getrunken, rief jetzt: „Aber ich weiß es! Sie sind im Sommertheater, Adalbertchen Becker läßt sich die Rolle des Kurmärkers von der alten Direktorin einstudiren – Na, Lore, Du kannst Dich freuen, wenn Du die Pikarde spielst.“

„O, ich habe schon abgelehnt,“ war die gelassene Antwort.

Der Major brummte irgend etwas in den Bart; man wüßte nicht, war es Beifall oder Unzufriedenheit. Die Mutter blickte Lore erstaunt an.

„Ich ziehe mich rasch um, Mama,“ flüsterte das junge Mädchen, „bitte, komm herauf, wenn Du einen Augenblick Zeit hast.“

Sie ging die Treppe hinauf in ihr Stübchen und setzte sich in den feuchten Kleidern auf den Stuhl vor dem Bette. Sie wußte nicht, wohin vor Glück und vor Kummer; nur aussprechen, nur herunter mit der Last, die sie zu überwältigen drohte! – Wenn doch die Mutter käme! –

Sie zündete Licht an und holte den Brief der Schwester aus der Tasche, und wie sie die ersten Zeilen wieder überlas, da war es, als ob der helle Schein, der eben in ihr Leben gestrahlt, bleicher und bleicher werde, als ob das, was da auf der Schwelle des Hauses stand, so erbarmungslos und schrecklich sei, daß es ihr junges Glück vernichten müsse –. Sie hörte jetzt den Schritt der Mutter auf der Treppe, der klang so müde; sie wollte der alten Frau entgegen gehen und blieb doch wie festgewurzelt in der Mitte des Zimmers stehen. Forschend betrachtete sie das Antlitz der Eintretenden, und sie sah abgespannte Züge und den Ausdruck getäuschter Erwartung in ihren Augen.

„Du bist noch in den nassen Kleidern, Lore? Eile Dich doch, ich möchte mich so gern etwas früher legen; ich bin so angegriffen heute.“

Das junge Mädchen rückte einen Stuhl herzu und hing ein Tuch um die Schultern der Mutter.

„Was wolltest Du denn, Lore?“ klang es gütig.

„Ich – ach, eigentlich nichts, Mama; ich wollte – ich wollte Dich nur sehen“ – das Mädchen stand, der alten Dame den Rücken wendend, vor der Kommode und legte Hut und Schleier hinein.

„Und Tante Melitta?’ Weshalb hat sie Dich den ganzen Nachmittag da behalten?“

Jetzt wandte sich das Mädchen um; sie sah ein, sie mußte sprechen, sie allein konnte ja nicht helfen.

Frau von Tollen wartete auf Antwort und derweil strich sie die Falten des weißen Bettvorhanges zurecht, die sich ein wenig verschoben hatten. Aber als Lore noch immer schwieg, sah sie auf. „Lore!“ rief sie dann, „Lore, es ist etwas passirt, um Gotteswillen – Helene ist doch nicht krank?“

„Nein, Mamachen, nein!“ Das junge Mädchen knieete nieder vor der Mutter und ihre Hand glitt zärtlich über das Gesicht. „Niemand ist krank, nein, das nicht, es ist nur eine kleine Verlegenheit, eine kleine Unannehmlichkeit, in der Rudi sich befindet, weißt Du –. Helene schrieb es mir, sie erfuhr es durch ihren Bräutigam. – Aber, Mama!“ rief sie laut – das Gesicht der Frau hatte sich furchtbar verändert, sie saß da mit starren Augen.

„Schulden!“ murmelte sie, „neue Schulden!“

„Aber Mama, das ist ja noch nicht so arg!“ flehte Lore angstvoll, „fasse Dich doch, er ist ja nicht gestorben –.“

„Zeig’ her den Brief!“ forderte die Majorin.

„Nein, Mama; hätte ich Dir doch nichts gesagt!“

„Ich will alles wissen, Lore – gieb!“ – Sie riß den Brief aus der Hand des Mädchens und las bei dem Schein der dünnen Stearinkerze. Ein paarmal stöhnte sie schmerzlich auf, dann setzte sie sich stumm in den Stuhl zurück und faltete die Hände in ihrem Schoß.

„Mama!“ bat Lore, „liebe Mama!“

„Ich weiß keinen Rath, keinen –“ sagte die alte Frau.

„Viktor muß helfen, Mama!“

„Mein Gott – Viktor!“

„Haben wir denn gar nichts mehr, Mama, gar nichts? Wir müssen helfen, wir müssen, Mama!“

„Nichts außer der Kleinigkeit, die Papa für Euch gespart hat – zweitausend Thaler – und – was ist das?“

„Nimm sie doch, Mama, es handelt sich ja nicht allein um Rudolf –.“

„Und was soll aus Dir und Käthe werden?“

Ueber Lores blasses Gesicht flog ein seliger Glanz. „Nimm sie, Mama,“ flüsterte sie; sie wollte hinzusetzen: „Ich bin versorgt, Mama, ängstige Dich nicht –.“ Die Gewißheit, daß ein starker Arm, ein treues Herz ihr eigen sei, kam aufs neue mit berauschender Gewalt über sie; aber sie brachte das Bekenntniß nicht über die Lippen, sie wollte in diesem Augenblick nicht von ihrem Glück sprechen. „Ich werde sorgen für Käthe,“ setzte sie stockend hinzu.


(Fortsetzung folgt.)




Die schwarze Kunst des 19. Jahrhunderts.

Von Maximilian Harden.

Das Jahrhundert der Naturwissenschaften hat wenig Hang zum Wunderglauben – so behaupten zum mindesten weise Leute, die den Pulsschlag der Zeit besonders deutlich zu hören glauben und sich auf ihre Zugehörigkeit zum Zeitalter der „Realitäten“ nicht wenig zugute thun. Nun muß man ja freilich ohne weiteres zugeben, daß die Zeiten der Hexen, der Nekromanten, Magier, Goldmacher und zahlreicher anderer Spekulanten auf die – Unklugheit der Menge glücklich vorüber sind. Die umständlichen Experimente des Goldkochens würden bei einem Kinde der modernen Zeit kaum mehr als ironische Heiterkeit wecken und vollends der unselige Hexenglaube ist vor den Strahlen sonnenheller Wissenschaft verschwunden, allerdings nicht ohne einen weniger gefährlichen Erben in der platten, geschmacklosen Schwiegermutter-Antipathie zu hinterlassen. Dennoch kann man das selbstgefällige Lächeln, mit dem der moderne Kulturmensch auf die Leichtgläubigkeit harmloserer Zeiten zurückblickt, nicht ohne einigen mitleidigen Spott betrachten, denn, wenn sich auch die Objekte unseres Glaubens vielfach verändert haben, an so manches blaue Wunder glauben wir stolzen „Modernen“ doch auch noch.

Selbstverständlich scheiden hier von vornherein die wissenschaftlichen Wunder aus, die unseren Glauben eben durch ihre Natur erzwingen. Die Dienstbarmachung der Elektricität zu allen erdenklichen Zwecken, die Möglichkeit, auf meilenweite Entfernungen intime Gespräche zu führen, Töne und Worte auf lange Zeit hinaus zu bannen und zu bewahren, das sind sicherlich Wunder, die in den Verstand auch des skeptischsten Beobachters eingehen müssen, weil sie sich selbst beweisen. Von solchen Wundern ist unser modernes Leben rings umgeben, im Frieden wie im Krieg haben wir uns so an ihr Dasein gewöhnt, daß eben diese Gewöhnung uns dagegen abgestumpft hat. Wir wundern uns nicht mehr über diese Wunder.

Aber so tief im Leben der Völker wurzelnde Triebe wie der Wunderglaube verlieren sich nicht leicht, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen, man glaubt sie oft überwunden, während sie nur in veränderter Gestalt fortleben. Die Leichtgläubigkeit der Massen verlangt ihre Nahrung, und da sich die grobsinnlichen, oft einfach betrügerischen Wunder früherer Zeiten nicht mehr wirksam erweisen, ist an ihre Stelle eben eine andere Macht getreten, die bestimmt scheint, noch auf recht, recht lange Zeit den Bedarf zu decken, und die sich schlau und pfiffig selbst ihre Feinde, Vernunft und Wissenschaft, dienstbar gemacht hat: die Reklame.

Die prächtig gekleidete Dame Reklame ist nicht mehr jung, sie hat es nur verstanden, sich durch mancherlei geschickte Toilettenkünste ein frisches, jugendliches Ansehen zu geben; jedenfalls aber

[27] steht sie augenblicklich in der Blüthe ihrer Jahre wie ihres Ansehens und es verlohnt sich daher wohl, sie einmal näher zu betrachten.

Was ist Reklame? – Hier stock’ ich schon – wer hilft mir weiter fort? Es ist wirklich einigermaßen schwer, eine treffende Erklärung des vielverwendeten Wortes zu geben. Reklame ist eben – Reklame. Wollte man das bequeme Fremdwort einfach durch „Geschrei“ übersetzen, niemand würde einen verstehen; eher könnte man noch von einem ungebührlichen, im eigenen Interesse erhobenen Geschrei sprechen, aber auch diese umständliche und langathmige Uebersetzung giebt nur unvollkommen den Wortsinn wieder.

Man macht gemeiniglich der modernen Zeit den Vorwurf, die Reklame gewissermaßen erfunden zu haben, und die Lobredner vergangener Epochen schmähen die unsere deswegen mit besonderem Eifer. So ganz verdient ist aber diese Anschuldigung doch nicht; die Familienchronik der Frau Reklame ist vielmehr schon recht alt, und es würde der Beweis dafür aus der Geschichte nicht schwer zu führen sein. Aber das muß wahr sein – das unglaublich schnelle Anwachsen, die fortwuchernde Ausbreitung der Reklameherrschaft ist eine Errungenschaft der neuen und neuesten Zeit; wir leben schneller, die Erscheinungen auf jedem Gebiet drängen sich, wer nicht die Ellbogen tüchtig zu brauchen versteht, der wird zerdrückt, zu Boden geworfen und über ihn hinweg tobt der Strom des rastlosen modernen Lebens. Da wird ein lärmendes Wesen fast zur Pflicht, und in der That kann man der anständigen Reklame ihre Daseinsberechtigung unter den heutigen Lebensverhältnissen nicht aberkennen.

Der „anständigen“ Reklame? Es giebt also eine anständige? Ganz gewiß. Ein großes, reell geleitetes Kaufhaus, welches dafür sorgt, daß möglichst weite Kreise ihm gewonnen werden, übt keine unerlaubte oder widerwärtige Reklame, wenn es durch mächtige Inserate das Publikum anzulocken versucht. Gute, solide Erzeugnisse, gleichviel ob sie geistiger oder stofflicher Natur sind, laut ankündigen, in der ausgesprochenen Absicht, von möglichst vielen gehört zu werden – das nennt man mit Recht anständige Reklame machen. Der Nutzen solchen Vorgehens fließt ja indirekt auch dem Abnehmer zu, der für billigen Preis gute Waare erhält, während er ohne das laute Angebot vielleicht weniger vortheilhaft eingekauft hätte.

