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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 4.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 25 Pfennig.



Herzenskrisen.

Roman von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Lucie eilte die breite Treppe des Meerfeldt’schen Hauses hinan, ohne von Mademoiselle angehalten zu werden, und trat mit einem erlösenden Aufathmen in den Salon. Von der Chaiselongue, welche man mit dem Kopfende zu einem der Fenster geschoben hatte, streckten sich ihr zwei Hände entgegen.

„Wie liebenswürdig von Dir, daß Du kommst!“ sagte eine matte Stimme, „ich habe mich schon halb verdreht gelesen, um meine Gedanken los zu werden.“ Und als Lucie die Hände ergriffen hatte, fuhr Hortense fort: „Die Nacht, Lucie, die schreckliche Nacht! Es war so dunkel um mich und in mir; ich hatte eine so entsetzliche Angst vor dem Weiterleben; ich weiß nicht, was ich Alles gesagt und gethan. Dann haben sie Deinen Bräutigam geholt, und ich dachte an Dich und hatte Sehnsucht nach Dir. Hat man es Dir gesagt? Bleibst Du ein wenig hier? Gern?“ Sie sagte dies Alles mit unbeschreiblicher Anmuth. „Komm, setze Dich zu mir, Minna bringt Dir gleich eine Erfrischung. Magst Du Eis? Oder eine Tasse Chokolade? Erzähle mir etwas, Lucie!“

Das junge Mädchen hatte den Hut abgelegt und saß neben dem Lager der schönen Frau in einem niedrigen Fauteuil, so daß sie ihr in das Gesicht blicken konnte. Nun zog sie eine Handarbeit hervor.

„So, Hortense, was soll ich Dir erzählen?“

„Von Dir, von Dir, Lucie; es wird mir wie ein Märchen klingen, wenn etwas von Glück darin vorkommt. Aber bitte, thue die Häkelei weg, ich kann dieses Gehaste mit den Fingern nicht sehen. Man kann doch unmöglich ganz bei dem Gespräche bleiben, wenn man solche Basteleien in der Hand hält.“

Lucie machte ein etwas verwundertes Gesicht; sie kannte das so gar nicht anders, legte aber gehorsam die Arbeit in das Täschchen zurück und lehnte sich behaglich in den Fauteuil.

„Ich glaube, Du hast Recht,“ sagte sie, und ihre Augen flogen durch das Zimmer und blieben an Hortense hängen, an dem weißen Kaschmirnégligé mit türkischer Borte besetzt und an dem Palmenblattfächer, den sie in der Hand hielt. „Was soll ich Dir erzählen?“ fragte sie noch einmal.

„Von Dir und Deinem Bräutigam. Ich möchte wissen, ob es wirklich ein Glück giebt? Du liebst ihn natürlich sehr?“

Lucie sah sie überrascht an.

„Ja freilich!“ sagte sie komisch hastig. Es klang fast wie Entrüstung.

„Verzeihe, es war eine eigenthümliche Frage! Ich denke nämlich, man kann sich das einbilden. Mir ist es so ergangen, Lucie. Ich bin – und das ist vielleicht mein einziger Vorzug – eine rücksichtslos ehrliche Natur, und trotz alledem log ich mir und ihm und Anderen vor, ich liebte ihn, meinen verstorbenen Mann nämlich; und ward doch nachher eine Wittwe ohne innere Trauer. Da erst merkte ich, daß ich mich getäuscht hatte, daß es nur das Gefühl von Dankbarkeit war, an seiner Seite eine Heimath gefunden zu haben. – Ich sagte Dir schon, ich kam gerade aus der Pension, natürlich in mein Vaterhaus – wenn man die ewig wechselnden Orte und Wohnungen, in denen mein Vater lebte, so ehrenvoll bezeichnen darf. Die Bertin, die, so lange ich in Dresden weilte, ihre Heimath besucht hatte, war vor mir gekommen und hatte mir ein Zimmerchen eingerichtet. Ich freute

Dr. med. Karl Theodor, Herzog in Bayern.
Nach einer Photographie von H. v. Perckhammer in Meran.

