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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[669]

No. 41.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Lisa’s Tagebuch.

Erzählung von Klara Biller.
(Fortsetzung.)


Den 15.  

Wer ist Herr Heinrich?“ fragte ich Tante heut’ Morgen.

„Ich weiß nicht, von wem Du sprichst.“

„Ich meine Herrn Heinrich von Onkels Bild …“

„Ach – den Sterngucker. Da mußt Du Onkel fragen, der hält auf ihn.“

Tante also nicht? Ich schwieg, obgleich ich gern etwas über Herrn Heinrich erfahren hätte.

Es ist ein langer Brief von Cäcilie aus Neapel gekommen, und Tante ist in sehr guter Laune. Sie las ihn mir vor: „Daraus kannst Du sehen, daß der gebildete Mensch mit Nutzen reist.“

Ein Stich! Sie findet meine Erziehung etwas vernachlässigt. Ach – ich weiß, Cäcilie ist sehr gebildet! Sie kennt alle Baustile und das ist so bequem, wenn man in alten Schlössern herumspaziert; sie ist auf Thürme geklettert und weiß, wie viele Stufen jeder hoch ist. Und sie schildert ihrem Papa auch die „Meisterwerke aller Malerschulen“, die sie in den Museen betrachtete. Wie viel Zeit muß sie übrig haben! Wenn Natti und Dimitri einmal zusammen reisen, da wird’s nicht so lange Briefe geben …

„Präge Dir das ein, mein Kind,“ sagt Tante am Schluß, „damit Du auch einmal so gut beschreiben lernst.“

„Wenn ich mich verheirathe, werde ich keine Hochzeitsreise machen.“

„Warum nicht?“

„Weil ich mich schon schrecklich darauf freue, mir eine Wohnung einzurichten, wie Natti, und weil ich es viel hübscher finde, hinein zu ziehen, wenn sie fertig ist, statt auszureißen, als hätte man seine Ausstattung gestohlen. Warum macht man eigentlich Hochzeitsreisen?“

„Weil – weil man sich auf die wichtigen Pflichten vorzubereiten hat, die man bei Gründung eines Hausstandes übernimmt.“

„Und dazu muß man auf Thürme klettern und alte Bilder ansehen, wie Cäcilie?“

Aber Tante, die immer ärgerlich ist, wenn man nicht von Allem entzückt ist, was Cäcilie thut, ging nach der Küche, als habe sie mich nicht gehört.


Den 16. Vormittags. 

„Warum nennt Tante Herrn Heinrich Sterngucker?“ fragte ich Onkel, während er seine Palette aufsetzte.

„Sterngucker? – ach so! Er ist Astronom, wenn Dir das lieber ist.“

„Mir ist das doch ganz gleichgültig, ich wollte nur wissen …“

„So – jetzt wollen wir sehen, ob Du Deine Sache so gut machst wie vorgestern …“ er war schon wieder beim Malen, und da war’s mit der Unterhaltung vorbei. Zwei Stunden gesessen. Sehr steifen Hals – Ameisen in den Füßen. Dann mit Göschen’s Kindern – sie wohnen nebenan – Dritten abschlagen und Wilder Mann im Garten gespielt. Alles wieder in Ordnung. Großen Appetit jetzt; wollte, wir äßen bald. Ein Wagen fährt vor – es klingelt. O weh, gewiß Besuch! Und heut’ giebt’s Citronenauflauf, der zusammenfällt, wenn er steht. Da wird Fanni schön schimpfen …


General Graf August v. Werder.

[670] 10 Uhr Abends. 
Besuch, wie ich dachte. Tante ließ mich herunterrufen, Frau von Gebsattel und ihr Stiefsohn, ein Officier. Onkel nennt sie Coeurdame, ich weiß nicht weßhalb.

Ich merkte, Tante war mit meinem Kompliment nicht zufrieden. Der Officier sprang auf, als ich eintrat. Tante sagte: „Keine Umstände, Herr von Gebsattel, meine Nichte ist noch nicht kourfähig.“

Aber er blieb stehen, bis ich mich dann auch gesetzt hatte. Es gefiel mir von ihm.

Frau von Gebsattel spricht leise und stößt beim Sprechen etwas an. Sie erinnert mich an eine Puppe, die Tante Katia uns einmal von Paris mitbrachte und die Mama in den Glasschrank setzte, weil sie zu schön zum Spielen sei. Ihre Kleider zeichnet ein Künstler apart für sie. Sie hat gekräuseltes, sehr feines blondes Haar und helle Augenbrauen, hellblaue Augen und einen Hals dünn und lang wie ein Licht.

„Ich hoffe“ – sagte sie zu mir – „daß Sie Ihre Tante nächsten Sonnabend zu unserm café dansant begleiten werden?“

„Lisa ist noch nicht ausgeführt und ihre Garderobe nicht ballmäßig.“

„Du vergißt wohl mein weißes Kleid, Tante,“ rief ich schnell (ich hatte solche Lust, auf eine Tanzgesellschaft mit wirklichen Herren mitgenommen zu werden!). „Du hast gesagt: darin könnte ich einen Ball mitmachen!“

Die Coeurdame lächelte: „Sie können es ja gar nicht übers Herz bringen, Ihre Nichte zu Hause zu lassen, meine liebe Frau Professor. Ich erwarte sie ganz bestimmt.“

„Wollen sehen, was Onkel dazu meint.“

Ich wäre beinahe gesprungen! Und in Fennern, wo es immer hieß: „das Kind!“

„Gnädig’ Fräulein, darf ich um den ersten Walzer bitten? Ich wäre unglücklich, wenn ich nicht … auf Ehre!“ sagte der Lieutenant.

„Mit dem größten Vergnügen!“ rief ich.

Er war ein wenig komisch, sobald er sich nach mir wandte, schob er schnell ein viereckiges kleines Glas ins Auge. Er fragte immer fort:

„Haben gnädig’ Fräulein eine gute Ueberfahrt gehabt?“

„Ja.“

„Haben gnädig’ Fräulein schon unser Theater besucht?“

„Nein.“

„Gefallen sich gnädig’ Fräulein in Dresden?“

„Ja.“

„Gnädig’ Fräulein waren doch sicher gestern in der Blumenausstellung?“

„Nein.“

Tante hatte wieder Alles gehört. Ich weiß nicht, wie sie es anstellt, daß sie immer sieht und hört, was ich thue, auch wenn sie mit etwas Anderem beschäftigt scheint.

„Du bist noch ein rechter Stockfisch, Elisabeth,“ sagte sie; „der arme junge Mann hat sich so viel Mühe gegeben, Dich zu unterhalten, aber es war ja nichts aus Dir herauszubringen!“

Sonntag, den 16. 
Briefe aus Fennern. Natti schreibt: „Sultan hat melancholische Augen und hat die ersten Tage, nachdem Du abgereist warst, nicht ordentlich gefressen. Er sucht Dich im ganzen Hause, kratzt mit der Pfote an Deiner Thür und heult.“ …

Armer Sultan! Aber Dresden ist sehr neu, und ich werde einen wirklichen Ball mitmachen – hurrah! Da mußt Du Dich schon ein Bischen noch gedulden, ehe ich zurückkomme!

Mit Tante um elf Uhr in der katholischen Musikmesse gewesen. Man geht hier Sonntags in die große katholische Kirche, die neben dem Schloß und Theater steht, wie man Sonnabends in die große protestantische Kreuzkirche geht, nur um Musik zu hören. Ich mußte an das jüngste Gericht denken, wie Herr Pastor Stachelmann uns beschrieben hat, daß es sein wird. Tante glaubt freilich, es würde anders dabei zugehen. Onkel erst – ich schreibe gar nicht her, was der gesagt hat! Und er hat es noch dazu schon gemalt! Die Frauen dürfen in der katholischen Kirche nämlich nicht neben ihren Männern stehn. Sie müssen auf die rechte, die Männer auf die linke Seite treten. Nun – ist das nicht gerade wie die Schafe und Böcke oder auch wie Gute und Böde?

Den 17. 
Ach – ich bin so unglücklich! Ich wollte, ich wäre wieder in Fennern und säße allein auf meiner Stube oder ginge mit Sultan spazieren. Ich will nicht mehr unter Menschen gehen – nie mehr, wenn ich es ihnen doch nicht recht mache!

Gestern und heute mit Tante Besuche gemacht. Sie war mit mir unzufrieden, eben hat sie mir eine Strafpredigt gehalten:

„Ich bitte Dich, Lisa – denke doch immer erst nach, ehe Du etwas sagst! Von einem Mädchen, das beinahe siebzehn Jahre alt ist und dabei so groß wie Du (also wenn ich klein wäre, da dürfte ich schon eher einfältig sein ?), erwarten die Leute doch schon eine gewisse Bildung! Du aber – wie neulich schon mit Herrn von Gebsattel – verstehst nicht, auf ein einziges Gespräch einzugehen. Ich weiß, Du bist nicht dumm, aber die Leute müssen Dich am Ende dafür halten, wenn Du nie eine Antwort in Bereitschaft hast.“

„Aber, Tante,“ sprach ich, „wie kann der Mensch denn eine Antwort bereit halten, wenn er nicht weiß, was man ihn fragen wird?“

„Siehst Du, Kind, es giebt einen Fonds allgemeiner Bildung, den mußt Du Dir aneignen; denn mit dessen Hilfe allein wirst Du dann über jedes beliebige Thema etwas zu sagen haben. Jetzt höre ich Dich immer nur: ja, oder: nein, höchstens einmal: ich weiß nicht, antworten.“

O mein Gott, wie ist das Leben doch so schwer! … Warum ich nur immer etwas zu sagen, vielmehr zu schreiben weiß, wenn ich ganz allein mit meiner Feder bin? Es ist gut, daß sie keinen Lärm macht, wie Natti’s Singen, oder schlecht riecht, wie Juliens Farben, denn seit ich mit Tante die schrecklichen Besuche gemacht habe, ist sie gar nicht gut auf mich zu sprechen und nähme mir vielleicht die Feder weg:

„Du kannst Deine Zeit besser anwenden, Kopfarbeit taugt nicht für Dich, dazu muß man Cäciliens Anlage haben,“ würde sie sagen.

Den 18. früh. 
Eben als ich Sophie beim Plätten helfen wollte, meinte Tante:

„Bis zum café dansant darfst Du Dich noch ausruhen, dann sollst Du mir aber in der Wirthschaft helfen. Die Königin von England hat bei ihren Töchtern auch darauf gehalten, daß sie in häuslichen Arbeiten unterrichtet wurden, und Cäcilie versteht sich ebenfalls darauf.“

Das ist mir ganz recht. Ich werde Onkel Klümpen machen und Palten mit Ofengrütze; er liebt so herzhafte Gerichte. Da wird Tante ja sehen, daß ich auch etwas kann!

Nachts halb zwölf Uhr. 
Was für eine herrliche Nacht! Wie duftet’s so süß nach dem blühenden Flieder – und das Rauschen der Elbe – klingt’s nicht wie ein Lied? Ich bin nicht müde, ich mag noch nicht zu Bett gehen …

Wir waren in einem großen Wohlthätigkeitskoncert im Theater, Onkel, Tante und ich. Onkel hatte keine Lust, mitzugehen. Wenn er fleißig gemalt hat, sitzt er gern in seinem bequemen Malkittel auf dem Balkon und raucht seine Pfeife. Da denkt er sich wahrscheinlich seine schönen Bilder aus. Tante aber findet, es macht sich besser, wenn wir mit einem Herrn in die Loge treten, und da sagte sie:

„Karl – Du hast Dich in den Tagen überangestrengt; es muß Dir ja Bedürfniß sein, Dich bei der Musik zu erholen.“

Er zuckt die Achseln und schweigt.

„Der Künstler“ – fährt Tante fort – „muß sich bei solchen Gelegenheiten dem Publikum auch zeigen, es vergißt ihn sonst.“

„Wenn der Künstler Nichts hat, als seinen schwarzen Anzug, um sich dem Publikum ins Gedächtniß zu rufen, geschieht’s ihm ganz recht.“

Ich dachte: warum sagt Tante lieber nicht gleich: „Ich gehe nicht gern ohne Dich ins Theater,“ denn das ist doch der Grund.

„Du wirst immer menschenscheuer, Karl – nächstens wirst Du wieder Deine Leberschmerzen haben, wenn Du nur zu Hause sitzst und grübelst!“

Er thut, als höre er nichts.

Da gehe ich auf ihn zu und rüttle ihn ein Bischen an der Schulter: „Weil wir kein Plaisir ohne Dich haben, sollst Du mit, alter Onkel, hörst Du das?“

[671] „Schmeichelkatze!“

„Tante – er kommt! Er kann ja gar nicht widerstehen!“

„Meinetwegen!“ sagt er da.

Meine Frisur kostete sehr viel Zeit. Tante hatte „hoch!“ befohlen.

„Alle Welt wird im Theater sein – ich will nicht, daß Du auffällst!“

Als ich mit Haarmachen fertig war, brachte sie noch eine hellblaue Schleife mit ein paar Rosen. Das wurde noch auf das Nest genagelt, da war’s thurmhoch. Nachdem sie mich dann eine Weile durch die Lorgnette beguckt hatte, rief sie aber auch.

„Ich finde Dich heute ganz passabel, Du mußt doch zugeben, daß es Dich kleidet?“

Ihr „passabel“ meinte: sehr hübsch. Man hat ein gewisses Gefühl für so etwas.

Als wir Beide angekleidet in den Salon traten, saß Onkel richtig noch im Schlafrock am Fenster und trommelte auf die Scheiben. Er stieß einen Seufzer aus, verschwand aber doch schnell in sein Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

Der Wagen hatte schon eine gute Weile gewartet, als wir hinunter kamen. Zur Zugabe war das Handpferd lahm. Natürlich erschienen wir sehr spät im Theater, man hatte bereits angefangen. Wir hörten in der Garderobe die Schlußnoten einer Sopranarie. Tante warf Onkel einen vorwurfsvollen Blick zu; ich war nicht traurig. So hohe Sopranstimmen liebe ich nicht, sie sind wie zu helles Licht. Während des Beifallklatschens traten wir in die Loge, da konnten wir ungestört uns die Stühle zurecht rücken.

Ein Chorgesang folgte, ich sah mich dabei um: Alles feierlich, hochfrisirt, ernst und klassisch. Auf einmal begegnete ich in der dritten Loge von uns einem Paar Augen, die mir bekannt vorkamen. Sie gehören einem jungen brünetten Manne, der sehr aufmerksam zuhörte. Er steht hinter dem Stuhl einer netten alten Dame in mausgrauer Seide.

Wo ich nur diesen Augen schon begegnet bin? denke ich und versetze mich zurück nach Fennern, bringe es aber nicht heraus. Plötzlich wird mir’s klar.

„Onkel!“ rufe ich, „da ist ja …“

„Pst! Lisa – was fällt Die ein!“ flüstert Tante.

„Dein Bräutigam von Kana!“ sage ich so leise als möglich zu Onkel, der mir sein Ohr hinhält.

„Wo?“

„Dort –“

„Wahrhaftig! Das freut mich, da wirst Du ihn kennen lernen.“

„Nein – lieber nicht!“

Seit den Besuchen mit Tante fürchte ich mich vor neuen Bekanntschaften.

Er hat uns auch gesehen und den Operngucker nach unserer Loge gerichtet. Gewiß hat er bemerkt, daß ich ihn so lange angestarrt habe! Mein Herz klopft vor Scham. Das schwarzseidene Kleid ist etwas eng, da kann ich fühlen, wie es anschlägt.

Nach der ersten Abtheilung geht die Logenthür auf und der Bräutigam von Kana tritt ein.

Onkel nennt ihn Heinz und Du. Er scheint kein Liebling von Tante, denn sie sieht etwas verstimmt aus, als er auf Onkels Nöthigen den vierten Platz in unserer Loge einnimmt.

„Seit wann bist Du hier?“ fragt Onkel.

„Seit heute Morgen. Die Gebsattel’s ließen mir keine Ruhe; ich muß die Gläser, die ich ihnen besorgt, in dem kleinen Observatorium, das sie sich gebaut, selbst aufstellen.“

„Die Coeurdame will wohl mit Dir Beobachtungen machen?“

„Und Dein Bild?“

„Ja – denke, daß meine Nichte Dich nach dem Bilde erkannt hat; ich habe zu treu kopirt.“

„Und ich trage nicht einmal den Machlah!“

„Das ist schade,“ rufe ich, „denn er steht Ihnen besser, als der steife Kragen mit dem Schlips.“

Tante stößt mich mit dem Fuße an; wieder etwas Ungeschicktes gesagt!

„Und ich hätte Sie erkennen sollen, gnädiges Fräulein, nach einer Beschreibung, die zwei Kousinen meiner Mutter mir heute früh von Ihnen machten. Sie sind mit Ihnen gereist.“

Klapp – klapp! macht der Taktstock des Kapellmeisters. Herr Heinrich lehnt sich im Stuhl zurück, die Musik hat wieder begonnen.

Also meine beiden alten Damen sind mit ihm verwandt! Was mögen sie von mir erzählt haben, nichts Gutes, ich wette. Ich war recht abstoßend bei ihren Fragen … ach, man sockte gegen Fremde stets liebenswürdig sein – die Sonne bringt Alles an den Tag. Aber wer ist auch ohne Fehler! Wenn er Onkel besucht, wird er das Bild sehen und mich als Braut … Entsetzlich, wenn man so schnell roth wird wie ich … er sieht mich an, es muß ihm auffallen.

Ich will auf die Musik Acht geben … Gudehus singt. Gudehus – was für ein komischer Name! Es ist sonderbar, daß man bei einigen Menschen merkt, wenn sie uns ansehen, bei andern wieder nicht … Da ist die Arie schon wieder zu Ende. Alles klatscht. Ich klatsche mit, um meine Unaufmerksamkeit zu verbergen.

„Das war ein Genuß!“ sagte er, „Sie werden in Riga wohl kanm etwas Aehnliches hören?“

„Unser neuer Koncertsaal ist auch recht hübsch; sehr akustisch. Christine Nilsson hat vorigen Winter bei uns gesungen …“

Ein Chor erlöst mich. War es nicht das Dümmste, was ich antworten konnte? Wie kann ihn unser Koncertsaal interessiren? Und diesmal hatte ich nachgedacht; ich hätte so gern etwas Kluges gesagt – aber wenn mir nun nichts einfällt? Jetzt wird er sich über mich lustig machen, was ist das für eine einfältige Gans! wird er denken.

Vorsichtig drehe ich mich ein wenig nach seiner Seite, er nickt mir zu wie Jemand, der sein Entzücken mittheilen muß, mir aber ist’s auf einmal, wie ich ihn so andächtig sehe, als ob inwendig in mir etwas aufgeschlossen wurde – als ob ich jetzt erst zu hören anfinge. Sie singen einen Chor von Brahms. „Der Mensch verwelkt wie das Gras“. – Alle Verlegenheit, alle Qual wegen meiner ungeschickten Antworten ist plötzlich von mir genommen – o, diese himmlischen Töne! Sie umgeben mich wie eine unsichtbare Liebkosung … ich wollte, ich wäre in der Kirche und dürfte die Hände falten!