Indessen – wie oft fehlt dem laut und vordringlich Angepriesenen die solide Grundlage, wie oft muß der schmetternde Trompetenstoß die Käufer zu den unehrlichsten Unternehmungen heranziehen! Jeder hat diese Erfahrung mehr oder weniger häufig in seinem Leben schmerzlich sich erhandeln müssen, jeder wäre leicht in der Lage, aus Selbsterlebtem mannigfache Beiträge zu diesem unerfreulichen Kapitel zu liefern. Nicht mit schwerer Pathetik kann man gegen diesen Unfug ankämpfen, nur die leichteren, aber nicht minder gefährlichen Waffen des Spottes sollte man dagegen anwenden. Die abenteuerlichen und grotesken Formen, die heute die Reklame vielfach angenommen hat, machen diesen Kampf zu einem nicht uninteressanten, denn er ermöglicht mancherlei lustige Betrachtungen über das Maß der – Einfalt, welches auch heute, im wissenschaftlichen Jahrhundert, noch vorhanden ist.

Den ersten Preis für geschickte Reklamefabrikation verdienen ohne Zweifel unsere Theater und öffentlichen Vergnügungslokale. Hier ist man bereits bei einem Superlativ der systematischen Verlogenheit angelangt, der selbst das harmloseste Publikum nicht mehr zu täuschen vermag. Es hat sich denn auch mit der Zeit ein offiziell zwar nicht anerkanntes, aber stillschweigend geduldetes Wörterbuch Geltung verschafft, welches die hochtrabenden Worte des Reklamestils in schlichtes, den Thatsachen entsprechendes Deutsch überträgt. Man weiß genau, wie man über die berühmten „ausverkauften Häuser“ zu denken hat; man kennt den durch Kassenrücksichten gebotenen Rückzug, der sich hinter der klingendem Phrase verbirgt, daß „kontraktliche Abmachungen die Direktion zu ihrem größten Bedauern veranlassen, ein noch immer außerordentlich zugkräftiges Stück vom Repertoire abzusetzen“, und was solcher kleinen Mittelchen mehr sind. Ist eine Vorstellung gut besucht, so meldet am andern Tage der im Direktionsbureau angefertigte „Waschzettel“, daß das Haus „überfüllt“ war, oder daß „Hunderte von Menschen lange vor Beginn an der Kasse abgewiesen werden mußten“; war es aber ganz leer, so spricht man von einem „stattlich gefüllten Hause“. Bei dieser lustigen Komödie ist der größte Theil des Publikums mit im Komplott, so daß man beinahe mit Freund Figaro fragen möchte: Wer ist denn hier der Gefoppte?

Freilich – nicht immer arbeitet der Reklameapparat so wenig geschickt, nicht immer sind die Mittel so harmlos und durchsichtig. Schon fangen große Unternehmer an, unter den wohlklingenden Namen von „Dramaturgen“ und „Sekretären“ dichterisch beanlagte Beamte anzustellen, deren einzige Aufgabe darin besteht, täglich neue Märlein zum Lob und Preise der betreffenden Institute zu ersinnen. Da entstehen denn herrliche Werke uneigennütziger dichterischer Begeisterung.

Mit Kleinigkeiten, wie es die nicht mehr recht zugkräftigen Unglücksfälle von Schauspielern und Artisten jeglicher Art sind, geben sich diese Edlen nur noch in den seltensten Fällen äußerster Noth ab; es muß schon starke Ebbe in ihrer sonst so herrlich fluthenden Phantasie eingetreten sein, wenn man liest, wie das „allen Kunstfreunden bekannte Fräulein Y. vorgestern in Gefahr schwebte, überfahren zu werden“, oder wie „die gestrige Aufführung der noch immer zugkräftigen Posse ‚Die neun Musen‘ beinahe arg gefährdet war, weil Ernst Schwarz, der hochbeliebte jugendliche Komiker, auf dem Wege zum Theater ein ins Wasser gestürztes Kind mit eigener Lebensgefahr und unter dem Jubel einer frohbewegten Menge errettete!“ Für gewöhnlich nehmen sie höheren Flug.

Da erscheint z. B. zwischen allerlei unverfänglichen Lokalanzeigen das folgende bewegliche Geschichtchen: „Die jetzt grassirende Epidemie der Schönheits-Konkurrenzen hat ihr erstes Opfer gefordert. Bald wird es sich vor dem Richter zu erweisen haben, ob der wiederholte Besuch einer Schönheits-Ausstellung ein – – Scheidungsgrund ist! Ein bekannter Kaufmann, Herr Sch. in der L … straße, hat den Zorn seiner liebenswürdigen Ehehälfte erregt, weil er von Bekannten der heißblütigen Dame mehrfach im Vaudeville-Theater angetroffen wurde, wo bekanntlich allabendlich unter außerordentlich starkem Zuspruch unserer vornehmsten Herrenwelt das Auftreten von zwölf konkurrirenden Schönheiten stattfindet. Ein heftiger Ehezwist erhob sich in der L … straße, und die Gattin des Herrn Sch. ist fest entschlossen, die Verirrung ihres Herrn Gemahls durch gerichtliche Scheidung zu ahnden. Hoffentlich gelingt es noch rechtzeitig liebevollem Zuspruch etc. etc.“

Alle Welt liest, belächelt und belacht die lustige Historie, am herzlichsten aber lacht der Direktor des Vaudeville-Theaters, dessen „Hausdichter“ die ganze Sache erfunden hat, denn der Erfolg ist stärker und sicherer als die Wirkung der größten Plakate.

Ein anderes, mit Recht beliebtes Mittel ist der Autorenbrief. Gleich nach der ersten Vorstellung erscheint in den Spalten der Zeitungen die „interessante“ Nachricht, daß Direktor X. den Verfasser oder Komponisten von dem sensationellen Erfolge seines Werkes benachrichtigt habe, da Herr Y. leider der dringenden Einladung, der Première beizuwohnen, nicht Folge zu leisten vermochte. Dieses war der erste Streich – doch der zweite folgt sogleich. Nach einer Anstandspause von einigen Tagen wird das Antwortschreiben des glücklichen Dramenvaters abgedruckt, worin dieser die glänzende Inscenirung, die er nicht kennt, die vortrefflichen Darsteller, die er nie gesehen, und die vollendete Uebersetzung, die er womöglich gar nicht versteht, mit gänzlich uneigennützigem Lobe ehrt. Der naive Theaterbesucher hat für den grotesken Humor dieser Lobesversicherungen auf Gegenseitigkeit nur selten Verständniß, auf ihn wirkt der Autorenbrief mit fast unfehlbarer Sicherheit.

Auch die Industrie verschmäht diese Geheimmittel nicht immer. Wenn man z. B. mitten in einer kleinen Manöverplauderei liest, wie die Herren Offiziere in einer freien Stunde während des Krieges im Frieden den schnellen Entschluß faßten, die kühle Feuchtigkeit durch eine Tasse des prächtigen Jamesschen Kakao zu vertreiben, und wie komisch den Beschauer das Bild der Chokolade zechenden Krieger anmuthete, so kann man füglich annehmen, daß die ganze rührsame Historie nur dem Bedürfnisse entsprang, dem p. t. Publikum den Kakao von James wieder einmal ins Gedächtniß zurückzurufen. Es ist der Vertreter von James, der da klappert – es ist sein Handwerk!

Den Tageszeitungsredakteur, der solchen Reklameartikeln Aufnahme gewährt, trifft keine Schuld. Einmal braucht er Stoff, um die Spalten seines Blattes zu füllen, also muß ihm jeder launig geschriebene Artikel willkommen sein, und andererseits ist es bei der eiligen Herstellung einer Tageszeitung gar nicht möglich, jede einlaufende Nachricht erst auf ihre historische Wahrheit hin zu prüfen. Solche Gewissenhaftigkeit würden ihm seine Leser schlecht danken, sie wollen gern lustig getäuscht sein.

Die eigentliche Gemeingefährlichkeit des Reklameschwindels fängt erst an, sobald er dazu dient, die Mittelmäßigkeit auf Kosten des wirklichen Talentes künstlich zu fördern und einen [28] Namen der Menge so laut und so unermüdlich in die geehrten Ohren zu tuten, bis sie schließlich an die gemachte Größe glaubt. Es ist sicherlich nicht schön und künstlerisch würdig zu nennen, wenn eine wirklich bedeutende Künstlerin, wie Sarah Bernhardt, von allen möglichen und unmöglichen Excentricitäten ihrer Lebensführung die Welt unterhalten läßt; viel schlimmer aber sind diese Orgien der Eitelkeit, wo es sich um eine Talmigröße handelt. Die Beispiele mangeln weder im lieben Vaterlande noch anderswo; unwillkürlich denkt wohl der Leser an den künstlich zum Heroen aufgebauschten französischen General, dessen einziges Verdienst bis jetzt darin besteht, daß er auf einem stattlich aufgezäumten Cirkuspferd leidlich gute Figur zu machen weiß, und der sogar die Hochzeitsfeier seines Kindes zum Anlaß der würdelosesten Reklame benutzt. Sein Beispiel ist lehrreich und typisch für die ganze große Schar seiner Nachahmer: man beginnt damit, über die lärmenden Virtuosen zu lachen, nach und nach verliert sich das Odium der Lächerlichkeit, und schließlich bewundert man den früher verlachten Helden. Es geht mit der Reklame wie mit der Verleumdung – es bleibt immer etwas hängen.

Kein Wunder also, daß sich eine ganze, geschäftige Industrie herausgebildet hat, um die schwarze Kunst des 19. Jahrhunderts nutzbar zu machen. Es giebt in der deutschen Reichshauptstadt große Reklamebureaus, deren einzige Thätigkeit im Tamtamschlagen besteht, und deren Besitzer sich von dem Ertrage dieses geräuschvollen Handwerks vortrefflich zu nähren verstehen. Skrupel kennen diese Braven nicht, sie gehen ebenso überzeugungstreu für Schlechtes wie für Gutes ins Zeug, sie stoßen in die Posaune für eine neue Seife, für ein großes Konzertunternehmen oder eine exotische Thierkarawane. Ihr großes Muster ist – Amerika. Das Dollarland ist die Heimstätte der Reklame um jeden Preis. Der nüchtern praktische Yankee, der an nichts glaubt und glauben will, verlangt seltsamerweise die plumpsten Reklamemittel. Deutsche darstellende Künstler, die nach Amerika hinüberkamen, waren entsetzt von der unglaublichen Geschmacklosigkeit, mit der man ihre Namen „populär“ zu machen gesucht hatte, aber all ihr Grollen und Schmähen half nichts, achselzuckend erklärte ihnen der „Manager“ (Unternehmer), daß sie ohne dies kunstvolle Arrangement von Wahrheit und Dichtung verloren wären. In der That könnte „drüben“ auch der größte Künstler nicht auf irgend nennenswerthe Erfolge rechnen, wenn er sich nicht mit gebundenen Händen einem geschickten Manager überliefert und sich durch lebensgroße bunte Bilder, durch Fackelzüge und Ständchen, durch gefälschte Biographien und märchenhafte Züge aus seinem Leben „anfeiern“ lassen will. Das amerikanische Publikum will einen Namen an allen Straßenecken in fußhohen Buchstaben lesen, ehe es an die Bedeutung des Trägers glaubt.