[54] mich kindisch auf dieses ‚zu Hause‘. Mein Vater war auf dem Bahnhofe und holte mich ab. Er schien verlegen, die Bertin aber kam mir mit verweinten Augen entgegen und nannte mich in der Stille meines Zimmers ‚pauvre enfant, pauvre petite!‘ was ich anfänglich gar nicht begriff.

Als wir zu Mittag speisten, erzählte mein Vater, er habe Abends eine kleine Gesellschaft, ich solle aber ruhig schlafen gehen. Ich sah im Laufe des Nachmittags, wie eine Tafel gedeckt wurde; es kamen Körbe voll Wein und Champagner aus einem Hôtel, und Kerzen wurden in großer Zahl aufgesteckt. Warum durften Bertin und ich nicht mitspeisen? Ich hatte mich so namenlos auf den Eintritt in die Geselligkeit gefreut. Die Bertin aber, still gegen ihre Gewohnheit, setzte einen kleinen Imbiß für uns zurecht und bereitete den Thee. Zur Zeit, als die Gäste kommen sollten, hörte man auf dem Korridor Sporen klingen, dann das Rauschen seidener Frauenkleider. ‚Es ist ja keine Herrengesellschaft, Mademoiselle,‘ sagte ich, ‚hören Sie doch!‘ – ‚Sie irren sich,‘ erwiderte sie ernst. Aber da scholl ein silbernes Frauenlachen herein, und ein anderes antwortete.

Ich fühlte mich furchtbar beleidigt, zurückgesetzt. ‚Ich lasse mich nicht mehr als Kind behandeln!‘ rief ich außer mir. Drüben aber nahm das Mahl seinen Anfang und dauerte bis tief in die Nacht, die Lebhaftigkeit der Unterhaltung steigerte sich; zuletzt ward es ein wüster Lärm, aus dem sich die Frauenstimmen schrill abhoben. Die Bertin hatte mich zu Bette gebracht und saß mit blassem zornigen Gesicht neben mir. Sie hat mir schließlich Alles erklären müssen, da fing ich an, meinen Vater zu hassen. Am andern Tage verschloß ich mein Zimmer; die Bertin aber trug eine Depesche an Onkel Ludolf zur Post: ‚Komme sofort, ich kann bei Papa nicht bleiben!‘ – Am Abend stand der Bruder meines Vaters vor mir. ‚Warum kann sie nicht bleiben?‘ fragte er die Bertin. Sie verschmähte die deutsche Sprache und erklärte es ihm auf französisch. Er küßte mich auf die Stirn und ging hinüber zu meinem Vater. Im Anfang war Alles ruhig; dann erhob sich Ludolf’s Stimme im höchsten Zorn; als er wieder in mein Zimmer trat, bebte er förmlich. ‚Packen Sie Ihre und meiner Nichte Sachen,‘ sagte er kurz, ‚in zwei Stunden geht der Schnellzug.‘ – Wir reisten, ohne Papa Adieu zu sagen, auf das Gut meines Onkels. Acht Tage später fragte er mich, ob ich ihn heirathen wollte? Meine Dankbarkeit kannte keine Grenzen; Dillendorf war ein herrlicher Aufenthalt, den ich schon aus meiner Kinderzeit liebte, der Onkel Ludolf ein stattlicher Mann, nach drei Wochen wurden wir getraut. Ich versichere Dich, von Liebe war keine Rede, aber ich bildete es mir wirklich ein. Da habe ich Dir nun doch von mir erzählt,“ sagte sie, in das traurige Mädchenantlitz schauend, „verzeihe mir!“

„Arme Hortense!“

„Ach Kind, das war das Schlimmste noch nicht! Es ist kein Wunder, wenn ich denke, es giebt nicht einen einzigen guten Menschen mehr auf der Welt.“

„Arme Hortense!“ flüsterte das Mädchen noch einmal, „so schwere Schicksale und so verkannt!“

„Was die Menschen über mich sagen, ist mir allerdings furchtbar gleichgültig,“ fuhr sie fort, als habe sie Luciens Gedanken errathen. „Aber von den Wenigen falsch beurtheilt und zurückgesetzt zu werden, zu denen man noch Vertrauen hatte, das ist zum Sterben schwer. Sage,“ fragte sie nach einer Pause, „was hat man Dir von mir erzählt?“

Lucie ward roth.

