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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[861]
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Alle Rechte vorbehalten.
Die Frau Majorin.
Von A. Oltroff.

(Fortsetzung.)



An der Promenade in Leipzig steht ein stattliches Haus, dessen weitgeöffnete Fenster an jenem Morgen den Geruch der in den nahen Anlagen blühenden Jasminsträucher voll einströmen ließen. In einem einfach möblirten Zimmer des Erdgeschosses, dessen Wände mit Waffen und Landkarten bedeckt waren, lag der Inwohner in einem amerikanischen Stuhle ausgestreckt am Fenster, sah in das Grün der Bäume empor und ließ das feine Aroma einer echten Havannazigarre sich mit dem hereindringenden Blüthendufte vermischen. Es war eine kräftige Männergestalt, wohl näher den Vierzigen als den Dreißigen, mit einem frischen und gutmüthigen Gesicht. Er genoß den schönen Morgen und befand sich augenscheinlich in der behaglichsten Stimmung.

Schlemmer und Bettler. Nach dem Oelgemälde von C. Arnold.

[862] Da wurde plötzlich die Thüre aufgerissen und eine vierschrötige Gestalt stolperte herein: „Herr Major, Herr Major, schon wieder eine Depesche!“

An der Wiege dieses Männerkolosses hatten die Grazien sicher nicht gestanden: ein Paar wasserblauer Kugelaugen starrte glotzend aus seinem breiten Gesicht und brandrothes Bürstenhaar strebte nach allen Seiten seines unförmlichen Schädels wie Igelstacheln hervor.

Aber ein sehr guter Kerl war Christian, der treue Diener seines Herrn, der geschworene Freund aller Kinder und Hunde der Nachbarschaft. Seine Dummheit war mit einer guten Portion Pfiffigkeit durchsetzt, seine Treue und Ehrlichkeit über jeden Verdacht erhaben, somit erfreute sich Christian einer wohlverdienten Beliebtheit in hohen und niederen Kreisen trotz seiner wenig einladenden Außenseite.

Als der Major das gänzlich verstörte Gesicht seines Dieners sah, sagte er, indem er ihm die Depesche abnahm, mit wohlwollendem Ernste: „Du bleibst doch immer der gleiche Esel, Christian. Sollte man nicht meinen, das Ding verbrenne Dir die Finger? Gieb her!“

Christian riß seine Augen aus. „Ach, wenn die Depesche nur kein Unglück bedeutet, denn mir hat heute nacht von der seligen Frau Mutter geträumt und: ‚Spinne am Morgen, Kummer und Sorgen‘; der Herr Major wissen ja –“ er hielt inne aus Bestürzung über den Anblick seines Herrn, der mittlerweile die Depesche entfaltet hatte.

Der Major stand, das Papier in der Hand, pfeilgerade aufgerichtet und starrte, wie geistesabwesend, hinan.

„Zum Henker,“ rief er jetzt aus, „das ist doch der heilloseste Unsinn, der mir je vor Augen kam. Schon wieder die ‚Frau Gemahlin‘! Es ist ja rein zum Tollwerden. Christian, komm her, steh mich an und sage mir – bin ich verheiratet?“

Die Augen des Majors funkelten so bedrohlich, daß Christian Zeit brauchte, sich zu fassen.

„Eigentlich nicht Herr Major,“ stammelte der gute Bursche dann in rathloser Verlegenheit.

„Uneigentlich auch nicht, Du Schafskopf!“ schleuderte ihm der Major wütend ins Gesicht und begann dann, im Sturmschritt das Zimmer auf und abzulaufen. Plötzlich innehaltend, faßte er wieder nach der Depesche. „Es könnte doch eine Verwechslung sein! – Aber nein, da steht mein Name groß und deutlich: Major von Schnitzel; ich bin ja der einzige Mensch in der ganzen Stadt, der so heißt – es ist eine boshafte Mystifikation,“ schrie er wieder, „ein infamer Bubenstreich. Aber ich werde die Urheber finden ich werde –“

Und sein dichtes Haar mit der einen Hand zerwühlend, in der andern das Unglücksblatt, raste er von neuem in dem Zimmer hin und her, dicht auf seinen Fersen der gänzlich verblüffte Christian, der, in der Unmöglichkeit, eine so unerklärliche Situation zu verstehen, sich nur bemühte, das Rauchtischchen den Vogelkäfig, alles, was nicht niet- und nagelfest war, vor den Gewaltbewegungen seines Herrn zu schützen.

Mitten in dieser seltsamen und für einen Unbeteiligten gewiß höchst belustigenden Jagd öffnete sich die Thür und ein Offizier trat ein, der nach ein paar Sekunden grenzenlosen Erstaunens sich in den nächsten Sessel warf und lachte, so unaufhaltsam und unbändig lachte, daß der Major endlich seinen Schnelllauf unterbrach und stirnrunzelnd vor ihn hintrat.

„Bist Du jetzt bald fertig mit Deinem geistreichen Gelächter?“ fragte er bitterböse, als Christian sich auf seinen Wink entfernt hatte. „Ich bin nicht in der Stimmung für Späße, das sage ich Dir gleich!“

„Na aber, erlaube mir,“ erwiderte zu sich kommend sein Freund, Hauptmann Richter, „das geht so doch über die Möglichkeit. Ich komme her, Dich zu einem Spazierritt abzuholen wie gestern ausgemacht, und Du rasest mit Tigersätzen in Deiner Stube herum, hinter Dir das arme Schaf, der Christian, mit Zittern und Händeringen und kaum wirst Du meines Anblickes teilhaftig, so wirfst Du mir Redensarten ins Gesicht, die ich blutig ahnden müßte, wenn wir nicht so gute Freunde wären.“

„Eigentlich hast Du so recht!“ seufzte plötzlich ganz herabgestimmt der Major. „Du mußt entschuldigen … aber wenn es einem geht wie mir heute, kann der Sanftmütigste aus dem Häuschen kommen. Da! lies diesen unerhörten Unsinn –“ er schob ihm zwei Papiere hin – „dies zuerst – lies laut, damit ich es noch einmal höre, und dann sage mir, ob ich verrückt bin, oder was es sonst ist!“

Er warf sich resignirt in einen Sessel. Hauptmann Richter entfaltete das erste der Blätter und las mit einer Stimme, die grenzenloses Erstaunen ausdrücktet

„Major von Schnitzel, Leipzig. Eisenbahnunglück, Ihre Frau Gemahlin verletzt, kommen Sie sofort. Professor Roditz.“

Hauptmann Richter ließ das Blatt sinken.

„Nun, da hast Du natürlich zurücktelegraphirt, daß an Irrthum vorwalten müsse –“

„Gewiß, ich telegraphirte: ‚Nachricht von Verletzung scheint irrtümlich an meine Adresse gesandt.‘ Darauf erhielt ich aber vorhin dieses zweite Telegramm.“ Er reichte dem Hauptmann die jüngste Depesche, welche lautetet „Irrthum ausgeschlossen, da Frau Gemahlin selbst Ihre Adresse angegeben.“

„Das ist allerdings stark,“ stieß jetzt der Hauptmann hervor.

„Siehst Du,“ fuhr der Major auf, „es ergeht Dir genau wie mir; es ist zum Tollwerden! Wer giebt sich für meine Frau aus? wer ist dieser Professor Roditz? Ich kenne ihn nicht; das heißt, so ganz dunkel schwebt es mir vor, als hätte ich seinen Namen schon in der Zeitung gelesen. Wie in aller Welt gelangt der Mann aber zu der Annahme, ich sei verheiratet? Wie kommt er dazu, mit solcher Hartnäckigkeit von mir zu verlangen, ich solle zu meiner angeblich verwundeten Frau eilen? Es ist doch die verrückteste Geschichte, die mir je vorgekommen!“

„Ja, unbegreiflich ist sie allerdings – sage mir offen und ehrlich, Hans, spielt nicht da etwas aus früherer Zeit? ist es nicht möglich, daß irgend eine Dame, die einmal zu Dir in Beziehungen gestanden hat, Deinen Namen mißbraucht, sei es aus Rache oder in irgend einem Falle der Noth?“

„Nein, das kann es nicht sein; Du weißt, ich verheimliche Dir nichts; ich habe wohl da und dort einmal gehuldigt und mir auch einst eine Abweisung geholt, an welcher ich lange und schwer getragen, aber ein leichtfertiges Verhältniß habe ich niemals gehabt.“

„So telegraphire einfach an diesen Professor zurück: ich bin unverheiratet und komme nicht.“

„Daran dachte ich zuerst auch, allein bei genauer Ueberlegung geht dies nicht. Ich muß selbst hin; Du hörst, daß eine bei dem Eisenbahnunglück verwundete, vielleicht mit dem Tode ringende Dame meine Adresse angegeben, daß ein Professor Roditz sie für meine Frau hält und bei dieser Meinung trotz meines Telegramms, daß ein Irrthum vorwalten müsse, beharrt. Eine Mystifikation scheint mir denn doch ausgeschlossen, was bedeutet also diese rätselhafte Geschichte? Wer giebt sich für meine Frau aus? Wie kommt dieser Professor dazu, mir im Namen der Verwundeten zu telegraphiren? Dem Rätsel muß ich auf den Grund kommen und zwar möglichst rasch, an Ort und Stelle.“

„Du hast recht,“ meinte Hauptmann Richter nachdenklich; „vielleicht findest Du eine Unglückliche, die, von einem schweren Geschick betroffen, Grund hat, ihren Namen zu verheimlichen, Dich von früher her kennt und sich in ihrer Lage nicht anders zu helfen weiß.“

„Möglich, obgleich es doch ein starkes Stück wäre,“ versetzte gereizt der Major. „Um die Folgen, die das für mich haben kann, kümmert sich das Frauenzimmer natürlich nicht – ich bin Offizier, bin unverheirathet und werde da so ohne weiteres zum Ehemann befördert, vielleicht handelt es sich gar um einen meinen Namen kompromittirenden Schwindel – das wäre dann eine niederträchtige Komödie, der schleunigst ein Ende gemacht werden müßte. Es ist klar, ich muß hin. Wenn ich nur den nötigen Urlaub rasch genug bekomme!“

„Nun, gerade da ich Dich aufsuchen wollte, sah ich den Obersten in die Kaserne gehen, Du kannst also dort vorfahren und Deine Urlaubsangelegenheit erledigen; in einer Stunde geht der Zug ab und in dreiviertel Stunden bist Du an Ort und Stelle, also: Glück auf!“

Christian, welchen sein Herr nunmehr mit einer wahren Donnerstimme hereinrief, um ihm die nötigen Instruktionen zu erteilen, erkannte aus wohlbekannten Zeichen, daß hier keine weitere Frage am Platze sei. Freilich konnte er nur unter starkem Kopfschütteln nach dem befohlenen Wagen laufen, denn was sollte daraus werden, wenn der Major anfing, mir nichts, dir nichts, ohne Christian in die Welt zu fahren? Aber zehn Minuten später fand dies wirklich statt – und Christian hatte nicht einmal erfahren wohin die Reise ging! …



[863] Der unweit einer kleinen Station stattgehabte Eisenbahnunfall hatte glücklicherweise keine große Ausdehnung angenommen; es war kein Menschenleben zu beklagen; jedoch hatten mehrere der Passagiere Verletzungen davongetragen. Die beiden Aerzte des Städtchens waren gleich zur Stelle und während der jüngere, unverheirathete derselben sich in dem unmittelbar am Bahnhof gelegenen Gasthofe den meist leichter Verwundeten widmete, ließ der ältere, Doktor Belden, Helene, die bewußtlos dalag und ernstlich verletzt schien, in seine Wohnung schaffen.

In einem kleinen Kabinett, unmittelbar an den Raum anstoßend, in den man Helene gebracht hatte, ging Professor Roditz in der heftigsten Erregung auf und nieder. Er achtete nicht der eigenen Schmerzen, der geschundenen Glieder, der Kontusionen, die er davongetragen, er sah nur das leichenblasse Frauenantlitz vor sich, die leblose Gestalt, wie sie nach der Katastrophe, ehe die Hilfe kam, in seinen Armen geruht hatte.

Was würde die nächste Stunde bringen? Hatte Helene – er war bereits so weit, sie nur noch Helene zu nennen – eine ernste Verletzung davongetragen, oder würde sie gerettet werden gerettet für Wen? Für einen rohen, widerwärtigen Menschen ohne Zweifel der das süße Geschöpf mit Eifersucht oder sonstwie quälte – der Professor versank immer tiefer in die unerfreulichsten Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, so daß er nicht beachtete, wie sich die Thür öffnete. Erst als eine Hand auf seinen Arm gelegt wurde, fuhr er auf.