Nun – Gott sei Dank – ganz so weit sind wir noch nicht, aber man darf die Hoffnung nicht aufgeben, daß wir eines Tages auch dies schöne Ziel noch erreichen werden! Von Tag zu Tag mehren sich die Anzeichen dafür, daß wir auf dem besten Wege dazu sind, in dieser Hinsicht der neuen Welt als würdige Rivalen gegenübertreten zu können. Ist das ein Geschrei, ein Getöse, ein wechselseitiges Ueberbieten in der geschickten Handhabung der Lärmtrommel! Der schreiende Auktionator, eine stehende komische Figur stillerer Zeiten, ist heute beinahe zum Symbol für unser öffentliches Leben geworben. Geschäftsleute, Künstler, selbst einzelne Gelehrte werden von einer krankhaft nervösen Sucht nach Ruhm und Gold zu den äußersten Lungenanstrengungen veranlaßt, jeder von ihnen reißt seine Ladenthür auf und ruft die arglos Vorübergehenden an: „Nur hier herein, meine verehrten Herrschaften, so billig, so gut kaufen Sie niemals bei einem andern Geschäftsmann, meine halbseidenen Stoffe, meine echt englischen Parfums, mein neues Buch, meine großartige Koloratur sind ohne gleichen in der ganzen Welt – nur hier herein – ich bin der größte Gelehrte, der bedeutendste Künstler, und wir alle, alle sind die geschicktesten Kaufleute!!“

Und in dieses dem geübten Ohr beständig vernehmbare Geschrei lärmen die großen Reklameglocken ihr weithin schallendes Bim-Bam, klingen die feinen Schellen der vorübergleitenden Bicyklisten ihr grelles Klingling, und darüber hin leuchtet das weiße Licht der elektrischen Lampen in beinahe verletzender Klarheit und Helle. Die gute, alte Talgkerze ist längst verschollen, auch dem Gaslicht, dem gelblich trüben Gefährten ruhigerer Tage, droht der Untergang; unter dem Zeichen der Elektricität vollzieht sich der geräuschvolle Uebergang in eine neue lärmende Aera, die naturgemäß die Fehler ihrer Vorzüge haben muß.




Alles verschneit.

O winterlich stille Einsamkeit!
Fern tönen verhallende Glocken,
Der Himmel ist grau und alles verschneit,
Und immer noch rieseln die Flocken.

5
Der Wind fegt rauh durch Wald und Flur,

Hoch weht es den Schnee an der Hecke,
Und weder Pfad ist zu seh’n, noch Spur,
Weithin nur die glitzernde Decke.

Die Zweige beugen sich unter der Last

10
Des blinkenden Flaumes nieder,

D’rauf halten Vöglein traurige Rast
Und schütteln den Schnee vom Gefieder.

Wie friert und hungert die kleine Schar
Am trüben Wintertage:

15
O, wär’s wieder Lenz und der Himmel klar,

O, blühten die Rosen im Hage!

Und wo der Zufall ein Körnchen streut,
Verweht vom eisigen Winde,
Da fliegt es herbei, es piept und schreit

20
Und zankt und pickt so geschwinde.


Doch mancher muntere, kleine Gast,
Der im Sommer dir sang seine Lieder,
Sinkt kalt und todt vom verschneiten Ast
Und sieht den Lenz nicht wieder.

25
O, schaust du hinaus auf den schimmernden Schnee,

Behaglich, im Kreise der Deinen,
So denke daran: der Hunger thut weh –
Und vergiß nicht die frierenden Kleinen!

Anton Ohorn.




Die Vermählung der Todten.

Von Isolde Kurz.
(Fortsetzung.)


Ginevra sank auf die Kniee. „Ihr sollt alles wissen,“ sagte sie zu ihrem Vater, „und Ihr werdet sehen, daß Eure Tochter nicht zu erröthen braucht. Es war beim Turnier von Santa Croce am ersten Maientag. O, ich muß glauben, daß es der Wille des Schicksals war, denn Ihr selbst bestandet darauf, ich solle unter Madonna Gianettas Schutz dem Waffenspiel beiwohnen, und Ihr schenktet mir das köstliche Seidengewebe zum Festgewand und befahlt mir, die Juwelen meiner Mutter anzulegen, und kein Schmuck schien Euch reich und kostbar genug für mich. Ihr selber aber verschmähtet es, uns zum Turnier zu führen, und schicktet uns zwei Frauen allein in Begleitung der Knechte auf den Festplatz.“

„Weil ich beim Schachbrett saß. Sollte ich mit den weißen Gänslein Ringelreihen tanzen oder in den Schranken eine Lanze brechen wie ein junger Fant?“ brummte der Ritter grimmig. „Aber fahre fort!“

„In den Schranken, wo der Glanz der blanken Waffen, das Flimmern der Edelsteine auf den buntgestickten Satteldecken, das Nicken der hohen Federbüsche das Auge verwirrte und blendete und der Blick sich in dem Gewühl fremder Gesichter verlor, sah ich einen Ritter auf schwarzem Pferd, in dunklem Harnisch, der unverwandt zu unserem Balkon heraufstarrte. Sein Aeußeres war mißgestaltet, doch könnte ich Euch weder seine Züge beschreiben,

[29]

Alles verschneit. Nach dem Oelgemälde von Marie Laux.
Photographie im Verlag von Franz Hanfstängl in München.

noch seine Farben und Devise nennen, denn ich wagte nicht ihn zu betrachten, ich fühlte nur seinen Blick, der mich beharrlich mit einem verlangenden, gebieterischen, unaussprechlich qualvollen Bann umfing; es war mir, als ob die düstere Gluth dieses Auges mich verzehre, meine Wangen brannten, ich wollte hinter dem bewimpelten Pfeiler der Tribüne Schutz suchen, da fiel mir ein weißes Tüchlein aus den Händen. Ich sah, wie der Ritter das Tuch mit der Degenspitze auffing, es an die Lippen und die Brust drückte und es dann auf seinem Helm befestigte.“

„Ich weiß, wer der Ritter war,“ murmelte Messer Cione.

„Das Gewühl des Turniers verschlang den Ritter, ehe ihn Madonna Gianetta, der ich ein Zeichen machte, bemerken konnte. Aber mir ward es bang und weh zu Muthe und ich wünschte mich weit weg vom Fest zu Euch nach Haus in die kühle Halle. Sobald das Kampfspiel zu Ende war, zog ich Madonna Gianetta fort; in der Menschenmenge verloren wir die Diener aus den Augen und mußten froh sein, uns aus dem Gedräng in eine stille Seitengasse zu retten. Da hörten wir hinter uns Sporengeklirr und der Schatten eines Mannes fiel breit aus das Pflaster. Wir drängten uns fester zusammen und beschleunigten den Schritt, der Verfolger that das Gleiche. Endlich, als wir uns dem Platz der Signoria näherten, glaubten wir ihn verloren zu haben, aber an der Straßenecke stand er wie aus dem Boden gewachsen vor uns. Ich kann Euch schwören, daß ich an ihm vorüberging, ohne die Augen zu ihm aufzuheben, aber ich fühlte wieder den düstern, verzehrenden Blick, der auf meinem Gesicht brannte. Er trat an meine Seite und sprach zu mir – Worte, die ich kaum verstand, die mir aber eine eiskalte Angst in die Glieder jagten. Wir eilten, so schnell wir konnten, aber der Unbekannte, obwohl sein Schritt hinkend und ungleich war, holte stärker aus und hielt sich immer an meiner Seite. Da blieb Madonna Gianetta stehen und fragte ihn, ob es eines Ritters würdig sei, zwei schutzlose Frauen zu erschrecken und zu verfolgen. Sie drohte, um Hilfe zu rufen, wenn er uns nicht verlasse, und da soeben der junge Herr Leonardo, der Madonna Gianettas Schwestersohn ist, vorüberkam und unsere Lage bemerkend schnell vom Pferde stieg und auf uns zutrat, entfernte sich der Ritter, welcher glauben mochte, daß Herr Leonardo mein Bruder sei, indem er mir noch zuflüsterte:

,Edles Fräulein, Euer Tuch behalte ich als Pfand, Ihr sollt es dereinst von mir auslösen an einem Tag, welcher der schönste meines Lebens sein wird.‘ –

Ich zitterte so stark, daß ich mich auf Herrn Leonardos Arm stützen mußte. Ach, wenn Ihr ihn da gesehen hättet, wie er in seinem gestickten Wams dem heiligen Georg, dem Lindwurmstödter, glich, wie zart und ritterlich er uns beide schutzlose Frauen geleitete; wenn Ihr gehört hättet, mit welcher Verehrung er von Euch sprach, den er die Blume der florentinischen Ritterschaft nannte – dann – o dann, Vater, würdet Ihr Euch nicht verwundern, daß er das Herz Eurer Tochter so rasch gewonnen hat.“

Messer Cione antwortete etwas besänftigt:

„Ich sehe schon, wie Du in Deiner Ganshaftigkeit glaubtest, der Ritter wolle Dich fressen und dieser Gelbschnabel habe eine große That verrichtet, daß er durch sein Hinzukommen eine Erklärung abschnitt, gegen die ich nichts einzuwenden habe, als daß sie nicht in Gegenwart des Vaters gemacht ward. Wenn alles wäre, wie es sollte, würde sich der Laffe wohl gehütet haben, einem Ritter wie diesem in den Weg zu treten. Denn wenn Du wissen willst, wer der fremde Herr war, dessen Gegenwart einen solchen Bann auf Dich ausübte, so will ich es Dir sagen: es war niemand anders als Messer Ricciardo, Dein Verlobter; die Geschichte von dem Tuch kenne ich aus dem Mund seines Vaters, und Du wirst das Pfand von ihm auslösen an dem Tage, den Dein und sein Vater bestimmen werden. Stehe jetzt auf und schlage Dir die Kindereien aus dem Kopf. Daß Dein künftiger Gatte Dir schon beim ersten Anblick solche Scheu eingeflößt hat, das bedeutet [30] eine gute Ehe, denn er soll Dein Herr sein, nicht Dein Spielkamerad.“

Doch ebenso leicht hätte er können die Wasser des Arno rückwärts fließen heißen, denn Ginevra erhob sich nicht vom Boden, sondern schleppte sich auf den Knieen zu ihrem Vater, der sie mit Heftigkeit zurückstieß, und beschwor ihn, daß er sie lieber ins Kloster der Ursulinerinnen schicke, wo seine Schwester Aebtissin war, als sie an dem Mann, der ihr Herz und ihre Treue besitze, meineidig zu machen.

Da aber der Alte erfuhr, daß seine Tochter den jungen Leonardo seit jener ersten Begegnung zu öfteren Malen im Haus Madonna Gianettas wiedergesehen, daß diese würdige Matrone ihre Liebe beschützt und Zeugin ihres geheimen Verlöbnisses gewesen, da entbrannte sein zorniges Gemüth noch heftiger als zuvor; er überschüttete das Mädchen mit allen Scheltworten und Flüchen, welche die an schnöden Reden so reiche toskanische Mundart besitzt, fügte auch noch etwelche fremdländische Kraftwörter hinzu, die er in seiner Jugend bei den Deutschen gelernt hatte, und schwor hoch und theuer, wenn er Ginevra nicht als Gattin dem jungen Agolanti zugesagt hätte und seinen Schwur um der Ehre willen halten müsse, so würde er sie auf der Stelle hier in Stücke hauen. Ob sie denn nicht wisse, daß von all den frechen Emporkömmlingen, deren Anblick ihm täglich die Seele vergifte, keiner ihm so schweres Leid angethan wie die Familie der Rondinelli, die ihm seine Mauern verbrannt und seine Thürme niedergerissen und gegen die er niemals vor Gott und Menschen Recht gefunden habe. Aber er solle nur einmal einem von ihnen an einem Ort begegnen, wo der Arm der Signoria nicht hinreiche, sei es im Himmel oder in der Hölle, so wolle er so reiches Maß der Vergeltung üben, daß der liebe Gott selber am Tage des Gerichts die zerschlagenen Gebeine des Sünders nicht mehr erkennen solle.