„Natürlich!“ nickte die junge Frau. „Ich will es nicht wissen, aber ich danke Dir, daß Du dennoch zu mir gekommen bist.“ Sie nahm des Mädchens widerstrebende Hand und küßte sie. „Laß Dich nicht irre machen an mir, bitte!“

„Nein, Hortense,“ sagte Lucie, zu Thränen gerührt durch die Bitte der jungen Frau.

Sie plauderten noch eine ganze Weile, dann wollte Hortense in die frische Luft.

„Ich bin noch ein wenig schwindelig, aber wenn Du mich stützest – vielleicht liesest Du mir im Garten ein wenig vor? Wir nehmen die Hängematte mit.“

„Sehr gern!“

Sie kamen, Arm in Arm, hinunter auf den stillen Hof. Da klang ein helles Wiehern aus dem Stall.

„Das ist Hella!“ sagte die junge Frau. „sie kennt meinen Schritt. Komm, Du sollst sie sehen.“

Sie gingen vor den Fenstern des alten Herrn vorüber, er stand hinter den Scheiben, warf ihnen entzückte Kußhändchen zu und rief dann, einen Flügel öffnend:

„Ich gratulire, gratulire!“

„Warum gingst Du nicht zu Deinem Großpapa, als der Aufenthalt in Deines Vaters Hause unmöglich wurde?“ fragte Lucie.

„O, er war damals, glaube ich, in Afrika auf der Antilopenjagd mit dem Herzog von K., Du hast wohl nie gehört, daß er ein ganz berühmter Nimrod war? Sollte Dein Schwager ihn nicht kennen?“

„Ich weiß es nicht,“ meinte Lucie, „es ist sehr wohl möglich.“

„Wie schon gesagt, er war selten oder nie daheim, er hat in allen Welttheilen und alle Kreaturen gejagt. Sieh, da ist meine Hella!“ sagte sie, die Thür des Pferdestalles öffnend. „Ist sie nicht schön?“

Der prachtvolle Goldfuchs kam heran und begann die Hände und das Kleid der Herrin zu beschnuppern.

„Du vermissest Deinen Zucker, Hella?“ sagte sie und klopfte zärtlich den schlanken Hals, „ich gab ihn Dir gestern nicht – ach gestern! Aber für Dich hatte ich gesorgt, Du hättest nimmer das Schicksal Deiner Pferdebrüder getheilt als altes müdes Thier, Du hättest das Gnadenbrot bekommen. Eine Andere hätte sich nie auf Deinen Rücken gesetzt.“

Sie wandte sich um, und Lucie sah große Tropfen in ihren Augen.

„Es ist traurig, nicht wahr, wenn man nur noch Thränen für ein Thier hat? Ich versichere Dich, das Schicksal des Pferdes war gestern noch das Einzige, was mir den Gedanken an den Tod schwer machte. Holst Du mir ein wenig Zucker?“

Lucie ging bereitwilligst in das Haus und fand endlich bei Minna das Gewünschte. Die Köchin war in die Stadt gegangen, und Mademoiselle bedauerte unendlich, sie habe nie Zucker. Aber sie hielt das junge Mädchen mehrere Minuten zurück mit haarsträubenden Berichten über die letzte Nacht. „Sie war parfaitement wahnsinnig,“ betheuerte sie.

Als Lucie mit ihrem Tellerchen wieder über den Hof kam, scholl ihr die tiefe Stimme des Bräutigams aus dem Pferdestall entgegen. Unwillkürlich stockte ihr Fuß. Würde sie stören? Er kam ja als Arzt.