Schade, daß Alles so schnell vorüberging!

Beim Abschied sagte er, er würde uns besuchen. Aber ich werde ihn gewiß nicht wieder sehen. Ich merkte gleich, daß Tante ihn nicht gern hat, und da wird Onkel ihn für sich allein im Atelier behalten. Beim Nachhausefahren haben sie viel von ihm gesprochen. Sein Vater war Bildhauer und Onkels liebster Freund. Er starb früh und hinterließ nur eine halbfertige Marmorgruppe, kein Geld. Herr Heinrich (den andern Namen weiß ich noch gar nicht) ist Privatdocent in Leipzig. Onkel sagt: das ist ein genialer Kopf, und da oben – er meint die Astronomie – da weiß er besser Bescheid als ich in Dresden. Ein Mustersohn ist er auch, geizig für sich, um ihr Bequemlichkeiten zu verschaffen – die Mutter immer Nummer Eins. Und plagen muß er sich – und wird nicht einmal dafür bezahlt! Ist das nicht eine Ungerechtigkeit, Einem, der so viel weiß und Tag und Nacht arbeitet, nicht einmal Gehalt zu geben? Onkel sagt: es giebt in Deutschland sehr wenig Stellen für Astronomen. Ei – warum richtet man da keine neuen ein? Es ist doch so wichtig, daß man Alles über die Himmelskörper erfährt.

„Wer kein Geld hat,“ spricht Tante, „sollte sich die Passion für die Sterne vergehen lassen. Wäre er bei seinem Onkel, dem reichen Maschinenbauer, eingetreten, so hätte er jetzt schon sein hübsches Einkommen.“

„Wolltest Du vielleicht auch, ich hätte Petroleum und Heringe verkauft, wie mein Onkel wünschte, statt zu hungern und der Kunst treu zu bleiben?“

Ich drückte ihm die Hand.

„O – lieber, guter Onkel!“ rief ich, „wer könnte nur daran denken! Ich finde es herrlich, wenn Jemand ein Opfer bringt für seinen Beruf. Dein Land ist jetzt auch stolz auf Dich!“

„Da hör’ Einer die kleine Hexe, wie sie schmeicheln kann!“ spottet Tante.

„Deutschland wird einmal noch ganz andern Grund haben, auf Heinrich stolz zu sein als auf mich!“ ruft Onkel.

Ist es nicht, als ob ich seinem Bilde gleich angesehen hätte, was er für ein herrlicher Mensch ist? Mama sagt immer: ein Sohn, der seine Mutter ehrt, der hält seine Frau auch einmal werth … Vielleicht hat er in Leipzig schon eine Braut zum Werthhalten …

Schon ein Uhr, und ich bin immer noch nicht müde. Eben habe ich zum Fenster hinausgesehen. Die Nacht ist klar und es [672] wimmelt von Sternen. Sie scheinen am Himmel herumgestreut, wie Hanfkörner, die Jemand auswirft, um Vögel zu füttern. Und doch soll sich Alles in bestimmter Ordnung bewegen. Wie muß Jemand, der da oben bekannt ist, die Erde klein vorkommen – vielleicht sind ihm die Menschen alle gleichgültig … Nein, Herr Heinrich liebt ja seine Mutter, und er hört gern Musik – da muß er ja ein Herz wie andere Menschen haben.

Den 19. 
Er hat uns besucht – uns!

Beim Frühstück sagt Tante: „Fanni und Sophie müssen heut früh Wäsche rollen, da giebt’s nur Gewärmtes.“

Onkel sieht mich an: „Wie wär’s, wenn Du mir Deine ‚Klümpen‘ machtest?“

„Mit Wonne!“

Tante schüttelt den Kopf: „Ich dächte, Du probirtest Dein Gericht, wenn wir einen guten Braten daneben haben.“

„Kränke sie doch nicht – Du siehst, es geht ihr nah!“

(Er nimmt nämlich immer meine Partei.)

„Meinetwegen,“ spricht sie.

Als es Zeit ist, bind’ ich meine weiße Küchenschürze vor und Tante streift mir noch die Aermel bis über die Ellenbogen auf. Dann gehen wir in die Küche, sie will mir helfen, aber ich schiebe ihr einen Stuhl zurecht.

„So – jetzt thust Du, als wärest Du die Königin von England: die wird auch nur zugesehen haben, wenn ihre Prinzessinnen kochten. Ich mache Alles allein – auch die Sauce.“

Wie ich nun meinen Teig fertig in der Schüssel habe, geht die Thür auf und Onkel guckt herein.

„Bravo!“ schreit er, „komm nur nach, Heinz, bei Köchinnen braucht man sich nicht zu melden.“

Da stand er in der Thür. Ich will fortlaufen, um mir nur schnell das Mehl von den Händen zu waschen. Onkel aber hält mich fest: „Solche Hände, die haben wir am liebsten, was meinst Du, Heinz? Wie gefällt Dir meine neue Köchin?“

„Nun weiß ich, warum Du morgen nicht bei uns essen willst. Die giebst Du wohl nicht wieder her – sonst …“

„Gelobt wird nicht, bis wir ihre Gerichte gekostet haben – ich behalte Dich zu Tisch.“

„Am liebsten blieb’ ich –“ (konnte er etwas Netteres sagen?) „aber meine gute Mama, die mich erwartet …“

Ich sehe Tante an; das Gesicht kenn’ ich. Sie ist nicht zufrieden, wenn man ihr unvorhergesehen einen Gast an den Tisch bringt: „Du weißt, daß wir heut nur Gewärmtes haben, Karl!“

„Was,“ ruft Onkel ärgerlich, daß sie nicht freundschaftlicher nöthigt, „die Klümpen werden doch nicht mißrathen sein?“

„Ich weiß nicht, Onkel, wenn man den Ofen nicht kennt, ist kein Verlaß.“ Aber innerlich war ich meiner Sache sicher.

„So lassen wir Deine Mutter holen – ich schicke Hans.“

„Du kennst sie ja als umständlich, und es ist schon spät. Dazu kommen alle Bergroth’s zum Kaffee – ‚um mich zu genießen‘ heißt’s …“

Bergroth, das ist sein Onkel, der Maschinenfabrikant.

„Da darfst Du nicht nöthigen, Karl,“ sagt Tante schnell, und dann wendet sie sich an Herrn Heinrich: „Ein Vogel hat mir gesungen, daß Ihre Kousine Bertha die Zeit immer recht lang findet, ehe Sie von Leipzig einmal herüberkommen.“

Es gab mir einen Stich. Ich hatte solche Lust, daß ihm meine Klümpen schmeckten, und da war eine Kousine Bertha, wegen der er fort mußte.

„Solche Vögel singen meist recht falsch,“ antwortet er.

„Und seine Verwandten kann er dann noch lange genug genießen – ich lasse Deine Mama benachrichtigen, Heinz – nicht?“

Er sieht mich freundlich an: „Ich glaube wirklich, ich kann Deiner Köchin nicht widerstehen,“ ruft er.

Wer war froher als Onkel und ich! Als Alles in der Küche fertig, lief ich noch schnell in den Garten und schnitt eine Hand voll Rosen, sie in die Mitte vom Tisch zu stellen. Dann band ich meine beste Spitzengarnitur um und steckte mir eine blaue Schleife ins Haar. Tante traf mich auf der Treppe.

„Was fällt Dir ein – für wen willst Du Dich putzen?“

„Wir haben doch einen Gast zu Tisch.“

„Dummes Zeug – das ist kein Gast, für den man Umstände macht.“

Da war ich sehr beschämt ging aber noch einmal zurück und legte Alles wieder ab.

Onkel und Herr Heinrich haben die Klümpen fast alle allein aufgegessen. Sie waren auch locker, denn ich hatte sie vorher mit einem Speiler probirt, an dem nichts hängen blieb. Als Onkel mich lobte, fing Tante gleich wieder von der Kousine Bertha an, und wie wirthschaftlich die wäre, obgleich ein so reiches Mädchen es gar nicht nöthig habe.

„Merkst Du ’was, Heinz?“ spottete Onkel, „Frauen können es einmal nicht lassen, einem Junggesellen sein Hauskreuz anzuheften.“

Mich interessirte, was er wohl dazu sagen würde.

Er lachte ein wenig. „Wenn man schon eins tragen soll,“ meinte er, „so wählt man’s wenigstens nach eigenem Geschmack. Jetzt hat’s noch gute Weile damit.“

„Er denkt noch nicht an Euch – da hörst Du’s! Wie, Heinz – wir haben andere Wünsche – he?“

„Apropos, Wünsche,“ spricht er, als wäre er froh, auf ein anderes Gespräch zu kommen – „was hätte ich nicht drum gegeben, den letzten Durchgang des Mars durch die Sonne von einem der Trabanten des Jupiter aus betrachten zu können: Tausend, hatten die Astronomen da oben am 13. April ein interessantes Schauspiel!“

Und da waren auf einmal die Sterne an der Reihe. Herr Heinrich wurde dabei sehr gesprächig. Er zeichnete uns auch auf, welchen Weg der Mars am 13. April genommen. Aber warum die Astronomen auf dem andern Stern so zu beneiden waren, das habe ich nicht verstanden. Und dann sprach er nur immer von Millionen Meilen, von Millionen Jahren, daß mir nur so schwindelte.

„Was quält Dich denn, Lisa,“ frug Onkel, „Du siehst so ganz bestürzt aus?“

„Ich denke an den Jüngsten Tag. Wenn Alles so weit aus einander liegt, wie sollen die Todten sich alle auf einer Stelle versammeln können?“

„Kind,“ ruft Tante ärgerlich, „Du mengst doch Alles durch einander – das hat doch mit der Astronomie nichts zu thun, dafür hat man den Glauben.“

Nachts aber hat mich das doch sehr gequält. Wenn man sich die Millionen Meilen und Millionen Jahre erst anfängt vorzustellen, kann man nicht ruhig einschlafen. Mein Trost ist nur Herr Heinrich. Er, der das Alles so genau weiß, scheint ganz ruhig und vergnügt.

(Fortsetzung folgt.)




Mahnungen aus den Hochalpen.

Von Heinrich Noë.

Es sind nunmehr nahezu zwanzig Jahre verflossen, daß sich der berühmte Chemiker Justus von Liebig an einem herrlichen Sommermorgen zu Höhlenstein befand, dort am Zugange zum Ampezzaner Thal, von welchem damals in der weiten Welt noch wenig gesprochen wurde. Um den Gelehrten hatte sich eine zahlreiche Gesellschaft versammelt. Alle schauten nach dem glänzenden Eisfelde des Monte Cristallo, und die Worte, welche der große Kenner der Natur zeitweilig fallen ließ, klangen an dieser Stätte wie eine Bergpredigt. Neben dem Monte Cristallo fiel am meisten die rhombische Säule des Piz Popena in die Augen, ein ungeheures Prisma, an dessen Steilwänden sich nur an sehr wenigen Stellen ein wenig Schnee oder Eis zu halten vermochte. Es war die Rede davon gewesen, daß vor wenigen Tagen ein unternehmender Tourist aus Wien einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, den höchsten Zacken der obersten Randecke dieses furchtbaren Berges zu erreichen.

Ich schalte hier nochmals die Bemerkung ein, daß fast zwei Jahrzehnte seit jenem Tage verflossen sind. Damals hatte noch kein menschlicher Fuß sene Höhe erreicht, heut zu Tage ist sie schon von Frauen betreten worden.

„Ich möchte doch eigentlich wissen, was ein Mensch dort oben zu suchen hat,“ sagte ein behäbiger Herr der Gesellschaft,

[673]

Mont Saint Michel.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[674] indem er von seiner Cigarre einen bläulichen Rauch in die Höhe blies.

Manche hätten vielleicht hierauf sofort etwas zu erwiedern gehabt. Sie schwiegen aber, weil sie dem Worte des Gelehrten nicht vorgreifen wollten. Als dieser sah, daß Niemand antwortete, sagte er lächelnd:

„Ich könnte mir verschiedene Dinge denken, über die man an einem solchen Orte etwas zu lernen vermöchte.“

Diese Bemerkung gab den Uebrigen das Zeichen, mit allerhand Weisheit herauszurücken, mit welcher sie bis dahin zurückgehalten hatten. Einer wußte von den Bereicherungen der Witterungskunde, ein Anderer von botanischen Eroberungen, ein Dritter vom Einblick in die Lagerungen und die Faltung der Erdrinde, ein Vierter einfach über die Vermessung der Oberfläche des Landes Lehrreiches vorzutragen. Auch wurde der Schweizer Alpenschriftsteller Tschudi herangezogen und nach ihm behauptet, daß hier ein titanischer Zug vorliege, welcher den schwach ausgerüsteten Menschen antreibe, einen Sieg über die rohesten Hindernisse der Natur anzustreben. Ein Schöngeist erinnerte an Jean Paul, welcher die Berge als Schemel bezeichnete, auf welche das Kind steigt, um besser in das Gesicht der Mutter schauen zu können. Wieder ein Anderer meinte, es sei diese Bergsteigerei und Kletterei weiter nichts, als eine im .Darwinistischen Sinne weiter entwickelte Form alten Höhendienstes. Einer vertrat auch einfach den Sport, indem er sagte, es gebe keine andere Uebung, bei welcher der Mensch gezwungen wäre, in gleicher Weise Alles zu verwerthen, was er an Mitgift von Muskelstärke, Muth, Beharrlichkeit und Vorsicht besäße.

Man konnte unsere Gesellschaft einen Dekamerone im kleinen Stile nennen. Bald rückte jeder mit Anekdoten heraus, welche seiner Auffassung der Sache als Beleg dienen sollten.

Ein Botaniker – dessen Namen ohne besondere Ermächtigung verschwiegen bleiben mag – meinte:

„Vermuthlich hat Jeder der Herren Recht. Die Sache hat noch mehr Seiten, als der Piz Popena dort oben Kanten. Es wäre mir nicht schwer, auf meine eigenen Arbeiten hinzuweisen, worin ich hier und dort vom Einfluß der Kälte oder Feuchtigkeit, der Höhe und der Besonnung auf die Abartung der Pflanzen, auf deren Geschichte, auf ihren Zusammenhang mit den Gewächsen der arktischen Zone und Aehnliches, wie ich hoffen will, nicht ohne alles Ergebniß, gehandelt habe. Ein Herr Kollega mag Versteinerungen finden, ein anderer den Luftdruck oder die Bewegung der Gletscher studiren – das wird ja Alles seine Berechtigung haben. Ich für meinen Theil aber ziehe es vor, bei der Wahrheit zu bleiben und zu sagen, daß es immer ganz profane Dinge waren, die mir selbst bei solchen Unternehmungen als die Haupttriebfedern erschienen. Ich gestehe es rundweg ein, daß mir die Wissenschaft dabei nur so nebenher mitging, etwa so, wie es heut zu Tage allerlei Ferienreisende giebt, die sich zum gelegentlichen Photographiren präparirte Platten in einem leichten Tornister mitnehmen, der sie übrigens zu nichts verpflichtet. Die Herren wissen, daß ich selber in einem Berglande wohne. Ich bekenne offen, daß ich noch nie eine Alpenfahrt angetreten habe, ohne daß sich vorher ungefähr Folgendes zugetragen hat. Ich muß an einem klaren Abend oder Morgen, der andauerndes schönes Wetter verheißt, am Fenster stehen und auf irgend einen unserer Hochgipfel, wo es sich eben aus der Wolkenhülle heraus lichtete, hinaufschauen. Dann lockt es mich. Es zieht mich der Gedanke fort, wieder einmal die Welt von oben herab zu betrachten. Wie man mitunter Sehnsucht nach einem Feiertage verspürt, so zieht es Einen nach der Höhe. denn die Stunden, die dort oben zugebracht werden, sind ja Feiertage in unserem Dasein. Ist viel Mühsal und sogar unter Umständen ein wenig Gefahr dabei, so wird uns Solches in derartiger Stimmung nicht abschrecken, denn Mühsal und Gefahr sind die Schranken, welche einen derartigen Genuß vom großen, gewöhnlichen Troß der Menschen fernhalten. Beinahe läßt sich sagen, daß die Bequemlichkeit und der Mangel an nicht vorauszusehenden Zwischenfällen in umgekehrtem Verhältnisse stehen zu der äußeren und inneren Stärkung und zum Glanz der Erinnerung, die wir von einer Bergreise heimbringen. Je glatter Alles abläuft, desto weniger Wirkung bringt ein Gang in uns hervor und desto rascher verwischt er sich aus dem Gedächtniß. Ich muß also sagen, daß der unmittelbare Antrieb zu solchen Wanderungen bei mir doch stets mehr aus der Empfindung und aus dem Gemüthe hervorging, als aus irgend welchem theoretischen Bedürfniß.“

„Es freut mich, einen wackeren Kollegen zu finden, der in dieser Hinsicht der Wahrheit die Ehre giebt,“ erwiederte der große Chemiker. „Als Naturforscher könnte ich wohl die eine oder andere kritische Bemerkung anbringen, die ich aber gegenüber dem Ausdruck menschlicher Empfindungen unterlasse. Wäre ich nur um etliche Jahre jünger, ich nähme es wohl selbst mit einem der Thürme dort oben auf, in deren Zwischenräume sich das dichte Gewölk jetzt gleich einem abstürzenden Wasserfall hineinzwängt.“

Der Botaniker sagte: „Die Stunde wäre nicht glücklich gewählt. Aus der Bewegung der Wolkenstreifen, die sich dort um den Grat herumziehen, erkenne ich, daß Einer jetzt gerade ein schlimmes Viertelstündchen dort zubrächte. Dort rast es, daß er sich an den scharfen Klippen festhalten muß, während über und neben ihm die losgelösten Steine rasseln. Der wilde Pfarrer, den die Einbildungskraft des Volkes auf diese Höhe versetzt, spielt jetzt seine Geige.“

Die Rede kam nunmehr auf die verschiedenartigen Fährlichkeiten des Hochgebirges. Das Gespräch wurde lebhafter.

Unser Botanikus wurde gefragt, ob er jemals in seinem Leben eine gefährliche Bergreise unternommen habe.