„Ah, Sie sind es, Herr Doktor; wie steht es mit unserer Kranken?“ Es lag eine so angstvolle Spannung in seinem Gesicht, daß der Doktor voll Theilnahme ihm die Hand drückte und ermunternd sagte:

„Nur Muth, mein Herr; es ist nicht nur von keiner Gefahr die Rede, sondern auch nicht einmal eine bedenkliche Verletzung zu finden. Die tiefe Ohnmacht rührte offenbar von dem plötzlichen Schrecken und der Blutung her. Die junge Dame erwachte unter meinen Bemühungen, allein ich ließ sie nicht sprechen, sondern flößte ihr sofort einen beruhigenden Trank ein, dessen Wirkung sich in einem wohltätigen Schlafe zeigt, aus welchem sie kaum vor ein bis zwei Stunden erwachen wird. Die Wunde am Kopfe ist mit einem nassen Umschlage versehen, den meine Frau von Zeit zu Zeit vorsichtig erneuern wird, und so bin ich überzeuge daß Ihr Schützling schon morgen die Weiterreise unternehmen kann.“

„Gott sei Dank, Dank aus tiefster Seele für diesen Ausspruch, Herr Doktor,“ rief Professor Roditz lebhaft aus, und eine solch überwältigende Freude verklärte sein Gesicht, daß der Doktor überrascht erwiderte:

„Ah, also so steht es, Herr Professor? Das junge Mädchen ist wohl Ihre Braut? Na, gratulire, gratulire von Herzen, haben sich eine allerliebste Zukünftige erwählt.“

„Sie irren sich, Herr Doktor, ich stehe zu dieser Dame in keinerlei Beziehungen, ich sah dieselbe heute zum ersten Male, lernte sie erst im Coupé kennen; allerdings erschien sie mir besonders liebenswürdig und anmuthig, dies ist aber auch alles. Sie ist verheirathet, hat Kinder und während ihres Transportes hierher telegraphirte ich nach Leipzig an ihren Mann, einen Major von Schnitzel, den wir mit dem nächsten Zuge, etwa in zwei Stunden, erwarten können“

„Schnitzel, ein drolliger Name,“ lachte der Doktor; „hätte übrigens nicht geglaubt, daß ein so alter Praktikus wie ich sich so irren könnte; ich hätte darauf geschworen, ein junges Mädchen vor mir zu haben. Bis zur Ankunft des Herrn Majors bin ich wieder zurück, jetzt muß ich nach meinem Kollegen und den anderen Verwundeten sehen.“

„Herr Doktor, noch eins: Sie sagten, die gnädige Frau schlafe fest; hätten Sie ein Bedenken dagegen, mir für wenige Augenblicke den Eintritt zu gestatten? Ich möchte nach dieser schweren Stunde sie nur einen Moment sehen mit der Ueberzeugung, sie dem Leben erhalten zu wissen.“

„Treten Sie ruhig ein, aber verhalten Sie sich still und bleiben Sie nur kurze Zeit drinnen, aufwachen darf sie nicht. Adieu!“

Der Doktor nahm seinen Hut und brummte im Fortgehen vor sich hin. „Keinerlei Beziehungen – ausgezeichnet! Am Ende erleben wir noch die schönste Eifersuchtscene mit dem Herrn Gemahle das kann nett werden! Denn daß dieser da gehörig verliebt in das schöne Frauchen ist, das sieht doch ein Blinder!“

Professor Roditz aber trat leise in das neben dem kleinen Kabinett befindliche Zimmer ein, wo Helene auf einem Sofa sorgfältig hingebettet lag. Mit andächtiger Scheu richteten sich seine Augen auf die Schlummernde, deren feines blasses Profil sich von dem dunklen Hintergrund der Sofalehne abhob; leise ging der Athem über die bereits wieder rothen Lippen aus und ein, das reiche dunkle Haar floß gelöst über die Kissen herab, sie schien tief und süß zu schlafen. Ueber der Stirn lag eine nasse Kompresse gebreitet und deckte die Augen.

Roditz stand lange in den Anblick versunken; er sägte sich innerlich wieder und wieder, daß sie das Weib eines andern sei, daß er nicht an sie denken dürfe. Und eine innere Stimme antwortete: Mit dieser würdest Du glücklich werden!

Endlich that er einen Schritt vorwärts, drückte einen leisen Kuß auf ihre Hand und riß sich gewaltsam los, um die Zeit bis zur Ankunft des Leipziger Zugs mit einem Gang ins Freie auszufüllen.

Als er nach zwei Standen zurückkehrte, ließ eben Doktor Belden einen Offizier voraus in das Zimmer eintreten, und sofort wußte er, dies müsse der Major sein. Jetzt galt es, sich zusammen zu nehmen und scharf zu beobachten. Sich frostig verbeugend, ging der Professor auf den Fremden zu: „Ich habe wohl die Ehre, Herrn Major von Schnitzel vor mir zu sehen?“

Seinerseits betrachtete der Major sich den Mann, welcher ihn hierher gesprengt hatte, mit keinen freundlicheren Gefühlen. Ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund, als er leichthin erwidertet „Ganz richtig, und in Ihnen lerne ich wohl Herrn Professor Roditz kennen, der mir telegraphirte?“

„Ja, ich erlaubte mir dies, da ich nicht wissen konnte, wie der Ausspruch des Arztes lauten würde; Gefahr ist, Gott sei Dank, keine vorhanden; allein es ist Ihnen, Herr Major, gewiß sehr erwünscht, Ihre Frau Gemahlin nach diesem Unfalle selbst nach Leipzig geleiten zu können.“

Ohne dem Professor zu antworten, wendete sich Major von Schnitzel ruhig an den Arzt mit der kurzen, bündigen, weder Freude nach die geringste Erregung verrathenden Frage: „Also Gefahr ist keine vorhanden? Sie ist nicht bewußtlos aber durch den Schreck – geistig gestört?“

„Nein, Herr Major,“ entgegnete, unwillig über solche Herzenshärte, Doktor Belden; „Ihre Frau Gemahlin trug eine Kopfwunde davon, die zwar stark blutete, aber ganz ungefährlich ist und rasch heilen wird; sie liegt schlafend hier nebenan, kann indessen jeden Augenblick erwachen, und dann steht Ihrer gegenseitigen Begrüßung nichts im Wege, nur möchte ich Aufregungen, beunruhigende häusliche Mittheilungen vermieden wissen.“

„Inwiefern mein Erscheinen die Kranke aufregen wird, vermag ich nicht zu beurtheilen, aber beunruhigende häusliche Mittheilungen wird die gnädige Frau durch mich sicher nicht erhalten Herr Doktor.“

„Nun,“ erwiderte der Doktor gereizt, „wenn man Kinder hat, sind derartige Berichte nicht ausgeschlossen, kenne das genugsam aus eigener Erfahrung.“

Der Major blieb einen Augenblick sprachlos vor Staunen. „Kinder,“ hatte der Doktor gesagt, – die Sache wurden immer besser. Erschien es denkbar, daß die Fremde selbst dies bestätigt hatte, oder spielten hier die unglaublichsten Zufälle? Vorderhand mußte er sich jedenfalls möglichst passiv verhalten; einmal mußte die Wahrheit an den Tag kommen, und sehen wollte er sie wenigstens – die Frau Majorin!

„Und sind Sie“ – wandte sich der Major wieder an die beiden Herren – „dessen vollkommen sicher, daß jene Dame die Frau Majorin von Schnitzel ist? Hat sie selbst sich diesen Namen beigelegt und von ihren Kindern erzählt?“

„Gewiß,“ erwiderte der Professor, ärgerlich über den ironischen Ton des Majors, der sich abermals eines Lächelns nicht erwehren konnte und sich jetzt artig verbeugte mit den Worten: „Ich streiche die Segel; da die Dame selbst sich als Frau von Schnitzel präsentirt hat, so muß es wohl wahr sein; jedenfalls,“ fügte er heiter hinzu, „wünsche ich sie jetzt endlich einmal zu sehen.“

„Bitte“ – des Doktors Antwort klang schroff, während er in das Nebenzimmer voranschritt.

Soeben war Helene von ihrem Schlafe erwacht, und rasch näherte sich ihr Doktor Belden: „Hier, gnädige Frau, bringe ich Ihren Herrn Gemahl, welcher auf unsere Depesche hin sogleich herbeieilte.“


[864]

Alexanders des Großen Tod.
Nach dem Oelgemälde von C. v. Piloty.
Photographie im Verlag von Fr. Hanfstängl in München.

[865] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [866] Bis jetzt hatte Helene nur zu Doktor Belden aufgesehen, der sich zu ihr niedergebeugt.

„Mein Mann – o Gott“ – flüsterte sie zitternd, der Doktor mit der Hand einladend zurückwinkte, wo des Majors behäbiges Gesicht unter der Thür erschien. In demselben Augenblick stieß Helene einen furchtbarer Schrei aus, sie streckte, wie sinnlos vor Angst, abwehrend die Hände aus und stöhnte in fast unartikulirten Lauten: „Fort, fort, um Gotteswillen, nur fort!“

Bestürzt wich der Major zurück, nicht ohne einen Blick wärmster Theilnahme auf das blasse, interessante jugendliche Gesicht geworfen zu haben, seltsam, es zog wie ein warmer Hauch durch sein Herz – ein solches Weibchen hätte er sich schon gefallen lassen können!

Zu einer weiteren Ueberlegung gelangte er nicht, denn schon fühlte er sich rauh am Arme zurückgerissen in das kleine Kabinett, und während blitzenden Auges stand ihm Professor Roditz gegenüber, während der Doktor bei Helene zurückblieb und alles aufbot, um sie zu beruhigen.

„Gnädige Frau, Sie dürfen sich nicht so aufregen, denken Sie wenigstens an Ihre Kinder; der Herr Major kann sofort wieder abreisen, wenn seine Anwesenheit Sie ängstigt; außerdem wache ich über Sie und lasse Ihnen nichts geschehen.“

Seine tröstlichen Worte machten indessen keinen beruhigenden Eindruck – Helenens Aufregung steigerte sich dadurch nur noch mehr, sie schluchzte, als wolle ihr das Herz brechen, so daß Doktor Belden endlich rathlos schwieg.

(Schluß folgt.)




Der Lehrer als Wächter der Gesundheit.
Von Dr. med. Taube.


IV.



Der Lehrer soll nicht kuriren, aber er muß einen Einblick in das Wesen gewisser Krankheitsgruppe besitzen, um die bestehenden Schulgesetze richtig zur Ausführung zu bringen. Es betrifft dieses besonders die ansteckenden Kinderkrankheiten, deren Hauptverbreitung durch die Schule geschieht. Die Mehrzahl dieser Krankheiten überträgt sich schon in ihrem Vorstadium, zu einer Zeit, in welcher die Haupterscheinungen derselben noch nicht zu Tage getreten sind, auf andere Kinder; nur geringe Beschwerden sind vorhanden, welche die Eltern jedoch nicht veranlassen, das Kind im Hause zurückzubehalten. Zeigte sich auch am Abende etwas Fieber, so erniedrigt sich dasselbe am Morgen, das Kind fühlt sich kräftiger und begiebt sich zur Schule. Während des Vormittags steigert sich aber das Fieber wieder, das Kind klagt über Kopfschmerzen und Frost, der Lehrer erkennt die erhöhte Eigenwärme an dem gerötheten Gesicht und kann sie auch leicht durch den eingeschobenen Finger am unteren Halstheil fühlen. Der Puls, welcher am unteren Ende der Daumenseite des Unterarmes innen neben dem Knochen leicht zu finden ist, schlägt schneller als im gesunden Zustande. Wenn auch die Ursache nur in einem einfachen Schnupfen beruhen kann so ist doch Vorsicht schon wegen der Nachbarn geboten. Ein fieberndes Kind hat die Schule zu verlassen; vorher werfe aber der Lehrer einen Blick in dessen Hals. Er umwickele mit dem Zipfel des dem Kinde gehörigen Taschentuches seinen Zeigefinger und drücke die Zunge im weitgeöffneten Munde nach unten. Bei vielen Kindern, besonders wenn sie zu Hause gut angelernt sind, läßt sich ohne jedes Niederdrücken der Zunge der Hals leicht übersehen.

Im Hintergrunde des Mundes hängt der weiche Gaumen als ein rother Vorhang herab, in seiner Mitte befindet sich ein kleiner Ansatz, das Zäpfchen. Rechts und links theilt er sich in zwei Falten, welche zwei rundliche, mit Gruben versehene Gebilde enthalten. die Mandeln; hinter ihnen liegt der harte Gaumen. Zeigen diese Gebilde an gleichmäßiges, schwach geröthetes Ansehen so ist hier nicht der Grund der Erkrankung zu suchen. Die Mandeln sind der gewöhnliche Anfangssitz von croupöser Mandelentzündung und Diphtherie; in der größten Anzahl der Fälle ist das Kind mit dem Beginne dieser Krankheiten in der Schule gewesen. Die Röthung und Schwellung braucht keinen großen Umfang dabei zu erreichen; bei genauerer Betrachtung sieht man aber eine Anzahl der Mandelgruben weißlich gefärbt, gelb-weiße Striche und Flecke heben sich von der rothen Unterfläche deutlich ab. Das Kind klagt über Halsschmerzen, das Sprechen hat einen Nasenton. Findet der Lehrer einen solchen Zustand, dann sind nicht nur die Eltern des kranken Kindes, sondern auch die der nächstsitzenden Kinder zu benachrichtigen, um die Weiterverbreitung möglichst zu verhindern. Es sind nur Anfangserscheinungen, welche möglicherweise nicht weiter führen, doch ist bei der jetzigen Verbreitung der Halskrankheiten Vorsicht nothwendig.

Als Nachkrankheit von Diphtherie erscheint nicht selten nach Wochen eine Lähmung der Augenmuskulatur, welche sich in Doppelsehen und schlechtem Erkennen der Buchstaben äußert.

Eine starke Entzündung des Halses mit hochgradiger Röthung zeigen auch die Kinder in der Entwickelung des Scharlachs, wann gleichfalls die Schule oft noch besucht wird. Auch hier ist Fieber und manchmal schon der Beginn des Ausschlages, bestehend in kleinen gerötheten Stippchen, zuerst an der Brust und den Gelenken zu bemerken.