Und als ob die gräßlichen Reden einer schlagenden Beweisführung bedürften, schleppte er das Mädchen am Arm auf den Söller, wo er ihr die verstümmelten, rauchgeschwärzten Mauern des Hinterpalastes zeigte, die wie eine stumme Anklage zum Himmel starrten.

„Sieh, das haben sie gethan, die Herren Rondinelli und Medici und wie das Krämervolk heißt. Es ist Deine eigene Mitgift und Erbschaft, die da in Rauch und Flammen aufgegangen ist; es war ein Wunder, daß Du selber mit dem Leben davonkamst, und Du darfst Gott danken, daß ein so edler Herr wie Messer Ricciardo Dich zur Frau begehrt, Bettlerin, die Du bist!“

Und nachdem er sie noch einige Male derb geschüttelt hatte, ging er mit schweren Schritten zur Thür hinaus und ließ die unglückliche Ginevra allein, indem er die Fäuste gegen den Himmel schüttelte, als wolle er die Vorsehung selbst zur Verantwortung ziehen, und ausrief: „O Gott, wie konntest Du zulassen, daß mein Blut sich so verirrte!“

Die Wuth des Ritters entsprang nicht allein aus der Verachtung des alten kriegerischen Adels gegen den im Handel reich gewordenen Bürgerstand, noch aus der in stürmischen Zeitläuften erlittenen persönlichen Schädigung, sondern sie war eine Folge der langen Unterdrückung und endlichen völligen Rechtlosigkeit, in der die Träger der ältesten und erlauchtesten Namen von den siegreichen Zünften gehalten wurden.

In Florenz war nämlich seit einem Jahrhundert die herkömmliche Weltordnung auf den Kopf gestellt und sollte es auch bleiben, so lange die Herrlichkeit der alten Republik dauerte. Den Adeligen oder „Granden“ war in heißen Kämpfen allmählich jeder Antheil am Regiment aus der Hand gewunden worden, selbst eine Vertretung war ihnen versagt und Gesetze von abenteuerlicher Strenge wurden aufgestellt, um diese neue Ordnung zu sichern. Unter keinerlei Umständen konnte ein Adeliger ein Amt von nur einiger Bedeutung bekleiden, selbst den Palast der Regierung zu betreten war ihm verwehrt. Nur in seltenen Fällen erlangte ein „Grande“ durch außerordentliche Verdienste das Recht, den Adel abzulegen, seine Wappen zu verlöschen und in den Bürgerstand aufgenommen zu werden, doch selbst dann blieb er von den Staatsämtern ausgeschlossen. Derjenige Adelige, welcher einen Popolanen durch Worte oder Werke zu beleidigen oder gar sich thätlich an ihm zu vergreifen gewagt, durfte der härtesten Strafe gewärtig sein, von schwerer Geldbuße, Abhauen einer Hand, Konfiskation der Güter bis zur Verkürzung um die Länge eines Kopfes. Und damit ja kein Vergehen des Adels ungesühnt bleibe, waren an vielen öffentlichen Orten Büchsen aufgestellt, welche dazu dienten, Denunciationen gegen die „Großen“ aufzunehmen.

Mit der Zeit ward die Versetzung in den Adelsstand sogar zu einem Akt der Strafe, denn wenn ein Popolane bei irgend einem Anlaß Partei für einen „Großen“ genommen oder nur eine ihm durch einen solchen zugefügte Beleidigung nicht zur Anzeige gebracht oder sich sonst in irgend einer Weise mißliebig gemacht hatte, konnte er und seine ganze Nachkommenschaft zu Granden erklärt werden, wodurch die Familie auf ewige Zeiten der bürgerlichen Rechte verlustig ging.

Diesen unwürdigen Zustand vermochten die edlen Sprößlinge der alten Ghibellinenhäupter nicht ruhig zu ertragen, und sie hatten mehr als einmal gesucht, in blutigen Straßenkämpfen und Aufläufen die verlorene Herrschaft wieder an sich zu reißen.

Vor wenigen Jahren war es zum letzten Mal zum Zusammenstoß gekommen, in den sich Messer Cione trotz seiner vorgerückten Jahre und Körperfülle frisch und freudig wie ein Jüngling gestürzt hatte. Die Parteien, in Familien mit Sippen, Gefreunden und Anhang geordnet, standen sich in den Straßen, auf den Plätzen, wo nur Raum zum Handgemenge war, gegenüber, aber durch unerschöpflichen Zufluß aus den unteren Vierteln schwollen die Reihen des Volkes und wuchsen zu einem Strom, der die ermatteten, durch keine Hilfe mehr verstärkten Gegner wie schlecht gestützte Dämme niederriß.

Und während an den Arnobrücken längst niemand mehr Stand hielt als das eiserne Geschlecht der Bardi, das den „Ponte Vecchio“ durch schwere Ketten gesperrt hielt und ihn von seinen Thürmen herunter vertheidigte, löste sich von dem Hauptheer der Streitenden eine kleine Schar Popolanen ab und zog, geführt von den Rondinelli, nach dem Mercato, wo sich ein Häuflein Adeliger unter dem Befehl Messer Ciones um das kleine Kirchlein des hl. Andreas her befestigt hatte und von seinen Palästen und himmelhohen Thürmen herunter dem Andrang des Volks wie aus einer Burg Widerstand leistete. Auch dort fanden sie die engen Straßen durch schwere Eisenketten von Thurm zu Thurm gesperrt, und an der vordersten dieser Barrikaden stand, umgeben von einer auserlesenen Schar junger Edelleute, Messer Cione, gerüstet bis an die Zähne, daß er einem Berg von Eisen glich und mit seiner Person allein schon den Paß sperrte. Er hatte die Beine gespreizt, sein Gesicht war blutroth aufgelaufen, das Schwert stemmte er vor sich auf den Boden, indem er sich mit beiden Händen darauf stützte, blickte wild um sich und begleitete jeden Schuß oder Wurf, der aus den Reihen der Seinigen kam, durch einen fürchterlichen Fluch, wie um seine Wucht zu verstärken. Es blieb eine Zeit lang bei solchem Drohen und gefahrlosem Würfen; erst als die Rondinelli, welche den ganzen Streit angezettelt und auch an den Brücken als die Vordersten gekämpft hatten, auf dem Platz erschienen, kam es zum Blutvergießen; von den gezackten Mauern herab wurden sie durch Geschosse dicht wie Hagelkörner begrüßt und hoch oben aus der Luft von den schwebenden Brücken herunter, welche die Häuser befreundeter Familien verbanden, flogen Steinblöcke, die den Getroffenen auf immer zu einem friedlichen Mann gemacht hätten.

Aber ehe ein Opfer fiel, war der ungleiche Kampf entschieden. Ein paar Jünglinge aus dem Geschlecht der Rondinelli, welche ihres jugendlichen Alters wegen von den Vätern in die hintersten Schlachtreihen gestellt worden waren, schleppten, um nicht müßig zu bleiben, eine große Leiter herbei, die sie unter den Steinwürfen der Belagerten und dem Beifallsgeschrei der Menge an die Mauern legten, und der sechzehnjährige Leonardo war es, der zum Jubel der Seinigen den ersten Feuerbrand in den Palast der Amieri schleuderte.

Zwei Schritte vom Fenster stand mit vorgebeugtem Leib, Furcht und Neugier in den Mienen, die liebliche noch nicht dem Kindesalter entwachsene Ginevra, die dem Verbot des Vaters entgegen aus den verstecktesten Räumen des Palastes heraufgeschlichen war, um dem Kampfe zuzusehen. Als nun Leonardos Gestalt so jählings am Fenster erschien und einen Augenblick zwischen Leben und Sterben an der Brüstung hing, schrie das Kind vor Ueberraschung laut auf und starrte regungslos den schönen kecken Knaben an, aber im nächsten Moment schoß von seiner Hand geschleudert ein Feuerstrahl an ihr vorüber, der zischend auf den weichen wollenen Fußteppich niederfuhr. Zugleich begegneten sich die Blicke der beiden; er streckte noch erschrocken den Arm aus, wie um die [31] schon entsandte mörderische Fackel zurückzuhalten, aber gleichzeitig prasselte es von den oberen Stockwerken herab mit Steinen auf den jugendlichen Angreifer, der unter diesem Hagel das Gleichgewicht verlor, schwankte und stürzte. Ginevra hatte alles vergessen, die feindliche That des Knaben und die eigene Gefahr, sie flog ans Fenster und konnte noch eben sehen, wie der Fallende, sich Ueberschlagende eine Sprosse der Leiter faßte, die er zwar im Falle mit sich riß, die aber doch die Gewalt des Sturzes milderte, so daß seine Gefährten die Leiter ergreifen und den Jüngling in den Armen auffangen konnten.

Doch während er in Herzensangst nach Hilfe rief und sich aus den umklammernden Armen der Freunde loszuringen suchte, um aufs neue die Leiter anzulegen, diesmal nicht als Feind, sondern als Retter, streckte ihn ein neuer Steinwurf bewußtlos zu Boden.

Für Messer Cione aber war es ein großes Glück, daß gleichzeitig auf dem linken Arnoufer die Häuser der Bardi an allen Ecken rauchten und die Beutegier des Pöbels eine reiche und köstliche Ernte fand, denn sein eigener Palast blieb von aller Plünderung verschont, da ihm nur angesehene begüterte Bürger gegenüber standen, die mit der zugefügten Schädigung zufrieden vom Brandplatz abzogen, nachdem sie die Thurmwand niedergerissen hatten. Einige waren sogar beim Löschen behilflich, denn das Florentinische Volk war von je eben so bereit zum Lieben wie zum Hassen, und wenn die Rache gesättigt war, schlug sie leicht in Mitgefühl um.

Ginevra war halberstickt und ohnmächtig von einem Diener durch den bedeckten Gang in ein Nachbarhaus getragen worden, wo Madonna Gianetta sie liebreich aufnahm und pflegte. Aber von der Erscheinung des Jünglings am Fenster, für den eine ganz leise Stimme in ihrem Herzen um Verzeihung flehte, sprach sie nie ein Wort und Messer Cione, der den Namen des eigentlichen Brandstifters nicht erfahren hatte, theilte darum seinen Groll zwischen dem ganzen Geschlecht der Rondinelli.

Als Ginevra später den Knaben in männlicher Gestalt wiedersah, erkannten sie sich auf den ersten Blick, und beiden war es, als habe sich von jener Brandfackel ein Funke in ihre Herzen verirrt, der lange Jahre da geschlafen und der nun auf einmal vorbrechen müsse als ein heiliges Feuer, um all den alten Hader in seiner reinigenden Gluth zu verzehren. Auch als der Vater im Zorn von ihr gegangen war, gab sie die Hoffnung nicht auf, sein Herz zu erweichen. Aber der alte Ritter, der wohl wußte, daß seine ganze Stärke in seinem Zorne lag, und daß er nicht sicher war, einen zweiten Sturm siegreich zu bestehen, ließ ihr noch desselben Abends durch die Dienerin sagen, sie solle sein Angesicht nicht wieder sehen, bis sie komme, um ihm ihre Unterwerfung anzukündigen. Indessen habe sie allein auf ihrem Zimmer zu bleiben und mit niemand zu verkehren, damit sie in sich gehen und ihren Trotz bereuen könne.