„Was soll Ihnen denn das Kind vorlesen, gnädige Frau?“ hörte sie ihn fragen. „‚Manfred‘? Ach, schenken Sie ihr die Bekanntschaft dieses düsteren Helden, auch für Sie ist es nichts. Lassen Sie sich etwas Heiteres von ihr lesen, z. B. Reuter; sie liest diese von urgesundem Hauch durchwehten Dichtungen allerliebst.“

„Heiteres?“ hörte sie Hortense antworten. „Das Leben ist so ernst.“

„Aber für die vorgeschlagene Lektüre dürfte ihr das Verständniß fehlen.“

„Das ist ja recht schmeichelhaft! Ich danke Ihnen im Namen Ihrer Braut. Aber, Ihr Wunsch in Ehren, wir brauchen überhaupt nicht zu lesen.“

Lucie trat ein während der letzten Worte; sie maß ihren Bräutigam mit unsicherem Blick und sah blaß aus. Er reichte ihr die Hand, bedauernd, daß er weiter müsse. „Begleite mich bis zur Pforte,“ bat er. Sie ging neben ihm über den Hof, während Hortense das Pferd fütterte.

„Arme Kleine,“ sagte er mitleidig, „Du fühlst Dich wohl nicht allzu behaglich hier?“

„Warum?“ fragte sie.

Er blieb stehen und sah sie an.

„Ich fühle mich sogar sehr wohl,“ erklärte sie. „Ich finde Hortense liebenswürdig und klug, ich freue mich über den Verkehr.“

Er schwieg wie betroffen, es lag etwas Widerspruchvolles in ihrer ganzen Haltung.

„Lebewohl!“ sagte er an der Pforte, „ich denke, Frau von Löwen wird bald ganz hergestellt sein.“

„Adieu!“ erwiderte sie, ernsthaft den Kopf neigend.

Hortense wartete ihrer. Sie gingen dann in den Garten; der Reitknecht mußte die Hängematte unter einer Kastaniengruppe [55] befestigen. Sie sprachen über alles Mögliche, auch über Litteratur. Lucie brachte die Rede darauf, sie hatte mancherlei gelesen, sie schwärmte besonders für Storm und ihre Augen leuchteten, als sie von seinen von feinsinniger Poesie durchwebten Novellen sprach. Hortense hörte schweigend zu und sah in das Gewirr der Blätter, durch welches die Strahlen der Abendsonne Goldfunken warfen.

Als es dämmerte, stiegen sie wieder hinauf in das Zimmer der jungen Frau; ein zierlicher Abendimbiß war zurecht gestellt. Sie saßen sich gegenüber und speisten, Hortense legte ihrer Freundin vor.

„Magst Du Champagner trinken?“ fragte sie, „mich erfrischt ein Glas davon immer sehr.“

Sie klingelte, und bald darauf lugte das Silberköpfchen einer halben Flasche aus zierlichem, mit Eis gefülltem Kübel.

„Schmeckt Dir die Sorte?“

„Ich kann keinen Vergleich machen, ich trinke ihn zum ersten Male heute.“

Die junge Frau fiel in ihren Stuhl zurück; sie vergaß in diesem Augenblick ihren Kummer und lachte, daß ihr die Thränen in die Augen traten, dann ward sie ernsthaft und staunte Lucie an wie ein Naturwunder.

„Nimm Dein Glas,“ sagte sie, „und laß uns anstoßen auf gute Freundschaft.“ Sie kam dabei herüber und legte den Arm um des Mädchens Hals. „Ich habe eine Bitte, eine große Bitte,“ flüsterte sie.

„Und?“ fragte Lucie mit heißen Wangen.

„Du hast mir das Leben erhalten; hilf mir, daß ich es weiter ertrage!“

„Ich, Hortense?“

„Laß uns mit einander verkehren – sei mir ein wenig gut. Ach, Du weißt nicht, wie herzenseinsam ich bin.“

„Aber ich bin so unbedeutend neben Dir,“ stotterte Lucie.