Eine andere Erscheinung bei einigen ansteckenden Krankheiten ist der Husten. Demselben ist Bedeutung beizulegen, falls Masern- und Keuchhustenepidemien im Orte aufgetreten sind. Während der ersten 8 bis 14 Tage ist der Husten des Keuchhustens rein katarrhalischer Art, erst dann beginnen sich die bekannten Anfälle mit langgezogenem pfeifenden Einathmen, nachfolgendem ruckweisen Ausathmen und schließlichem Herauswürgen eines zähen Schleimes anzufügen. Bei jedem Husten welcher eine längere Zeitdauer in Anspruch nimmt und wo die Kinder beim Husten selbst ein geröthetes Gesicht zeigen, ist ein Ausschluß vom Schulbesuche berechtigt. Der Husten vor dem Ausbruche der Masern ist ein kurzer Reizhusten mit rauhem Beiklangs starker Schnupfen und Augenentzündung sind neben ihm vorhanden. An dem Tage, nach welchem sich die linsengroßen rothen Stellen auf dem Körper entwickeln, zeigt der weiche Gaumen schon umschriebene rothe Flecke, durch welche der Verdacht der kommenden Masern verstärkt werden kann. Unschädliche, aber gleichfalls ansteckende Erkrankungen sind die Spitzpocken und Rötheln. Bei den Spitzpocken bedecket den Körper mehr oder weniger zahlreiche wasserhelle Bläschen bei den Rötheln ein den Masern, selten dem Scharlach ähnlicher Ausschlag mit sehr geringem Fieber im Beginne. Von den Spitzpocken vollständig verschieden sind die wahren Pocken, deren Anfangserscheinungen Kopf- und Kreuzschmerz, hohes Fieber, Brechen, meistens so heftig auftreten, daß der Schulbesuch schon im Vorstadium unterbleibt; das Gleiche ist mit dem in einigen Gegenden nicht selten vorkommenden äußerst ansteckenden Fleckthyphus der Fall.

Sehr gefahrlos und verbreitet ist der ansteckende Ziegenpeter oder Mumps, die Entzündung der Ohrspeicheldrüse. Hinter und vor dem Ohre bildet sich eine schmerzhafte gleichmäßige Anschwellung, welche dem Gesicht das bekannte lächerliche Aussehen verleiht.

Die Zeit, welche diese Krankheiten von dem Momente der Ansteckung an bis zu ihrem vollständigen Ausbruche gebrauchen, ist verschieden. Bei Diphtherie und Scharlach genügen zwei Tage, die Masern zeigen den feststehendsten Termin: bei einem Schulkinde, welches von seinen Nachbarn angesteckt wurde, erscheint 14 bis 16 Tage später der Ausschlag, nachdem mehrere Tage vorher die oben geschilderten Katarrhe sich bemerkbar machten. Scharlach und Diphtherie übertragen sich nicht nur vor dem Ausbruch, sondern bis sicher sechs Wochen nachher, während die Masern besonders vor und während des Ausschlages die Hauptansteckung darbieten. Kinder, deren Haut, besonders an den Händen sich nach Scharlach noch abschuppt, sind nicht in die Schule zu lassen. Die Empfänglichkeit ist verschieden. Die Neigung zu Masern ist eine fast allgemeine, etwas weniger zu den Pocken; von Scharlach und Diphtherie wird schon eine größere Anzahl Kinder nicht ergriffen. Die Masern übertragen sich fast nur von dem kranken Kinde unmittelbar auf das gesunde, während bei Pocken, Scharlach und Diphtherie Kleider und Gegenstände, mit denen der Erkrankte in Berührung gekommen ist, die Weiterverbreitung vermitteln können.

Auf diese Verhältnisse gründen sich die Schulgesetze der Neuzeit zur Beschränkung der ansteckenden Kinderkrankheiten. Dieselben lauten im Auszug. „Der Schulbesuch ist an Masern

[867] erkrankten Kindern vier Wochen, Kindern, welche von Scharlach, Diphtherie und Pocken befallen wurden, sechs Wochen nicht gestattet. Alle schulpflichtigen Kinder aus solchen Wohnungen haben durch ein ärztliches Zeugniß nachzuweisen, daß sie die Ansteckung nicht übertragen, sonst müssen sie die gleiche Zeit die Schule meiden.“ Bei Masern hat, wie wir sahen, der Besuch der Schule von Geschwistern, wenn sie selbst die Krankheiten überstanden haben, keine Gefahr, und mit Recht fordern auch neuerdings einige Städte dann keine ärztlichen Zeugnisse; der größte Nachtheil für die Schule kann aber bei Scharlach und Diphtherie sowie Pocken erwachsen und bei richtigen Fällen sollten die Geschwister vor Ablauf der gesetzlichen Frist nicht zur Schule geschickt werden.

Die Ansteckung geschieht am seltensten durch das Aufhalten in der Wohnung des Kranken, sondern entweder dadurch, daß die Geschwister, von ganz leichten, kaum bemerkbaren Anfällen, mit welchen sie ausgehen können, heimgesucht, auf gleiche Weise wie ein schwerer erkranktes Kind die Ansteckung vermitteln, oder daß sie Bücher oder Gegenstände der Erkrankten aus Zufall mit in die Schule hereinbringen.

Merkwürdigerweise hat die Mehrzahl der Schulgesetze keine Rücksicht auf das Verhalten der Lehrer genommen, falls in ihrer eigenen Familie ein derartiger Krankheitsfall ausbricht. Bei Masern ist auch hier nur geringere Vorsicht anzuwenden; Scharlach, Diphtherie und Pocken erfordern dagegen einen Ausschluß aus der Schule während sechs Wochen; die größte Vorsicht ist außerdem nothwendig, Besuche von Schulkindern sind nicht zu gestatten, Bücher nicht in dem Krankenzimmer zu korrigiren. Auch sollten die Wohnungen der Schulwärter wegen etwa vorkommender ansteckender Krankheiten in der eigenen Familie einen nicht in den allgemeinen Schulvorsaal mündenden Eingang besitzen und die Lehrer- und Direktorialwohnungen möglichst aus dem Schulgebäude entfernt werden. Erfährt der Lehrer die ansteckende Krankheit eines seiner Klassenkinder, so warne er die Kinder, ohne die Krankheit zu nennen, ihren Mitschüler während der nächsten Zeit zu besuchen, und beobachte die bisherigen Nachbarn des Erkrankten wegen einer etwa stattgefundenen Ansteckung.

Von sonstigen Krankheiten, die Beachtung verdienen, sind in Kürze nur zu erwähnen die verschiedenen ansteckenden Hautausschläge; besonders einige Flechten des behaarten Kopfes, welche durch einen pflanzlichen Parasiten verursacht werden, übertragen sich in einem hohen Grade auf andere Kinder. Es ist nicht Sache des Lehrers, hier weitere Untersuchungen anzustellen, aber wegen der Gefahr der Ansteckung und des Ekel erregenden Ausschlages kann die Fortsetzung des Schulbesuches erst nach der Abheilung stattfinden. In dieses Gebiet wird die Krätze mit eingeschlossen, deren sichtbare Zeichen nur in einem Ausschlage der Haut beruhen, welcher mit anderen gerade bei Kindern vorkommenden oft solche Aehnlichkeit besitzt, daß der Lehrer sie nicht mit Sicherheit unterscheiden kann.

Von plötzlich auftretenden Krankheiten verursachen Ohnmachten und Krämpfe am häufigsten ein Einschreiten seitens des Lehrers. Man lege die davon befallenen Kinder platt auf den Boden, befreie sie von beengenden Kleidungsstücken und sprenge ihnen etwas kaltes Wasser ins Gesicht; das Aufbrechen der eingekniffenen Daumen ist zu unterlassen. Oefter auftretende epileptische Krämpfe gebieten das Unterlassen des Schulbesuches wegen des nachteiligen Eindruckes auf die Mitschüler. Das Gleiche gilt von dem Veitstanz, denn hier liegt besonders bei Mädchen die Gefahr der Nachahmung sehr nahe. Der Lehrer erkennt diese Krankheit durch die unruhigen Bewegungen des Kindes: die Muskeln des Gesichtes zucken, es finden fortdauernde, nicht gewollte Bewegungen der Hände und Füße statt, so daß das geforderte Stillsitzen und -Stehen trotz der größten Mühe nicht zu ermöglichen ist.

Nasenbluten kommt fast immer von selbst zum Stillstand; bei häufigerer Wiederholung sind die Eltern davon in Kenntniß zu setzen, weil dann der Grund zumeist in Blutarmuth und allgemeiner Schwäche des Kindes zu suchen ist. Auch der häufig auftretende Kopfschmerz entsteht fast immer durch Blutarmuth des Gehirns, nur selten kommt er durch das Gegentheil, Blutüberfüllung des Kopfes, zum Vorschein.

Diese chronischen Erkrankungen des Gesammtorganismus, Blutarmuth, blasses Aussehen und allgemeine Schwäche, finden besonders in zwei Perioden statt: die erste kurz nach dem Eintritt in die Schule ist nur von kurzer Dauer und wird bald überstanden. Der Lehrer bemerkt, daß das frisch und gesund in die Schule eingetretene Kind blässer und fettärmer wird, ohne daß dabei die Freude und Kraft zur Arbeit leidet. Die Ursache ist in der vollkommen veränderten Lebensweise, dem Stillsitzen, der Klassenluft und der geistigen Anstrengung zu suchen. Das Wohlbefinden der Kinder erfordert es dringend, daß ihnen in jeder Zwischenstunde vollständige Freiheit gelassen und nicht, wie es leider manchmal geschieht, das Verlassen des Platzes verboten wird. − Von größerer Wichtigkeit ist die zweite Periode, welche bei Mädchen im zwölften bis vierzehnten Jahre, bei Knaben zwischen dem vierzehnten und siebzehnten Jahre eintritt. Hier bedingen die Wachsthumsvorgänge die Veränderungen. Bei Mädchen tritt oft Bleichsucht mit Vergrößerung der Schilddrüse (Kropf) ein, bei Knaben äußert sich der Zustand weniger im Aussehen als in der geistigen Schlaffheit, welche vom Lehrer oft als Trägheit gedeutet wird. Die Vergleichung mit dem früheren Zustande, die größere geistige Frische nach den Ferien, der Wechsel zwischen gut und schlecht kann den Lehrer jedoch auf die richtige Ursache hinleiten, und gerade diese Schüler erholen sich später vollständig wieder und überragen dann oft die ihnen früher zum Muster vorgestellten Mitschüler.

Diese krankhaften Entwickelungsvorgänge hängen mit der Ueberbürdungsfrage eng zusammen. Derartige Organismen sind nicht im Stande, ihre Aufgaben in der gewöhnlichen Zeit zu erledigen; sie müssen die späten Abendstunden zu Hilfe nehmen, wodurch der Schule häufig der Vorwurf der Arbeitsüberhäufung gemacht wird. Hier ist aber nur die Entlastung einzelner Schüler am Platze, ohne daß die Allgemeinheit viel davon berührt zu werden braucht. In den Volksschulen kann von einer Ueberbürdung kaum gesprochen werden. In den höheren Schulen dürfte außer der Vermehrung der Turnstunden und dem geringeren Eingehen der Lehrer in ihre Specialfächer eine große Abhilfe durch die allgemeine Einführung eines sogenannten Studientages für die Anfertigung der häuslichen Schularbeiten, wie es schon an mehreren Schulen der Fall ist, geschaffen werden. Fraglich ist nur, ob nicht der Montag dem hierzu gewöhnlich verwendeten Sonnabend vorzuziehen sei, denn es liegt an der kindlichen Natur, die Arbeit bis auf den letzten Termin, also den Sonntag, zu verschieben, welcher von jeder Arbeit befreit bleiben soll, während sie am Montag mit größerer Frische die Hausarbeiten erledigen würden. Von den Eltern ist zu fordern, daß sie einen solchen Einblick in die Hausarbeiten ihrer Kinder besitzen, um das Verschieben derselben bis zum letzten Augenblicke und das dadurch hervorgerufene Zusammenkommen verschiedener Arbeiten zu verhindern.

Von großer Bedeutung für die Schule ist die Verlegung des Stoffes, welcher die höchste geistige Thätigkeit erfordert, in die ersten Stunden; ich erinnere an die bekannte Thatsache, daß das gleiche Diktat am Beginn und Schluß des Vormittags im letzteren Falle 25% mehr Fehler aufwies.

So lange es nicht möglich ist, physiologisch direkt festzustellen, wie viel Arbeit dem Gehirn in einer jeden Altersklasse auferlegt werden kann, müssen wir den Nachtheil ins Auge fassen, welchen der Schulbesuch und die zu große geistige Arbeit auf Körper und Gehirn ausübt, und denselben zu mindern suchen. Den Körper gesund zu erhalten, ist daher die erste Pflicht der Schule, und der Lehrer kann zur Erfüllung dieses Zweckes, wie unsere kurzen Ausführungen zeigst sollten, die segensreichste Beihilfe entwickeln.




Benjamin Harrison.

Es war im Juli dieses Jahres. Wenige Wochen nach den Demokraten waren die Republikaner zu dem großen Parteikonvente in Chicago zusammengetreten, auf welchem die Abgesandten der Partei aus allen Staaten der nordamerikanischen Union ihrerseits der Nation den Kandidaten nennen wollten, den sie für den kommenden Präsidentschaftstermin zu präsentiren hatten. Heiß wogte der Kampf drei Tage hin und her. Mit gleicher Zähigkeit hielten die Freunde Blaines, der seit fünfzehn Jahren der Auserkorene eines sehr starken Bruchtheils der Republikaner ist, an ihm fest, bekämpften ihn die unter sich in viele Fraktionen [868] gespaltenen und nur in ihrer Gegnerschaft gegen Blaine einigen Feinde desselben. Bald war es klar, daß der stärkste aller Bewerber unterliegen würde, weil die gemeinschaftlich gegen ihn auftretenden Schwächeren nicht wankten.