„Auf diese Frage,“ sagte er nach einigem Nachdenken, „kann ich keine bestimmte Antwort geben. Wenn sie so gemeint war, ob ich jemals ernstliche Gefahren auf dem Gebirge ausgestanden habe, so sage ich: ja. Soll ich aber sagen, ob der nämliche Gang stets unter allen Umständen ein gefahrvoller sein mußte, so antworte ich mit Nein. Es waren eben besondere Verhältnisse, welche das Gefährliche, oder vielmehr das Abenteuerliche, herbeiführten. Das Nämliche gilt wohl im Allgemeinen für die gesammte Unglückschronik der Alpen. Wir haben Gipfel, deren Ersteigung einen ganzen Mann erfordert, auf welchen sich noch niemals ein unglücklicher Zwischenfall abspielte, und andere, die man durch einen Spaziergang erreicht, welche aber durch allerlei Unglücksfälle schier in übeln Ruf gekommen sind. Bei einer der ersten Ersteigungen des gewaltigen Triglav in Krain wurden mehrere der Reisenden auf der Spitze vom Blitze erschlagen. Seit der Zeit haben zahllose Besteigungen stattgefunden , ohne daß jemals wieder eine Hiobspost von diesem Berge ins Land gedrungen wäre. Ein Tauernübergang ist das eine Mal eine Spielerei, während er das andere Mal ganze Gesellschaften in Todesnoth gebracht hat. Mancher Berg, welcher jetzt von Volk aus aller Herren Ländern überlaufen wird, wurde von früheren Ersteigern nur unter unsäglichen Mühseligkeiten und Gefahren erobert. Jedenfalls ist es bei der Beurtheilung, ob diese oder jene Spitze gefährlich ist, mindestens eben so nothwendig, die Launen des Himmels, den dermaligen Zustand der Schneebedeckung, die Frage, ob Früh- oder Spätsommer, in Berücksichtigung zu ziehen, wie die plastischen Umrisse des Berges. Das Allerwichtigste bleibt aber die Frage nach dem Menschen selbst, der die Reise unternehmen will, denn der Satz, daß Jedermann seines eigenen Schicksals Schmied ist, bewährt sich nirgends zutreffender als im Kampfe mit den Gewalten des Hochgebirges.“

Der Botanikus schwieg eine Weile. Mehrere aus der Gesellschaft baten ihn, uns die Erzählung irgend einer seiner abenteuerlichen Fahrten zum Besten zu geben.

Er besann sich nicht lange, sondern erwiederte bald, daß es ihm nirgends schlimmer ergangen sei, als bei einer Besteigung des –kogels.

Ich unterlasse es hier, den vollen Namen dieser prachtvollen Spitze beizusetzen. Sie ist seither in die Mode gekommen, und es könnten sich Leute finden, die in einem solchen Berichte eine ungerechtfertigte Anschwärzung eines harmlosen Berges erblickten. Im Uebrigen thut auch der Name wenig zur Sache.

Der Botanikus begann:

„Ich hatte im Anfang des Sommers auf dem hohen Gebirge sowohl auf der Süd- als auch auf der Nordseite den Samen einiger Silenenarten eingesetzt, weiche noch in der Schneeregion gedeihen. Nunmehr wollte ich in schon weit vorgerückter Jahreszeit nachschauen, wie weit sich die Pflanzen auf der Mittagsseite im Verhältniß zu jenen auf der Schattenseite entwickelt hätten. Ich hoffte, eine lehrreiche Erfahrung über den Einfluß des Sonnenlichtes in jener Höhe zu gewinnen. Es war schon Ende [675] September, doch das Wetter außerordentlich schön und der Gletscher fast gänzlich schneefrei, wie es von unten mit dem Fernrohre leicht überschaut werden konnte.

Ueber meiner Unternehmung waltete von allem Anfang an trotzdem ein Unstern. Es schien, als ob sämmtliches Mißgeschick, welches in den Alpen überhaupt möglich ist, alle seine Register aufgezogen hätte.

Der erste unliebsame Zwischenfall war schon der, daß ich auf den Wochentag nicht Obacht gegeben hatte. Es war in der Abenddämmerung eines Sonnabends, als ich in dem hoch gelegenen Gebirgsdorf ankam. Ich hatte übersehen, daß ich am nächsten Morgen, an einem Sonntage, nicht zur richtigen Stunde würde aufbrechen können, weil an diesem Tage der Führer nicht fortgeht, ohne vorher dem Frühgottesdienste beigewohnt zu haben. Bis derselbe von der weit entlegenen Kirche zurückkam, war der um diese Jahreszeit bereits so beschränkte Tag um kostbare Stunden verkürzt.

Das war der erste Fehler. Ich machte aber alsbald einen noch viel bedenklicheren. Im Wirthshause saß ein Tourist, welcher ursprünglich nur die Absicht gehabt hatte, bis hierher zu kommen, um sich den vergletscherten Hintergrund des Thales zu betrachten. Als derselbe von meiner Absicht hörte, stellte er sich alsbald vor und bat mich, mit von der Partie sein zu dürfen. Der Mann sah zwar ziemlich kräftig aus, jedoch mochte ich nicht ohne weiteres zusagen.

Ich fragte ihn, ob er bereits auf irgend einer Hochspitze gewesen sei. Er antwortete:

,Ich habe den Großen Venediger bestiegen.‘

‚Das ist kein Berg,‘ entgegnete ich.

Der Fremde schaute mich verwundert an, zog ein Buch aus der Tasche und sagte: ,Laut Baedeker ist der Große Venediger 3673 Meter hoch. Der Kogel hat nur 3200 Meter.‘

Ich zuckte die Achseln. Die Bergerfahrung eines Mannes, welcher Schwierigkeiten in solcher Weise nach der Höhe abschätzt, konnte unmöglich eine entsprechende sein. Indessen erzählte er mir von manch anderer Besteigung, die er da und dort unternommen hatte – kurzum, während des Abends, theilweise auch unter dem Einflusse eines guten Rothweins, schwand allmählich mein Bedenken, und ich machte keine Einwendung mehr dagegen, daß der Fremde, der seines Zeichens ein Ingenieur aus Mitteldeutschland war, sich an dem Gange betheiligte.

Am nächsten Morgen erwarteten wir vergeblich die Rückkehr des Führers aus der Kirche. Statt seiner kam ein Knabe, welcher uns die Meldung machte, der Mann sei um Mitternacht nach dem weit entfernten Marktflecken fortgegangen, um einen Thierarzt zu holen, da seine Kuh von einem plötzlichen Unfall betroffen worden war.

Es blieb uns also nur übrig, entweder den Gang aufzugeben oder uns nach einem anderen Führer umzuschauen. Das war aber damals nicht so leicht wie heute. Jetzt hat der Alpenverein in allen Thälern Führer, die von ihm aufgestellt oder beglaubigt sind, zuverlässige Leute, die ihre Befähigung nachweisen können und bei denen man weiß, mit wem man es zu thun hat. In unserem Falle war die Sache anders. Der Wirth stellte uns einen starken Burschen vor, den er für unsere Unternehmungen empfahl. Hinterher machten wir allerdings die Erfahrung, daß derselbe niemals auf dem Berge gewesen war, nicht einmal den sich unten hinziehenden Paß je überschritten hatte und auch im Uebrigen die Bezeichnung eines nichtsnutzigen Menschen verdiente. Seine Empfehlung verdankte er dem Umstande, daß er dem Wirth für Getränke etliches Geld schuldete und der Wirth sich bei dieser Gelegenheit mit dem Führerlohn des Mannes bezahlt zu machen hoffte.

Ein wenig Aberglauben könnte vielleicht unter Umständen nicht schaden. Nachdem sich bereits das eine und andere Hemmniß vor mir erhoben hatte, hätte ich den Gang aufgeben sollen. Indessen war das Wetter über alle Beschreibung schön, der Spätherbst mit seinen Schneefällen stand vor der Thür, und es erschien mir zu verlockend, vor Abschluß der schönen Jahreszeit noch diesen Gang zu unternehmen und zum letzten Mal in diesem Jahre die Welt aus dem Reiche des Glanzes herab zu betrachten.

Es war mehr als acht Uhr Morgens, als wir unseren Weg antraten, wenigstens um vier Stunden zu spät. Wir waren noch keine Stunde gegangen, als meinen Gefährten noch innerhalb der Waldregion ein erster Unfall traf. So warm, ja heiß uns die Sonne anschien, wenn wir zeitweilig auf eine Blöße hinaustraten, so hartnäckig stockte noch die Kälte der langen Nacht an den beschatteten Seiten der Berghalden. Wir stiegen an mehreren Wasserfällen vorüber, die uns mit ihrem Staube eisig annetzten. Plötzlich hörte ich vor mir einen Schrei. Mein Gefährte, der Ingenieur, fuhr blitzschnell über einen steilen Hang zwischen abgehackten Baumstämmen in die Tiefe.

Zur Linken rieselte eine starke Quelle, deren Wasser, sich auf dem stark geneigten Boden ausbreitend, allmählich sich in einen Eiswulst verwandelt hatte. Auf diesem Eiswulst lagen bereifte, welke Blätter, welche der Herbstwind dorthin geweht hatte. Auf den Blättern war mein Gefährte ausgeglitten und abgestürzt.

Zum Glück konnte er sich etwa zehn Meter weiter unten festhalten. Er krabbelte mühsam neben der Art von Miniaturgletscher, über welchen er abgeglitten war, herauf. Diesmal war er mit einem blutigen Knie davongekommen.

Als wir die Waldregion im Rücken hatten und bei den letzten zerzausten flechtenbehangenen Tannen und Zirben angekommen waren, wurde uns eine Ueberraschung zu Theil.

Von dem letzten Rasen weg bis hinauf zu einem Halbkreis von Felsen, auf welchen der Gletscher aufliegt, zieht sich eine steile Geröllhalde. Diese, ein wahres Sammelbecken für hineingewehten Schnee, war in ihrer ganzen Ausdehnung von tiefem Neuschnee überlagert, was wir freilich von unten aus nicht zu erblicken vermocht hatten.

Jetzt war es an uns, den Unterschied zwischen Schatten und Sonne ordentlich zu studiren. Es war furchtbar, eine wirkliche Hölle, was wir an Glanz und Hitze auszustehen bekamen, während wir im tiefen Schnee steil in die Höhe wateten. Im Hochsommer hätte ich das vielleicht weniger verspürt, aber der Körper war durch die vorangegangene Kühlung bereits empfindlicher geworden.

Einen aus dem Schnee hervorragenden Block benützte ich, von Schweiß triefend, einige Augenblicke zur Rast. Mein Gefährte hatte sich athemlos auf seinen Plaid mitten in den Schnee hineingeworfen.

Als ich im Stande war, einige Worte zu sprechen, machte ich mir das Vergnügen, laut aus dem Fegefeuer des Dante die Verse zu citiren: ,Wenn auch langsame Liebe zieht, es zu sehen, so foltert euch dafür nach gerechter Reue dieser Felsenkranz.‘ Der Dichter schien diese Verse im Anblick eines Menschen niedergeschrieben zu haben, dem es gerade so erging wie mir.

In hohem Grade erschöpft erreichten wir endlich den untersten Rand des Gletschers. Dieser, der vom Thale aus nicht gesehen werden konnte, bot nun einen ganz anderen Anblick dar als im Frühsommer. Damals hatte der Schnee die Klüfte verstopft, wenn solche gegen das untere Ende hin überhaupt vorhanden gewesen waren. Jetzt durchzogen weite Spalten das Eis von einer Felswand zur andern. Es war kein Gedanke daran, über diese hinwegzukommen.

Da auch der Führer, der sich hier völlig kopflos erwies, keinen anderen Rath wußte, schlugen wir uns auf der linken Seite des Gletschers über die glatten, manchmal von langen Kaminen durchfurchten Felsen hinauf. Bei dieser mühsamen und nicht unbedenklichen Kletterarbeit, welche uns zu andrer Jahreszeit erspart geblieben wäre, steigerten sich die Schmerzen im Knie meines Gefährten. Sein Gang wurde immer schleppender und zögernder. Schon jetzt sah ich ein, daß von einer Erreichung des Gipfels für heute keine Rede mehr sein könne.

Die Frage war jetzt nur noch, ob wir zu dem Quartiere von heute Nacht zurückkehren oder den Paß überschreiten und die erste menschliche Ansiedelung jenseit desselben aufsuchen sollten. Ich entschied mich aus mehreren Gründen für das Letztere. Die Entfernung war ungefähr die gleiche. Auf der Südseite war der Gletscher von geringerer Ausdehnung und hoffentlich kein so lästiges Schneefeld zu überschreiten, wie hier. Was mich aber hauptsächlich bewog, diesen Ausweg zu wählen, war die Rücksicht auf eine Knappenstube, die sich dort drüben in ziemlicher Höhe befand. Im schlimmsten Falle würden wir, so hoffte ich, dort ein Obdach finden können.

Nachdem ich meinem Gefährten – thatsächlich war ich der Führer geworden – diesen Entschluß mitgetheilt hatte, schlugen wir die Richtung nach der Jochhöhe ein, die nicht mehr weit entfernt war.

[676] Mit dem Fuße meines Gefährten mochte es wohl nicht zum Besten bestellt sein; doch war ich berechtigt, aus verschiedenen Anzeichen zu schließen, daß es hauptsächlich seine Wehleidigkeit war, die ihn veranlaßte, alle Augenblicke stehen zu bleiben und zu klagen. Der Weg, der sich bald an nicht sehr geneigten Felswänden hinzog, bald steilere, trümmererfüllte Rinnen durchkrenzte, bald über blasiges, krustiges Eis des Gletschers führte, war nicht allzu anstrengend. Trotzdem stöhnte und jammerte mein Begleiter, nicht über seinen Fuß, sondern über die Gefahren und Schrecknisse, von denen er sich umgeben glaubte. Wenn er aus der Ferne in das dämmerige Blaugrün einer Eisspalte hinabschauen mußte, so stieß er Rufe des Entsetzens aus, als ob er schon mitten darinnen läge. Manchmal erklärte er plötzlich, nicht weiter gehen zu wollen. Ich mußte dann alle Vernunftgründe aufbieten und ihm zusprechen. Kurzum, wir kamen nicht vorwärts.

Mittlerweile konnte ich mir jedoch selbst nicht mehr verhehlen, daß unsere Lage zu allerlei Befürchtungen Anlaß geben mochte. Schon färbte sich der Gipfel zu unserer Linken, dem mein Reiseplan gegolten hatte, mit der tiefrothen Gluth der sinkenden Sonne, und wir befanden uns noch immer in der Eisregion, ja wir hatten noch nicht einmal die Paßhöhe erreicht, welche überdies, soviel ich wußte, nur durch einen sehr steilen Kamin erreicht werden konnte. Der Führer hatte zwar (und das war das einzige Zeichen von Sorgsamkeit, das ich an ihm bis jetzt wahrnahm), in Voraussicht, daß wir in die Nacht hineinkommen würden, eine Laterne mitgenommen. Aber was konnte uns die auf solchem Boden nützen?

Das Einzige, was mir einige Zuversicht einflößte, war die Klarheit des Himmels. Da vor einigen Tagen Vollmond eingetreten war, so konnte ich hoffen, daß das Licht dieses Gestirnes hinreichen würde, uns jenseit des Joches bis zu einer bewohnten Stätte zu geleiten.

Ich beschloß deßhalb, als es zu dunkeln begann, in ganz geringer Entfernung vom Kamin, der zum Joch hinaufführte, eine Raststätte aufzusuchen und dort so lange zu warten, bis der Mond aufgegangen sein würde.

Es giebt nicht leicht ein Ungemach, das nicht auch seine Lichtseite hätte. Wäre ich nicht von dem Genossen begleitet gewesen, durch dessen Unbeholfenheit mein Gang um Stunden verzögert wurde, so hätte ich die wundervollen Schaustücke dieses Abends wohl niemals erlebt.

Es wurden wenige Worte gewechselt, während wir in der eisigen Wüste auf unserem Rastplatze saßen oder mitunter, um die Kälte abzuwehren, auf und ab gingen.

Hier und dort sahen wir eine Schwalbe oder einen andern Zugvogel, der schon vor Wochen beim Flug über den Paß erfroren war, auf dem Eise liegen. Nichts regte sich. Wir hörten nur das Summen der Wasser, welche noch unter der Nachwirkung der Tageshitze reichlicher aus den Eisthoren des Gletschers abflossen, und manchmal das Dröhnen von Felsblöcken, welche aus den steilen Kaminen niederstürzten. Diese Stürze wurden offenbar durch geringfügige Aenderungen im Umfange der Körper, welche die plötzliche Erniedrigung der Wärme bewirkte, verursacht. Wir wohnten geheimnißvollen Auftritten im Innersten der Naturwerkstätte bei, Auftritten, durch welche die Oberfläche der Erde im Laufe ungemessener Zeiten umgestaltet wird.

Plötzlich schien es mir, als schöben sich finstere, furchtbare Riesengestalten über das noch mattblinkende Eis hinweg. Zugleich donnerte es aus verschiedenen Klüftungen heraus, als ob Hunderte von Kanonen ihren Kampf gegen einander begonnen hätten. Die alten Frostriesen waren über die Welt gekommen und Thor suchte sie mit seinem Hammer zu zerschmettern.

Die Oberfläche des Gletschers wurde goldflüssig im Lichte des eben aufgegangenen Mondes. Die Riesen aber, das waren die Schatten der Zacken, die sich über den starren Eisstrom hinzustrecken und zu regen begannen. Sie blieben nicht stätig. Wenn die Mondscheibe hinter einen Felskamm trat, verschwanden sie ins Reich ihrer heimathlichen Finsterniß, um alsbald mit den aufs Neue hervorbrechenden Strahlenfluthen sich wieder hervorzuwagen.

Wenn ich, um das Alles näher zu betrachten, weiter gegen die beleuchteten Stellen vorschritt, sah ich mich mit meinem Schatten den Riesen beigesellt. Langsam rückten wir schwarze Gestalten alle vor gegen das Eis und die Moränenblöcke hin – eine wunderliche Gesellschaft im Wandelspiele der Welt.

Nunmehr war es Zeit, an die Fortsetzung unserer Reise zu denken.

(Schluß folgt.)




Unsere Schulprüfungen.

Wenn wir uns in unsere Kinderjahre zurückversetzen, so spielt gewiß in den Erinnerungen an dieselben die Schule eine große Rolle. Die Meisten denken gern an ihre Schulzeit zurück, an Lehrer und Mitschüler, an die heiteren und ernsten Erlebnisse jener Jahre. Da tauchen auch die Tage vor uns auf, an denen wir Examen hatten. Wie klopften die kleinen Herzen in banger Erwartung der kommenden Dinge, wie jubelten wir, wenn Alles gut gegangen war! Waren nun gar Vater und Mutter zugegen, so wurde der Examentag der feierlichste Tag des ganzen Jahres. Die Schule der Gegenwart ist aber eine andere als die der Vergangenheit. Wie Alles fortschreitet, so auch die Schule, und manche frühere Einrichtungen sind verschwunden und haben besseren Platz machen müssen. Leider verschwindet auch der familiäre Zug, welcher der alten Schule eigen war, mehr und mehr. Die Ursache davon liegt vorzugsweise in unsern socialen Verhältnissen, besonders in dem gewaltigen Wachsen der größeren Ortschaften. Es geht nicht anders, als daß in den großen Schulkasernen unserer Städte auch straffe, militärische Zucht herrschen muß. Lehrer und Schüler aber stehen sich fremder gegenüber als in der früheren Zeit. Wie ist dies auch anders möglich, wenn ein Kind während seiner Schulzeit ein Dutzend Lehrer hat? Selbstverständlich werden auch die Beziehungen zwischen Schule und Haus immer schwächer. Ist es doch in großen Städten kaum möglich, daß die Eltern die sämmtlichen Lehrer ihrer Kinder kennen lernen! Die Zahl derselben ist zu groß, der Wechsel – alle Jahre ein anderer Lehrer – zu häufig. Um so mehr müssen daher die wenigen Berührungspunkte, die Schule und Haus noch mit einander haben, beachtet und gepflegt werden.