„Du hast gehorcht!“ drohte lächelnd die junge Frau „Liebes Kind, die Männer finden alle Frauen geistig tief unter sich stehend; das darf man sich indessen nicht gefallen lassen.“

Lucie sah dunkelroth in ihr Glas, in welchem feine Perlen aufstiegen und wieder verflogen.

„Er denkt nichts Böses dabei,“ fuhr Hortense fort, „er ist eben wie alle Andern. Du wirst es doch nicht tragisch nehmen? Ach Kind, wenn Du weiter keinen Kummer hast – nun, stoß an, wir wollen Freundinnen sein, gute ehrliche Freundinnen!“

Lucie küßte herzlich die dargebotenen Lippen. „Ja!“ erwiderte sie.

„Immer offen einander sagen, wenn uns etwas mißfällt, und in jeder Noth uns beistehen! Von Dir weiß ich es ja; Gott möge es verhüten, aber wenn Dich ein schweres Schicksal trifft und es steht in Menschenhänden, so will ich es tragen helfen.“




Des Mädchens Wangen schimmerten purpurroth, als sie endlich auf die Straße trat. Dort ging Alfred ihrer wartend auf und ab.

„Ich dachte, Du wolltest über Nacht dort bleiben,“ scherzte er.

Sie schüttelte stumm den Kopf. Oben im schwach erhellten Flur zog er sie an sich.

„Du glühst wie eine Rose,“ sagte er zärtlich. „Nicht wahr, da drüben ist schwüle Luft in dem alten Garten, Lucie? Und nun habe ich Dich selbst heute früh noch aufgemuntert! Gestehe es einmal, Kleine, sie hat es Dir angethan, sie gefällt Dir?“

„Ja! Sie ist bezaubernd!“

Es kam aus vollstem Herzen.

„Nun! nun!“ beschwichtigte er, ungemüthlich berührt, „nur keine verhimmelnden Freundschaftsschwärmereien, Lucie, es ist doch sonst Deine Art nicht!“

„Die Hauptsache ist, ich darf mit Hortense verkehren, und dafür danke ich Dir herzlich, Alfred,“ sagte sie laut.

Er zögerte mit der Antwort. „Ich gönne es Dir von ganzem Herzen, wenn es Dir Freude macht, Lucie. – Und wenn Du Dich eines Tages enttäuscht findest?“

Sie schüttelte den Kopf, als sei es unmöglich.

„So mache denn Deine Erfahrungen,“ sagte er weich; „ich darf Dir ja vertrauen, ich weiß, Du hast mich sehr lieb, Lucie.“

Sie legte beide Arme um seinen Hals.

„Du mich auch?“ fragte sie und sah ihm forschend in die Augen.

„Mein Herz, so sehr ein Mann diejenige lieben kann, die sein Weib werden soll!“

Sie schmiegte sich näher an ihn, wie ein seliger Schauer durchfuhr es sie.

„Wenn Du nicht willst, daß ich hingehe, so sage es, und nie soll mein Fuß die Schwelle wieder betreten!“ rief es in ihrem Herzen, aber über ihre Lippen kam es nicht, sie blieben stumm.

„Gute Nacht!“ sagte er herzlich, und sie erwiderte leise: „Gute Nacht!“

Dann trennten sie sich.