Unter den letzteren befanden sich Männer, die einen Namen von Klang hatten: der frühere Finanzminister Sherman, der Oberrichter Gresham von Illinois. Aber wie es erfahrungsmäßig stets bei den amerikanischen Konventen zu gehen pflegt: wenn nicht ein Name im Sturmlauf des Triumphes gleich beim ersten Ansatze gewinnt, dann pflegt ein verhältnismäßig unbekannter Mann den Sieg zu erreichen. So auch in Chicago. Blaine, der Unterlegene, welcher damals in Europa weilte und durch den elektrischen Draht von Viertelstunde zu Viertelstunde von dem Verlauf des Konventes unterrichtet ward, wies seine Freunde an, ihre Stimme auf Benjamin Harrison zu übertragen. So ward er zum Kandidaten der Republikaner erkoren.

Präsident Benjamin Harrison.
Originalzeichnung von C. Kolb.

Als das Resultat in der Union bekannt ward, war die öffentliche Meinung mit sich darüber im Reinen: der Wahlkampf sei von Anbeginn an entschieden. Auf der einen Seite Cleveland, der Amtsinhaber mit der ganzen Gewalt, die ihm das Amt in die Hand giebt, ein Mann, der im Großen und Ganzen die Erwartungen erfüllt hatte, die an seine Administration geknüpft waren, persönlich beliebt, der ohne Widerspruch Erkorene der Gesammtpartei. Auf der anderen Seite Benjamin Harrison, ursprünglich der schwächste Kandidat innerhalb seiner Partei, ein Mann, der es über eine Lokalberühmtheit kaum hinausgebracht hatte, dem man nachsagte, daß er von gewissen amerikanischen Schrullen nicht frei sei, wie dem Temperenzzwang, und daß er aristokratische Neigungen besitze, die der großen demokratischen Mehrheit unsympathisch seien. Harrison gegen Cleveland – es schien lächerlich, die Frage des Sieges überhaupt aufzuwerfen. Der Neuling gegen den Bewährten, der Unbedeutende gegen den Erprobten!

Vier Monate später, am 6. November, bei der Wahl selber, erfuhr die Nation, daß es in der Politik nichts Gefährlicheres giebt, als mit der Stimmung der Massen zu rechnen und sich auf sie zu verlassen. Benjamin Harrison hat den Gegner mit einer Mehrheit geschlagen, die selbst seine Anhänger in Erstaunen gesetzt hat.

Das ganze Vorleben Benjamin Harrisons ist dazu angethan, ihn als einen Mann erscheinen zu lassen, der überall da, wo er hingestellt wird, seine Pflicht in vollstem Maße thut, ohne sich jedoch in leuchtender Weise auszuzeichnen. Er ist von Beruf Advokat, ohne zu den unantastbaren Autoritäten des Landes zu gehören;er führte im Secessionskriege ein Regiment, ohne Gelegenheit zu finden, sich besonders hervorzuthun, und er hat als Politiker in seinem Staate stets in der Vorderreihe der Führer gestanden, ohne daß der Erfolg ihm mehr als vorübergehend treu gewesen. Aus gewöhnlichem Holze ist der Mann also nicht geschnitzt, der in allen Dingen doch verstanden hat, die grosse Zahl der Mitbewerber in dem Kampfe ums Dasein zu überragen. Aber es bedurfte doch noch eines besonderen Umstandes, um gerade ihn unter den anderen Präsidentschaftskandidaten zum Auserwählten seiner Partei zu machen.

Dieser besondere Umstand ist in dem Namen zu finden, den er trägt. In dem demokratischen Amerika giebt es zwar keine Aristokratie der Geburt; das Berufen auf die Ahnen soll in einem so jungen Lande schwer fallen. Das Entscheidende bleibt bei der Beurtheilung des Mannes sein eigen Thun und Lassen. Trotzdem läßt sich nicht verkennen, daß bei sonst gleichen Verhältnissen das Gewicht eines verdienten Namens schwer in die Wage fällt. Zahlreich sind die Träger des Namens Washburne, die es in der Union zu Rang und Ehren gebracht haben. In den Neu-Englandstaaten birgt der Name John Quincy Adams die Gewähr in sich, daß sein Träger hoch in der Gunst der öffentlichen Meinung steht. Robert Lincoln, der in verhältnißmäßig jungem Alter schon vor vier Jahren von einer starken Partei als Präsidentschaftskandidat in Aussicht genommen war, würde schwerlich dieser Ehre theilhaftig geworden sein, wenn er nicht der Sohn des unvergeßlichen Abraham Lincoln wäre, und der jetzt erwählte Präsident der Vereinigten Staaten, Benjamin Harrison, kann darauf verweisen, daß sein Großvater, William Henry, bereits dieses Amt innehatte und daß sein Urgroßvater Benjamin, nach welchem er genannt worden, zu den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung gehörte, des amerikanischen Schiboleths, daß er ein direkter Abkomme eines der „Väter des Vaterlandes“ ist.

Die Verdienste seiner Väter haben ihm im Leben theilweise den Weg geebnet. Trotzdem ist er auch ein „self-made man“, der sich ehrlich und muthvoll durch gute und böse Tage hat hindurch ringen müssen. Er ist heute 55 Jahre alt, beträchtlich jünger als sein Großvater war, als er an die Spitze der Union berufen ward, der damals 67 Jahre war, oder gar als Sam. Tilden, den die Demokraten vor 12 Jahren in seinem achtzigsten Jahre zum Kandidaten proklamirten. Obwohl sein Großvater bereits in Indiana Gouverneur gewesen, wanderte sein Vater nach Ohio aus, wo Benjamin am 20. August 1833 in South-Bend, einem Vororte der Stadt Cincinnati, geboren wurde. Die Distriktsschule des Ortes, etwa unseren höheren Knabenschulen entsprechend, nahm ihn zuerst auf. Als er sie mit seinem fünfzehnten Jahre verließ, besaß er Vorbildung genug, um in die Miami-Universität zu Oxford im Staate Ohio einzutreten, in der er seine weitere Ausbildung erhielt und die, etwa auf dem Standpunkt unserer Gymnasien stehend, ihn nach drei Jahren mit Ehren entlassen konnte. Vor die Frage der Wahl eines Lebensberufs gestellt, entschied sich der jetzt Achtzehnjährige für die Jurisprudenz.

Nicht in langem Studium, sondern in sofortiger praktischer Arbeit, die dem Rechtsbeflissenen als „Lehrling“ in einem Anwaltsbureau sich bietet, gewann auch Harrison die Grundlage, um sich selbständig zu machen. Er war noch nicht 21 Jahre alt, als er sich „etablirte“. Mit klugem Blick wählte er Indianapolis im Staate Indiana als seine neue Heimath, die Stadt, in welcher sein Großvater damals noch in lebendigster Erinnerung stand. Er hat den Staat dann nicht mehr verlassen. In demselben Jahre heirathete er.

Derartige junge Ehen haben in der Union ebenso wenig Befremdliches wie in England. Als er im Jahre 1854 sein Stimmrecht zum ersten Male – 21 Jahre alt – ausübte, war er bereits Familienvater.

[869]

Johanna Stegen, die Heldin von Lüneburg.
Gemälde von Ludw. Herterich.
Nach einer Photogravure im Verlag der „Verbindung für historische Kunst“ in Berlin.

[870] Langsam nur entwickelte sich die Praxis des jungen Advokaten. Der Ausbruch des Bürgerkrieges sah ihn sofort in den Reihen der Kämpfer. Auf Veranlassung des Gouverneurs des Staates, Morton, hatte er eine Kompagnie geworben und avancirte schnell bis zum Oberst des Regiments. Erst kurz vor dem Friedensschluß, am 23. Januar 1865, wurde seinem Regiments, dem 10., die Gelegenheit, sich in einem Gefecht auszuzeichnen, und so konnte denn Harrison, zum Brigadier befördert, mit höherem militärischen Range beim Friedensschluß in das Privatleben zurücktreten.

Mit großer Energie warf er sich nun auf die Politik. Wie er vor dem Kriege schon für Fremont und Lincoln gewirkt hatte, so blieb er der republikanischen Partei treu, – treu ohne jedes „wenn“ und „aber“. Den Versuchen der hervorragenden Männer gegenüber, die unter der Führung von Sumner und Karl Schurz zuerst schon unter der Präsidentschaft Grants die republikanische Partei in sich zu reformiren suchten, blieb er das, was man einen „Maschinen-Politiker“ nennt. Er blieb bei der Fahne, auch wenn der Fahnenträger weidlich Angriffspunkte bot. Er blieb ihr standhaft treu, als die Zahl der mit ihrer Partei unzufriedenen Republikaner so anwuchs, daß sie im Jahre 1884 dem Demokraten Cleveland zum Siege verhalfen. Er „blieb bei der Stange“, auch als er bei der Gouverneurswahl im Jahre 1876 unterlag und als sein Staat, der stets ein schwankender gewesen, ihn im Jahre 1886 wieder fallen ließ, nachdem er ihn im Jahre 1880 in den Senat geschickt hatte. Im Senat gehörte er dem Ausschüsse für auswärtige Angelegenheiten an. Er befand sich durchaus in Uebereinstimmung mit der überwiegenden Mehrheit der gesammten Bevölkerung der Union, als er gegen die Chineseneinwanderung wirkte. So oft er als Redner auftrat, erwies er sich als ein scharfer Dialektiker und gewandter Sprecher.

Auf eines aber darf Harrison mit Recht stolz sein. „Wenn Du wissen willst, welch ein schlechter Kerl Du bist, so lasse Dich für ein Amt in Vorschlag bringen“ – das ist ein Satz, der in der amerikanischen Union mehr als ein Scherzwort ist. Tausende haben seine erbarmungslose Wahrheit an sich erfahren. Je höher der Preis, nach welchem man die Hand ausstreckt, desto eindringlicher, spähender wird das Durchforschen des Vorlebens des Kandidaten. Rücksichtslos wird in dasselbe hineingeleuchtet. Der Parteifanatismus macht nicht Halt an der geheiligten Schwelle des Privatlebens. Das Familienleben wird durchstöbert, und wo das grell hineinfallende Licht den leisesten Schatten zu finden glaubt, wird der kleinste Anhaltspunkt benutzt, um einen gleichgültigen Zufall zu einem Verbrechen aufzubauschen. Zwar die Regelmäßigkeit dieser Verfolgung benimmt ihr ein gut Theil ihrer Härte, aber überaus selten sind die Fälle, in denen davon Abstand genommen werden mußte, den Gegner zu verunglimpfen, weil er eben in seiner Persönlichkeit keinen Angriffspunkt bot. Und einer dieser seltenen Fälle liegt hier vor. Gegen die persönliche Ehrenhaftigkeit und Unantastbarkeit Harrisons ist niemals ein Wort laut geworden.

Zu seinem Siege aber hat die Unantastbarkeit seines Charakters nichts beigetragen. In diesem Kampfe hat es sich wieder in der Union nicht um Männer, sondern um Principien gehandelt. Hätte der Mann den Ausschlag gegeben, so würde die Wahl wohl auf Cleveland gefallen sein, dem selbst die Gegner nicht persönliche Achtung versagen und dessen liebenswürdiges Wesen ihm außerordentlich viele Freunde gewonnen hat. Harrison andererseits gilt, wie schon angedeutet, als ein zugeknöpfter Mann, dem das „Gemein-Machen“ mit der breiten Masse nicht willkommen ist. Nicht also der Mann hat gesiegt, sondern die Sache. Der in allen Kulturstaaten immer wieder auftauchende Streit zwischen Schutzzoll und Freihandel ist von dem noch im Amt befindlichen Präsidenten Cleveland wieder entfacht worden. Er hat vor Jahresfrist in einer Botschaft an den Kongreß sich, entgegen der bisherigen Politik des Schutzzolles, auf den Boden des Freihandels gestellt. Zwar wurde die Frage nicht in dieser Nacktheit aufgeworfen, aber immerhin bahnte der Präsident einen Uebergang zu großer Ermäßigung der Eingangszölle an. Und dieser Streitruf wurde von den Republikanern aufgenommen. Zwar sind die Parteien in Bezug auf wirthschaftliche Fragen auch in der Union nicht geschlossen. Es giebt demokratische Schutzzöllner und republikanische Freihändler, aber die ungeheure Masse der ausschlaggebenden Interessenten in den industriellen Distrikten wurde von den republikanischen Rednern überzeugt, daß der Freihandel den Ruin der Industrie, den Rückgang der Löhne, den Beginn des Arbeiterelends bedeute. Es ist nicht unsere Aufgabe zu prüfen, wie viel oder wie wenig Berechtigung diese Auffassung hat. Daß sie von den Stimmgebern der Union getheilt wird, beweist die Wahl Harrisons.

Am 4. März 1889 wird er in das Weiße Haus zu Washington einziehen. Was man von ihm hoffen darf? Das wird von der Wahl seiner Rathgeber abhängen. Wenn er Blaine zum Leiter des auswärtigen Amtes macht, dann ist nicht ausgeschlossen, daß während seiner Amtszeit die nicht überall glatten auswärtigen Beziehungen eine Verschärfung erhalten. Und es giebt viele, die da glauben, daß die Dankbarkeit gegen den Mann, dessen Wunsch der neue Präsident die Ernennung zum Kandidaten und dessen Eintreten für ihn während des Wahlkampfes er seinen Sieg verdankt, ihn zu dieser Ernennung zwingen wird.