So saß sie nun die langen Tage in ihrem Thurmzimmerchen, dessen Fenster auf den von drei Seiten eingeschlossenen Hofraum gingen, stickte an ihrem Teppich und in jeden Stich verwob sie einen Gedanken an Leonardo. Und bald wünschte sie, daß er einen Fürsprecher zu ihrem Vater schicken möge, bald zitterte sie vor dem Ausgang eines solchen Versuches. Wenn es Abend wurde, lauschte sie mit klopfendem Herzen nach der Straße hinunter, wo sie seinen Schritt aus allen andern herauszuhören glaubte, und stellte sich seine Gestalt vor, die jetzt wohl spähend über die Piazza schlich. Sie drückte die Brust gegen die kahle Wand, welche ohne Fenster wie eine Klostermauer nach dieser Seite ging, und gab dem fühllosen Stein all die Küsse, die sie bisher dem Geliebten verweigert hatte. Des Nachts, wenn die Fensterscheiben im Wind erklirrten, zitterte sie, daß Leonardo es noch einmal wagen könne, die Leiter an ihr väterliches Haus zu legen, und harrte mit gespanntem Ohr und jagenden Pulsen schlaflos bis zum Morgen.

Messer Cione horchte wohl zuweilen auf dem Gang, und wenn sich lange nichts regte, ward er ängstlich und schickte die Dienerin mit irgend einem Vorwand in die Stube, ob das Kind sich in der Einsamkeit kein Leides angethan habe; aber sobald er ihre Stimme wieder vernahm, erwachte sein Groll aufs neue und er ging von dannen mit dem festen Vorsatz, sich nimmermehr von seinem gegebenen Wort abbringen zu lassen.

Diese Dienerin, Laurella mit Namen, ein häßliches, aber aufgewecktes Geschöpf, hatte sich während Ginevras Haft in das Vertrauen der jungen Herrin eingedrängt und wäre wohl zu einem geheimen Botengang willig gewesen, hätte nicht Messer Ciones Argwohn auch ihr die Flügel beschnitten, indem sie das Haus ohne seine besondere Ermächtigung nicht verlassen durfte. So blieb nur die Hoffnung auf Madonna Gianetta, die bisher die Schutzpatronin der beiden Liebenden gewesen; aber die edle Dame, die sonst auf Messer Cione das Sprichwort anzuwenden pflegte, daß Hunde, welche bellen, nicht beißen, war durch des alten Ritters Drohungen so eingeschüchtert worden, daß sie die Stadt in der Stille verlassen und sich auf ein Landgut zurückgezogen hatte. Bald folgte noch schlimmere Mär, denn auf mancherlei Umwegen kam es Laurella zu Ohren, der alte Rondinelli sei gesonnen, seinen Sohn in Handelsgeschäften nach Frankreich zu verschicken, und was diese Sendung bedeuten sollte, wußte Ginevra nur allzu wohl; hatte sie doch aus Leonardos eigenem Munde gehört, daß es seines Vaters Lieblingsgedanke sei, ihn mit der Tochter eines reichen Handelsfreundes in Lyon zu vermählen. Und um das Maß voll zu machen, theilte ihr Laurella gleichzeitig mit, daß der Notar den Kontrakt ihrer Heirath mit Ricciardo schon aufgesetzt habe und daß das Kränzlein von goldenen Blättern, welches nach Florentiner Brauch ihr Haupt bei der Ceremonie schmücken sollte, für den folgenden Morgen bereit liege.

„Nein, bei Gott,“ rief Ginevra außer sich, „dies Kränzlein wird mich niemals schmücken, es sei denn, daß Leonardo mich zum Altar führt oder sie setzten es mir als Leiche aufs Haupt – denn wisse, eher stürz’ ich von diesem Thurm zerschellt aufs Pflaster, als daß ich dem Manne folge, vor dem mein Inneres sich entsetzt.“

Sie zog Laurella in die entlegenste Ecke des Gemachs, und nachdem sie ihr den Schwur der Treue und Verschwiegenheit abgenommen, holte sie ein zusammengefaltetes Blatt aus dem Busen und sagte mit gedämpfter Stimme:

„Nimm diesen Brief und verwahr’ ihn wohl. Ich habe ihn heute nacht geschrieben; aber ich wollte ihn nicht absenden, bis es zum Aeußersten gekommen wäre, denn nur aus höchster Noth werfe ich die Sitte und Bescheidenheit von mir, die einem Mädchen geziemen. Aus den Erzählungen unserer Dichter weiß ich, wie bedrängte Liebende sich Hilfe schaffen, und manche Heldin, die im Liede gepriesen wird, hat Schlimmeres gethan als ich, um den Weg zu ihrem Liebsten zu finden. So höre den Rath, den mir der Himmel eingiebt: Wenn Leonardo treu ist – und ach, ich würde eher am Licht der Sonne zweifeln als an ihm – so soll er heute nacht um die zweite Stunde nach Sonnenuntergang in der Kirche des heiligen Andreas auf mich warten. Mein Vater kann mir diesen Gang nicht weigern, wenn ich ihn bitte, mich die Nacht vor meiner Vermählung am Grabe der Mutter beten zu lassen. Ich werde ihm Unterwerfung heucheln, ihn beschwatzen und mit Dir zur Stelle sein. Dort, wenn kein Priestermund uns den Segen sprechen kann, soll Leonardo bei der Nische, welche die Gebeine meiner Mutter birgt, mich zu seinem Weibe nehmen. Im Angesicht Gottes und dieser Todten tauschen wir die Ringe und Du sollst Zeugin sein. Alsdann folge ich ihm, wohin er mich führen will. Und wenn die Seinigen mich zurückstoßen, gehen wir in ein anderes Land, und meine Heimath soll da sein, wo unsere Liebe ein Asyl findet.“

„Madonna, Ihr habt hohen Muth,“ sagte das Mädchen bedächtig. „Aber denkt Ihr auch an die Gefahren, die Ihr heraufbeschwört, Eures Vaters Zorn und die Gesetze dieser Stadt? Wird Herr Leonardo so Großes wagen?“

„O Laurella, was redest Du!“ rief das begeisterte Mädchen. „Leonardo ist kein Ritter, aber zehn Ritter erreichen Leonardos Kühnheit und Treue nicht. Und wenn uns das Schlimmste geschieht, wenn die Verfolger uns ereilen, so sterben wir doch Herz am Herzen als Mann und Weib und sind eine Stunde glücklich gewesen.“

„Ihr sprecht vom Sterben, und ich soll dazu die Hand bieten!“ schluchzte Laurella und umfaßte sanft den Leib der jungen Gebieterin. „Ach, Madonna, was soll aus mir werden, wenn Ihr untergeht?“

„O Laurella, sterben um Liebe heißt ewig leben,“ rief das Mädchen mehr und mehr entflammt. „Wenn Du mich liebst, so sei stark mit mir und denke nur daran, diesen Brief in Leonardos Hände zu besorgen. Um die Stunde, wo er von seines Vaters Bank nach Hause geht, stellst Du Dich am Fenster auf und wartest, [32] bis ein Jüngling in braunem Sammetgewand vorüberkommt, der wie ein Palmbaum über alle andern emporragt. – Licht strahlt von seinen Augen und sein Gang ist Majestät – er gleicht dem heiligen Georg, der den Drachen schlug – Du müßtest ihn aus Tausenden erkennen, wenn Du ihn nie gesehen hast! – Schon von weitem späht er am Haus herauf – Du zeigst ihm den Brief, den Du mit einem Stein beschwert im Busen trägst, und wenn er Dich verstanden hat, läßt Du ihn verstohlen zu seinen Füßen fallen. Er wird ihn aufheben und das elende Papier mit seinen Küssen bedecken, denn so hab’ ich’s in den alten Historien gelesen –“

„Herrin, ich gehorche,“ unterbrach Laurella die Schwärmende; „aber vergeßt in Eurem Glück ein armes Mädchen nicht.“

„Meine Dankbarkeit soll keine Grenzen kennen, ich will Dich nie verlassen und meine schwesterliche Liebe soll Dich für alles entschädigen. – Aber halt, sagtest Du mir nicht einmal, daß ein Knecht der Agolanti Dich gerne sieht? Du Gute bist einem Werkzeug meiner Feinde zugethan und willst mir dennoch dienen! Sieh, Deinen Beppo kann ich Dir freilich nicht geben, wenn ich das Weib eines Rondinelli bin; aber was Du sonst fordern kannst, will ich für Dich thun, und Du sollst mit uns beiden das Brot des Exils theilen, das uns süßer schmecken wird als der Hochzeitskuchen, den Ricciardos Mutter bäckt.“

Das Mädchen, das wohl eine andere Belohnung erwartet haben mochte, verzog den Mund, als wolle sie sagen, daß ihrer Herrin Geschmack nicht der ihrige sei, und entfernte sich zögernd mit dem Brief.

Als sie nach Verfluß einiger Stunden wieder in dem Thurmzimmerchen erschien, nickte sie bedeutungsvoll mit dem Kopfe und sagte leise mit niedergeschlagenen Augen: „Es ist geschehen.“

Mit einem Jubelruf lag Ginevra an ihrem Hals, dann richtete sie sich auf und sagte:

„Und nun zu meinem Vater, jetzt fühle ich die Kraft, ihm mit einer Lüge unter die Augen zu treten – er hat es selbst gewollt!“

Die blasse schmale Mondsichel neigte sich schon zum Niedergang, als ein Jüngling, tief in den Mantel gewickelt, mit dessen Zipfel er auch das Gesicht verhüllte, durch die schon im Dunkel liegenden Straßen schlich, indem er sich an den Häusern hindrückte und den Laternenschein mied, den ihm da oder dort ein heimwärts wandelnder ehrsamer Bürger über den Weg warf, und mancher, der ihm so begegnete, blickte ihm nach und dachte im Stillen: „Ein Glücklicher, der zur Liebsten eilt.“

Der Jüngling ging mit schnellen Schritten und drückte von Zeit zu Zeit die Hand auf die Brust, wo ein Stück Papier knitterte, um sich zu versichern, daß er nicht im Traum wandle. Er kannte jede Zeile dieses Briefes auswendig und flüsterte sich selbst im Gehen mit verzücktem Lächeln die Liebesworte vor, die das arme Blättchen ihm zugetragen hatte.