Es war ein gänzlich verregneter Sonntag. Die Kirchgänger wurden durch und durch naß, die offenen Straßengossen glichen geschwollenen Bächen, und die Zweige der Bäume und Sträucher hingen schwer hernieder von der Last der Tropfen. In den Kleiderschränken aber trauerte der duftige lustige Sonntagsstaat der Hohenberger jungen Mädchen, und diese sahen ganz so verdrießlich in das Wetter, wie die Wirthe der Kaffeegärten vor den Thoren und die Besitzer der Lohnfuhrwerke. Es gab nur einen Mann im ganzen Städtchen, der sich gelassen einen Wagen bestellte, und das war Doktor Adler, welcher einen Kranken über Land besuchen wollte, und es gab nur ein Paar Mädchenaugen, die in den fallenden Regen mit heimlicher Freude hineinlachten, das waren Luciens Augen. Die verhaßte Partie in den Stadtforst mit dreißig bis vierzig völlig gleichgültigen Leuten machte das Wetter unmöglich, sie konnte zu Hortense! – Hortense war seit jenem Tage das A und O ihres Denkens geworden; sie zählte die Stunden, bis sie in den Salon der jungen Frau treten durfte, sie rechnete den Tag für einen verlorenen, an dem sie Hortense nicht gesehen, und ihre Billets, in denen sie einen versprochenen Besuch abschrieb, weil es diesmal ganz, ganz unmöglich war, sich frei zu machen, klangen schier untröstlich.

Frau Steuerräthin nannte das einfach: „Verrückt!“ Sie konnte zwar der Schwiegertochter nicht befehlen „Du bleibst hier!“ Dafür hatte der Sohn gesorgt, der ihr ruhig mittheilte, er gestatte, daß Lucie Frau von Löwen so oft besuche, als sie Neigung dazu verspüre. Dafür aber war sie erfinderisch in tausenderlei Hindernissen, die sie nicht ungeschickt aufzubauen wußte. Bald kam ein Besuch ganz unerwartet, und Lucie mußte den Hut wieder absetzen, sie wußte genau, daß es verabredet war, aber es half nichts. Bald war eine unaufschiebbare Arbeit zu thun, bald mußte ein nothwendiger Brief geschrieben oder das Wirthschaftsbuch nachgerechnet werden.

Das Wesen des Mädchens empörte sich in dem Maße gegen die alte Dame, als sie sich dort drüben bei der schönen vornehmen Frau immer wohler und wohler zu fühlen begann, in deren Nähe Alles vergeistigt und verschönt wurde, was hier in nacktester Prosa sich darbot. Ach, und sie liebte das Schöne, das Edle bis zur Begeisterung. Hortense’s Musik – Lucie lernte Chopin und Wagner verstehen und Schumann und Schubert lieben, Hortense’s Büscherschrank – sie lauschte mit immer größer werdenden Augen dem Vorlesen der jungen Frau. Was hatte sie gewußt von Kunst und Kunstgeschichte, von alle dem Herrlichen, Erhabenen, das es in der Welt giebt? Sie war doch einhergegangen wie taub und blind!

Und dennoch kämpfte sie herzhaft gegen dieses Empfinden. Sie war fast demüthig gegen den Bräutigam, suchte durch tausend Aufmerksamkeiten gut zu machen, daß sie ihn stundenlang des Tages vergessen konnte. Sie war schon mit dem Morgengrauen in der Wirthschaft thätig, sie scheute sich vor keiner Arbeit, aber sie wußte zuweilen nicht, was sie gethan. Er blieb gleichmäßig freundlich, sprach Mittags heiter mit ihr, und Abends trommelte er zuweilen auf dem klimprigen tafelförmigen Klavier den Marsch aus „Boccaccio“ und das Soldatenlied aus der „Weißen Dame“. Er griff tausend falsche Noten, lachte selbst darüber und konnte dann wieder schier andächtig alte Studentenlieder spielen. Lucie aber meinte im Stillen, es sei nicht zum Anhören. Doch das war selten, gewöhnlich zog er sich schon um neun Uhr in sein Zimmer zurück, und dann schimmerte die Lampe aus jenem Fenster, an dem sein Arbeitstisch stand, bis tief in die Nacht in den stillen Garten hinein. Er schrieb wissenschaftliche Aufsätze für eine Fachzeitschrift, und sie saß dann bei der Mutter und empfand jedes ihrer Worte wie einen Nadelstich.