Max Horwitz.



Waldemars Brautfahrt.
Novellette von Julie Ludwig.


Spät abends in dem kleinen Orte angekommen, hungrig, müde, hatte sich Waldemar nach einem guten Abendimbiß und desgleichen Trunk sogleich zu Bett gelegt und die ganze Nacht gesund durchschlafen. Dennoch war es ein eigenthümliches Gefühl, mit welchem er erwachte, früher, als es zu seinem Zwecke nöthig war. Denn Besuche konnte man noch nicht machen und zu einem Spaziergang auf dem entlaubten Wall rings um das Städtchen war weder der Morgen, noch die „Promenade“ mit der Aussicht auf den wohlbekannten „Krautberg“ einladend genug. Ja, er kannte jeden Höcker auf dem bis obenhin in Feldquadrate eingetheilten Hügelrücken, der durch die weißbehängten Fensterchen zu ihm herein sah; das knarrende Hofthor weckte ihm Erinnerungen und auf der Treppe, die in den Unterstock des Gasthauses „Zum weißen Hirschen“ führte, wußte er genau die eine ausgetretene Stufe zu vermeiden. Ihn selbst schien niemand zu erkennen, weder der grau und griesgrämig gewordene Wirth, noch der jung und grün gebliebene Kellner. Auch sein Name, der freilich nicht zu den ungewöhnlichen gehörte, den er aber trotzdem mit einer gewissen Sorgfalt in das Fremdenbuch eintrug, erregte keinerlei Verwunderung in den beiden gleichmüthig darauf niederblickenden Gesichtern. Man hielt ihn offenbar für einen Handlungsreisenden, wie sie mitunter in das Städtchen kamen, um Geschäfte mit den kleinen Kaufleuten zu machen, und zwar, der „Promptheit“ der Bedienung nach, für einen „aus solidem, gutem Hause“.

„Um so besser!“ dachte Waldemar, strich sich durch den weichen Künstlerbart und reckte seine lange, etwas lässige Gestalt unwillkürlich strammer in die Höhe. Er befahl das Frühstück in die Fensternische, aus welcher man die Aussicht auf den Marktplatz hatte, und warf sich in den tiefen und bequemen Armstuhl, der seine hundert Jahre und darüber in derselben Ecke stehen mochte. Während die Zeit da draußen Throne stürzte und neue, niemals dagewesene errichtete, bestand hier jedes alte Möbelstück auf seinem angestammten Sitz und Erbe. Freilich: hätte man es gerückt, so wär’s zerfallen.

Das schienen auch die alten Häuser auf dem Markt zu wissen. Windschief und bucklig und sich gegenseitig aneinander haltend, wie sie den ziemlich großen Platz umsäumten, so hatten sie gestanden [871] seit Waldemar sich ihrer zu entsinnen wußte. Nur zwei Gebäude machten eine stattliche Ausnahme: der Kaufladen „Zum goldnen Engel“ und das Haus des regierenden Herrn Bürgermeisters. Von einem dieser altehrwürdigen Patrizierhäuser zum andern wanderten die Augen Waldemars mit einem Ausdruck, der seltsam zwischen Lachen, Spott und Wehmuth wechselte.

Ja, da saß er wirklich wieder in dem „gottverlass’nen Neste“ und es war ein just so grämlicher Dezembermorgen, wie er ihn oft und oft zur heimlichen Verzweiflung und schließlich, vor zwölf Jahren, zum Davonlaufen gebracht. O Goldner Engel! Deine immer offene Ladenthür, deine nassen Dielen, die Erbschaft jeder bäuerischen Beschuhung, dein Gemisch von Düften – – da stehe einer mit dem Drang des Göttlichen in seiner Brust, in dünnem Rock mit vorgebund’ner Schürze, und zapfe Oel und wiege Käse ab oder fische mit den verklammten Fingern einen Hering aus der durchaus nicht „göttlichen Salzfluth“! Nachdenklich blickte Waldemar auf seine Hände, die weiß und schlank mit wohlgepflegten Fingernägeln nichts mehr von ihrer einstigen Mißhandlung verriethen; dann warf er mit dem ihm eignen kurzen Ruck den Kopf zurück, als ob er damit alles Unliebsame von sich schüttelte, und lächelte von neuem vor sich hin.

Denn trotz alledem: es hatte doch auch hier im Reich der Spieß- und Ackerbürger in jedem Lenz einmal geduftet und geblüht, und er war jung gewesen hier – trotz alledem! Ohne Eltern und Geschwister, die er nie gekannt, doch aber Mündel des Herrn Bürgermeisters und Lehrling, später gar „Kommis“ im ersten Materialwaarengeschäft der Stadt, wie hätte er sich nicht manchmal „fühlen“ sollen? Besonders an den freien Sonntagsnachmittagen, wenn er den leeren Ladentisch zum Malen mit den schönen selbstgemachten Farben und als Modell die blonde Elsbeth hatte? Kaum zehn, elf Jahre zählend, blickte des strengen Vormunds holdseliges Töchterlein schon recht verständig aus den blauen Augen und zierlich drehte sie den feinen Kopf, das weiße Hälschen hier- und dorthin, wie er es verlangte; ja! sie erröthete schier jungfräulich, wenn er ihr versicherte, sie sei allerliebst und sie müsse einst sein Bräutchen werden.

Waldemar hatte sich eine Cigarre angezündet, doch sie war kalt geworden vor dem Gedankengang, der warm in ihm heraufstieg. Ein Reisender „in Zucker und Kaffee“, der nebenbei ein Schwärmer für die Kunst war, hatte seine „Studien“ gesehen und ein „vielversprechendes Talent“ darin entdeckt. Er rieth ihm, keine Zeit mehr zu versäumen und auf eine Kunstakademie zu gehen, Da war’s, was Waldemar in seinem dunklen Drang ersehnt, da war der Name für das Unausgesprochene, was ihn gequält: Kunstakademie und Maler werden! Er wußte, wo der Weg zu seinem Himmel war – und sollte ihn nicht gehen! Es half kein Vorstellen, kein Bitten, Flehen; Vormund und Lehrherr kannten ihre „Pflicht“. Was blieb dem Aermsten übrig, als davonzulaufen? mit Hinterlassung seines kleinen Vatererbtheils und, was schwerer wog, der blonden Elsbeth!

Sie war die einzige Vertraute seiner Flucht gewesen, ja sie hatte ihm mit einer Schlauheit und Geschicklichkeit dabei geholfen, die ihn jetzt, nach mancherlei Erfahrung in der Welt, noch wunderte. „Wenn ich reich und berühmt geworden bin, komm’ ich und hol’ Dich,“ hatte er gesagt. Er hörte noch ihr kinderhelles Lachen.

Reich und berühmt? War er es geworden? Was gab ihm, nach so langer Zeit, das Recht, hierher zu kommen? Waldemar, nachdem er umgeblickt und sich versichert, hatte, daß niemand außer ihm im Zimmer war, öffnete ein elegantes Taschenbuch und nahm eine Photographie heraus, die das Brustbild einer ganz entzückenden jungen Dame zeigte. Elsbeth! Das Kärtchen hatte der letzten Zinsensendung seines Vormunds beigelegen, ohne jede weitere Bemerkung, als die er aus dem hergebrachten Schlusse des alljährlichen Begleitschreibens: „Frau und Tochter lassen grüßen“, sich heraus las.

Es war eine Mahnung zu rechter Zeit gewesen, das hätte jeder in dem Blicke lesen können, den Waldemar nach einer längeren andächtigen Versenkung in das Bildchen an die Zimmerdecke und dann, den Irrthum merkend, durch das Fenster nach dem Himmel sandte. Durch den feinen Regen, der draußen unablässig niederstäubte, flimmerte es weißlich. Es waren leichte Federchen und Flöckchen, die auf den Steinen wieder auseinanderflossen, gleich verfrühten Hoffnungen der Menschen. Waldemar sah nur den Schnee. Ja, komm’ nur, Winter! dachte er vergnügt: „Junggesellen-Weihnacht – giebt’s nicht mehr.“

Wer den stillen, menschenleeren, feuchtumschleierten Platz an diesem trübseligen Dezembervormittag für den Marktplatz einer längstversunkenen Stadt gehalten hätte, der würde, wenn nicht früher, mit dem Schlage elf seinen Irrthum eingesehen haben. Denn kaum verzitterte der letzte Ton der Glocke, als sich das „Hauptportal“ zum „Weißen Hirschen.“ aufthat und ein moderner Herr in Handschuhen, mit Hut und elegantem Regenschirm heraustrat. Alsbald belebten sich ringsum die todten Häuser, Fenster knarrten und neugierige Gesichter tauchten auf, um blitzartig wieder zu verschwinden, sowie der Fremde unter seinem Schirmdach in die Höhe blickte. Ei guten Morgen, werthester Herr Kreisgerichtsamtsaktuarius! Ihr Diener, hochverehrteste Frau Stadtsyndikus! hätte Waldemar gewiß zu jeder andern Zeit mit landesüblicher Höflichkeit gegrüßt. Jetzt kam ihm wohl der flüchtige Gedanke, wie gut sich all die alten Leutchen hier gehalten hatten, aber sein Herz war nicht dabei, das flog den feinen Lackstiefeln voraus, die Mühe hatten, sich zwischen den zahllosen Wasseradern und Lagunen dieses Klein-Venedigs einen Schimmer ihres großstädtischen Glanzes zu bewahren.

Von Schritt zu Schritt, das heißt von einem See zum anderen, verfolgten ihn weitaufgerissene Augen und Hälse, die sich fast gefahrdrohend verlängerten. Ein Fremder, der nicht einmal um den Weg fragt! Woher er kommt? Wohin, zu wem er will? Aha! zum jungen Dittmann in den Goldnen Engel! Nicht doch – er geht zu Bürgermeisters!! Waldemar war wirklich einen Augenblick vor dem wohlbekannten Laden stehen geblieben und hatte zu dem frisch vergoldeten Genossen seiner „schönen Jugendjahre“ aufgesehn. Erst jetzt bemerkte er, daß auch das alte Schaufenster beseitigt und eine große Spiegelscheibe dafür eingelassen war. Demnach war sein sparsamer Prinzipal nicht mehr am Leben. Richtig! vom Pult des Alten, der seinen festen Platz am Fenster hatte, erhob sich eine weitaus jüngere Gestalt: Karl Dittmann. „Karlchen!“ hätte er fast laut gerufen, so sehr erfreute ihn das Wiedersehen des runden sommersprossigen Gesichtes, der peinlich ungekämmten semmelblonden Haare und des verlegenen hilflosen Zuges um den Mund des guten Jungen, den er und Elsbeth oft gehänselt hatten. Aber der Vierzehnjährige von damals war zu einem großem starken Mann erwachsen und die sonst so freundlich hellen Augen hefteten sich nachdenklich, ja fast finster auf den Fremden, der erst im Weiterschreiten, seinen Hut zog. Was war das? Hatte ihn der junge Mann erkannt? Und warum so feindlich? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn vor ihm lag das Haus des Bürgermeisters.

Es war fast das einzige am ganzen Markte, an dessen Fenstern sich kein Kopf gezeigt, aus dem Grunde, weil die Familie noch in der Tiefe der geräumigen

Wohnstube beim zweiten Frühstück saß. Waldemar gelangte ungesehen in den Hausgang, wo er sein Schuhwerk auf einer Binsenmatte reinigte, die ihm dieselbe schien, auf der er seine Erstlingsstiefel abgekratzt, und seinen Schirm in einen Ständer stellte, dem er mit Stolz einst seinen Konfirmationsregenschirm anvertraut hatte. In der Küche hörte er die Magd mit Kochgeschirr hantieren und aus dem Zimmer schallten Stimmen, unter denen er die fette heisere seines einstigen Vormundes unterschied. Es war ihm doch ein wenig wunderlich zu Muthe, als er an der wohlbekannten Thür anklopfte, vielmehr klopfen wollte. Denn in dem nämlichen Moment ward sie geöffnet und Kopf an Kopf, beinah zusammenstoßend, stand er vor einer schlanken weiblichen Gestalt, von welcher er zuerst nichts [872] sah, als Augen – Augen, so groß und so erschrocken in die seinen starrend und von einem so tiefen, weichen Sammetbraun, wie er sich nicht erinnerte, sie je gesehen zu haben.

War das – doch nein! wie hätten sich die himmlischen Vergißmeinnicht in dem bewußten rosigen Gesichtchen so verändern können? Ein leiser Schrei, vielleicht nur seinem aufgeregten Sinn vernehmbar, gab seinem Blick die Richtung in das Zimmer, und er sah noch eben, wie ein Köpfchen, von einer Art von Glorienschein umgeben, hinter der zunächst gelegenen Thür verschwand. Das war Elsbeth. So trug sie schon als Kind des Morgens ihr in Wickeln aufgerolltes Goldhaar, das nachmittags in Locken niederwallte. Vor ihm aber lag ein fremdes junges Mädchen auf den Knieen und sammelte, hochroth vor Beschämung, verschiedene Gegenstände wieder in ihr Körbchen, die ihr bei dem unerwarteten Zusammenstoß entfallen waren. Waldemar versuchte ihr zu helfen, als sie auch schon aufsprang, dankte und mit einer einladenden Handbewegung nach dem Zimmer flüchtig wie ein Reh an ihm vorüberglitt. Ein halb ärgerliches: „Na aber, Hilde!“ von einer scharfen Frauenstimme nachgerufen, verfehlte seines Zweckes, sie zu treffen.