Trotz des Fiebers, das ihm in den Adern brannte, hatte er seine Anstalten planvoll und umsichtig getroffen: außerhalb der Stadtmauer scharrten schon zwei gesattelte Renner den Boden, einige verwegene Freunde, die er seit vielen Tagen zu einem Gewaltstreich gerüstet hielt, waren auf der Landstraße aufgestellt, um im Nothfall die Fliehenden zu decken, ein verborgenes Gehöft in der Campagna, wo ein früherer Diener seines Hauses Pächter war, sollte ihnen zuerst Obdach gewähren. Dort wollte er in aller Stille ihren Bund von der Kirche segnen lassen und dann sein junges Weib dem Schutz der nahe wohnenden Frau Gianetta übergeben, denn er wußte, daß die edle Matrone trotz ihrer Furchtsamkeit der angetrauten Gattin ihres Neffen eine Zuflucht nicht versagen würde. Er selber hoffte, unterdeß in Florenz die beiden zürnenden Väter zu versöhnen; denn er zählte auf den alten Spruch, der da räth, zu geschehenen Dingen das Beste zu reden. Er dachte nicht daran, daß diese rasche That seiner Vaterstadt vielleicht neue Ströme Blutes kosten könnte; er dachte nur an ein Paar weicher rother Lippen, die er noch nie geküßt hatte und von denen er nun die Blumen des Paradieses pflücken sollte; er sah die einzelnen Züge des geliebten Gesichtes in greifbarer Deutlichkeit vor sich, aber er konnte sie nicht vereinigen und das ganze Bild schwankte in unbestimmten Umrissen vor ihm her, wie um seine erregte Phantasie zu necken und vor der lodernden Sehnsucht ins Wesenlose zu verschweben. Er beschleunigte den Gang, ohne zu bemerken, daß ihm rasche leise Schritte folgten. Eben fielen zwei dumpfe Schläge von der Domkirche und verkündeten die zweite Stunde nach Sonnenuntergang. Der Jüngling wollte die Strecke abkürzen, die ihn von seinem Glück trennte, und verließ die belebteren Stadttheile, um nach einer verödeten Piazzetta einzubiegen. Das Geräusch hinter ihm verstummte; aber kaum war er bis zu einer finsteren Ecke gelangt, als er aus nächster Nähe Waffengeklirr und Hilferuf vernahm, er sah im Dunkeln einen Knäuel Menschen zusammengeballt, eine Stimme rief: „Herr! Herr! zu Hilfe! Sie morden mich!“ und es schien, als seien zwei bewaffnete Uebelthäter über einen einzelnen wehrlosen Mann hergefallen. Dem Jüngling wallte das rasche Blut; ohne sich zu besinnen, flog er zur Stelle und deckte den zu Boden Gestürzten, auf den die andern mit Messern und Knütteln eindrangen, mit seinem Degen, indem er rief:

„Haltet Frieden, Freunde!“ Aber eh’ er es dachte, empfing er einen schweren Hieb auf den Kopf und zugleich traf ihn von unten gezielt ein Stich in den Leib, daß er taumelte und über den Liegenden hin zu Boden stürzte, wo sein Blut dunkel auf das Pflaster rann. Nebel umhüllte sein Bewußtsein, aber es kam ihm vor, als beuge ein Kopf sich zu ihm nieder und als flüstere eine höhnische Stimme:

„Merkt Euch, Herr Leonardo, wer zur Hochzeit geht, muß sich nicht in fremde Händel mischen!“ Und zugleich fuhr ihm ein zweites Messer in die Brust.

(Fortsetzung folgt.)




Lebensgefahr im eigenen Hause.

Von C. Falkenhorst.

Vor einiger Zeit war ich Zeuge eines Hausstreites, der zwischen den Miethsparteien bedrohlich den lieben Hausfrieden störte. Die „Herrschaften“ im ersten und zweiten Stockwerk klagten über einen üblen Geruch, der die Wohnung verpeste und als dessen Quelle der Gußstein in der Küche erkannt wurde. Die „Leute“ im dritten Stock merkten zwar auch den Uebelstand, aber sie ertrugen ihn mit Geduld und schwiegen. Das gab nun Veranlassung, sie als die Schuldigen zu brandmarken. Der braven stillen Hausfrau des dritten Stockwerkes, in deren Wohnung Musterwirthschaft herrschte, wurde einstimmig der Vorwurf gemacht, sie lasse unreine Flüssigkeiten in den Gußstein gießen und verpeste dadurch das Haus. Es liefen Beschwerden und Abwehr Trepp’ auf Trepp’ ab, und der Hauswirth schüttelte sein Haupt, ihm war der pestilenzialische Geruch ein Räthsel; sein Haus sei gut gebaut, rein und gesund, sagte er.

Zufällig klagte mir die Hausfrau des zweiten Stockwerks über diese Kalamität, klagte über die „neue Wohnung“, in welcher sie so viel Unglück mit den Kindern habe, die fortwährend an Halsleiden etc. kränkelten, klagte auch über die Rücksichtslosigkeit der Leute im dritten Stockwerk.

Ich lächelte und bat, den verdächtigen Gußstein sehen zu dürfen. Bereitwilligst wurde mir der „Stein des Anstoßes“ gezeigt. Er roch; man brauchte nicht erst, wie dies die Hausfrau that, den hölzernen Deckel zu heben, um diese Thatsache festzustellen. Ich besah diese wichtige Hauseinrichtung, die noch aus älterer Zeit stammte, und entfernte mich mit dem Versprechen, daß ich am nächsten Tage kommen und ein Mittel zur Abhilfe angeben werde; denn die Leute im dritten Stockwerk waren unschuldig, das wußte ich.

Wohl hätte ich der Hausfrau sofort den Sachverhalt mittheilen können, aber ich dachte an den Horazischen Vers:

„Viel rascher dringt zu unserm Geiste
Die Außenwelt durchs Auge als durchs Ohr“

und ging, um ein hübsches illustrirtes Werk zu holen, welches die Prinzessin Christian von Schleswig-Holstein aus dem Englischen ins Deutsche übertragen hat, ein treffliches Werk, in dem auch der hier vorliegende Fall eines bösen Gußsteins behandelt wird. Wenn ich die Bilder zeige, dachte ich mir, werde ich leichter verstanden werden.

Am andern Morgen erschien ich mit dem Werke „Lebensgefahr im eigenen Hause“ von T. Pridgin Teale (Kiel, Lipsius

[33]

Griechische Braut.
Nach dem Oelgemälde von Josef Ženišek.
Photographie im Verlag von Franz Hanfstängl in München.

[34] und Tischer) und schlug die Tafel IV auf, die im verkleinerten Maßstabe in unserer Fig. 1 wiedergegeben ist.

Fig. 1. Ein „böser“ Gußstein.

„Verehrte Freundin,“ sagte ich, „Ihr Gußstein ist ungefähr ebenso beschaffen wie dieser hier, den der Zeichner abgebildet hat. Das Abflußrohr mündet unmittelbar in die Schleuse, welche allen Unrath der Straße fortführen soll, und wie es in einer solchen Schleuse aussieht, das können Sie sich gewiß denken. Dort verwest und zersetzt sich alles, dort herrscht der übelste Geruch, dort brüten alle möglichen Bakterien und natürlich auch die bösen, welche allerlei Krankheiten erzeugen. Durch diesen Gußstein steht Ihr schönes Haus mit den unterirdischen Kloaken in Verbindung. Nur allzu oft entsteht in dem Abflußrohr ein Luftzug, wie ihn die Pfeile auf der Abbildung andeuten, die schreckliche, greuliche Kanalluft steigt in dem Rohre empor und verbreitet sich in der Küche, in dem Vorsaal, in Ihrer gesammten Wohnung. Diese Kanalluft ist nicht nur unangenehm, sondern auch schädlich, schon oft wurden durch dieselbe Krankheiten hervorgerufen, und ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß Sie sowohl Ihren „nervösen“ Kopfschmerz wie die Krankheiten Ihrer Kinder lediglich diesem Gußstein zu verdanken haben!“

„Aber das ist geradezu abscheulich!“ rief die Hausfrau. „Was soll ich thun? Ich muß ja einen Gußstein haben und andere Leute haben ihn auch und klagen nicht über üblen Geruch.“

Fig. 2. Der „Wasserverschluß.“

„Ja, sehen Sie,“ erwiderte ich, „die anderen Leute haben das Glück, bei gebildeteren und gewissenhaften Hausbesitzern zu wohnen, die derartige Gußsteine nicht dulden und sie längst durch bessere ersetzt haben. Bitte, sehen Sie nur dieses Bild an (Fig. 2)! Bei diesem Gußstein ist das Abflußrohr bei A knieförmig gebogen und durch diesen äußerst einfachen Kunstgriff die überaus wichtige Thatsache erreicht, daß die Wohnräume nicht mehr in Verbindung mit den Schleusen und Kloaken stehen. In der knieförmigen Beugung des Rohres bleibt, wie das auf der Abbildung angedeutet ist, immer Wasser zurück, und dieser Wasserverschluß genügt vollständig, um den Kanalgasen den Zutritt in die Wohnräume zu versperren. Solche Gußsteine riechen nicht, und Sie und Ihre Hausgenossen werden das Beste thun, wenn Sie der braven armen Hausfrau im dritten Stockwerk Abbitte leisten und den Hauswirth veranlassen, einen Wasserverschluß an den Gußsteinen anzubringen.“

Ob die Abbitte geleistet wurde, weiß ich nicht. Der Hauswirth aber mußte dem vereinten und gerechten Ansturm erliegen. Es wurden richtige Abflußrohre angebracht und mit der guten Luft zog auch Frieden in das Haus ein. Thatsächlich verschwand auch der Kopfschmerz der Hausfrau und die Kinder kränkelten nicht mehr.

Bis dahin hatte ich mich wenig mit Gußsteinen befaßt. Bald darauf ging ich aufs Land, fuhr mit „Bimmelbahnen“ oder wie sie anders heißen: Sekundärbahnen in kleine Städtchen, die noch abseits vom Weltverkehr liegen, und machte hier, durch den oben erwähnten Fall angeregt, „Gußsteinstudien“. Ich war indiskret genug, in fremde Küchen einzudringen, und fand, daß der einfache Wasserverschluß beim Abflußrohr, der sonst baupolizeilich vorgeschrieben wird, keineswegs allgemein verbreitet ist. Da dachte ich mir, daß es doch zweckmäßig sein müsse, diese hygienische Angelegenheit an die große Glocke zu hängen, und faßte den Entschluß, einen Bericht über die „Lebensgefahr im eigenen Hause“ für die weitverbreitete „Gartenlaube“ zu schreiben.

*     *     *

Zu dem fehlerhaften Gußsteine haben wir nur eine Quelle entdeckt, durch die gesundheitsschädliche Stoffe in unser Wohnhaus dringen können. Dieselbe Gefahr bergen aber alle Abflußrohre des Hauses, die Abflußrohre der Badeeinrichtung und der Wasserklosetts. Pridgin Teale hat in seinem Werke eine ganze Reihe ähnlicher fehlerhafter Anlagen abgebildet, die Krankheiten verursacht haben und deren Studium den weitesten Kreisen zu empfehlen ist.

Fig. 3. Ein gefährliches Dachrohr.

Auf welchen seltsamen Umwegen die Ansteckungsstoffe in unsere Wohnung Eingang finden können, beweist die Fig. 3. Das Dachrohr, welches gerade unter dem Fenster eines Schlafzimmers mündet, steht mit einem Abzugskanal in Verbindung. Die schlechten Gase, welche in dem Dachrohr emporsteigen, dringen unmittelbar in das Schlafzimmer ein, wie die Pfeile es andeuten. Die wenigsten haben wohl bis jetzt daran gedacht, daß die Nachbarschaft eines Dachrohres ihre Gesundheit schädigen könne, und dennoch sind nicht selten Erkrankungen infolge dieser fehlerhaften Anlage festgestellt worden. Vor einigen Jahren wurde z. B. die Entstehung typhöser Fieber auf der Universität Cambridge auf eine solche Ursache zurückgeführt. – Aber nicht allein durch die Luft werden Krankheitskeime verbreitet; auch das Trinkwasser ist der Träger derselben und die Verunreinigung der Hausbrunnen verdient um so mehr unsere Aufmerksamkeit, als sie tief unter der Erde zu geschehen pflegt und sich unsern Blicken entzieht. – Die Abbildung „Wie Leute Kanalwasser trinken“ (Fig. 4) veranschaulicht uns die Verunreinigung von Brunnenwasser durch schlecht gedichtete oder zerbrochene Rohre, deren Inhalt in einen Brunnen durchsickert. Solche Fälle kommen namentlich in kleineren Städten und Dörfern, die keine öffentliche Wasserleitung besitzen, oft vor. Pridgin Teale bemerkt in seiner Erläuterung zu dieser Abbildung:

Fig. 4. Wie Leute Kanalwasser trinken.