[56] Der Arzt hat keinen Sonntag. Lucie stand am Fenster und sah ihn in den Wagen steigen. Er grüßte noch einmal hinauf; dann holperte das Gefährt langsam die einsame Straße hinab, und sie wandte sich in das Zimmer zurück.

Von allen Gesichtern in der Stadt war sicherlich keines ganz so verdrießlich, wie das der Frau Steuerräthin an diesem Tage; es sah unter der festtäglichen Haube doppelt sauer aus. Sie hatte den Kaffee und dazugehörigen Sträußelkuchen auf der Fensterbank stehen und strickte mit nervöser Hast, während ihre Blicke immer mißvergnügter von der menschenleeren Straße zurückkehrten. Tante Dettchen saß auf dem gewöhnlichen Platz, hatte den Kopf an die Lehne des Sessels gelegt und schlummerte, das Strickzeug in der herabgesunkenen Hand. Tick-Tack! Tick-Tack! sagte die Uhr, sonst rührte sich nichts.

Lucie, die schon ein Weilchen an dem Glasschrank gestanden hatte, in welchem zierliche bemalte Tassen, Figürchen, Serviettenringe und Kuchenteller prangten, sowie der Silberkranz, den die Schwiegermama am fünfundzwanzigjährigen Hochzeitsjubiläum getragen, wandte sich jetzt und sagte: „Adieu, liebe Mama, ich gehe.“

Die alte Dame ward roth. „Wohin?“ fragte sie, obgleich sie es ganz genau wußte.

„Zu meiner Freundin.“

„Freundin! Rede doch nur nicht solchen Unsinn, liebes Kind! Ich begreife Alfred nicht,“ machte sie ihrem Aerger endlich Luft. „Täglich und täglich diese Lauferei!“

„Du weißt doch, Mama, sie ist leidend und hat Niemand, der sie besucht. Alfred hat es mir erlaubt und wünscht es sogar,“ betonte sie.

„Ich möchte Dich nur fragen, was aus dieser Freundschaft werden soll? Wozu brauchst Du überhaupt eine Freunndin? Ich meine, Du hättest mehr zu denken; es gilt tüchtig zu nähen für Deine Aussteuer; denn bei uns ist es noch nicht Mode, daß man die Sachen fertig aus dem Laden nimmt.“

Lucie schwieg.

„Als ich Braut war, hatte ich nur Gedanken für meinen Bräutigam; ich habe mir damals alle Freundinnen abgeschafft, und Du –“

Lucie blieb ein Weilchen an der Thür, aber die Nadeln klapperten stumm weiter, und sie ging. Als sie auf die Straße trat, öffnete sich ein Fenster über ihr und die schrille Stimme der alten Dame rief: „Sollte die Postmeisterin kommen mit ihren Töchtern, oder irgend ein anderer Besuch, so werde ich Dich rufen lassen.“

„Bitte,“ sagte das Mädchen freundlich; aber das Fenster klirrte bereits wieder zu. Sie ging so rasch, als ob sie Jemand verfolge, und trat in die wohlbekannte Pforte. Unter dem Thorwege hervor flog ihr Blick zu den oberen Fenstern, und wie Sonnenschein ging es über ihr Gesicht; da oben bog sich ein dunkler Frauenkopf heraus. Sie stürmte die Treppe empor, und auf dem dämmerigen Korridor fiel sie Hortense um den Hals: „Ach, Gott sei Dank, nun bin ich bei Dir!“

(Fortsetzung folgt.)

Jagdschloß Grunewald und die „schöne Gießerin“.