Eins der wichtigsten dieser Bänder ist die bereits erwähnte öffentliche Schulprüfung. Und gerade hierüber ist jetzt ein lebhafter Streit entstanden. Eine große Zahl Lehrer hält es für besser, wenn diese Prüfungen ganz beseitigt werden; andere wollen sie beibehalten wissen, denselben aber eine zeitgemäße Form geben. Auf der letzten deutschen allgemeinen Lehrerversammlung in Gotha entschied sich der größere Theil der Lehrer für Wegfall der bisherigen öffentlichen Schulprüfungen. Hier müssen aber auch die Eltern gehört werden.

Aus welchen Gründen will man eine so alte Einrichtung beseitigen?

Man sagt, die öffentlichen Schulprüfungen haben sich überlebt, sie seien zu einer Art Schaustellung herabgesunken, durch welche die Würde der Schule nicht gehoben, sondern eher geschädigt würde. In einer so kurzen Spanne Zeit sei es unmöglich, dem weiteren Publikum auch nur annähernd einen entsprechenden Begriff von der Schwierigkeit der wirklichen Schularbeit zu geben. Alles gehe da so flott, daß es für den Laien den Anschein gewinnen müsse, als sei das Schulehalten etwas sehr Leichtes und Unterhaltendes. Auch für die Leistungen der Schüler seien die Prüfungen nicht maßgebend, da die Censuren vom Ausfall derselben nicht abhängig gemacht würden. Mancher Vater, manche Mutter hören ihr Kind recht hübsch antworten und wundern sich nachher über die ungünstige Censur. Das führe zu Verstimmungen und Mißhelligkeiten zwischen Schule und Haus. Manche Eltern wären sogar der Meinung, die Prüfungen seien nur dazu da, um ein Urtheil über den Lehrer zu gewinnen, und befähigten nun den Zuhörer, in allen Schulangelegenheiten ein verdtändnißvolles Wort mitreden zu können. Eitle Mütter erblickten auch in den Schulprüfungen eine erwünschte Gelegenheit, die lieben Kinder, namentlich die Mädchen, hübsch herausputzen zu können, und das gebe wieder Veranlassung zu Klatschereien und Zänkereien, wecke in den Herzen der Kinder Neid und Selbstsucht und schüre in bedenklicher Weise den Klassenhaß.

[677] Man weist auch hin auf frühere Zeiten, wo einzelne Lehrer gewissenlos genug waren, ihre Schüler zur Prüfung monatelang zu drillen, damit ja Alles Schlag auf Schlag gehe. Da leben alte Anekdoten wieder auf, wie die, wo der Lehrer die Antworten der Reihe nach vertheilt hat und nun, weil durch Krankheit eines Schülers diese Reihe zerstört worden ist, die lächerlichsten Antworten erhält, oder es wird erzählt, daß bei einer Prüfung die Schüler bereits antworteten, als der Lehrer eben zu fragen angefangen, etc. In Folge aller dieser Umstände sei das Ansehen der öffentlichen Schulprüfungen derartig gesunken, daß einsichtsvolle Eltern dieselben längst nicht mehr besuchten, da sie namentlich auch durch die Hausarbeiten der Kinder, durch Aufsätze, Rechenaufgaben etc. einen viel besseren und richtigeren Einblick in die Thätigkeit der Schule gewännen.

Alle diese Vorwürfe und Einwendungen, die man gegen die öffentlichen Schulprüfungen erhoben hat, mögen hier und da begründet sein. Was beweisen sie aber? Nicht, daß diese Prüfungen an und für sich verwerflich sind, sondern daß dieselben an manchen Orten in verfehlter Weise abgehalten werden. Die öffentlichen Schulprüfungen sind ernste Schulfeierlichkeiten, werden sie zur Posse erniedrigt, so tragen in der Hauptsache die Leiter und Veranstalter die Schuld. Werden dieselben aber in würdiger Weise abgehalten, so wird sie auch das Publikum beachten und besuchen. In Leipzig ist dies wenigstens der Fall. Hier nehmen die Eltern und Behörden an den öffentlichen Schulprüfungen lebhaften Antheil, und es werden nicht nur die der unteren, sondern auch die der oberen Klassen stark besucht.

Die Zietenhusaren auf ihrem Ritt zur Donau.
Nach einer Skizze von Hauptmann Lucius gezeichnet von H. Albrecht.


Hier kann aber auch kein Schwindel getrieben werden. Die Lehrer erhalten die Aufgaben, die sie zu behandeln haben, nach Entlassung der Schüler. Sie kommen vor der Prüfung mit denselben nicht wieder zusammen, es ist hier also ein Drillen und Einpauken nicht möglich. Werden nun diese Aufgaben nicht zu eng begrenzt, so kann in der Prüfung recht wohl gezeigt werden, was die Schule leistet. Wie es in Leipzig gehalten wird, so ist es auch in anderen Städten, z. B. in Dresden und Chemnitz, der Fall. Auch dort werden die Prüfungen von den Eltern gern besucht. Es ist ferner nicht richtig, daß der Ausfall der Prüfungen ohne Wirkung auf die Censuren sei. Im sächsischen Schulgesetz – bekanntlich einem der besten – ist ausdrücklich gesagt, daß die Censuren erst nach der Prüfung und mit Beziehung auf den Ausfall derselben gegeben werden sollen.

Wenn man weiter angeführt hat, daß manche Eltern durch die Prüfungen ein falsches Urtheil über die Schule erhalten, so kann man mit mehr Recht das Gegentheil behaupten und nachweisen, daß dadurch viele Väter und Mütter ein regeres Interesse für die Schule erlangt haben. Hier ist ihnen Gelegenheit geboten, ihr Kind mit anderen zu vergleichen. Hier liegen die Aufsatzhefte, die Rechenhefte, die Schreibhefte aus, hier sind die Zeichnungen der Schüler ausgestellt, die Handarbeiten der Mädchen laden zur Besichtigung ein – vergleicht und prüfet nun selbst, was euer Kind leistet! Es ist richtig, daß manche eitle Mutter ihr Kind etwas herausputzt. Wird aber nicht gerade bei dieser Gelegenheit oft gezeigt, daß das Kleid nicht den Mann macht? Die Schule ist eine demokratische Einrichtung, der Tüchtigste gilt am meisten und von dem Besten wird der oberste Platz eingenommen, wenn er auch der Aermste ist. Bei der Prüfung tritt dies offen zu Tage. Da wird nicht selten das schlichte Kleid zu Ehren gebracht, da sitzt gar oft der Sohn armer Leute hoch über dem Sohne des reichen Mannes.

[678] Wie in der Schule, so darf auch bei der Prüfung weder Stand noch Rang gelten; hier heißt es: gleiches Recht für Alle. Anstatt den Klassenhaß zu schüren, wird demnach eine gerechte öffentliche Prüfung denselben mindern, und wie früher, so ist auch jetzt noch für viele Familien der Tag der Schulprüfung einer der wichtigsten Tage des ganzen Jahres. Fällt dieser Tag weg, so wird die Trennung zwischen Schule und Haus eine immer größere. Was will man denn an Stelle der Prüfungen setzen? Da hat man vorgeschlagen, es möge von Zeit zu Zeit den Eltern gestattet sein, dem Schulunterrichte beizuwohnen. Welche Störungen des Unterrichts würden aber damit verbunden sein. Und würden diese Besuche aber auf einige bestimmte Tage verlegt, so dürfte in der Schulstube kaum Raum dafür sein; es müßte der Schulsaal benutzt werden, und wir wären wieder bei den öffentlichen Prüfungen angelangt. Andere wollen dieselben einfach abschaffen und halten es für unnöthig, dafür einen Ersatz zu bieten. Es haben sich dies auch manche Gemeinden bereits gefallen lassen. Wir können uns aber kaum denken, daß dies als ein Zeichen des Interesses für die Schule gelten kann. Andere Gemeinden, namentlich in Sachsen, werden sich’s nicht so schnell gefallen lassen. Und gerade die, welche gern zu den größten Opfern für die Schule bereit sind, werden sich am schwersten entschließen, eine Einrichtung aufzugeben, die – in rechter Weise ausgeführt – so großen Nutzen gestiftet hat.




Der Unfried.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Der Kamerad Karli’s aus dem Oberisarthal kannte die Kuni, wenngleich er sie seit mehreren Jahren, seit dem Begräbniß ihrer Mutter, nicht mehr gesehen hatte. Das wäre eine saubere stattliche Frau gewesen, die „Bachwirthin“; nur hätte sie „allweil so viel traurig“ in die Welt geschaut. Alle Leute wären ihr gut gewesen und hätten ihr schließlich das Sterben wie eine Erlösung vergönnt; denn bei ihrem Manne, der eine gewisse Berühmtheit als der größte Grobian des ganzen Thales genossen, hätte sie es nicht zum Besten gehabt; von dem hätte sie mehr Schimpfnamen als gute Worte, mehr Schläge als gute Bissen bekommen. Die erste Frau war ihm ganz plötzlich weggestorben, und da hatte er sich seiner Wirthschaft und seiner zwei kleinen Buben willen zu einer neuen Heirath entschließen müssen. Aber im ganzen Umkreis des Thales hatte er keine Dirne gefunden, die es mit ihm hätte wagen mögen. Da war er dann einmal ein paar Wochen verschwunden und hatte zur Ueberraschung des ganzen Dorfes eine bildsaubere, blutjunge Frau von irgend woher mit nach Hause gebracht. Mit fleißigen Händen hatte die junge Bachwirthin zugegriffen, hatte die verlotterte Wirthschaft recht „auf den Glanz“ wieder hergerichtet und hatte durch ihr stilles, freundliches Wesen die Gäste „haufenweis“ in ihre Schenkstube gezogen. Ein paar Monate war nun die Sache ganz gut gegangen. Als aber erst der Bachwirth etwas von einem verschwiegenen Heirathsgut zu merken begann, das ihm die junge Frau mit in die Ehe gebracht, da nahm’s mit dem Frieden ein Ende. Von dem Tage, an welchem die Bachwirthin der Kuni das Leben geschenkt, hatte sie keine gute Stunde mehr – ausgenommen ihre letzte. Und von der Art und Weise, wie der Bachwirth mit der Mutter umsprang, lernten es die beiden Buben, ihre jungen Fäuste auf Kuni’s Rücken zu üben. Sie ging noch nicht in die Schule, da kannte man sie im ganzen Dorfe nur mehr unter dem Namen „das Prügeldeandl“. Bei solchem Leben war es völlig zu verwundern, daß nicht ein Krüppel aus ihr wurde, sondern eine so saubere, musper[1] gewachsene Person. Sie war noch nicht siebzehn Jahre alt, da fingen schon die Burschen an, ihr nachzusteigen. Wenn einer von ihnen aber mit einem Antrag herausrückte, lachte sie ihm ins Gesicht, huschte in die Küche hinaus und tätschelte ihrer Mutter die eingefallenen Wangen. Jede solche Abfertigung trug ihr aber einen bösen Dank von sechs gesunden Fäusten ein; denn der Bachwirth und seine Buben hätten es gerne gesehen, wenn ihre Tischrunde um einen hungerigen Magen ärmer geworden wäre. So arg sie es aber auch mit ihr trieben, dennoch gelang es ihnen nicht, ihr das Leben im Hause, das Bleiben bei der Mutter zu verleiden. In Kuni’s Meinung schien die Welt überhaupt nur von zwei Menschen bewohnt: von der Mutter und von ihr. Diese Dinge spielten sich so fort, bis die Bachwirthin ganz unerwartet zu kränkeln begann. Der Doktor vermochte ein bestimmtes Leiden an ihr nicht zu erkennen, und dennoch wurde die Sache immer schlimmer. Tag und Nacht wich Kuni nicht von dem Bette der Mutter, und als die Bachwirthin trotz aller dieser aufopfernden Pflege eines Tages die Augen schloß, um sie nie wieder aufzumachen, gebärdete sich Kuni in ihrem Schmerze wie eine Verrückte. Man mußte sie, als der Sarg gebracht wurde, mit Gewalt von der Leiche reißen. Zwei Tage später aber, als die Bachwirthin zur ewigen Ruh’ getragen wurde, da schien ihr Schmerz sich ausgetobt zu haben.

„Denn ’s Deandl ist dag’standen, kein’ Rührer net hat’s ’than, wie wenn’s von Stein wär’ auf und auf,“ erzählte der Oberisarthaler. „Kein’ Greiner net hast g’hört von ihr, die Zähn’ hat s’ über einander ’bissen, g’rad auf in d’ Höh’ hat s’ allweil g’schaut, und net a Zährl is in ihre Augen g’wesen. Und nachher, bei der Todtenmess’, da hat man s’ noch g’sehen, ganz z’hinterst in der Kirch’. Wie aber nach der Mess’ der Bachwirth mit die Leut’ heim’gangen is zum Schmaus, da war kein’ Kuni nimmer da – und seit der Zeit hat man ’s Deandl daheim im Ort nimmer verschaut mit kei’m Aug’ net. Und erst zwei Jahr’ danach, selbigsmal, wie der Schnaps über’n Bachwirth Herr worden is, und wie man nachher d’ Hinterlassenschaft ausg’schrieben hat, da is a Brief von der Kuni ’kommen. Auf Alles thät’ s’ verzichten, hat s’ geschrieben – und ’s ganze Dorf hat sich krank g’lacht über den Brief, bloß die zwei Bachwirthbuben haben sich g’ärgert, daß ihnen d’ Haar’ aufg’stiegen sind – so spöttisch hat er sich g’lesen! Ja, und der Brief is aus Rosenheim g’wesen.“

„Was? Was is? Was habt’s da g’redt?“ mischte sich der Rosenheimer ins Gespräch, als er seine Heimath nennen hörte.

„Ah, nix, g’rad von ei’m Deandl is d’ Red’ g’wesen, von ei’m Deandl aus mei’m Ort daheim, Kuni Rauchenberger heißt’s.“

„Kuni Rauchenberger? Jetzt den Nam’, mein’ ich, hab’ ich auch schon g’hört. Und hast net g’sagt, sie hätt’ sich bei mir daheim in Rosenheim aufg’halten? No freilich, jetzt denk’ ich mir auch, daß ich s’ kenn’. So eine von der mittlern Größ’ – net? Schön mollet beim Zeug, a mudelsaubers G’sicht, kohlschwarze Augen und a Bißl fuchsige Haar’? Hab’ ich Recht? No also, das kann so kein’ Andere net sein als wie die Kuni, dieselbig, wo durch a paar a drei Jahr’ bei’m untern Bräu drunten Kellnerin g’wesen is!“

„Was? A Kellnerin?“ fuhr Karli auf.

„Ja, und was für eine! Die hat ihr G’schäft verstanden, wie wann s’ schon mit ’m weißen Schurz auf d’ Welt ’kommen wär’! Bei’m untern Bräu is d’ Stuben allweil voller Leut’ g’wesen, da hat er jetzt a gut’s oder a schlecht’s Bier haben dürfen. Sein’ Kellnerin hat allweil ’zogen. Weißt, die hat Dir so a g’wisse Art g’habt, b’sonders, wenn s’ g’rad beim richtigen Hamur war. An anders Mal freilich wieder, da hat s’ Dir ihre Täg’ g’habt, wo kein’ Silben net ’raus ’bracht hast aus ihr, und wo s’ Dir ein’ Jeden g’rad so ang’schaut hat über d’ Achsel. Aber natürlich, g’rad so ’was hat bei die Leut’ verschlagen. Es hat sich auch schier a Jeder verschaut in ihre Teufelsaugen – ja – ich selber bin amal a Zeitl so dumm g’wesen. Aber mir is halt ’gangen wie den Andern – für an Jeden hat’s den gleichen, spöttischen Lacher g’habt!“

„Geh’! A Kellnerin! Jetzt so ’was is doch a Bißl hart zum glauben?“ frug Karli in lauernder Spannung.

„No, weißt, das war Dir halt auch a ganz a b’sonderne. Das heißt, Einer is schon allweil zu’kehrt, in der letzten Zeit,


  1. schmuck und kernig.

[679] so a Schlari[1], so a g’spaßiger, mit dem man ’s Deandl a Zeit lang z’sammg’redt hat – aber es kann auch nix dahinter g’wesen sein; denn vor der ganzen Stuben voll Leut’ hat’s dem Kerl amal eine ’neing’feuert über’s G’sicht, und hinther hat’s nachher g’heißen, es wär’ ihr Bruder g’wesen. Und d’ Stadtleut’ erst, die hat’s Dir weiters net anlaufen lassen! Und dengerst is Keiner davon ’blieben, weil s’ Dir g’rad ihr Gaudi g’habt haben an ihre g’schnappigen Reden. Und der Bräumeister, natürlich, der hat g’lacht, was er lachen hat können – dem hat’s am besten ’taugt! Dafür hat er aber nachher auch im Schrecken d’ Händ’ über’m Kopf z’sammg’schlagen, wie’s Deandl im letzten Herbst amal über Nacht auf und davon is, und wie nach a paar Wochen d’ Fliegen in seiner Wirthsstuben die einzigen Zehrgäst’ g’wesen sind. No, und d’ Leut’, die haben a Zeit lang g’redt davon; nachher hat kein Mensch mehr ans Deandl ’denkt. Und da kannst Dir jetzt fürstellen, was man für Augen g’macht hat, wie ’s Deandl heuer im Frühjahr über Nacht auf amal wieder da war. Der Bräu, natürlich, der hat’s aufg’nommen mit offene Arm’, und es is auch die alte Gaudi gleich wieder an’gangen. Aber ich weiß net, der richtige Zug is dengerst nimmer dabei g’wesen. Mir scheint, sie hat die alte Schneid’ nimmer g’habt zu ihrem G’schäft, und kein’ Freud’ mehr d’ran. A paar Monat’ hat sie sich g’halten; nachher hat s’ wieder auf’künd’t – und es heißt, sie wär ins Reichenhallerische ’nein. Wer weiß, ’leicht hat sie sich auch g’ärgert über d’ Leut’. Sie wird halt ’was von dem G’red’ erfahren haben, wo selbigs Mal im Ort um’gangen is – no ja – wie d’ Leut’ halt reden! Aber ich glaub’s amal net, denn wann ich mir denken will –“

Was sich der Rosenheimer denken wollte, sollte Karli nicht mehr erfahren; denn eben stimmte die Blechmusik mit schmetternden Klängen eine Münchner Volksweise an, und dazu erhob sich von allen Tischen ein johlender Gesang:

So lang’ der alte Peter,
Der Petersthurm noch steht …“

Säbelgerassel, lautes Klappern der zinnernen Krugdeckel und taktmäßige Stockschläge begleiteten diesen Gesang.

Einer von den wenigen Gästen des Schimmelwirthgartens, die bei diesem Gesange nicht mitthaten, war Karli. Er saß mit aufgestützten Armen und schaute mit finsteren Augen auf seinen Krug. Dann plötzlich fuhr er tiefaufathmend auf. Doch blieb er noch eine Weile sitzen, bevor er sich erhob, um sich ohne Abschied von seinen Kameraden davon zu schleichen.