„Ein Brunnen kann lange Zeit durch Kanalflüssigkeit verunreinigt sein, ehe Krankheiten dadurch entstehen. Man könnte die Entstehung einer Epidemie von Unterleibstyphus, welche vor etwa zehn Jahren in einer großen Schule vorkam, beinahe „klassisch“ nennen. Durch Fürsorge und mit großen Kosten hatte man die Knaben in dieser Schule lange in guter Gesundheit erhalten; doch als einst nach den Ferien alle wieder versammelt waren, erkrankte ein Knabe an Unterleibstyphus, welchen er sich zu Hause zugezogen hatte. Man brachte ihn in die Krankenstation der Schule, deren Wasserklosett in einen Kanal führte, der dicht an dem Schulbrunnen vorbeilief. In Zeit von vierzehn Tagen lagen 30 Knaben krank an demselben Fieber. Eine genaue Untersuchung ergab, daß das Abflußrohr schadhaft war und die aussickernde Flüssigkeit den Brunnen verunreinigt hatte. Sowohl der Brunnen wie das Kanalisationsrohr waren sehr gut und richtig angelegt, das Rohr befand sich jedoch zu nahe bei dem Brunnen, so daß da, wo infolge eines Rattenganges eine Senkung stattgefunden hatte und die Fugen undicht geworden waren, das entweichende Kanalwasser durch kleine Risse im Cementmörtel in den Brunnen eindringen mußte. Im vorliegenden Falle brachte das verunreinigte Wasser erst dann Fieber hervor, als durch einen Typhuskranken typhöse Darmentleerungen ins Trinkwasser gelangten.“

[35] Eine äußerst wichtige Frage berührt unsere Abbildung 5; sie veranschaulicht fehlerhafte Brunnenanlagen auf dem Lande, die man geradezu gemeingefährlich nennen muß. Diese Abbildung vereinigt eine Reihe von Beobachtungen. Nämlich erstens, daß Brunnen öfters inmitten oder ganz in der Nähe eines Meierhofes angebracht werden, so daß Flüssigkeit aus dem reichlichen Dünger durch den Erdboden in den Brunnen sickern muß. Zweitens, daß, obschon es unbegreiflich scheinen mag, es dennoch wirklich vorkommt, daß Kloakenröhren quer durch den oberen Theil eines Brunnens geleitet werden.

Fig. 5. Wie die Milch „vergiftet“ wird.

Pridgin Teale führt folgenden wirklich beobachteten Fall als Beleg an: ein Kanalisationsrohr lief durch die Seitenwand eines Brunnens; die Röhren standen so hervor, daß sie sichtbar wurden, wenn man den Deckel des Brunnens abnahm. Aus der schadhaften Verbindungsstelle der Röhren rieselte ein Strom von Kanalflüssigkeit, die hauptsächlich aus dem Abfluß eines Schweinestalles und eines Kuhstalles bestand, an der Innenwand des Brunnens hinab. Es waren mehrere Fälle von Unterleibstyphus im Hause vorgekommen. Die Bewohner verkauften Milch, welche reichlich durch „Typhuslösung“ vom Brunnen her verdünnt war.

Fehlerhafte Brunnenanlagen in Milchwirthschaften haben in der That schon vielfach Typhus-, Scharlach- und Diphtheritisepidemien hervorgerufen, was leicht erklärlich ist; denn die Milch braucht nicht erst mit einem schlechten Brunnenwasser verdünnt zu werden, um ansteckend zu wirken, schon das bloße Aufwaschen der Kannen mit diesem Wasser genügt, die Milch zu vergiften.

Bedenkt man, wie groß eine solche Gefahr ist und wie leichtfertig und unwissend oft die Leute sind, so erscheint in der That die Forderung, die schon vielfach gestellt wurde, nicht unberechtigt: „Jede Milchwirthschaft, aus der Milch verkauft wird, sollte von Rechtswegen einer beständigen sanitären Ueberwachung unterworfen sein.“ Wir glauben aber, daß auch auf dem Wege der Selbsthilfe viel in dieser Beziehung gebessert werden könnte, und möchten hier den Spruch Disraelis beherzigt sehen. „Sanitäre Belehrung ist wichtiger als sanitäre Gesetzgebung.“ Dringt diese tiefer in die Volksschichten hinein, werden die großen wissenschaftlichen Errungenschaften unserer Zeit in ihren allgemeinen leichtverständlichen Grundsätzen zum Gemeingut der Nation, dann wird auch das erreicht werden, daß unser Haus oder im engeren Sinne unsere Wohnung unsere Burg sein wird, in die wir uns aus dem Getümmel des Lebens ruhig flüchten können, eine feste Burg, die uns nicht allein vor fremder Willkür schützt, sondern zu der auch die geheimen Feinde unserer Gesundheit und unseres Lebens keinen Eingang finden.

Fig. 6. Schlimme Nachbarschaft.

Die Arbeit eines einzelnen auf diesem Gebiete ist jedoch nicht immer ausreichend. Ein Blick auf unsere Abbildung 6 überzeugt uns, daß wir uns auch vor bösen Nachbarn schützen müssen. In dem vorliegenden Falle ist der Vorrathskeller eines Hauses durch die schadhafte Leitung eines Nachbarhauses verpestet. Bei Verhältnissen dieser Art muß die Sanitätspolizei eingreifen und der strengen polizeilichen Beaufsichtigung müssen auch alle Fälle unterworfen sein, wie derjenige, den wir in Abbildung 7 wiedergeben. „Eine Villa in Cannes“, lautet die Unterschrift dieser Skizze, welche die böse Sieben unserer Beispiele voll macht. Die Geschichte dieser Villa ist die folgende. Vor einigen Jahren wurde einer Dame gerathen, ihrer Gesundheit wegen den Winter im südlichen Frankreich zuzubringen. Während ihres Aufenthaltes in Cannes erkrankte ihre Kammerfrau am Unterleibstyphus. Infolge dessen nahm die Dame sofort eine sanitäre Untersuchung des Hauses vor und fand unter dem Zimmer der Kammerfrau ein schlechtes Wasserklosett, welches sich

Fig. 7. Eine Villa in Cannes.

zum Theil in einen Kasten entleerte, der in einem unterhalb befindlichen Raume stand. Der überlaufende Behälter verpestete diesen Raum, neben welchem die Speisekammer und hieran anschließend die Küche lag. – „Die Gefahren für die Gesundheit werden nicht vermindert, indem man Badeorte aufsucht,“ bemerkt hierzu Pridgin Teale und ermahnt die Badeverwaltungen, daß sie nur durch häufige Untersuchung und scharfe Ueberwachung der Miethwohnungen ihren Ruf bewahren und ihr eigenes Interesse fördern können. Wir können mit Genugthuung feststellen, daß in Deutschland das Bewußtsein dieser Pflicht längst erwacht ist und die bereits eingeleitete Bewegung auch die „Lebensgefahr in Kurorten“ beseitigen wird.

Die deutsche Herausgabe des Werkes, welches uns die Anregung zu diesem Artikel gegeben, hat Professor Dr. Esmarch veranlaßt. Das Buch ist keineswegs für Aerzte allein bestimmt. Jedermann kann es mit Nutzen studiren, der auch auf gesundheitlichem Gebiete den stolzen Wahrspruch zur Wahrheit machen will:

„Mein Haus meine Burg.“




Blätter und Blüthen.

Mitternachtsprediger. Im Lande der „Heilsarmee“ finden sich allerlei merkwürdige Erscheinungen auf dem Gebiete religiösen Lebens; zu diesen gehören auch die Mitternachtsprediger. Wer spät abends am Sonntag durch die Straßen Londons geht, wenn die Menge von den Ausflügen aufs Land zurückkehrt und die verschiedenen Stadteisenbahnen Hunderte von Passagieren heimbringen, der hört oft an den Kreuzungspunkten vieler großer Straßen mitten im dichtesten Gedränge ein klägliches „O!“ ertönen, das sich mehrfach noch jämmerlicher wiederholt. Die Menge sammelt sich um ihn; da fügt er die erklärenden Worte hinzu: „Ihr elenden Sünder!“ Man könnte glauben, es mit einem Irrsinnigen zu thun zu haben; doch bald erfährt man, daß es ein Prediger sei. Nachdem sich ein Zuhörerkreis um ihn gebildet, spricht er wohl eine halbe Stunde fort in ruhigem Ton, ohne sich um muthwillige Störungen und spöttische Heiterkeit zu kümmern; die Zuhörer wechseln, einige kommen, andere gehen. Doch ein nicht geringer Theil hält aus, hört andächtig zu und begleitet den Redner sogar bis zur nächsten Straßenecke, wo er seine Predigt von neuem beginnt.

Die Engländer nehmen diese Prediger durchaus ernst und sind überzeugt, daß dieselben ein gottgefälliges Werk thun. Es existiren große und mächtige Gesellschaften, welche diese Bewegung unterstützen, und im Lande sind fortwährend Sammlungen für diesen Zweck im Gange, die ein stattliches Ergebniß liefern. Tiefe Börsen thaten sich auf; es besteht eine [36] Stadtmission, Prinzen von königlichem Geblüt interessirten sich für die Sache. Anfangs waren die Straßenprediger gutbesoldete anständige Reverends in schwarzen Röcken und mit weißen Kravatten, die zum Theil sogar einen Jungen mit sich führten, der ein leichtes Pult und eine schwere Bibel trug, und die Sache hatte Schick und Art. Später aber wurde die Bewegung immer mehr verwahrlost; neben den bestellten Missionären begannen unberufene Prediger zu wirken, die nicht immer in der erbaulichsten Weise das Wort Gottes verkündeten. Die Reverends zogen sich allmählich zurück und ihre Stelle nahmen ruppige Gesellen ein, die von Salbung troffen, aber auch gleichzeitig nach Gin dufteten. Bald fanden sich Mitternachtsprediger ein, die mit allen Regeln der Grammatik auf gespanntem Fuße lebten, und sie wurden für die Mehrzahl der Passanten eine Quelle der Erheiterung. Nun mischte sich auch bisweilen die Polizei ein. Jeden Montag stehen einige Straßenprediger als Urheber von Straßenaufläufen und Verkehrsstockungen vor dem Polizeirichter. Die Praxis, die man ihnen gegenüber befolgt, ist eine sehr verschiedene. Manche Richter ertheilen dem Policeman für seinen Diensteifer am unrechten Orte einen scharfen Verweis und entlassen den Prediger mit Lobsprüchen; andere, in denen der Ordnungssinn stärker ist als die Frömmigkeit, drohen mit einer empfindlichen Strafe bei abermaliger Verkehrsstörung in den Straßen. Einmal wurde indeß auch ein unglücklicher Straßenprediger zu vierzehntägiger Haft verurtheilt; doch in diesem Falle ging die Aussage des Policeman dahin, der fromme Cityapostel habe sehr geschwankt, stark nach Weingeist geduftet, sei wiederholt zu Boden gefallen und habe einem ältlichen Zuhörer, der einen Zweifel an der Richtigkeit der vom Redner beliebten Eintheilung der Teufel in drei Hauptklassen ausdrückte, einen heftigen Faustschlag aufs linke Auge versetzt.

Das erzählt Max Nordau in seinen geistreichen Reiseskizzen „Vom Kreml zur Alhambra“, von denen soeben eine dritte Auflage erschienen ist (2 Bde. Leipzig, Elischer Nachfolger).