So blitzschnell hatte sich die kleine Scene abgespielt, daß das behäbige Ehepaar am Tische erst jetzt Messer und Gabel auf die Seite legte und die Häupter, die ja zugleich die Oberhäupter der Stadt bedeuteten, majestätisch in der Richtung nach dem offenen Eingang wandte. Ihr Unwille, denn wenn der Hausherr überhaupt nicht Störung liebte, so am wenigsten beim Essen, verwandelte sich in die äußerste Verwunderung. Ein Fremder! Fast hatte es den Anschein, als ob die Mutter dem Beispiel der Tochter folgen und entschlüpfen wollte, denn sie war ebenfalls noch „unfrisirt“, doch besann sie sich und blieb würdig sitzen im Bewußtsein ihrer tadellos „getollten“ Morgenhaube, während Waldemar, sich leicht verneigend, lächelnd und mit ausgestreckten Händen auf die beiden zutrat.

Die große Wiedersehens- und Erkennungsscene – er mußte freilich dreimal seinen Namen nennen, ehe man ihm glaubte – war vorüber und das Bürgermeisterpaar schien aufrichtig erfreut, in dem stattlichen Manne mit dem offenen und doch so sicher weltmännischen Benehmen ihren einstigen Pflege- und Sorgensohn zu begrüßen. Die Verzeihung für seinen eigenwilligen Schritt von damals war brieflich längst erbeten und bewilligt, und da Waldemar so klug (oder so nachlässig) gewesen war, das kleine, durch Erziehungs-, Lehr- und Pflegegelder zusammengeschmolzene Kapital auch nach seiner Mündigwerdung – vorher hätte er es nie herausbekommen – in der Verwaltung seines Vormunds zu belassen, so fiel damit die einstige Befürchtung, er könne als ein Bettler wiederkommen, in nichts zusammen. Sein gutes Aussehen, seine „noble“ Kleidung – er hatte sich zu dem Besuche „fein“ gemacht – die Unterbrechung des gewohnten Einerlei, noch dazu an einem so langweilig trüben Regentage, that das Uebrige: kurz! er hatte einen über Erwarten freundlichen Empfang.

„Was wird Elsbeth sagen! Wo ist Elsbeth?“ Sie hatte doch noch eben hier gesessen! Man rief, man suchte. Endlich kam sie. Und mit ihr kam das Licht, die Sonne, ein ganzer Frühlingshimmel in die düstere Stube. Selbst der Vater machte große Augen, so intensiv leuchtete das wundervolle Blond der Locken, die im Nacken leicht zurückgebunden waren, über dem zartblauen Festgewand der Tochter. Er schüttelte den Kopf und schüttelte ihn auch dann noch fort, als ihm die kluge Bürgermeisterin zuflüsterte: „Du weißt doch, welchen Mittagsgast wir noch erwarten.“

Für Waldemar bedurfte es keiner Erklärung. Er war aufgesprungen. Mit der naiven Bewunderung des Naturmenschen, der er geblieben, und mit der Begeisterung des echten Künstlers, welcher er geworden war, trat er auf sie zu, indem er sich fast ehrfurchtsvoll vor ihr verneigte. Sie aber gab ihm erst die eitle, dann auch noch die andere Hand mit einem Lächeln, das ihn um seinen Rest von Fassung brachte.

„Elsbeth! Sie sind ja noch viel schöner, als –“

„Als auf Ihrem Bilde,“ hatte er sagen wollen, da, seltsam! legte sie den Finger flüchtig an die Lippen und blinzelte unter den langen Wimpern so schalkhaft und doch wieder ängstlich bittend zu ihm auf, daß er erröthend wie ein Schulknabe verstummte. Im nächsten Augenblicke wandte sie sich mit einem Scherzworte an die Eltern, behauptend, daß sie Waldemar sogleich erkannt, und zwar an seiner alten Art des Kopfaufwerfens. Er aber wußte, wer das Bildchen in den väterlichen Brief geschmuggelt hatte. Glückselig lachte er in sich hinein. Erst später fiel ihm ein: O Eva! Eva!

Auch Hilde ward gerufen und ihm vorgestellt: als seine Nachfolgerin im Amt, als Mündel. Als armes, setzte Waldemar für sich hinzu, denn trotz seiner Aufregung entging ihm nicht, in welcher mehr dienenden als töchterlichen Stellung das hübsche Mädchen sich im Haus bewegte – anmuthig genug, wie er sich sagte, in ihrem schlichten grauen Hauskleid mit der vorgesteckten blüthenweißen Schürze! Sie war die Waise eines jung verstorbenen Arztes, dessen edler äußerer Erscheinung er sich noch wohl erinnerte und von dem er wußte, daß sein Bildungsgrad hoch über dem der hiesigen „Honoratiorenwelt“ gestanden hatte. Blitzartig glaubte er auch einen Zug von geistiger Aehnlichkeit in dem runden, blühenden Gesicht der Tochter zu erkennen, doch überwog der erste Eindruck des Sanften, Seelenvollen in den Augen. Wenn sie sich nur einmal wieder so voll und groß hätten öffnen wollen, wie im Momente jener ersten gegenseitigen Ueberraschung!

Warum er dieses so hartnäckig wünschte mitten in der Verzauberung, die von seiner holden Jugendliebe ausging? Ja, Elsbeth war eine wirkliche Schönheit geworden, die Aufsehen machen mußte und machen würde, selbst auf einem der berühmten Künstlerfeste in D. Immer entzückter hing sein Malerauge an dieser zu ihrer höchsten glücklichsten Entfaltung gelangten Menschenblume, und im Geiste zog er schon die Linien der tadellosen Kopfform, des Profils, des stolz geschweiften Nackens, der ganzen herrlichen Gestalt auf Leinwand. Am liebsten hätte er Schön-Elsbeth in den Arm genommen, um augenblicklich mit ihr zu entfliehen aus dieser ganz und gar unkünstlerischen Umgebung, diesem armseligen Philisterneste, diesem – da blickte er, aus seinem stürmischen Gedankengang aufschauend, in das zu einem höchst bedenklichen Fragezeichen verlängerte Gesicht der Hausfrau, auf das „Oho!“ der hochgezogenen Augenbrauen seines künftigen Herrn Schwiegervaters, und er begann „fein bürgerlich“ zu werben, das heißt, seine „Verhältnisse“ vor dem spießbürgerlichen Elternpaare klar zu legen.

Dazu bedurfte es, um nicht mit der Thür ins Haus zu fallen, einer „diplomatischen“ Einleitung. Was war natürlicher, als daß er, an eine Frage seines einstigen Vormundes anknüpfend, die Geschichte des verlorenen Sohnes vom Tage seines Fortgangs an erzählte? Er that es, zu des Bürgermeisters sichtlicher Erleichterung, in durchaus humoristischer Weise. Man saß hier so gemüthlich um den großen runden Familientisch; der Wein, der einstweilen statt des fetten Kalbes für ihn aufgetragen wurde, floß so goldhell in die blanken Gläser, und aus der Küche drang eine so vielverheißende Musik von dumpfem Klopfen, Mörserklirren, Pfannenschieben, daß man gewiß nicht gern an einen gewissen jungen Hungerleider erinnert worden wäre. So ging denn der ehemalige Freischüler der Akademie zu D. gleichsam im Eiertanzschritt über die fast unmenschlichen Entbehrungen seiner ersten Studienzeit hinüber, bis er nach einer kleinen Pause, während welcher er nachdenklich in sein volles Glas gesehen, mit einem unwillkürlich tiefen Athemzuge fortfuhr: „Von da an hab’ ich nie mehr Noth gelitten, – der Amerikaner ist noch jetzt mein bester Kunde.“

Der Bürgermeister lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schloß die Augen bis auf eine kleine Spalte – ein Zeichen, daß sein Geist „arbeitete“. Plötzlich fuhr er auf: „Man hat doch Auslagen für – rechnen wir einmal: für Leinwand, Pinsel. Farben –“

„Und Oel und Terpentin,“ bestätigte Waldemar, über dessen ernst gewordene Züge wieder ein belustigtes Lächeln flog.

„Weiter“ – der Bürgermeister zählte an den Fingern – „das Atelier, ein bloßer Bodenraum, nach der Beschreibung, kostet –“

Waldemar nannte eine Summe, auf die der Frager ganz entrüstet in die Höhe blickte. Doch sah er wohl, daß Waldemar nicht log. „Für das – vermiethete ich hier mein ganzes Haus. Und nun: was wird für so ein Bild gezahlt? Was zahlte damals der Herr Amerikaner?“

„Zweihundert Mark,“ sagte Waldemar erröthend. Er wollte etwas hinzusetzen, erläutern, unterließ es aber nach einem kleinen

[873]

Ein Tiroler Jäger. Von Franz v. Defregger.
„Aus Studienmappen deutscher Meister“, herausgegeben von Julius Lohmeyer, Verlag von C. T. Wiskott in Breslau.

[874] Seitenblick auf Elsbeth, die an ihrem goldenen Armband nestelte. „Welch dickes, häßliches, unkünstlerisches Armband!“ dachte er.

„Mit dem Rahmen?“

„Mit dem Rahmen.“

„Hm – und wie viel verkauft man jährlich solcher Bilder?“

Waldemar blieb ernst, so seltsam es auch um seine Augen und unter seinem dicken Barte zwinkerte und zuckte. „In einem Jahre mehr, im andern weniger, manchmal – gar keins,“ antwortete er leichthin, wobei er schalkhaft Elsbeths Augen suchte.

Aber sieh’! was war das? Statt des gehofften lächelnden Entgegenkommens dieser schönen Augen sah er sie einen Blick mit ihrer Mutter tauschen, der ihn stutzen machte, als ob er einen innerlichen Schlag bekommen hätte. So rasch sich auch die zarten Lider wieder senkten, er hatte genug gesehen, um mehr noch zu errathen. O Eva! Evastochter! quoll es in ihm auf. Zum erstenmale kam ihm der Gedanke, wie ähnlich sich die beiden Frauen sahen. Auch die Bürgermeisterin war in ihrer Jugend, wie man ihm oft erzählt, eine Schönheit ersten Ranges gewesen und – war eben die Frau Bürgermeisterin geworden. Ihr halbes Achselzucken schien zu sagen: Armer Schlucker! wird sich doch nicht etwa gar einbilden, daß – und das halbe Kopfschütteln der Tochter schien zu antworten – Was? blieb vor der Hand noch unentschieden, denn wie sein Blick im Fluge vergleichend zwischen den beiden Frauenköpfen hin und her ging, traf er unvermuthet auf den dritten und gerade in ein sammtbraunes Augenpaar hinein, das mit dem Ausdruck eines tiefgefühlten Mitleids auf ihm ruhte. Natürlich war es schon im nächsten Augenblick verschwunden. Fräulein Hilde hatte mehr zu thun, als hier zu stehen und einem zuzuhören, der seine Sache so verkehrt anfing; ihm aber blieb ein Nachglanz, wie von etwas Himmlischem, was er gesehen, eine Nachempfindung, wie von etwas Niegekanntem, Weichem, Warmem, das über ihn dahinstrich wie mit Mutterhänden – ja, so mußten Mutter- oder die Hände einer liebevollen Gattin wohlthun mitten in dem falschen Gaukelspiel des Lebens.

Fast schmerzhaft weckte ihn die Stimme des Bürgermeisters. „Hm“ – meinte er mit dem vergeblichen Versuch zu scherzen, „scheint mir denn doch eine etwas allzu ideale Existenz zu sein, die man sich statt des ehrenwerthen Handelsstandes da erwählt hat. Hängt in der Luft, hat keinen festen Boden. Wie anders, komm’ ich zu dem jungen Dittmann drüben, der schlägt die Bücher auf: hier Soll, hier Haben, hier die jährliche Bilanz! Alles klipp und klar! Beiläufig: ist der reichste Mann jetzt in der Gegend.“

„Und ein ganz hübscher, stattlicher dazu, wie ich gesehen,“ wandte sich Waldemar an seine schöne Nachbarin, die vor dem eigentümlich festen Blick erröthete.

„Bah, Karlchen!“ lachte sie und schwieg erschrocken, da es in demselben Augenblicke klopfte.

„Herein!“

„Ei, der Herr Nachbar!“ rief der Bürgermeister, und es war hübsch zu sehen, wie elastisch der kleine runde Herr aus dem massiven Sorgenstuhl aufsprang, mit welchem er bis jetzt verwachsen schien. Auch die Hausfrau ging dem neuen Ankömmling entgegen. Nur Elsbeth blieb in sichtlicher Unschlüssigkeit noch sitzen. Karl Dittmanns Augen überflogen unruhig die Scene. „Wenn ich störe,“ sagte er wie zögernd.

„Das wäre!“ polterte der Bürgermeister – „ein geladener Gast!“

Waldemar trat vor. „Wenn einer gehen müßte, wär’s der ungeladene; doch hoffe ich, daß wir uns vertragen werden,“ scherzte er, indem er sich dem Sohne seines ehemaligen Prinzipals in aller Form vorstellte und ihm aufs herzlichste die Hände schüttelte. Es lag etwas in seiner ganzen Art und Weise, was den jungen Kaufherrn ungemein beruhigte, während Elsbeth mit seltsamen Empfindungen auf den Mann sah, der sich so leicht – zu leicht, sagte sie sich zornig – in die veränderte Situation hinein fand. Oder deckte dieser Schein von Gleichmuth nur die innere Qual der Eifersucht?

(Schluß folgt.)