Jetzt wußte er, was er dem Vater schreiben sollte. Mit glühendem Kopfe, erhitzt von dem überraschen Gange und zitternd vor Aufregung erreichte er die Kaserne. Er warf Mütze und Waffenrock bei Seite, suchte den angefangenen Brief hervor und setzte sich wieder ans Fenster.

„Mein lieber Vater!“ flüsterte er seufzend vor sich hin. Dann begann er zu schreiben, zuerst langsam, aber rascher und rascher kritzelte und kratzte seine Feder über das von den Händen der Kameraden beschmutzte und zerknitterte Blatt. Zuerst verallgemeinerte er den Fall und stellte dem Vater in wirklich herzlichen Worten vor, was eine Heirath in seinen Jahren zu bedeuten habe. Und nun gar eine Heirath mit einer Dirne, die den Jahren nach seine Tochter sein könnte! Und was die Leute dazu sagen würden, die bisher vor der „Hochehrensamkeit“ des Pointnerhofes den Hut auf die Erde gezogen. Und gar nicht zu reden davon, was er mit dieser Heirath einem Gewissen zufüge, der freilich mit seinen „hitzigen Händen“ das Recht zum Reden verspielt hätte – „aber doch, daß es mir mein lieber Vatter verzeihen wird, weil ich mir allweil noch zu sagen trau, daß es mein lieben Vater auch nicht anders ankommen wär, wenn ihm der liebe Ahnl selig auch so hätte gmacht, und nur so für der Thür hinsetzen und ein Tritt und zugeschlagen, wo ein drinnen sliebe Mutterl selig in Schmerzen gebohren hat.“ Und während er diese Worte schrieb, fiel ihm eine dicke Thräne auf das Blatt; er suchte sie mit dem Handballen fortzuwischen und verlöschte dabei die nasse Schrift. Seufzend fuhr er sich mit dem Aermel über die schweißbetropfte Stirn, schluckte ein paarmal, trocknete die Augen und kritzelte mit zitternden Fingern weiter. „Und überhaupts, wenn mein lieber Vater leicht glaubt, daß ich so bin und vom Heirathen überhaupts nicht wissen will, wenn es eine vom Ort is, und wo zu mein lieben Vatter passen thut und man eine Achtung haben kann. Aber das ist was anders, und weil es mir mein lieben Vatter zlieb schier das Herz abdruckt, wenn man sieht, daß es so Eine ist eine solchene. Wo man im Schimmelwirth beim Bier davon reden hört, was das für Eine ist. Einmal schon diese Familli, wo man sich schamen muß, wenn man mit ihnen beineinander kommt, wo sich der Vater in Schnaps versoffen hat, und die miserabligen Brüder, wo ihre Stiefmutter schiergar umbracht haben und die Schwester nicht viel mehr. Dann auch weil die Kuni überhaupts keinen ehrlichen Namen nicht hat und bis über ihrene Ohren roth werden muß, wenn man sie nach ihrem Vater fragt. Und daß ich nur mein lieben Vater verzähle, wo er sie fragen kann, ob sie nicht durchbrennt ist und hat in Rosenheim eine Kellnerin gmacht. Und das weiß man schon daß eine Kellnerin nichts ist, nur ein Handüchl für ein Jeden seine Händ, wo er sich dran hinbutzt. Wo man auch in Rosenheim nur nachfragen braucht, was dLeut reden –“

Karli stockte; es war ihm, als hätte sich eine Hand mit schwerem Druck auf seine Finger gelegt, um ihn am Weiterschreiben zu hindern. Mit verdrossenem Gesichte schaute er auf, und während er durch das Fenster nach dem Himmel starrte, verschwamm ihm allmählich das lichte Blau in eine trübe, graue Fläche, aus welcher er Kuni’s Gestalt emportauchen sah. Drohend schaute sie ihn an – nein, nicht drohend – mit dem Ausdruck unsagbarer Traurigkeit. Und das war auch die Kuni nicht, das war ein Kind, ein kleines Mädchen mit röthlichen, zerzausten Haaren, mit einem schmalen, blassen Gesichtchen, auf dessen Wange sich blutige Nägelspuren zeigten. Es trug nur ein rothes Unterröckchen und hielt mit den kleinen Händen das Hemdchen dicht an den Hals gezogen – dann plötzlich streckte es die zitternden Aermchen in Zorn und Angst von sich, und da fiel ihm das Hemdchen über die Schultern, welche bedeckt waren mit blauen Striemen. Und nun mit einem Male stand an des Kindes Seite eine bildsaubere junge Frau, mit „so viel traurigen“ Augen, und das Prügeldirnlein flog auf die Mutter zu, krampfte die Aermchen um ihre Kniee, drückte das Gesichtchen in ihren Schoß und schluchzte und schluchzte –

Hastig neigte Karli den Kopf, und in ungelenken Zügen schrieb er mit schwerer Hand noch die Worte an den Brief: „Aber ich glaube, daß es genug ist und das man lieber Vater sich daß überlegen wird. Und indem ich mein lieben Vater aus das Beste grüße, verbleibe ich mit den herzlixten Grüßen mein lieben Vater bis in den Tod – sein – lieber Karli.“

Aufathmend sprang er in die Höhe und behauchte den Brief so lange, bis die Tinte völlig eingetrocknet war. Dann verschloß er ihn und rannte aus der Kaserne, um den nächsten Briefkasten zu suchen. Und da kam’s ihm nun wieder so in die Augen – und auf dem ganzen Wege brachte er dieses Bild nicht mehr aus den Gedanken, dieses zerraufte, zerschlagene Dirnlein. Welch ein entsetzliches Leben – das Leben dieser Mutter und dieses Kindes! Da war es ja wirklich zu verwundern, daß eine „so saubere, musper gewachsene Person“ aus diesem Kinde geworden, und nicht ein Krüppel! Oder war es unter dem grausamen Drucke dieser bitteren Jugend nicht am Ende doch zum Krüppel verwachsen – zum Krüppel an Herz und Seele – zu einem Krüppel des Glückes, mit dem man sein Erbarmen haben mußte, statt in Zorn und Haß mit ihm zu rechten? Zu rechten – und weßhalb? Geschlagen und gepeinigt bis aufs Blut, und dann verlassen von Gott und Menschen, umhergestoßen in fremder Welt, ohne Trost und Rath – war es denn nach solch einem Leben zu verwundern, daß sie mit beiden Armen sich an einem Orte festzuklammern suchte, an dem sie zum ersten Male sich wohl und behaglich fühlte, an welchem sie etwas galt, an welchem sie nur lachende Gesichter gesehen, nur freundliche Worte gehört? Freilich hätte ihr die Dankbarkeit einen andern Weg zeigen sollen als jenen, welchen sie für ihren Zweck gewählt – so meinte Karli. Und Eines – Eines war unter gar keinen Umständen an ihr zu entschuldigen: die schlaue Scheinheiligkeit, mit der sie es zu vertuscheln verstanden, was zwischen ihr und dem Vater im Gange war. Die Sache mußte ja doch seit Langem reif gewesen sein; sonst hätte sie an jenem Unglücksmorgen nicht so Knall und Fall über ihn herplumpsen können, gerade in der Stunde, in der er sich durch seine „unsinnige Einbildung“ vor Kuni’s Augen in


  1. ein unnützer, fauler Bursche.

[680] den Anschein der lächerlichsten Eitelkeit gebracht hatte. Aber mochte sie nun auch so grundschlecht gehandelt haben, wie keine Andere gehandelt hätte – ein gutes und gesundes Fleckchen mußte ja dennoch in ihrem verkrüppelten Herzen sein, sonst hätte sie nicht mit solch einer abgöttischen Liebe auf Leben und Tod an ihrer armen Mutter hängen können.

Da gewahrte Karli an einer Mauerecke den gesuchten Briefkasten. Hastig schob er den Brief in den schmalen Spalt. Doch als er ihn mit leisem Knistern niederfallen hörte, zwängte er gewaltsam die zitternden Finger unter die Klappe, als hätte er den Brief noch einmal erhaschen mögen. Der aber lag schon in der unerreichbaren Tiefe des Briefkastens.

„Meintwegen – jetzt kann ich’s auch nimmer anders machen!“ murrte Karli und wanderte zögernden Schrittes zur Kaserne zurück.

Am andern Morgen erfolgte der Abmarsch ins Lager, und es kamen Tage, deren Aufregung und Strapazen dem Burschen nur selten Einkehr bei sich selbst gestatteten. Und wenn er wirklich einmal mit einem ruhigen, bewußten Gedanken an die Dinge zu Hause dachte und darüber grübelte, welche Wirkung sein Brief wohl auf den Vater geübt haben könnte, dann überkam ihn zumeist ein Gefühl von unbehaglicher Bangigkeit, über dessen Ziel und Ursache er sich keine Rechenschaft abzulegen wußte. Da schüttelte er manchmal gar unwillig den Kopf, schluckte Alles mit Gewalt hinunter, was in ihm aufstieg, und redete sich in eine Hoffnungsseligkeit hinein, die ihm statt des zweifelhaften Gesichtes der Gegenwart nur die Zukunft mit lächelndem Antlitz zeigte.

So war eine Woche vergangen. Als Karli dann eines Nachmittags vom Manövergefechte in sein Quartier einrückte, wurde ihm durch die Post eine kleine Kiste überbracht. Sie kam von Hause und war mit allerlei Fleischwaaren vollgepackt. Auf dem Boden der Kiste fand sich ein kleines Säcklein angenagelt, welches zwanzig Preußenthaler enthielt – und einen Brief des Pointner’s. Er lautete:

„Mein lüber Karli! Da schig ich Dir was zum schnabulüren, weil wir ein Sau gschlacht haben und ein Lampl, das Du mir nicht von Fleisch fahlen dust, mein armer Puab, beim Exerziren und der filen Plag und schlechte Kohst. Und ein bisl Geld auf ein gute Mas Bier und das Dein gschtrengen Herr Wachmeister ein bisl einreiben kannst, daß er Dich beser halten duht. Und so ietz las Dir Schmeggen, und nur gwis nix laß Dir nix abgehen, was Dein alten Vater im Herzen kimmern dät. Sonst get es mir gut, nur das Du nicht da bist, was ich in meiner Draurigeit immer dran denke. Und las Dir kein graus Haar nich waxen, wo ich Dir son verzichen hab. Weil ich kein solchener bin, wo sein liben Son des sein Kann, und daß ich gwis alles Recht mache, das es Dir recht is. Wo es schon einmahl so sein mus, und weis ich auch, daß der lübe god schon noch die Stund kommen last, wo ich mit mein gutten Karli ales dadrüber mit einand ausred, das er sein alten dummen Vater nicht bes ist. Was ich Dir auch schreiben Wil, daß der Stofl gestern auf sein Nas gfallen ist und sich ganz blüedig schlagen hat in Gsicht, grad derweil die Kuni fort is in ihr Heimahd, und das sie Dich schön grießen laßt. Und must nich derschreggen, weil der Schiml, wo Du so hizig gfahren hast, ganz dempfig heim kommen is und leicht grebiern mus. Aber macht nichs und gibts auch ned, das ich zwegen ein lausigen Ros mein liben Karli des sein kunt. Und also mach Dir nigs draus und pfiet Dich Got, mein lieber Bueb, womid ich Dich grisse, und so auch der Getz und ale und insbsonders Dein alter

 dalketer Vater
 mit seim Gsalbader.“

Karli las, und las zum zweiten und dritten Male, und während ihm die hellen Thränen über die Backen rieselten, lachte und lachte er, und das war ein so übermüthig seliges Lachen, wie es ihm wohl selten noch in seinem Leben von den Lippen geklungen war.

Daß sein Brief solch eine rasche, radikale Wirkung üben könnte, hatte er sich denn doch nicht träumen lassen. Wohl kam ihm in des Vaters Brief die eine und andere Stelle etwas dunkel vor. Um so deutlicher las er die Erfüllung seines ganzen Hoffens aus jenen anderen Worten: daß der Vater Alles so richten wollte, wie es seinem lieben Buben recht wäre – daß die Kuni bereits ihren Laufpaß erhalten und lange schon den Weg nach ihrer Heimath genommen. Der Vater hätte ja mit dem besten Willen nicht deutlicher schreiben können! Und wie zufrieden und fröhlich mußte ihn dieser verständige Entschluß gestimmt haben! Das verrieth sich aus dem lustigen Verslein, mit dem der Vater seinen Brief geschlossen. Nach diesem Schlusse konnte Karli die Stelle mit der „Draurigeit“, die ihn anfangs so eigenartig berührt hatte, nur als einen gut gemeinten, aber etwas mißglückten Scherz betrachten. Daß sein eigener Brief vom Vater nicht mit einer einzigen Silbe berührt wurde, das fiel ihm mit keinem Gedanken auf. Die Freude war in ihm zu mächtig, als daß sie ihn hätte zu langem Denken kommen lassen. Daß Alles nun wieder gut wäre, das war sein einziger Gedanke – und der ließ in ihm nur noch Raum für die eine Erwägung, wie lieb der Pointner seinen Buben haben mußte, da er nicht einmal wegen der Geschichte mit dem Schimmel ein hartes Wort für ihn hatte. Daß ihm der Vater die „hitzigen Händ’“ vergessen konnte, daß er die Kuni aus dem Hause gestampert, das waren in Karli’s Augen für die Liebe des Vaters zwei Beweise, die weitaus noch von diesem dritten übertrumpft wurden: daß ihm der Bauer auf der Point den in Zorn und Erregung zu Schanden gehetzten Schimmel verzieh.

In seligem Taumel durchschwärmte Karli die Nacht. Jetzt waren ja Glück und Sanni in seinem Herzen wieder oben auf. Wie im Fluge vergingen ihm die folgenden Tage, und dennoch meinte er, die Stunde der Heimkehr kaum erwarten zu können.

Die Manöver gingen zu Ende; in drei Tagemärschen kehrte Karli’s Regiment nach München zurück, und dann kam der langersehnte Mittag, an welchem er, als der Eiligste von der ganzen Schar der „Urlauber“, aus der Kaserne nach dem Bahnhof stürmen konnte.

Gegen zehn Uhr Abends erreichte er die Endstation seiner Fahrt. Hier nächtigte er, denn er hätte vor zwei Uhr sein Dorf nicht erreichen können, und während es ihm die größere Freude schien, das Wiedersehen bei hellem Sonnenlicht zu feiern, hätte er’s für die unverzeihlichste Sünde gehalten, den guten alten Vater mitten in der Nacht aus dem besten Schlaf zu reißen.

Bei grauendem Morgen brach er auf, nachdem er für die gelegentliche Heimschaffung seines Koffers Sorge getragen hatte.

Rosige Gedanken kürzten ihm den Weg, der hügelauf und hügelab durch Wiesen, Wald und kahle Felder zog. Der Herbst verrieth sich schon in all dem kränkelnden Grün; an manchen Stellen deckte ein dünner Reif die Büsche und das Gras; und die schweren Frühnebel schienen sich untrennbar auf dem Grunde und in den Bäumen verfangen zu haben; dennoch war es Karli zu Muth, als hätte er nie noch einen schöneren Morgen gesehen. Das war ein Morgen, der in seiner Wirkung jenem Abend glich, an welchem über dem Bygotterhäuschen ein Stern sich geschnäuzt hatte. Und wie damals heimwärts auf der offenen Straße, so jodelte und dudelte jetzt Karli durch den Wald dahin. Als er dann seinem Dorfe bis auf eine halbe Wegstunde nahegekommen war, schlug er einen ziemlich beträchtlichen Umweg ein. Auf der Straße mußte man ihn im Pointnerhofe schon von Weitem kommen sehen – er aber wollte den Vater überraschen und so dachte er sich von der Waldseite über die Wiesen in das Haus zu schleichen.

Schon traten die Bäume weiter aus einander und Karli meinte zwischen ihnen bereits den leichtgesenkten Wiesenhang zu gewahren. Da fiel im Dorfe drunten ein Schuß, nun wieder einer, ein dritter und vierter, dann mehrere zugleich, und in das Knattern und Krachen mischten sich kreischende Jauchzer und johlendes Geschrei. Da drunten schien eine Taufe gefeiert zu werden. Aber nein – jetzt trug der bergwärtsziehende Wind auch die Töne von Geigen, Trompeten und Klarinetten, die Klänge eines lustigen Marsches herauf. Das mußte ja eine Hochzeit sein! Und all das hörte sich an, als käme es aus nächster Nähe – am Ende gar aus dem Hofe des Nachbars! Karli lächelte. Er gönnte der Huber-Kathl diese Freude – es war ja bei ihr recht an der Zeit gewesen, daß sie Hochzeit machte. Und wie schnell sich das gegeben hatte, nachdem es doch vor vier Wochen noch nicht den Anschein gehabt hatte, daß es die Kathl durchsetzen würde.

Lächelnd trat Karli unter den Bäumen hervor auf die Wiese – und das Lächeln erstarrte ihm auf den Lippen. Zu seinen Füßen lag das elterliche Haus, der ganze Hofraum war

[681]

Auf Besuch beim Großvater.
Nach einem Oelgemälde von Adolf Eberle.

[682] mit Menschen angefüllt, das Zaunthor weit geöffnet, hoch über den Köpfen der Leute schwankte der buntbebänderte Stab des Hochzeitladers; ein langer Zug entwickelte sich aus der Hausthür; ihm schlossen sich die Menschen, die den Hofraum füllten, in drängenden Gruppen an, und während die Musikbande unter schmetternden Klängen schon in die Straße schwenkte, blitzten hinter den Scheunen all der Nachbarhöfe die krachenden Schüsse auf.

Eine fahle Blässe hatte das Gesicht des Burschen überzogen; weit offen starrten seine Augen, seine Züge verzerrten sich; die dünne Gerte mit der Blätterquaste, die er sich im Walde geschnitten, sank ihm aus den zuckenden Händen und keuchende Athemzüge erschütterten seine Brust. Er stand, als hätte der Anblick einer gespenstigen Erscheinung seine Glieder gelähmt. Doch als die lustigen Töne des Hochzeitmarsches sich mehr und mehr entfernten, als der Letzte des Zuges hinter den die Straße deckenden Häusern verschwand, da schien ein Taumel die Kniee des Burschen zu brechen. Stöhnend raffte er sich auf. „Vater – Vater –“ kreischte er in schluchzenden Lauten gegen die Straße nieder, schlug die Hand in den Nacken, um die sinkende Mütze auf seinem Kopfe zu halten, und keuchend, stöhnend und schluchzend stürmte er in wahnsinnigem Laufe thalwärts über die Wiesen. Von Sekunde zu Sekunde steigerte sich noch die Hast seines Laufes. Doch als er die Stelle erreichte, an welcher sich der Wiesengrund in steiler Neigung gegen den umzäunten Garten senkte, verlor er die Gewalt über seinen Körper. Er stürzte und wurde mit der ganzen Wucht des jähen Sturzes wider den Gartenzaun geschleudert, daß dieser krachend unter ihm zusammenbrach.