Königin Luise mit den Prinzen Friedrich Wilhelm und Wilhelm im Schlosse Sanssouci. 1806. (Mit Illustration S. 25.) Ein Bild des reinsten Familienglückes im fürstlichen Saale führt uns hier der Künstler vor. Die junge schöne Mutter unterbricht einen Augenblick den angefangenen Brief und wendet sich den beiden kleinen Kriegern zu, die in diesem Augenblick, unter dem Schutz der schwarzweißen Fahne, den Untergang der feindlichen Macht vorbereiten. Eifrig visirt Kronprinz Friedrich Wilhelm und voll Spannung erwartet der kleine Prinz Wilhelm die verheerende Wirkung des Geschosses. Mit dem Blick beglückter Mutterliebe ruhen Luisens schöne Augen auf ihren Söhnen, aber ein gedankenvoller Ernst liegt über ihrem Angesicht. Die Hand hat die Feder nicht niedergelegt – war diese vielleicht eben beschäftigt, dem fernen Vater die täglich ernster werdende Lage des jungen Königspaares zu schildern, die von Tag zu Tag unausweichlicher werdende Kriegserklärung gegen den gehaßten und gefürchteten Imperator, der gleich einem blutigen Meteor im Westen aufgegangen war und Tod und Verderben über Fürsten und Völker brachte? Wohl hatte sie Ursache zur bangen Sorge, die edle Königin, denn immer drohender sammelten sich die Wolken und bald war das heitere Leben in Sanssouci zu Ende, wo die Knaben zu ihren Füßen spielten, wo sie abends mit ihnen und dem König übers Wasser schiffte, um im Freien ein ländliches Mahl zu genießen. Die unglückliche Schlacht von Jena machte sie alle zu Flüchtlingen. Erst in Königsberg, dann an der äußersten Ostgrenze des verlorenen Reiches, in Memel, unter harten Entbehrungen lebte das Königspaar mit seinen Kindern, und hier war es, wo die herrliche Frau mit ihrem begeisterten Herzen und unerschütterlichen Gottvertrauen den König oft an der Grenze der Verzweiflung aufrecht erhielt. Wie eine Lichtgestalt steht sie auf dem Hintergrunde ihrer Zeit, des moralischen und materiellen Elends, sie, die mit hohen Geistesgaben eine Charakterstärke vereinigte, die damals in Deutschland ein seltenes Gut geworden war.

Die Perchtlnacht in den österreichischen Alpen. Die Göttin Freya der nordischen Mythologie lebt in der poesievollen Sagenwelt der österreichischen Alpenländer in der Gestalt der Frau Percht oder Perchtl fort; ihr ist die Nacht vom 5. auf den 6. Januar, die Dreikönigsnacht, geweiht. In dieser Nacht zieht sie im Gebirge umher, meist begleitet von einer großen Schar kleiner Kinder, die ungetauft gestorben sind. Die guten Menschen, welchen die Percht auf dieser nächtlichen Wanderung begegnet, beschenkt sie reichlich, die bösen aber zerreißt sie. Die Mythen der Aelpler bezeichnen dieselbe als eine freundliche stattliche Frau mit sehr langer Nase, auf der ein zirpendes Heimchen sitzt. Eine der schönsten Perchtl-Sagen ist jene von dem Kinde mit dem Thränenkrüglein. Es lebt der Glaube im Alpenvolke, daß man den Todten nicht nachweinen solle, da jede Thräne, die man der Verstorbenen wegen vergießt, denselben Schmerz bereitet und ihnen im Grabe keine Ruhe gönnt. Die kleinen Kinder, die ungetauft gestorben sind, müssen die Thränen ihrer auf Erden zurückgebliebenen Angehörigen in ein Krüglein sammeln, das sie mit sich umhertragen, wenn sie mit der Frau Prechtl wandeln. Einst wollte eine Mutter ihr verstorbenes Mägdlein in der Perchtlnacht sehen und ging in derselben über die Berge. Wirklich begegnete sie auch dem langen Zuge der Kinder. Sie sah auch ihre zarte schwächliche Kleine, welche mühsam einen großen mit Thränen vollgefüllten Krug vor sich her schleppte. „Mutter, liebe Mutter“ rief ihr das Kind zu, „weine nicht mehr um mich; denn alle Deine Thränen muß ich in diesem Krüglein auffangen und umhertragen und ich kann’s nicht mehr, das Krüglein ist schon so schwer.“ Da sagte die Mutter: „Ich will nicht mehr weinen, mein Herzchen.“ Nun lächelte die Kleine und verschwand. Frau Percht aber meinte: „Du hast deinem Kinde einen Namen gegeben und nun ist es erlöst.“

Freude an Blumen. Von Darmstadt ist vor wenigen Jahren eine Neuerung ausgegangen, welche eine weitere Verbreitung verdient: das Abgeben von Zimmerpflanzen an Arbeiterfamilien. Dieses eigenartige gemeinnützige Unternehmen besteht, wie uns aus Karlsruhe berichtet wird, darin, daß man an Arbeiterfamilien im Frühjahr junge Topfpflanzen zu dem billigen Preise von 10 Pfennig für das Stück abgiebt und im Herbst eine Ausstellung veranstaltet, auf welcher die am besten gepflegten Pflanzen prämiirt werden, und zwar wiederum durch Abgabe von Topfpflanzen. Zur Vertheilung gelangen leicht wachsende und willig blühende Arten, wie Geranien, Fuchsien, Heliotrop und Begonien. Jede Pflanze ist mit einer Plombe versehen, um sie als Gabe des Vereins bei der Spätherbstausstellung wiederzuerkennen. Außerdem wird dem Empfänger der Topfpflanze eine kurze, aber sehr klar abgefaßte Anleitung zur Pflege der Zimmerpflanzen mitgegeben.

In Darmstadt und in Karlsruhe befassen sich mit diesem eigenartigen Unternehmen die Gartenbauvereine. Welchen Zweck erreicht man damit? Materielle Vortheile sollen die betreffenden Arbeiterfamilien dadurch nicht erringen, diese Neuerung hat lediglich eine ethische Wirkung.

Reine Freuden erhöhen unsern Muth im täglichen Lebenskampf und zu den reinsten Freuden gehört ohne Zweifel das Verfolgen der schaffenden Natur. Die Betrachtung der wachsenden, knospentragenden und endlich blühenden Pflanze, das Bewußtsein, daß sie auch ein Kind unserer Pflege ist, erfüllt uns mit einer stillen Zufriedenheit. Der Landwirth empfindet dieses Gefühl oft genug, dem städtischen Arbeiter soll es gleichfalls nicht fehlen. Er kehrt von der Arbeit in sein Heim zurück, er ist abgespannt und müde, ein leiser Verdruß beherrscht seine Stimmung; da fällt sein Auge auf seine grünenden und blühenden Pfleglinge und seine Stimmung wird heiterer, zufriedener. Das ist der magische Einfluß der Blumenpflege auf Herz und Gemüth. Viele in besser situirten Ständen kennen ihn aus eigener Erfahrung. Daß er auch bei dem einfachsten Manne in dem steinernen Häusermeere der Großstadt zur Geltung kommen kann, beweisen uns die Erfolge, die mit jener Abgabe von Topfpflanzen erzielt wurden. Nicht mit Unrecht hat man dieses Vorgehen ein wenn auch nur bescheidenes Stück praktischer Socialpolitik genannt. Es verdient die Beachtung wirklicher Volksfreunde und eine rege Nachahmung. *

Dr. Emin Paschas naturwissenschaftliche Sammlungen. Welche Dienste Dr. Schnitzer trotz der Gefahren, die ihn umgeben, der Wissenschaft geleistet hat, dürfte am besten aus seinen zoologischen Sendungen zu ersehen sein. Die Zahl der Vogelbälge, welche die Museen in Wien, Bremen und London von ihm erhalten haben, beträgt bereits über zweitausend. Die letzte Sendung ist am 28. November 1886 in Wadelai abgegangen und gelangte Ende 1887 nach London. Die Bälge sind nicht allein vortrefflich präparirt, sondern für die Wissenschaft auch dadurch besonders werthvoll, daß den einzelnen Stücken genaue Angaben über Geschlecht, Fundort, Zeit der Erlegung und Lebensgewohnheiten der betreffenden Vögel beigegeben sind. Außer den Vogelbälgen enthalten die Sendungen noch zahlreiche Säugethiere, Mollusken, Reptilien, Schmetterlinge und Käfer. Eine Anzahl von Forschern hat bereits den größten Theil dieser Sendungen bearbeitet und werthvolle Aufschlüsse über die afrikanische Fauna erhalten. *

Scherz-Bilder-Räthsel.

Kleiner Briefkasten
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

A. D. in L. „Papa, meine Stiefel sind schon wieder durch!“ Sie beschweren sich, daß Sie allzu oft mit diesem Ausrufe erfreut werden, und verlangen von uns die Angabe eines Mittels, um das fatale Schuhwerk dauerhafter zu machen. Da es ein solches in der That giebt und es wohl für alle größeren Familien, in denen das Schuhwerk eine beträchtliche Ausgabe erfordert, von Interesse sein dürfte, führen wir es hier an: „Neues Schuhwerk,“ wird uns von sachverständiger Seite geschrieben, „hält fast noch einmal so lange Zeit, als es sonst halten würde, wenn man die Sohlen desselben so lange mit gekochtem Leinöl einreiht, als letzteres noch vom Leder eingesogen wird; das Oberleder hingegen reibe man mit warmem Ricinusöl ein. Das Ricinusöl füllt nicht nur die Poren des Leders aus, sondern macht dasselbe auch weich, geschmeidig und wasserdicht. – Ricinus- und Leinöl, von denen man zum Konserviren des Schuhwerks nur geringe Mengen braucht, sind billig zu beziehen, so daß sich diese Öle zur Präparirung des Leders wohl empfehlen.“

Frau Professor B. in K. Wir empfehlen Ihnen Hoffmanns Haushaltungsbuch, dessen praktische und leicht faßliche Einrichtung darauf angelegt ist, eine statistische Uebersicht über die Ausgaben für einzelne Zweige der Haushaltung zu geben.

B. H. in Chemnitz. Die Erzählung „Josias“ von Fanny Lewald ist bereits vor mehreren Monaten in Buchform erschienen und zum Preise von 4 Mark elegant gebunden in den meisten Buchhandlungen zu haben.


Inhalt: Lore von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 21 – Ha–a–derlump! Illustration. S. 21 – Die schwarze Kunst des 19. Jahrhunderts. Von Maximilian Harden. S. 26. – Alles verschneit. Gedicht von Anton Ohorn. S. 28. Mit Illustration S. 29. – Die Vermählung der Todten. Von Isolde Kurz (Fortsetzung). S. 28. – Lebensgefahr im eigenen Hause. Von C. Falkenhorst. S. 32. Mit Abbildungen S. 34 und 35. – Griechische Braut. Illustration. S. 33. – Blätter und Blüthen: Mitternachtsprediger. S. 35. – Königin Luise mit den Prinzen Friedrich Wilhelm und Wilhelm im Schlosse Sanssouci. 1806. S. 36. Mit Illustration S. 25. – Die Perchtlnacht in den österreichischen Alpen. S. 36. – Freude an Blumen. S. 36. – Dr. Emin Paschas naturwissenschaftliche Sammlungen. S. 36. – Scherz-Bilder-Räthsel. S. 36. – Kleiner Briefkasten. S. 36.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaklion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.