Aus dem alten Burgtheater.
Erinnerungen von Rudolf v. Gottschall.

Das Theater am Michaelerplatze in Wien hat seine Pforten für immer geschlossen; gewiß werden eingehende Memoiren dieses ehrwürdigen Theaters geschrieben werden, für eine längere Spanne seiner Geschichte hat ja schon Heinrich Laube vorgearbeitet. Wiener Berichterstatter, welche die Chronik desselben von Tag zu Tag miterlebten, werden genauere Aufzeichnungen daraus veröffentlichen können als der Fremde, der nur hin und wieder und zwar nach längeren Zwischenräumen die Burg besuchte; aber ganz werthlos werden auch die flüchtigen Blätter der Erinnerung nicht sein, die er ihr widmet, denn der Fremde ist eindrucksfähiger für alles, was sich gewandelt hat im Laufe der Zeit.

Als ich das erste Mal im Fahre 1863 nach Wien kam, hatte Laube bereits lange sein vielfach gefeiertes und vielfach angegriffenes Regiment geführt; ich kam zunächst in einige Kreise, in denen man gerade nicht für ihn schwärmte. Da war die geistvolle Frau Rettich, die noch der älteren Wiener Schule angehörte. Ihr Hausfreund war Friedrich Halm, der Dichter der „Griseldis“, der ja nach Laubes Abgang Intendant des Hoftheaters wurde. Halm gehörte zu den Mißvergnügten; der hochgewachsene Herr war weder mit Laube noch mit dem Publikum besonders zufrieden. Der Thespiskarren schien ihm aus dem Reiche der Dichtung allzusehr hinausgeschoben in das Geleis des alltäglichen Lebens. Halm, den ich auch öfters auf der Universitätsbibliothek sprach, deren Vorstand er war, sah übrigens durchaus nicht wie ein idealistischer Dichter aus; er hatte etwas Verdrossenes in seinem faltenreichen Gesicht und seine Augen verschwanden fast unter den in die Höhe gezogenen Falten. Bei den Abendthees der Frau Rettich thaute er etwas auf; doch seine Urtheile über den Machthaber des Burgtheaters hatten immer einen diplomatischen Rückhalt.

Ebenso versteckten Widerspruch gegen Laubes Bühnenleitung fand ich bei Friedrich Hebbel, zu dem ich mich durch die Wolke der Vergötterung, die ihn umschwebte, hindurchzukämpfen suchte; es war das theils Selbstvergötterung, theils die Vergötterung einer fanatischen Jüngerschaft, die alles, was er sprach, bedeutend fand. Und er hat ja des Bedeutenden genug gesprochen und gedichtet, aber beim persönlichen Verkehr störte doch etwas der Gedanke, alles, was er sagte, bewundern zu müssen; man wurde gleichsam darauf hin angesehen, bis zu welcher Höhe der Bewunderung man sich zu erheben vermochte. Es wurde einem etwas eisig dabei zu Muthe, wie beim Monolog der auf ihrer Nordlandsinsel sagenhaft eingefrorenen Brunhilde. Hebbel war gewohnt, als Orakel zu „Posen“, sich als Meister unter lauter Jüngern zu bewegen. So gab es keine Unterhaltung mit ihm, sondern man hatte nur das Recht, ihm zuzuhören. Er war von Gestalt kein Riese, immerhin aber ziemlich groß und kräftig und er hatte etwas von nordischer Reckenhaftigkeit, etwas Kühles, Festes, ja Starres und dabei Genieblitze wie Gewitter im Winter.

Es war nicht lange nachher, daß ich in den Kreis der begeisterten Anhänger Laubes gerieth, zu denen in erster Linie die von ihm engagirten Darsteller der Burg gehörten. Anlaß dazu gab die Aufführung meines Lustspiels „Pitt und Fox“ am Burgtheater, zu welcher sich Laube erst entschloß, als er in Sonnenthal einen für den Fox geeigneten Darsteller gefunden zu haben glaubte. Das Stück war schon zehn Jahre vorher über die meisten deutschen Bühnen gegangen. Nun trat ich in das Laubesche Atelier. Zunächst die Leseprobe. Da saß der Direktor in der Mitte der Seinen, die er entdeckt und gefördert hatte; er war nicht bloß Direktor, er war der Hahn im Korbe. Jede seiner Aeußerungen fand Beachtung und Beifall; es war ein volles Behagen über diesen Kreis ausgebreitet. Laube hatte zwei kleine lustige Auftritte zu dem Stück hinzugedichtet; er las sie selbst vor und jeder Witz wurde mit stürmischem Gelächter belohnt. Dann folgten die Theaterproben. Da war er ganz in seinem Element; er kümmerte sich wenig um das Drum und Dran der Bühne, der Dialog war ihm alles; er sprach einzelne Stellen vor mit seinem nicht sehr bestechenden, barschen Organ; aber die Schauspieler wußten sogleich, wie sie gesprochen werden müssen. Er hatte auch für das Spiel allerlei gute Einfälle, drollige Nuancen. Bei den Proben auf der Bühne war er in seinem Element [875] und unantastbar sein Princip, ein Theater müsse nicht vom Bureau aus, sondern von der Bühne aus geleitet werden; da sah er, wie die Stücke Leben gewannen und wo er nachhelfen mußte für den Erfolg; da sah er, wie die darstellenden Kräfte sich bewährten, wo ihre Achillesferse war, für welche Rollen sie paßten nach ihrer ganzen Persönlichkeit – und da griff er durch trotz Laune und Protest.

Ich fand unter den Mitgliedern des Burgtheaters manche alte Bekannte: Frau Gabillon, die ich von der Alsterstadt her kannte, wo sie als Fräulein Zerline Würzburg zusammen mit Marie Seebach bei Frau Glasbrenner-Perroni Stunden in der Vortragskunst hatte und neben jenem Mustergretchen auf der Bühne durch pikanten Geist und einen leidenschaftlichen Zug interessirte; Sonnenthal, den ich zuerst auf der Königsberger Bühne gesehen, als dort Arthur Woltersdorff noch sein Scepter führte; er spielte damals den König in meinen „Diplomaten“ mit Grazie und Feinheit; schon war er auf dem Wege nach der Donau, wo er nach anfänglichen Schwankungen des Erfolges bald ein Liebling des Publikums werden sollte. Er half durch Darstellung des „Fox“ an der Burg diesem Lustspiel die dauernde Stätte im Repertoire des Wiener Hoftheaters sichern; es war eine Glanzleistung in Bezug aus Jovialität, und dabei bewahrte er eine staatsmännische Haltung, welche dem Charakter das nöthige geschichtliche Relief gab. Viele seiner Meisterleistungen auf dem Gebiete des Konversationsstückes habe ich später bewundert. Eine seiner zündendsten Leistungen ist der ältere Risler in dem Daudetschen Drama; die Umwandlung des ruhigen Mannes in den von stürmischer Leidenschaftlichkeit Ergriffenen ist von wahrhaft überwältigender Wirkung. Im Verkehr ist Sonnenthal durchaus liebenswürdig; ich traf ihn beim Grafen Wimpfen und in anderen geselligen Kreisen, wo er überall den Rang seiner Kunst einnahm. Dem Künstlerkreise der Burg gehörten als hervorragende Mitglieder auch der überaus strebsame, feinsinnige Lewinsky an und August Förster, Laubes rechte Hand, ein Mann von großer dramaturgischer Einsicht und tiefer litterarischer Bildung, der jetzt als Direktor der Burg dieselbe Stellung einnimmt, wie Laube sie bekleidet hatte.

Doch noch eine Säule des Burgtheaters muß ich erwähnen. In Gemeinschaft mit dem Dichter des „Schutt“, dem Grafen Auersperg, suchte ich den alten Grillparzer auf, dem merkwürdigerweise der jungdeutsche Laube die allergrößten Sympathien entgegenbrachte und den er durch Aufführung seiner Stücke dem neuen Wien wieder näher brachte, wie er denn später vorzugsweise das große Grillparzerfest inscenirte, an welchem ganz Wien sich betheiligte. Der österreichische Klassiker, von Laube mit Schiller und Goethe in eine Linie gestellt, wohnte in einem ziemlich hohen Stockwerke, und wenn man ihn dort hinter seinem Pulte sitzen sah, machte er anfangs den Eindruck eines Subalternbeamten. Er hörte nicht gut und besuchte deshalb das Theater nicht mehr; er ließ sich über dasselbe nur berichten von seinen Besuchern oder wenn er im benachbarten Matschakerhof sein bescheidenes Mittagessen einnahm. Jener erste Eindruck verschwand indeß bald hinter dem geistig Bedeutenden des alten Herrn, der keineswegs in spanischer Lyrik aufging, sondern auch recht schlagende und beißende Bemerkungen zu machen wußte, wie ja auch seine Aufzeichnungen beweisen.

Das waren die Eindrücke, die ich zur Zeit der Laubeschen Direktion von diesem Theater erhielt. Inzwischen waren Jahre ins Land gegangen; die Direktion hatte unter Halms Intendanz der Regisseur Wolff geführt, ein gewandter und gebildeter Mann, aber gegenüber den Größen des Burgtheaters ohne den Nimbus einer überlegenen Bedeutung. Dann aber war Franz Dingelstedt, der sich als Direktor der Oper zuerst in Wien eingeführt, an die Burg übergesiedelt, in einen seinem Talent und seinen früheren Leistungen entsprechenden Wirkungskreis. Als Operndirektor beschränkte er sich auf glänzende Arrangements und war sehr entrüstet, wenn sich ein Mitglied in musikalischen Angelegenheiten an ihn wendete; er setzte bei seinen Mitgliedern so viel Bekanntschaft mit den Verhältnissen voraus, daß sie wissen mußten, er verstehe nichts davon, und wies sie an den Kapellmeister. An der Burg aber war dies natürlich anders; doch der Ton seiner Bühnenleitung war wesentlich von dem der Laubeschen verschieden.

Ich war zweimal in Wien, während Dingelstedt das Scepter führte; er war in jeder Hinsicht das Gegenbild von Laube. Diese hohe schlanke Gestalt, dies geistreiche Gesicht mit dem sarkastischen Zuge, diese weltmännische Gewandtheit – wie stachen sie ab gegen die schlichte Derbheit des kleinen Laube, seinen halbasiatischen Gesichtsausdruck, sein schroffes, kurzangebundenes Wesen! Dingelstedt kam von der lyrischen Dichtung her und hatte daher Sinn für die Lyrik der Bühne, die Pracht der Scene. Das war für Laube etwas sehr Gleichgültiges; die Lyrik lag ihm fern; andere Verse als in seinen Dramen hat er nie gesündigt und diese waren in der That holprig genug. Bei den Proben, die ich mit ansah, war Dingelstedt nicht wie Laube auf der Bühne, sondern im Parkett oder in einer Prosceniumsloge; von dort tönte dann gelegentlich sein sonores Organ zur Bühne hinauf, galt es auch nur einen Regisseur zur Ordnung zu rufen, weil die Teppiche in der Farbe nicht zu den Möbeln stimmten. Bisweilen befleißigte er sich auch einer etwas auffälligen Unaufmerksamkeit, wenn die Dinge, die oben vorgingen, ihn nicht sonderlich interessirten, oder er machte irgend eine spöttische Bemerkung, zum Beispiel über die leisen kölnischen Dialektanklänge seiner großen Tragödin, vor der er übrigens den größten Respekt hatte und die er schon grüßte, wenn er sie nur von fern um die Straßenecke biegen sah.

In Weimar hatte ich Dingelstedt seine Historien in Scene setzen sehen. Da war er ein geharnischter Regisseur von Kopf zu Fuß und stand thätig und eifrig unter den Seinen auf der Bühne. Das neue Burgtheater … das hätte sein Regietalent begeistert. Das alte bot ihm nicht Raum genug für seine großen theatralischen Anschauungen; es erging ihm damit fast wie in den engen Korridoren des Zuschauerraums, er stieß an die Decke derselben, wenn er den Cylinder nicht abnahm. Seine langen, schon von Heine besungenen Fortschrittsbeine trugen ihn zu immer höheren gesellschaftlichen Zielen, und doch blieb sein Hauptwunsch, unter seiner Intendanz Hofburg und Hofoper zu vereinigen, unerfüllt. Er war ein Mann von Geist und ein echter Dichter; doch trat seine Ruhmesliebe hinter seinem Ehrgeiz zurück. Der Schalk und der Pessimist lauerten bei ihm stets im Hintergrunde, und bisweilen war er weltschmerzlich und bühnenschmerzlich genug gestimmt, daß ihm die ganze Bühne wie einem Hamlet die Welt als ein kahles Vorgebirge erschien. Nach einem schönen Erfolg konnte er indeß auch warm werden; ich begleitete ihn bisweilen nach dem Schluß der Stücke auf die Bühne, wo er die Träger des Dramas ans Herz schloß und den Trägerinnen den direktorialen Kuß des Dankes ertheilte.

Seitdem das Burgtheater unter Leitung des feinfühligen liebenswürdigen Dichters Wilbrandt stand, hatte ich dasselbe nicht wiedergesehen. Jedenfalls trug es wiederum eine andere Physiognomie zur Schau; es war ein Asyl der Weltlitteratur geworden und die griechische Dichtung bürgerte sich dort ein neben der spanischen.

Nur flüchtig konnte ich einige Schatten aus der jetzt geschlossenen Gruft des alten Burgtheaters hier vorüberziehen lassen; mögen andere im Zusammenhange von dieser Bühne erzählen, die ja in der deutschen Theatergeschichte eine so hervorragende Stellung einnimmt.


Blätter und Blüthen.