Rasche Tritte näherten sich vom Hofe – und Götz erschien. „Ja was is denn –“ rief er über den Garten her, um erblassend zu verstummen, als er jenen gewahrte und erkannte, den er in weiter Ferne wähnte. „Jesus Maria – Karli – Du!“ stammelte er, sprang herbei und zog den Halbbewußtlosen an seine Brust empor. „Ja mein lieber, lieber Herrgott – was is denn da jetzt g’schehen! Und heut’ g’rad hat Dich Dein Unstern heimführen müssen – heut’ g’rad – Du armer Bua!“

„So – Du – Du bist da!“ glitt es in tonlosen Worten von Karli’s zuckenden Lippen. „Jetzt da schau her – a Knecht daheim – daheim, wenn sein Bauer sein Bauer Hochzeit halt’.“

„Wer hätt’ denn nachher ’s Haus g’hüt’t, wann Alles bei der Gaudi is! Aber geh, Karli – komm – kannst Dich ja schier net auf die Füß’ verhalten – schau’, da – da setz’ Dich a Bißl her!“ Er zog ihn nach einer nahen Gartenbank und drückte ihn darauf nieder. „So, schau’, und g’rad a wengerl hab’ Dich jetzt stad, weißt, daß ich Dir um an Trunk Wasser schauen kann.“

Schwerathmend, zitternd am ganzen Körper, das bleiche Gesicht von Schweiß bedeckt, saß der Bursche und starrte mit irren Augen dem Knechte nach, der um die Scheune verschwand.

Mit einem Krug voll Wasser kehrte Götz zurück. Karli trank in langen Zügen, und wortlos ließ er es geschehen, daß ihm Götz mit nassem Tuche das Gesicht erfrischte. Dann plötzlich krampfte er die Hände um den Arm des Knechtes und schluchzte: „Götz – Götz – sag’ mir’s, Götz – ich hab’s ja g’sehen – hab’s g’sehen mit die eigenen Augen – aber sag’ mir’s – sag’ mir’s Du – is denn auch wahr – sag’, Götz, sag’, därf’s denn wahr sein, daß der Vater so – so was thun kann?“

„Geh’ weiter, Karli, schau’, was hilft denn ’s Reden jetzt! Geh, komm mit ’rein ins Haus! Mag’s jetzt sein, wie’s will – jetzt heißt’s halt: tragen – daß Dich zum Schaden net auch der Spott noch trifft! Schau’ – es is g’rad wegen die Nachbarsleut’! Da spitzt ja schon einer her über d’ Hecken – so dumm! Geh’ – komm mit ’rein ins Haus!“

Götz warf noch einen zornigen Blick auf die nahe Hecke hinüber; dann zog er den Burschen am Arme mit sich fort ins Haus.


(Fortsetzung folgt.)




Der Raub in der Thierwelt.


Charakterdarstellungen von Adolf und Karl Müller. Mit Originalzeichnungen von Adolf Müller.


II.


Vor einiger Zeit (vergl. Jahrgang 1886, S. 598 und 635) haben wir ein Gemälde der hervorragendsten Räuber unter den Säugethieren unserer Heimath vor den Augen unserer Leser entrollt. Wir räumen jetzt das Feld den geflügelten Räubern zur Entfaltung der Eigenthümlichkeiten ihres Raubwesens.

Hoch im Aether schwebt über Bergeshängen und Matten der stolze Steinadler. Ruhig zieht er seine Kreise, und es scheint, als wolle dieser Herrscher der Lüste majestätisch den ewigen Frieden der Erdenwelt diktiren. Aber sein Auge sucht nur in der Runde die Gegenstände seiner heißen Mordlust. Es ist wie ein Fernrohr, dieses Auge, welches die Objekte nahe rückt; zusammenziehbar und ausdehnungsfähig erscheint die Pupille und dieser Wechsel vollzieht sich blitzschnell nach Bedürfniß und Umständen. Die Wahrnehmungen werden alle seelisch verarbeitet. Die Beute, welche den Räuber mächtig anzieht zum Ueberfall in die Tiefe, die Nähe des Hirten, die Schwere des Raubes, welcher wie Bleigewicht an den Fängen hängen und den Vogel an den Boden bannen würde, die Gefährlichkeit des bewaffneten Mannes oder die Ohnmacht des Kindes – kurz, eine ganze Summe von Gedanken, Schlüssen und wechselnden Empfindungen drängt sich in der Seele des Adlers zusammen bei aller scheinbaren Ruhe und Gleichgültigkeit. Da tauchen Erinnerungen in seinem Kopfe auf an Thaten der Vortage, der Vormonate, der Vorjahre, und die Uebung im täglichen Ausspähen des weiten Plans in der Runde macht ihn zum Meister in der Kombination, zum Beherrscher seiner selbst, zum Strategen im Guerilla- und Franctireurkriege, den er jedoch entweder nur allein oder in Gemeinschaft des Ehegatten führt.

„Ich habe,“ sagt Girtanner, „den Steinadler und sein Weib oft ganze Alpengebiete so regelrecht absuchen sehen, daß ich in der That nicht begreifen könnte, wie diesen vier Adleraugen bei so überlegtem Vorgehen auch nur eine Feder hätte entgehen mögen. Von der Felsenkante in der Nähe des Horstes gleichzeitig abfliegend, senkt sich das Räuberpaar rasch in die Tiefe hinab, überfliegt die Thalmulde und zieht nun an dem unteren Theile der Gehänge des gegenüberliegenden Höhenzugs langsam in wagerechter Richtung dahin, der eine Gatte stets in einiger Entfernung vom andern, doch in gleicher Höhe, so daß, was dem ersten entgangen, dem nachfolgenden um so sicherer zu Gesicht und was etwa von jenem aufgescheucht, diesem um so bestimmter in die Krallen kommen muß. Auf diese Weise am Ende des Gebirges angelangt, erheben sich Beide, um hundert Meter und darüber aufzusteigen, ziehen in dieser Höhe in entgegengesetzter Richtung zurück, erheben sich sodann wieder und suchen so in weiten Zickzacklinien den ganzen Gebirgsstock aufs Sorgfältigste ab.“

Der Adler weiß auch zu warten und die Zeit zu benutzen; er versucht zu täuschen, gedeckt zu nahen, zu überraschen, jäh herniederzufahren. Charakteristisch bleibt bei seinen Raubthaten die furchtbare Gewalt seines Niedersausens, seines mit allem Kraftaufwande geführten Schlags beim Angriff.

Beim Anblick der Beute senkt sich der kreisende Räuber erst in Schraubenlinien hernieder; dann legt er die Schwingen dicht an und fährt wie ein sausender Pfeil schief zur Erde herab, seine beiden weit vorgestreckten geöffneten Fänge dem Thiere in den Leib schlagend. Um das Gleichgewicht zu erhalten, stützt er sich mit den ausgebreiteten Schwingen und dem Schwanz. Den bissigen, wehrhaften Thieren schlägt er den krampfhaft sich zusammenziehenden Fang um den Hals, um sie zu ersticken, oder deckt das Gesicht, zermalmt mit dem Schlage das Gebiß, während der andere Fang in die Brust oder die Weichtheile sich eingräbt.

Mit furchtbarem Andrang greift auch der Bart- oder Lämmergeier die Beute an. Mit rasenden Flügelschlägen drängt er das widerstrebende Opfer an den Rand des Abgrundes, sucht es zu betäuben, zu blenden, zu verwirren und über die Felswand hinabzustürzen, mit dem Schnabelhaken und den Fängen es fortzureißen zur entscheidenden Stelle, um dann im Siegesgefühl gemessen hinabzuschweben in die gähnende Tiefe.

Was will gegen solche Großartigkeit das niedere Gebahren des Schmutz- oder Aasgeiers sagen, dieses Vielfraßes, von dem wir [683] uns in raschem Vorübergehen abwenden wollen, um dem Falkengeschlechte wieder um so anziehendere Charakterzüge abzulauschen.

Führen wir einen seiner Repräsentanten aus der Nähe, den gewandten, gefährlichen Feind der Vogelwelt, den Wanderfalken, vor. Unfähig einen Vogel im Sitz zu schlagen, richtet er sein Augenmerk beständig auf den Flug der befiederten Wesen. Und diesen hat er gründlich studirt und weiß ihn weidlich auszunützen, zu durchkreuzen, zu verwirren, zu überbieten. Verliert er die Geduld beim Lauern und wollen die Kleinvögel nicht aus dem Laubwerk der Bäume über Blößen stiegen, so versucht er das Aufscheuchen durch Umflattern, oder er faßt den freisitzenden balzenden Staar ins Auge, streicht tief und gedeckt von hinten heran erhebt sich unmittelbar in seiner Nähe über ihn und schlägt ihn im Augenblick der Flucht mit vorgestrecktem Fang. Wie ein Marmorbild unbeweglich sitzt er auf dem Malstein, dem Grenzblock, dem Hügel oder dem Baumstrunck; kein Wesen ahnt, was in seiner Räuberseele vorgeht. Aber die Zeit versteht er nach der Uhr in seinem Kopfe auszurechnen.


Lauernder Baumfalke.


Bald rückt der Meisenzug auf den Weidenbäumen am Flußufer herauf, schon verkünden die rüstigen Blaumeisen, die Vorzügler und Quartiermacher, die Ankunft der harmlos wandernden Gesellschaft. Dort ist die Baumreihe unterbrochen durch eine Blöße von 200 Schritt Länge. Der Falke kennt die ängstliche Verzagtheit des kleinen Völkchens, über das Freie hinaus zur jenseitigen Deckung zu eilen. Zögernd streben einige voran und kehren, von schlimmer Ahnung bestellen, in scharfer Wendung sogleich wieder um. Der Kopf des Räubers hat sich in spannender Fieberregung des heißblütigst Naturells gehoben, das Gefieder glättet sich, die Haltung wird eine vorgebeugte. eben eilt die kleine Schar über die Blöße. Entschluß und That werden eins in unmittelbarer Folge, mit gedecktem Anstrich ist der Schrecken plötzlich da mitten unter dem erschütterten, jedem Bergungsmittel zuflüchtenden Völkchen. Doch sogleich ist's wieder still, Alles wie todt, und eine geschlagene Meise im Fang, kehrt der Falke zurück hinter einen Hügel, mit der kleinen Beute kurzen Proceß machend.

Wieder sitzt der Lauernde auf seinem Beobachtungsstand. Da fällt in der Ferne ein Schuß. Wie es den Räuber durchbebt, wie das Auge Feuer sprüht! Rasch verändert er seinen Standort. Dicht an der Weidenallee des Flusses fußt er auf dem Pfosten einer Schleuse. Jetzt müssen sie jenseits daher gestrichen kommen, die Stockenten deren Gewohnheit er kennt, und die, vom Jäger aufgescheucht, an Lieblingsplätzen wieder einfallen wollen. Hinter den Weidenzweigen streicht er mit ihnen parallel bis zur Blöße; am letzten Baum hebt er sich über die Enten empor, um eine derselben in Hast zu schlagen; doch die Bedrohte macht in der Todesfurcht eine Schwenkung und stürzt sich ins Wasser, das hoch aufspritzt und den drängenden Falken netzt. Mit einem Federbündel des Rückentheils der Ente im abgleitenden Fang zieht der Ernüchterte ab.

Der flinkeste, rascheste und in der Ausführung von jähen Wendungen geschickteste Räuber ist der Baumfalk, der gerne in Gemeinschaft mit dem Ehegatten, so sogar selbst zur Herbstzeit im September, zu Zweien, den Raub ausführt, wiewohl es da habgierige Zänkereien absetzt, wodurch sogar das glückliche Entrinnen dem geraubten Vogel ermöglicht wird. Vor unserem Hühnerhunde stand eine Wachtel auf, die, von einem Baumfalken wahrgenommen, sich nach etwa 150 Schritte weitem Streichen plötzlich in einen Busch fallen ließ. Der Falk war bei ihrem Einfallen mit seinen Fängen dicht an ihr hergestreift. Die Wachtel stand zum zweiten Male vor dem Hunde auf und wurde abermals von dem wieder aus weiter Ferne plötzlich erscheinenden Falken verfolgt. Ein Schlag mit dem Fang warf sie zur Erde, und nun schwebte forschend der Räuber über dem Stoppelacker, wo er die Beute aus den Augen verloren hatte. Wir verscheuchten ihn und ließen den Hund nochmals vorgehen. Als wir die Wachtel eben mit der Hand decken wollten, erhob sie sich und wurde nun mehrere hundert Schritte von uns entfernt die Beute des dahersausenden Falken, der mit staunenswerther Eile die Luft durchschnitt und die Wachtel mit kräftigem Schlag niederwarf, sie auf dem Boden unter den Fang nehmend. Durch unser Hinzueilen verscheucht, ließ er die Wachtel fallen. Kaum aber war die Erwürgte auf den ohnlängst erst gemähten und mit jungem Nachwuchs spärlich bedeckten Klee-Acker niedergefallen, so erschien zu unserem Erstaunen ein Hühnerhabicht, der dicht neben dem Baumfalken herabrauschte und vor unseren Augen die Wachtel ganz verschlang.

Der vielseitige Räuber Hühnerhabicht verfolgt die Beute in die Fluchtstätte hinein, so weit er es vermag. Die Taube schlägt er nicht selten als eindringender Verfolger im Taubenschlage noch, indem er sie da blindwüthend überfällt, die Sperlinge, mögen sie auch wie todt ins Gebüsch sich niedersinken lasten, greift er mit dem Fang heraus. Wohl setzt auch er die volle Kraft und Geschicklichkeit beim ersten rauschenden Angriff ein, und zwar nicht selten so sah anstürmend, daß er im Dorngestrüpp sich selbst gefangen giebt oder an einem Gegenstande sich verletzt oder sogar tödtet. Das widerfährt auch seinem Vetter, dem kleineren Sperber, dessen Kühnheit und Verwegenheit ihn selbst auf Vögel in Käfigen vor und hinter den Fensterscheiben stoßen läßt. Wie mancher dieser frechem unbändigen Räuber ist schon in der Stube ergriffen worden, in welche er raubmörderisch nach einem Vogel seinen Stoß lenkte! Große List offenbaren Beide, Hühnerhabicht und Sperber, auf dem Plane ihrer Räubereien. Mit dick aufgeblasenem Gefieder sitzt der Habicht auf einem Baum oder einem Dach des Gehöftes anscheinend so ungefährlich und theilnahmlos, daß wir die Tauben ganz in seiner Nähe fußen und ruhen sahen. Wir staunten über die Zutraulichkeit und Harmlosigkeit der Tauben, die ihn doch sonst bei der entferntesten Annäherung mit Angst und Entsetzen fliehen. Es wollte uns auch nicht verständlich werden, warum der Räuber nicht zugriff. Da plötzlich schlägt er eine Taube, die ihm freilich so greifbar erschienen sein mußte, daß er diese Gelegenheit nicht vorübergehen ließ. Wir konnten nicht anders schließen, da wir öfters diese Beobachtung machten, daß die Sättigung durch reichliche Kröpfung und die behagliche Hingabe an das bei den Raubvögeln wichtige Geschäft der Verdauung und des Gewöllauswurfes Ursache des langen Zuwartens und der Zurückhaltung war. Bewunderungswerth ist auch bei diesem Räuber, wie beim Sperber, die regelmäßige Einkehr an gewissen Oertlichkeiten, welche oft in der Wiederholung auf die Minute zutrifft. Auf den Gehöften geht Alles seinen geregelten Tagesgang, und sehr bald prägt sich dem feinsinnigen Sperber jedes Merkmal in Ton und Erscheinung fest ein, welches Sperlinge, Finken, Goldammern und dergl. Vögel zu. gemeinschaftlichen Ausbeutung von Nahrungs- und Futterplätzen vereinigt. Eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit des Sperbers besteht in dem widerlich klingenden Gewimmer, wenn er einen größeren Vogel, eine Taube, einen Heher oder eine Dohle, geschlagen hat und mit ihm einem gedeckten Orte zustrebt. Auch haben wir dieses Wimmern beobachtet, wenn zwei Sperber vereinigt sind, von denen der eine einen Raub ausgeführt hat, und der andere, neidisch und lüstern geworden, in Tönen seine unangenehmen Empfindungen kund giebt.

Charakteristisch ist beim Hühnerhabicht die Hartnäckigkeit seiner Verfolgungen. Er läßt sich's nicht verdrießen, immer wiederzukehren, und wird nicht abgeschreckt durch Mißerfolge. Seine Beharrlichkeit führt ihn doch endlich zum Ziel und Sieg. Im [684] Winter muß er oft schwer ermattet schließlich abstehen vom Jagen nach dem Eichhorn, das er zuerst durch überraschenden Ueberfall zu schlagen sucht, dann geht er nach mißglücktem Versuch zur Hatze von Ast zu Ast über, wobei er mit ausgebreiteten Schwingen wie rasend auf die fliehende Beute stürzt und in Folge der geschickten Wendungen und Ausweichungen des Eichhorns so verzweifelt anstrengende Anfälle machen muß, daß die Erschöpfung


Kampf eines rothen Milans um eine vom Wanderfalken geschlagene Wildente.


eintritt und der Jagd ein Ende macht. Gar manchmal kommt er jedoch auch hier zum Ziel.

Begegnen wir bei dem Sperber schon häufig dem eigenthümlichen Ritteln in mäßiger Höhe, um den Plan zu ergründen und zu überschauen, wobei die Stellung gleichsam ein Stehen in der Luft unter raschen Flügelschlägen ist, so wird uns dieser Anblick mehr noch von den Weihen geboten, am häufigsten von den kleineren Falken, wie dem Thurmfalken. Es strengt diese Unternehmung unzweifelhaft die Kräfte an, und darum sehen wir die Räuber öfters das Ritteln unterbrechen. Der Milan characterisirt seine Thaten durch seine Beobachtungen in kreisenden, schwebenden und rittelnden Flugbewegungen. Ueber den Teichen erforscht er mit weit- und tiefgehendem Blick den Stand der Karpfen, und gewöhnlich kehrt er zu seinen Beobachtungskreisen zu bestimmten Tageszeiten, besonders in der Frühe, wieder. Man staunt über manche seiner Ausführungen im Fischraub, über die Schärfe seiner Fänge, mit denen er dem schlüpfrigen Fisch unter der Wasserfläche in den Rücken schlägt und ihn heraushebt mit hochgehaltenen Schwingen.

Ganz anders geartet erscheint in seiner Bethätigung der Bussard, der nicht im Stande ist, den Vogel in der Luft zu ereilen und zu schlagen, wohl aber trotz seiner derben und plumpen Erscheinung durch den Sturz vom Rittelstande herab und durch [685] den von den Schwingen unterstützten Lauf und Sprung die Beute zu erhaschen. Oft schlägt er den Nager, indem er mit ihm einen großen Bündel Genist oder Moos packt. Halbe Tage lang sitzt er wie gebannt an einer Stelle, wo ihm ein verletztes Rebhuhn oder ein angeschossenes Häschen entronnen ist. Qualvoll für das Opfer ist sein langsames Morden, herzzerreißend der Schrei der Todesangst unter seinen deckenden ausgebreiteten Schwingen. Tapfer, aber erfolglos wehrt sich gegen ihn der Hamster, zuweilen mit Erfolg dagegen die Kreuzotter, die einen langen Kampf mit ihm besteht.