Alexanders des Großen Tod. (Mit Illustration S. 864 und 865.) Unter den großen Figuren der Weltgeschichte steht wie ein hellleuchtendes Sternbild der junge Heldenkönig, der in seinem kurzen Leben die höchsten menschlichen Güter genießen, die höchsten Leistungen vollbringen und auf dem Gipfel von Glanz und Glück scheiden durfte – wahrlich ein beneidenswerthes Los! Die Augen auch der heutigen Welt noch haften bewundernd auf dem märchenhaften Triumphzug, den er als Eroberer und Civilisator nach dem unbekannten Osten unternahm, einem Zug, den in seiner Gesammtausdehnung bis heute kein Einzelner wiederholt hat, der aber für jene Zeit eine der erstaunlichsten Leistungen war, ganz abgesehen davon, daß sich in der Person dessen, der Asien als Bahnbrecher griechischer Kultur durcheilte, die ganze damalige Weltgeschichte konzentrirte. Denn die Sonne Athens war auf dem Schlachtfeld von Chäroneia blutig untergegangen, und die Griechen durften sich noch sehr glücklich schätzen, daß der siegreiche Makedonierjüngling kein höheres Ziel kannte, als die geistige Erbschaft ihrer Heroen anzutreten, und keine größere Auszeichnung, als der Erste der Athener genannt zu werden. Im Gedanken an sie schlug er seine Schlachten, ertrug er Uebermenschliches in den baktrischen Wildnissen und der furchtbaren gedrosischen Steinwüste und kehrte endlich 323, nach zehnjähriger Abwesenheit mit seinen Heeressäulen aus der Dunkelheit wieder hervortauchend, nach dem unterworfenen Persien zurück als Herrscher der ganzen bekannten Erde, zu welcher er die größere Hälfte selbst hinzugefügt hatte. In Ekbatana feierte man dem nunmehr göttlich Verehrten glänzende Feste, Deputationen der Griechen kamen, ihm goldene [876] Lorbeerkränze zu bringen – da traf ihn als Mahnung des Schicksals der Tod seines Freundes Hephästion, der ihm vorausging wie Patroklos dem Achilles, und ganz wie Achilles warf sich Alexander laut stöhnend und verzweiflungsvoll über den Leichnam. Ihn zu bestatten, wie noch kein Fürst bestattet worden war, brach er nach Babylon auf, trüben Muthes, denn seine eigene Seele war voll Todesahnung, und als seine Seher ihn warnten, „gegen Westen“ (die Unterwelt) schauend, in die Stadt einzuziehen, suchte er, den Euphrat überschreitend, einen östlichen Eingang zu gewinnen, stieß aber auf ausgedehnte Sümpfe, so daß er unwillig den Vorsatz aufgab, und, dennoch nach Westen sehend, in Nebukadnezars Stadt einritt, deren Burgen und Thürme damals theilweise noch wohlerhalten standen.

Die brennende Qual um Hephästion, das Gefühl der furchtbaren Oede wich nicht mehr von dem Könige, auch nachdem er ihm einen goldüberdeckten Scheiterhaufen, ein architektonisches, statuengeschmücktes Prachtgebäude von ungeheuerem Werth, errichtet und 10 000 Stiere bei der Verbrennung geopfert hatte. Mit dem Freund war der beste Theil seiner eigenen Kraft vernichtet; keine der Frauen, die er sich zueignete, hat je seiner Seele nah gestanden, nicht die Dariustochter Statira, nicht Roxane, das wunderschöne baktrische Fürstenkind, das er auf seinem Zuge aus dem eroberten Felsennest ihres Vaters geholt. Von ihr aber hoffte er, in Bälde den Sohn zu erhalten, den Erben eines Weltreiches, das diejenigen der Pharaonen, Perser und Assyrerkönige weit übertreffen sollte. Riesenhafte Pläne wüchsen in seinem Geist: er wollte neue, kolossale Flotten bauen, Afrika damit umschiffen, Karthago erobern, ganze Völker von Europa nach Asien versetzen, und umgekehrt, keine Schranke mehr sollte ihm gebieten, den neuerdings die Götter selbst als einen der Ihrigen anerkannt …

Plötzlich, Anfang Juni 323, befielen ihn Fieberschauer. Er achtete ihrer nicht und saß noch mit seinen Generalen eine Nacht durch beim Wein. Am andern Morgen brach das Fieber aus. Zum Schutz vor dem glühenden Sonnenbrand ließ sich Alexander in die kühlen Terrassengrotten der „hängenden Gärten“ tragen; dort besorgte er von seinem Lager aus noch alle Regierungsgeschäfte, badete und opferte jeden Morgen und plauderte tagsüber mit seinen Freunden. Aber jeden Abend kehrten die Schauer wieder und setzten bald auch des Tags nicht mehr aus. Am siebenten Tag ließ sich der König in Nebukadnezars Burg zurückbringen, und als am achten früh seine Generale bei ihm eintraten, erkannte er sie wohl, konnte aber nicht mehr sprechen. Nun durchflog die Schreckenskunde: Alexander stirbt! mit Windeseile die Stadt, und das Heer, die Soldaten eilten schmerzerfüllt herbei, man konnte ihrem Andrang nicht gebieten und mußte ihnen das Sterbegemach öffnen. So zogen sie denn, Offiziere und Krieger, Mann für Mann, schweigend in tiefer Trauer an dem Todeslager ihres Königs vorbei. Er sah sie an und winkte einigen schwach mit der Hand; die ergrauten Veteranen schluchzten in fassungslosem Jammer bei seinem Anblick.

Diesen Vorgang hat Piloty zu der ergreifenden Darstellung gewählt, die zugleich die letzte Arbeit seines eigenen Lebens war und nicht zu völliger Vollendung gedieh. Aber wenn auch nur skizzirt, hebt sich doch des sterbenden Königs Haupt machtvoll heraus und die schon starr werdenden Augen lassen noch die Gewalt seines Blickes ahnen. Am Fußende des Bettes steht Roxane in feingefälteltem Byssosgewand mit traurig gesenktem Haupte, sie hält Alexanders Linke, während seine Rechte stürmisch umfaßt und geküßt wird von den Kriegern, die, das Stillegebot des chaldäischen Arztes nicht achtend, von ihrem Schmerz hingerissen zu seinen Füßen knieen. Andere drängen nach, herrliche Griechenjünglinge, wildaussehende Asiaten, sie haben Lorbeerkränze mitgebracht und werden sie zu Füßen des Götterbildes niederlegen, das die erflehte Heilung so wenig zu bewirken vermag wie der Kühltrank, welchen junge nubische Sklaven in der eisumgebenen Amphora bereiten. Die Schatten des Todes schweben über dem Haupte, das sonst siegreich voranleuchtend im kriegerischen Schmuck sein Heer von Triumph zu Triumph führte, das Heldengedicht von Alexanders Leben findet hier den Abschluß, welchen die Poesie für ihre glänzendsten Lieblinge fordert: auf schönster Höhe schnell zu enden, ohne den Rückschlag menschlicher Schicksale zu erleben.

Daß seine Figur mit ihrer leidenschaftlich glühenden Seele und fast übermenschlichen Thatkraft einen Künstler wie Piloty mächtig anzog, ist sehr begreiflich. Er hat sich mit dem gewaltigen Stoff des Bildes zwanzig Jahre lang getragen und ihn in immer wieder neuen Entwürfen geformt, bis er endlich die gegenwärtige Gestalt gewann. An ihre Ausführung hat der bereits Schwerkranke seine letzte Kraft gesetzt, und wo ihm der Pinsel entsank, da endete zugleich sein eigenes Leben. Das solchergestalt doppelt bedeutungsvolle Bild befindet sich heute in der Berliner Nationalgalerie, zu deren edelsten Zierden es gehört. R. A.     

Johanna Stegen, die Heldin von Lüneburg. (Mit Illustration S. 869.) Der zweite April des Jahres 1813 brachte einen wichtigen Sieg der Verbündeten über das Kriegsheer des französischen Eroberers in der Schlacht bei Lüneburg, an welchem ein heldenmüthiges Mädchen einen vollwichtigen Antheil hatte: Johanna Stegen, das Mädchen von Lüneburg. Sie reiht sich jenen tapferen Frauen an, die in edler Begeisterung zur Waffe griffen, um gegen den Erbfeind zu Felde zu ziehen, oder denen sonst kein Opfer für die Sache des Vaterlandes zu hoch war. Eleonore Prochaska und Anna Lühring dienten in der Lützowschen Freischar als Jäger Renz und Kruse, Magdalena Eckert pflegte drei Jahre lang in Düsseldorf unermüdlich Freund und Feind, Ferdinande von Schmettau legte ihr prachtvolles Haar auf den Opferaltar des Vaterlandes – nicht minder Rühmliches vollbrachte Johanna Stegen, und wie die Namen der erstgenannten Frauen ist auch der ihre mit der Geschichte der Befreiungskriege unlöslich und ehrenvoll verknüpft. Sie hielt es in dem sicheren Versteck, in welchen sich die Ihren geflüchtet hatten, dem Keller eines benachbarten Kaufmanns, nicht aus, als die Sturmglocken läuteten und die Schlacht tobte. Sie eilt hinaus, findet Fässer, mit Patronen gefüllt bis oben hin, und trägt diese, so viel ihrer die Schürze nur zu fassen vermag, den mit gefälltem Bajonett gegen die Franzosen anstürmenden Preußen zu, die alle Munition verschossen hatten und mit Jubel das neue „Kraut und Loth“ begrüßten. Johanna Stegen achtet nicht auf die Kugeln, die sie umpfeifen; furchtlos und unermüdlich eilt sie immer wieder zu ihrem Funde und mit gefüllter Schürze kehrt sie zurück, bis der Sieg entschieden ist, entschieden zu Gunsten der todesmuthigen Preußen. Major von Borcke, der Führer des von Johanna Stegen mit Patronen versorgten Bataillons, erhielt nach der Schlacht einen Ehrensäbel und das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, so entscheidend war das Eingreifen der kaum 150 Köpfe zählenden Braven und – der unerschrockenen, opfermuthigen Heldin gewesen, welche ihnen das todbringende Blei durch Pulverdampf und Schlachtengraus begeistert und anfeuernd zugetragen. * *     

Aus Studienmappen deutscher Meister. (Mit Illustration S. 873.) Die „Gartenlaube“ hat es von jeher als eine dankbare Aufgabe angesehen, ihre Leser mit den großen Kunstschöpfungen der hervorragenden deutschen Meister durch Holzschnittwiedergaben bekannt zu machen, und in den verschiedenen Jahrgängen findet sich ein wahrer Schatz von Nachbildungen der besten Werke deutscher Malerei. Aber ihre Aufgabe war es zugleich, allen Meistern in gleicher Weise gerecht zu werden, sie konnte deshalb nicht bei einem derselben länger verweilen, konnte nicht eine größere Reihe seiner Schöpfungen bringen, um an ihnen gemeinsam seine Eigenart zu veranschaulichen. Diese Aufgabe ist jetzt von anderer Seite aufgenommen, welche sie durch Zusammenstellung sorgfältig ausgeführter Blätter aus den Studienmappen der Künstler zu lösen sucht und nach den ersten Proben auch in dankenswerther Weise zu lösen verspricht. „Aus Studienmappen deutscher Meister“, so lautet der Titel zweier Mappen in großem Format (Breslau, Verlag von C. T. Wiskott), welche je 10 Blätter von Ludwig Knaus und Franz v. Defregger nebst kurzen textlichen Einleitungen von Julius Lohmeyer enthalten und in der That als eine treffliche künstlerische Charakteristik in knappem Rahmen gelten können. Die zarten, mit vollendeter Sicherheit ausgeführten Bleistiftskizzen von Ludwig Knaus athmen den ganzen Zauber lebensvoller Anmuth dieses Meisters, und Franz v. Defreggers klare und markige Oelstudien fesseln ebenso durch die treue, schlichte Wahrheit wie durch den hohen malerischen Reiz, der allen seinen Bildern eigen ist. Wir bieten unseren Lesern eine dieser Studien Defreggers, einen alten wettergebräunten Tiroler Jäger (Leo Dorn aus Hindelang) in frappanter Naturwahrheit wiedergebend, in gelungenem Holzschnitt und begrüßen zugleich die Sammelmappen als vorzügliche Bereicherungen der Kunstschätze für das deutsche Haus, welches es auch dankbar willkommen heißen wird, daß Mappen weiterer Meister wie Menzel, Geselschap, Meyerheim, Werner, Grützner, Kaulbach etc. den bereits vorliegenden folgen sollen. * *     

Unser Bild Kaiser Friedrichs III. Die Kunstbeilage „Kaiser Wilhelm I.“ zu Nr. 11 der „Gartenlaube“ des laufenden Jahrgangs hat in vielen Abonnenten den Wunsch erregt, ein ähnliches Bildniß auch von Kaiser Friedrich III. als Gegenstück zu besitzen. Heute kommen wir diesem in zahlreichen Briefen ausgesprochenen Wunsche nach und bieten zu dem Porträt Wilhelms I. ein solches Friedrichs III., das nach einer vorzüglichen Photographie von Reichard und Lindner in Berlin gezeichnet ist und die allbekannten Züge des edeln Todten treu wiedergiebt. Das Bild ist ein Pendant zu dem Wilhelms I. und bildet mit diesem einen schönen und würdigen Zimmerschmuck.


manicula 0 Hierzu die Kunstbeilage „Kaiser Friedrich III.“

Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen Reichspostamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).

manicula 0 Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.

Die Verlagshandlung.     

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.