Steinadler mit Beute.


Bussarde und Gabelweihen oder Milane gehören zu den sogenannten Schmarotzern unter den Tagraubvögeln, welche den edlen Falken den Raub abtrotzen. In der Nähe der Schauplätze der Großthaten der Edelfalken sitzen sie stunden- und tagelang auf der Lauer, und sobald jene in ihrer kühnen, gewandten Ausführung den Raub vollzogen haben, kommen die lästigen Dränger heran und folgen ihnen zu den Plätzen, wo sie kröpfen wollen. Mit unverschämtester Frechheit dringen die Gierigen auf sie ein wie Diebsgesindel und nöthigen die Falken, ihnen nicht „großmüthig“, wie falsche Beobachter und ungenügende Kenner der Thierseelen sich auszudrücken pflegen, sondern „widerwillig und gezwungen“, wie die richtige Bezeichnung nur sein kann, den Raub zu überlassen. Die Schmarotzer ziehen diesen Nutzen und Vortheil aus dem Unvermögen der edlen Falken, sich auf dem Boden zu vertheidigen. Wie letztere auf dem Boden nicht rauben können, so fehlt ihnen auch da die Wehrfähigkeit. Aber es kommt noch etwas Anderes hinzu. Je edler der Räuber ist, desto mehr haßt er das Aufsehen Erregende bei seinen Thaten, und wenn es Tumult und Aufruhr giebt, läßt er zuweilen schon sogleich nach der Ergreifung der Beute dieselbe wieder fallen. Schreiend haben wir sogar dem Hühnerhabicht in nächster Nähe das geschlagene junge Huhn abgejagt. Nichts haßt der edle Räuber mehr, als laute, auffallende Scenen, bei denen ihn das Gefühl der Unheimlichkeit und der Unsicherheit befällt. Denn wohlgemerkt! die Mordleidenschaft überragt um Vieles die Sättigungsgier; letztere tritt unter entgegenwirkenden Eindrücken weit eher zurück. Läßt doch der Edelfalk oft schon beim Ansichtigwerden der Schmarotzer die Beute sogleich fahren, während ihre Anwesenheit die Ausführung des Fangschlags nicht hindert.


(Fortsetzung folgt.) 




General von Werder.

Ein Nachruf von E. v. Wald-Zedtwitz.
(Mit Portrait S. 669.)

Ihre heldenmüthige, dreitägige siegreiche Vertheidigung Ihrer Position, eine belagerte Festung im Rücken, ist eine der größten Waffenthaten aller Zeiten. Ich spreche Ihnen für Ihre Führung, den tapferen Truppen für ihre Hingebung und Ausdauer meinen königlichen Dank, meine höchste Anerkennung aus und verleihe Ihnen das Großkreuz des Rothen Adler-Ordens mit Schwertern als Beweis dieser Anerkennung.“

Das waren die Worte, welche nach den ruhmreichen Schlachten des 15., 16. und 17. Januar 1871 Seine Majestät der König einem seiner ältesten Generäle, August von Werder, mit herzlichem [686] Dank zurufen konnte. Wahrhaft königliche Worte, wie sie der Monarch nur denen je gesagt hat, die Viel, die Großes zum Ruhme des Vaterlands gethan.

„General von Werder – General von Werder“ flog’s wie Blitzesstrahlen durch die gesammten deutschen Gauen, als er an jenen Tagen am Ufer der Lisaine im Angesicht von Belforts Felsenfeste Bourbaki schlug.

„Le Général de Werder“ ging’s angsterfüllt auch durch des Franzmanns flüchtige Reihen, und was am Leben blieb, das dankte Gott, die Eisenfaust des Generals nicht mehr zu spüren. Sah auch das ganze Deutschland mit Stolz auf diesen Einen seiner besten Sohne, schlug ihm auch jedwedes Herz dankbar entgegen, so waren es doch besonders die Länder an der Grenze, welche am allerwärmsten für ihn fühlten.

Man denke, wenn der alte Löwe nicht Zähne und Pranken so tapfer dem Feinde gezeigt, wenn er unterlegen und der Strom der gallischen Horden uns ins Land gekommen wäre, wie hätten die rheinischen Gefilde beim ersten Anprall des wutherfüllten Feindes dessen frühere Niederlagen und unsere Siege büßen müssen! Und unser weiser Kaiser wußte das; er unterstellte, als Friedenshymnen durch deutsche Wälder klangen, gerade die Truppen dieser Länder dem Kommando des ruhmgekrönten Generals.

„Wie schön die Reben bei Euch stehen!“ sagte von Werder einst zu einem Bauern.

„Das haben wir Euer Excellenz allein zu danken, denn wenn die Bourbaki’schen uns ins Land gekommen wären, nicht eine stünde heute hier!“

Und während sein greiser Kriegsherr, sein ehemaliger Regimentskamerad im Regiment der Garde du Corps und im ersten Garderegiment zu Fuß, in Stettin die alten, mit Kriegesruhm geschmückten Regimenter, Nr. 2, König Friedrich Wilhelm IV., Colberg, Nr. 9 und die rothen Blücher’schen Husaren bei sich vorüber defiliren ließ, da ruhte der tapfere General, der Ehrenbürger der Stadt, von seinem Waffenruhme auf stiller Bahre aus. Einer war wieder dahingegangen, der Deutschlands Ruhm zum höchsten Glanze brachte, der mit nerviger Faust geholfen hat, zum einigen Ganzen es zusammen zu schweißen.

Auf seinem Gute Grüssow bei Belgard, wo der greise Krieger, einfach, bieder, schmucklos, seinem Charakter entsprechend, die letzten Lebenstage in stiller Zurückgezogenheit verbrachte, hauchte er am 12. September, an seinem 79. Geburtstage nach kurzem Krankenlager seine Seele aus. Mancher Ordensstern zierte seine Brust, doch heller als diese strahlt sein Name in der Geschichte. Ewig unvergessen wird er bleiben, so lange noch ein Deutscher jener großen Zeit gedenkt.

Werder’s kriegerische Thätigkeit war mannigfaltig. Schon als Premierlieutenant im Jahre 1842 hörte er während des russischen Feldzuges im Kaukasus die Kugeln pfeifen. Thatendrang und Wißbegierde führten ihn im Verein mit seinem Kameraden von Gersdorff – Ruhm seinem Namen, er starb bei Sedan als Generallieutenant den Heldentod! – zu einer Zeit dorthin, wo seine Altersgenossen in der Armee den Krieg nur vom Hörensagen kannten. Der Wladimirorden zierte seitdem seine Brust, und eine Ehrenwunde am Arme begleitete ihn seit jener Zeit durchs Leben.

Auch bei Gitschin focht er, und ruhmvoll war sein Antheil am Siege von Königgrätz; sonst wäre ihm der Orden Pour le mérite nicht geworden. Als die Kanonen vor Straßburg sprachen, da war es Werder, welcher kommandirte und der nicht locker ließ, als bis die Feste sich ergeben. Am 22. Oktober schickte er die französische Ostarmee mit eisernem Zwangpaß über den Oignon gen Besançon; bei Dijon, Nuits und Villersexel führte er siegreich die Fahnen. Das Eichenlaub zum Pour le mérite und das Großkreuz des Eisernen Kreuzes schmückten ihn dafür! Groß sind die kriegerischen Verdienste dieses Mannes, aber eben so hoch ist anzuschlagen das, was er der Armee im Frieden war. Jede Stellung, und deren waren es viele, welche ihm sein König übertragen, sah ihn als Soldat, als Mann, als Mensch mit weichem Herzen, starkem Sinn und hellem Blick.

General Graf von Werder wurde am 12. September 1808 zu Schloßberg, Amt Norkitten in Ostpreußen, geboren, entstammte einem niedersächsischen, in Brandenburg angesessenen Geschlechte, trat am 14. Juni 1825 in das Regiment der Garde du Corps ein und feierte im Jahre 1875 sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum, bei welchem ihm der Orden vom Schwarzen Adler verliehen wurde. Am 5. April 1879 wurde er auf sein Ansinnen unter Erhebung in den Grafenstand und unter Belassung als Chef des 4. rheinischen Infanterieregimentes Nr. 30 zur Disposition gestellt.

Ein Ast der alten deutschen Eiche ist wiederum gefallen, es schmerzt das Land – es schmerzt den Kaiser; doch Zagen ist uns fern, denn junge Sprossen treibt der alte Stamm!




Blätter und Blüthen.

Goethe’s Minchen. (Mit Illustration S. 687.) Außer den unsterblichen Mädchen- und Frauengestalten, die unser großer Dichter geschaffen, gehören auch der Litteraturgeschichte jene Mädchen und Frauen an, die ihm im Leben begegnet, die kürzere oder längere Zeit seinem Herzen nahe standen und seine Phantasie zu ihren unsterblichen Schöpfungen anregten. Zu diesen gehört auch Wilhelmine Herzlieb, die Pflegetochter des Frommann’schen Hauses in Jena: man kannte bisher einige dichterische Huldigungen, die ihr Goethe gewidmet, aber über ihr eigenes Empfinden gegenüber dem Dichterfürsten fehlten alle Mittheilungen; Wilhelmine hatte keine schriftstellerischen Neigungen; ja sie war, wie ihre Hausgenossen berichten, „entsetzlich schreibfaul“, führte also auch keine Tagebücher, in denen sie die Chronik ihrer Erlebnisse, ihre Stimmungen und Gefühle niederlegte. Gleichwohl ist es einem Goethe-Forscher, Karl Theodor Gaedertz, gelungen, 6 bisher ungedruckte Briefe des Mädchens aufzufinden, die er in einer Schrift „Goethe’s Minchen“ mit dem bisher unbekannten Portrait derselben veröffentlicht hat (Bremen, Müller). So tritt uns Wilhelmine Herzlieb, die bisher in einem gewissen geheimnißvollen Dunkel geblieben, menschlich näher; denn der Stil ist der Mensch, und einige Zeilen dieser Briefe geben auch einen Einblick in ihr Empfinden und zeugen von dem oft bestrittenen Antheil, den sie dem Dichter schenkte, von der Neigung, die sie ihm entgegenbrachte.

Wilhelmine Herzlieb war am 22. Mai 1789 zu Züllichau geboren als Tochter des dortigen Superintendenten. Ihre Eltern starben frühzeitig und sie kam 1798 in das Haus des Buchhändlers Frommann, der damals von Züllichau nach Jena übersiedelte. Hier lernte Goethe das artige Kind kennen und widmete ihm die folgenden Verse:

„Als kleines artiges Kind durch Feld und Auen
Sprangst du mit mir so manchen Frühlingsmorgen;
Für solch ein Töchterchen mit holden Sorgen
Möcht’ ich als Vater segnend Häuser bauen.
Und als du anfingst, in die Welt zu schauen,
War deine Freude häusliches Besorgen:
Solch eine Schwester und ich wär’ geborgen;
Wie könnt’ ich ihr, ach wie sie mir vertrauen.“

Doch das Kind erwuchs zur Jungfrau, „zur lieblichsten aller jungfräulichen Rosen“; das Portrait, von Johanne Frommann, der Pflegemutter, kurz vor der Zeit gemalt, ehe Goethe’s Herz sich dem schönen Mädchen zuwandte, dies bisher unbekannte Portrait giebt uns ein Bild von der Art und Macht ihrer Schönheit. „In der That,“ sagt Gaedertz, „liegt ein ganz eigenthümlicher Duft über dem wunderholden engelgleichen Angesicht ausgegossen; anmuthig und thaufrisch sind die kindlich reinen Züge; die großen dunkelbraunen ‚Augen‘ – mehr sanft als freundlich und feurig – schauen unschuldsvoll fragend drein; klein und köstlich sind die rosenrothen Lippen; schwarzes reich geringeltes, in Locken nach vorn fallendes Haar umrahmt den feinen ovalen Kopf und erhöht die Zartheit des Teints; man möchte meinen, eine Madonna vor sich zu sehen. Doch nicht bloß Haupt und Büste, ihre ganze Gestalt war schön, von klassischem Ebenmaß, schlank und biegsam, edel und graziös in allen Bewegungen, die Kleidung stets einfach, aber geschmackvoll; sie liebte schlichte, weiße Kleider, wie wir’s auf dem Bilde sehen.“

Im November und December 1807 verweilte Goethe längere Zeit in Jena: damals war Minna Herzlieb die begeisternde Muse des Dichters; er selbst schreibt 1813 an seinen Freund Zelter, er habe Minna schon als Kind zu lieben angefangen und in ihrem sechzehnten Jahre mehr als billig geliebt. Der Romantiker Werner, der Dichter der „Weihe der Kraft“ und des „Kreuzes an der Ostsee“, war in jener Zeit nach Jena gekommen und hatte Goethe mit der damals grassirenden „Sonettenwuth“ angesteckt. Diese Wuth ergriff den Dichter und die schöne Minna Herzlieb wurde die Heldin dieser Sonette. Da ruft er in dem einen aus:

„Nun kann das schöne Wachsthum nichts beschränken;
Ich fühl’ im Herzen heißes Liebestoben.
Umfass’ ich sie, die Schmerzen zu beschwicht’gen?

Doch ach, nun muß ich dich als Fürstin denken;
Du stehst so schroff vor mir emporgehoben;
Ich beuge mich vor deinem Blick, dem flücht’gen.“

[687] Es war die Geliebte, die sich ablehnend gegen ihn verhielt. Auch in einem Silbenräthsel in Sonettenform feierte er sie:

„Zwei Worte sind es, kurz, bequem zu sagen,
Die wir so oft mit holder Freude nennen,
Doch keineswegs die Dinge deutlich kennen,
Wovon sie eigentlich den Stempel tragen!

Es thut gar wohl in jung’ und alten Tagen,
Eins an dem andern kecklich zu verbrennen,
Und kann man sie vereint zusammennennen,
So drückt man aus ein seliges Behagen.

Nun aber such’ ich ihnen zu gefallen
Und bitte, mit sich selbst mich zu beglücken;
Ich hoffe still, doch hoff’ ich’s zu erlangen,

Als Name der Geliebten sie zu lallen,
In Einem Bild sie beide zu erblicken,
In Einem Wesen beide zu umfangen.“

Jetzt nachdem Gaedertz diese Briefe aufgefunden, müssen wir annehmen, daß Minna die Neigung des Dichters erwiederte; er war zwar achtundfünfzig Jahre alt; doch wie die greise Minna selbst es aussprach: Goethe war immer jung, man merkte bei ihm nicht das Alter. In einem Briefe an eine Freundin vom 10. Februar 1808 schreibt sie: „Goethe war aus Weimar herübergekommen, um hier recht ungestört seine schönen Gedanken für die Menschheit bearbeiten zu können und so denen, die sich so sehr bemühen, immer besser zu werden, auf den rechten Weg zu helfen und ihnen Nahrung für Kopf und Herz zu verschaffen. Er wohnte im Schloß, zu unserer großen Freude; denn wenn wir seiner Wohnung nicht so nahe gewesen wären, wer weiß, ob wir ihn dann jeden Abend gesehen hätten; denn er muß sich doch auch ein Bischen nach seiner Gesundheit richten, die zwar jetzt im sehr guten Gleise ist. Er war immer so heiter und gesellig, daß es Einem unbeschreiblich wohl und doch auch weh in seiner Gegenwart wurde. Ich kann Dir versichern, liebe beste Christiane, daß ich manchen Abend, wenn ich in meine Stube kam und Alles so still herum war und ich überdachte, was für goldene Worte ich den Abend wieder aus seinem Munde gehört hatte, und dachte, was der Mensch doch aus sich machen kann, ich ganz in Thränen zerfloß.“

Und aus ihrer Heimathstadt Züllichau, wo sie zum Besuch bei ihrer Schwester war, schreibt sie am 15. Oktober 1808 an dieselbe Freundin: „Alles, was mich trübe machen konnte, verbanne ich aus meiner Seele; wer weiß, ob ich nicht ganz geheilt werde, und dann ist mir geholfen, wenn ich nur mein begangenes Unrecht wieder gut machen könnte!“

Wilhelmine Herzlieb.

Das sind zweifellose Liebesgeständnissc, und das letztere könnte sogar Bedenken erregen, ob Minna immer die Hoheit der Fürstin gewahrt.

Im Jahre 1812 hatte sie sich mit Professor Pfund verlobt. Doch löste sie das Verhältniß wieder. Goethe schrieb im Februar 1813 an die Malerin Luise Seidler: „Grüßen Sie Minchen. Ich habe immer geglaubt, dies Geistchen gehöre einem treueren Element an; doch soll man sich überhaupt hüten, mit der ganzen Sippschaft zu scherzen.“

Im Jahre 1821 heirathete sie Professor Walch in Jena. Doch die Ehe war nicht glücklich; die Gleichgültigkeit steigerte sich bis zu völliger Abneigung. Walch’s Tod 1853 löste das unglückliche Verhältniß. Die Greisin starb am 10. Juli 1865 in einer Heilanstalt für Geisteskranke zu Görlitz.

Minchen Herzlieb war, wie man wohl vermuthen darf, das Urbild für die Ottilie in den „Wahlverwandtschaften“. Das wäre das dauernde Denkmal, das ihr der große Dichter gesetzt hat.†      

Nach dem Mont Saint Michel. (Mit Illustration S. 673.) Eines jener Länder, um welches Geschichte und Poesie die Aureole des Interesses und der Schönheit gesponnen, ist die Normandie. Im Allgemeinen darf man wohl sagen: jeder Theil derselben ist des Besuches werth, bietet ein besonderes Interesse: sowohl die historisch berühmten Städte mit ihren Kirchen, Kathedralen und alten Bauwerken, wie die schön bewaldeten Thäler und schlössergekrönten Hügel mit den silbernen Wasserfädcn und Bändern, die sich die Abhänge bald nackter Kalkfelsen, bald anmuthiger, von Buchen und Birken begrünter Berge hinabwinden oder in geraderem Laufe durch die smaragdgrünen Wiesen und üppigen Obstgärten ziehen, und die reizenden Dörfer, in denen das Weinlaub sich reich um die Fenster schlingt und selbst bis zu den mannigfarbigen Dächern emporklimmt.

Das im Ganzen sehr fruchtbare, reich angebaute Land gleicht in vielen Gegenden vollständig einem Garten. Alles ist voll Leben und athmet Fülle; es giebt wenig Länder, die diesem vergleichbar sind. Brennt einmal die Sonne so recht auf den Asphalt der Pariser Boulevards nieder, daß sie die ganze Bevölkerung auf die Schattenseite der breiten Straße schüttet, wie eine Sanduhr, die man umdreht; kommt die Jahreszeit, in der auch die Nächte keine Kühle bringen, da treibt es uns aus der Weltstadt fort, da wenden wir uns mit Vorliebe nach der Normandie, an deren Küsten wir die ersehnte Kühle finden, und zwar suchen wir zunächst den äußersten Westen der Provinz auf. Es ist dies das Departement La Manche, die westliche Halbinsel, Cotentin genannt, eine küstenreiche Landschaft, fruchtbar, besonders an Getreide, mit wenig Wäldern, aber weiten Wiesen, welche Pferde und Kühe nähren. Mit einem Theile der beiden östlich angrenzenden Departements des Calvados und der Orne bildet es die sogenannte Basse Normandie (Unternormandie), die wieder in viele einzelne Landschaften zerfällt.

Zwei Hauptschienenwege führen von Paris aus dahin, ein nördlicher nach Cherbourg, ein südlicher nach Granville, einem Städtchen, das sich immer mehr zum vielbesuchten Seebade gestaltet. Folgt man der am Meer entlang laufenden Straße nach Süden, so gelangt man auf einer dreistündigen Fahrt mit der Diligence nach dem reizenden Städtchen Avranches, mitten in der Biegung des rechten Winkels gelegen, welchen die Küsten der Normandie und der Bretagne hier bilden.

Aus dem Innern des Landes kommen von Osten nach Westen zwei Flüßchen herunter, die Sée und die Célune. Zwischen beiden ragt ein ziemlich steiles Vorgebirge mit Avranches auf dem nach dem Meere hingekehrten Rande. Vor dessen Fuß vereinigen sich die Flüßchen, um ein breites und flaches Thalland zu bilden, welches während der Fluth ganz vom Meere bedeckt ist. Mitten in dieser bald festen, bald flüssigen Ebene erhebt sich, wie hingezaubert, ein steiler Felsenkegel, der bis zu seiner Spitze mit Bauwerken bedeckt ist. Das ist der Mont Saint Michel, seit dem frühesten Mittelalter halb Kloster, halb Festung. Wir theilen eine gelungene Abbildung desselben mit. Um zu dieser Feste zu gelangen, muß man von Avranches zu einer Stunde abfahren, wann die Ebbe eintritt. Ueber breite, sandige Niederungen, welche mitunter von starken Sturmfluthen überspült werden, gelangt man nach ein- bis zweistündiger Fahrt auf den schlechtesten Wegen der Welt an die gewöhnliche Fluthgrenze.

Hier glaubt man das Ziel fast erreicht zu haben; aber man täuscht sich und hat noch eine gute Viertelstunde in gerader Linie über den spiegelglatten Sand in scharfem Trabe zu fahren, ehe man anlangt. Aus der Entfernung macht der Mont Saint Michel den Eindruck des Anmuthigen und Wunderbaren zugleich – in der Nähe ist er von überwältigender Großartigkeit. Als Basis seiner Pyramide, welche man in einer guten Viertelstunde umschreiten mag, erscheinen hier unersteigliche Granitwände, dort cyklopische Mauern mit Zinnen und Thürmen; darüber hinauf die Häuser des Dörfchens, dann wieder Felsen, dazwischen hohe Mauern mit ragenden Widerlagen; endlich bildet sich die Spitze in einer großen, über Alles emporblickenden Kirche, einem gewaltigen, schmucklosen Granitwerke, halb romanischen, halb gothischen Stiles, von dessen Mittelthurm man, zwischen Himmel und Felsen schwebend, eine herrliche Aussicht auf die Küsten der Normandie und Bretagne genießt – wahrlich ein erhabenes Schauspiel, das seines Gleichen sucht.

Der Ritt der Zietenhusaren zur Donau. (Mit Illustration S. 677.) In den Junitagen dieses Jahres durchzog eine glänzende Reitertruppe die deutschen Lande. Es waren 23 Officiere des brandenburgischen Husarenregimentes Nr. 3, welches dem deutschen Volke unter dem stolzen Namen Zietenhusaren wohl bekannt und lieb ist. Auf ihrem eiligen Ritt vom Norden nach dem Süden Deutschlands wurden sie überall freudig begrüßt; die Officierkorps verschiedener Regimenter ritten ihren ankommenden Kameraden an vielen Orten entgegen, und an der Grenze des Fürstenthums Schwarzburg-Rudolstadt empfing sie der Fürst selbst in zuvorkommender Weise. Aber wie freundlich auch die Quartiere winken mochten, die Zietenhusaren hielten überall nur kurze Rast; denn es war keine Vergnügungsreise, auf der sie sich befanden; unter Führung des Oberstlieutenant von Podbielski, ihres Regimentskommandeurs, hatten sie eine wichtige Aufgabe zu lösen. Der kleine Trupp Reiter stellte eine größere Kavallerieabtheilung vor, welche eine quer durch Deutschland marschirendc Armee in der linken Flanke zu schützen hatte, und mit dieser strategischen Uebung war zugleich ein Distanceritt verbunden, welcher unseres Wissens zu den größten und gelungensten zählt, die bis jetzt bekannt geworden sind.

Die Distanceritte, die den Gebrauchszweck unserer Kavalleriepferde auf diesem Gebiete prüfen sollen, mithin sich auch auf die Schlagfertigkeit unserer Reiterei beziehen, stehen streng genommen den Rennen, bei denen es sich nur um kurze Leistungen, ohne besonders schweres Gewicht handelt, fast diametral gegenüber. Das Rennpferd wird für seine Arbeit trainirt, gepflegt und gehegt; unser Kavalleriepferd, wenn auch in Athem geritten, muß ex abrupto Leistungen aufweisen, auf welche es in dieser Weise nie vorbereitet werden kann, und wenn es dann seine Aufgabe gewissenhaft erfüllt hat, fehlt es ihm nicht selten im Kriege an Wartung und Pflege, ja an einem schützenden Obdach, aber es zeigt sich, trotz seines geringeren Blutes, dennoch wetterhart und kampffähig.

[688] Das war auch bei dem letzten Distanceritt der Fall. Jedem Officier stand nur ein Pferd zur Verfügung, dessen Wartung er außerdem den Tag über selbst übernehmen mußte. Von dem Garnisonsorte Rathenow begaben sich die Reiter zunächst nach Bitterfeld, welches den Anfangspunkt der Uebung bildete; sie sollten über Merseburg, Naumburg, Rudolstadt, Koburg, Bamberg, Nürnberg und Weißenburg die Donau erreichen und von hier bis nach Würzburg vordringen. Viele von den Officieren mußten außerdem laut der besonderen ihnen von dem Kommandeur gestellten Aufgaben noch größere Strecken zurücklegen. Aber die Probe fiel trotz der meist herrschenden Hitze und trotz des oft schwierigen gebirgigen Terrains glänzend aus.

In den ersten sieben Tagen bis zur Donau wurden durchschnittlich 80 und 87,5 Kilometer geritten. Von den Reitern hatte ein Theil, der Aufgabe entsprechend, in 13 Tagen 880, ein anderer etwa 835 Kilometer zurückgelegt; der stärkste Ritt war 122 Kilometer an einem Tage, und was die Hauptsache ist, Reiter und Pferde befanden sich nach den forcirten Märschen wohl.

Die Skizze zu unserem Bilde, welches die einzelnen Theilnehmer in photographischer Treue wiedergiebt, hat der königlich sächsische Hauptmann d. L. und Bezirksofficier Lucius entworfen und das hineinzulegen verstanden, was in Wirklichkeit darin liegt – frischen, schneidigen Reitergeist. Die Officiere sind, wie das Bild selbst zeigt, gerade vereinigt, und ein jeder ist sich der schweren Aufgabe bewußt, die er jetzt von Neuem von seinem Kommandeur erhält.

Die herzliche Aufnahme, welche die Zietenhusaren in Süddeutschland nicht allein von kameradschaftlicher Seite gefunden, das lebhafte Interesse und die warme Sympathie, welche die Landbevölkerung bekundete, wurden aufrichtig dankbar empfunden.

Auf Besuch beim Großvater. (Mit Illustration S. 681.) Ein Genrebild aus dem Leben des Hochgebirges, welches den Nimbus des Romantischen trägt trotz aller Alpengesellschaften und Zahnradbahnen. Ein Blick durch die weite Fensteröffnung zeigt, daß die Hütte an einem von steilen Felswänden umgebenen See liegt. Wo sich aber Gebirge mit Wildstand finden und ein See, in welchem Fische schwimmen, da kann ein Bursch, wie der Großvater einer gewesen sein muß, nimmer leben, ohne Büchse und Angelzeug rüstig zu gebrauchen. Er ist denn auch in der That ein zweiter Colani geworden, wie ihn Lenz seligen Andenkens kaum besser zu seinem prächtigen Gemsjägertypus hätte finden können. Gar manches Ungewitter ist über dem grauen, wetterharten Kopfe hinweg gebraust; aber das Jagen und das Fischen wird heute noch betrieben wie zur Zeit, da Rosel hold verschämt ihm das Edelweiß auf den Hut steckte. Auch sein fröhliches Herz hat er behalten und das alte Sprichwort vom „Jagen, Fischen und Vogelstellen etc.“ wird an ihm zu Schanden; denn erstens blieb er kein Junggesell, wie der blühende Nachwuchs bezeugt, und eben so wenig ist er „verdorben“, wie seine Frische und Gesundheit beweist.

Aber etwas ruhiger fließt das einst so stürmische Blut und nicht mehr wartet er im kalten Frühjahre lange Nachtstunden zwischen Schnee und Eis, daß ihm ein Stück Wild vor dem Büchsenlauf komme; auch treibt er sich nicht mehr Nächte lang auf dem Tanzboden umher. Sein Rosel schlummert längst; aber er wird wieder jung mit den Kleinen, welche die Züge der Großmutter tragen. Besonders das Eine, das Nesthäkchen, ist ein gar lieb Dingelchen. Das weiß auch Karo, der melancholisch dreinschauende Hühnerhund, der sich die Vervollständigung seiner Dressur willig gefallen läßt: sind es doch die Lieblinge seines Herrn, welche ihm die schwere Kunst des Pfeifehaltens beibringen wollen. Aber die glücklichen Gesichtchen der Kinder lassen ihn selbst das Unwürdige geduldig ertragen; er wird nachher seine Schlappohren schütteln und mit dem Geschwisterkleeblatt um die Wette laufen und springen. Dächsel steht bescheiden und scheint offenbar nicht zu begreifen, warum man mit seinem Freunde Karo solche merkwürdigen Proceduren vornimmt. Kinder und Hunde! Den reizenden sinnigen Humor, der im Verkehr dieser beiden zu Tage tritt, weiß Niemand besser zum Ausdruck zu bringen, als Adolf Eberle.

Lippert’s „Kulturgeschichte der Menschheit in ihrem organischen Aufbau“, auf deren Erscheinen wir bereits im Jahrgang 1886, S. 236 hingewiesen haben, liegt nunmehr vollständig vor. Was wir damals in Betreff der ersten Lieferungen gesagt haben, das gilt auch im vollsten Maße von dem gesammten Werke. Der Verfasser weiß jeden Gebildeten durch das Aufstellen neuer und durch die originelle Beleuchtung längst bekannter Fragen zum ernsten Nachdenken anzuregen und seine meisterhafte Darstellungsweise verdient um so mehr hervorgehoben zu werden, als durch dieselbe der schwierige Gegenstand auch dem allgemeinen Verständniß näher gerückt wird. *

Aerztliches Honorar auf Mallorca. Auf der diesjährigen Frühlingsreise, welche der Wiener „Wissenschaftliche Klub“ an die Nordküste von Afrika unternahm, besuchte die Gesellschaft auf der Rückfahrt auch die schöne spanische Hafenstadt Palma auf der größeren Balearen-Insel Mallorca. Bei einem Besuche des prächtigen Besitzthums Miramar erzählte der erlauchte Gastfreund, Erzherzog Ludwig Salvator, von der ganz aparten Honorirung der Hausärzte, wie sie in Palma üblich ist. Der Arzt findet zur bestimmten Vormittagsstunde in einem Gemache, in das er sich verfügt, ein Dejeuner aufgetragen, das er verspeist, ohne mit einem Mitgliede des betreffenden Hauses in Berührung zu kommen. Neben dem Gedeck findet er eine Peseta (ungefähr einen Franc), welche er als Honorar für den Besuch täglich einsteckt. Weder bei seinem Kommen, noch bei seinem Fortgehen aus dem Hause, wo er ärztlicher Berather ist, erhält er irgend Jemand der Familie zu Gesichte. Das geht so eine gewisse Zeit fort, bis der gute Medikus eines Tages bei seinem Frühstückskouvert kein Honorar, keine übliche Peseta vorfindet. Dann weiß er, daß ein Mitglied des Hauses seiner Hilfe bedarf, daß es einen Kranken in der Familie giebt. Sofort verfügt er sich dann in die Gemächer derselben, um den Leidenden einer Untersuchung zu unterziehen. Das Seltsamste bei dieser Art der Honorirung ist jedoch die Thatsache, daß der Arzt für die Zeit der Krankheit eines Familiengliedes und so lange die ärztliche Hilfe beansprucht werden muß, kein Silberstück, kein Honorar neben dem Frühstück findet. In Palma wird eben in den vornehmen Häusern dem Hausarzte nur für jene Zeit ein Honorar bezahlt, in der Niemand dessen ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt. Vielleicht sind die Vornehmen in Palma weniger oft und weniger lange Zeit hindurch krank, als auf unserem Festlande.

Allerlei Kurzweil.
Skat-Aufgabe Nr. 14.
Von K. Buhle.

Die beiden ersten Stiche fallen so:

1. V. M. H.   2. H. V. M.
(tr. 9.) (tr. As) (tr. B.) (p. K.) (car. B.) (p. Z.)
und die beiden letzten Stiche so:
9. V. M. H. 10. V. M. H.
(car. D.) (p. As) (car. 8.) (car. 9.) (c. As) (c. 7.)

Der Spieler, welcher 80 Augen in seiner Karte hatte, verliert das Spiel und muß dafür 96 bezahlen, weil er im 8. Stich einen Fehler gemacht hat. Hätte er diesen Fehler nicht begangen, so würde er 25 Augen mehr hereinbekommen und nur die Hälfte zu bezahlen gehabt haben.[1]

Welcher von den Dreien ist der Spieler und was spielte er? Wie saßen die Karten und wie war der Gang des Spiels? Worin bestand der Fehler?

Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 13 auf S. 628.

Die Karten waren so vertheilt: Skat: g8, g7.

Mittelhand: eW, gW, rW, sW, gO, rO, r8, r7, sO, s7.
Hinterhand: g9, rD, rZ, rK, r9, sD, sZ, sK, s9, s8.

Der Gang des Spieles ist dieser:

1. e7, sW, sD. (−13)
2. sO, sK, eD, (+18)
3. e8, rW, rD. (−13)
4. rO, rK, eZ. (+17)
5. e9, gW, sZ. (−12)
6. s7, s9, eK (+4)
7. gD, gO, g9. (+14)
8. gZ, eW, rZ. (−22)

Die Hinterhand geht richtig im 2. und 4. Stich nur mit dem König auf, weil dies genügt, um eventuell den Spieler in die Mitte zu nehmen und weil sie hoffen kann, die Zehnen noch auf Trumpf wimmeln zu können. Spielt übrigens der Spieler schon im 3. oder 5. Stich das gD vor, so ändert dies, wie leicht zu sehen, am Resultat nichts. Auch wenn die Gegner ihre sämmtlichen Karten tauschen, geht das Spiel verloren, wenn der Gegner in Mittelhand, sobald der Spieler im 3. oder 5. Stich sofort gD anzieht und gZ nachbringt, auf die letztere eine Zehne wimmelt in der Erwartung, daß der Partner stechen kann.

Auflösung des Problems: „Die Burgruine“ auf S. 668.

Liest man (in der beim Lesen üblichen Weise der Reihe nach) zuerst die in lateinischer, dann die in deutscher Druckschrift und zuletzt die in verzierter Rundschrift verzeichneten Buchstaben von den Steinen ab, so erhält man die Worte: „Wo Menschen schweigen, werden Steine reden.“

Auflösung des Buchstaben-Räthsels auf Seite 668.
Badegast, Ladegast, Radegast.

Kleiner Briefkasten.

Langjähriger Abonnent in Berlin. Sie bezweifeln, daß ein Schutzmann in Berlin so viel Zeit erübrigen könnte, um sich litterarisch zu beschäftigen. Unsere Notiz auf S. 483 findet aber jetzt darin ihre Bestätigung, daß die betreffende Schrift jetzt im Buchhandel erschienen ist unter dem Titel: „Aus dem Notizbuch eines Berliner Schutzmanns“. Bilder aus dem Leben der Reichshauptstadt von Adolf Schulze (Leipzig, Karl Reißner). Der Verfasser ist noch gegenwärtig Berliner Schutzmann; seine Schilderungen betreffen Erlebnisse der eigenen Berufsthätigkeit. Sie werden Einiges, z. B. „Vierundzwanzig Stunden auf der Polizeiwache“, gewiß mit Interesse lesen und von Ihren Zweifeln gründlich geheilt sein.

Arthur B. in St. Petersburg. Die Thatsache, daß von Rußland aus eine recht bedeutende Einfuhr getrockneter Ameisenpuppen nach Deutschland her stattfindet und daß die Gesammtmasse derselben sich wohl auf mehrere tausend Pud à 161/4 Kilo beziffert, ist ja bekannt, und ich als Herausgeber der „Gefiederten Welt“ konnte sie am wenigsten übersehen. Leider sind die russischen Ameisenpuppen bis jetzt aber weder dazu ausreichend, noch geeignet, die deutschen zu ersetzen oder gar den Weißwurm überflüssig zu machen. Zur Beihilfe nehmen wir sie gern mit; für zarte kostbare Stubenvögel und eben solches junges Gefieder sind sie jedoch nicht brauchbar, weil sie mit viel zu geringer Sorgfalt gesammelt und getrocknet werden. Wenn sie in der wünschenswerthen Beschaffenheit geliefert werden könnten und dann eben so billig wie bisher blieben, so würden sie allerdings mit dem Weißwurm in eine höchst willkommene Konkurrenz treten. Dr. Karl Ruß.


Inhalt: Lisa’s Tagebuch. Von Klara Biller (Fortsetzung.) S. 668. – Mahnungen aus den Hochalpen. Von Heinrich Noé. S. 672. – Unsere Schulprüfungen. S. 676. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 678. – Der Raub in der Thierwelt. Charakterdarstellungen von Adolf und Karl Müller. II. Mit Illustrationen S. 683, 684 und 685. – General von Werder. Ein Nachruf von E. v. Wald-Zedtwitz. S. 685. Mit Portrait. S. 669. – Blätter und Blüthen: Goethe’s Minchen. S. 686. Mit Portrait S. 687. – Nach dem Mont Saint Michel. S. 687. Mit Illustration S. 673. – Der Ritt der Zietenhusaren zur Donau. S. 687. Mit Illustration S. 677. – Auf Besuch beim Großvater. S. 688. Mit Illustration S. 681. – Lippert’s „Kulturgeschichte der Menschheit in ihrem organischen Aufbau“. S. 688. – Aerztliches Honorar auf Mallorca. S. 688. – Allerlei Kurzweil: Skat-Aufgabe Nr. 14. Von K. Buhle. S. 688. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 13 auf S. 628. S. 688. – Auflösung des Problems „Die Burgruine“ auf S. 668. S. 688. – Auflösung des Buchstaben-Räthsels auf S. 668. S. 688. – Kleiner Briefkasten. S. 688.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Für die Werthberechnung gelten die Bestimmungen der deutschen Skatordnung.