Der Grunewald, jenes meilenlange Waldgebiet am linken Havelufer zwischen Spandau und Potsdam, war noch vor einem Jahrzehnt ein freundlicher Zufluchtsort für jeden still empfindenden Naturfreund. Die reiche Fülle seiner tiefblauen, träumerischen Seen, der liebliche Wechsel zwischen grünen Thalmulden und sanft ansteigenden Höhen, von wo der Blick auf und ab den breiten segelbedeckten Havelstrom schweift, der geheimnißvolle Zauber, welcher unter diesen sonnendurchhuschten, schlanken Kiefernstämmen, über dem rothblühenden Heidekraut webte: dies Alles hatte einen Reiz und eine schlichte Anmuth, die jedes empfängliche Herz gefangen nahmen. Jener Zauber ist längst dahin. Seitdem breite neue Kunststraßen den Wald kreuz und quer durchschneiden, ein Schienennetz von allen Seiten ihn umspannt, Rangirbahnhöfe, Massenlokale aus der Erde wuchsen; seitdem jeder Sonntag zahllose Tausende sich lärmend in die stillen Waldesgründe ergießen sieht, ist der Grunewald zu einem Volksprater geworden. Ein Wanderziel für sangeslustige Berliner, für Kremserpartien, Turner und zahllose Vereine war er ja immer. Aber dies Alles entfaltete sich ehemals im kleinen Stile, harmlos, vereinzelt. Jetzt durchtobt allsonntäglich ein Lärm den schönen Wald, daß die koncessionirten Sänger in den schwankenden Wipfeln verdutzt und scheu ihre Symphonien abbrechen. Statt ihrer lauert hinter jedem fünften Baume an den Hauptwegen Leierkasten oder Ziehharmonika; Bettler halten ihre Kongresse hier ab, und der Duft warmer Würste, vor denen jeder ehrliche Droschkengaul unwillig zusammen schaudert, durchzieht die Luft.

Nur einen Tag gab es von jeher, wo hier der Friede des Waldes für kurze Zeit unterbrochen wurde. Das ist am Mittag des 3. November, wo nach althergebrachter Sitte die Hubertusjagd im Grunewald abgehalten wird und der königliche Hof mit seinen geladenen Gästen sich vom Jagdschloß Grunewald nach der Saubucht begiebt, um von dort aus die Hatz auf die unter einem Vorsprung von zehn Minuten losgelassene Sau zu beginnen. Dann klingen helle Fanfaren, das Schmettern der Hörner durch den Forst; in das Knallen der Piqueurpeitschen, das Gekläff der Rüden mischt sich das Stampfen der Hufe, Wagengerassel, Wiehern, Klappern, Rufen und Jauchzen, bis das bedrängte Opferthier seine arme Seele aushaucht, der frische Bruch an die Jagdtheilnehmer vertheilt ist und der gesammte Zug sich zur Festtafel in das Jagdschloß zurückbegiebt.

Jagdschloß Grunewald, im Wald und am See gleichen Namens gelegen, ist ein Stückchen romantischer Poesie inmitten der rings ruhelos schaffenden Neuzeit geblieben. Von den Wellen des schönen Sees umspült, durch Hof und angrenzende Oekonomiegebäude von der Verkehrsstraße geschieden, athmet hier Alles noch den Hauch wohlthuender Stille und träumerischer Vergessenheit.

Ein geräumiger Schloßhof nimmt uns auf. Oekonomiegebäude, Stallungen und Küchenräume schließen ihn nach drei Seiten ab, die vierte Seite bildet das schmucke Jagdschloß. Ebenso interessant wie wenig bekannt ist der durch Herde und gewaltige Rauchfänge gänzlich entstellte jetzige Küchenraum, welcher, im Rundbogenstil stark gewölbt, zugleich eine Säule mit romanischem Kapitäl enthält, deren hohes Alter die Annahme wachruft, daß vielleicht einst, längst vor dem Schlosse, sich eine Betkapelle, ein Wallfahrtsort im stillen Walde erhob. Das Jagdschloß selbst wurde nach einer Inschrift am Haupteingange von 1542 bis 1543 unter dem prachtliebenden, waidlustigen Joachim II. erbaut. Sein Schöpfer war Kaspar Theyß, derselbe glückliche Baumeister, welcher für seinen fürstlichen Gönner die Jagdschlösser Köpenick, Oranienburg wie das an dem Spree-Ufer begonnene Berliner Schloß auf märkischem Boden erstehen ließ. Ihm zu Ehren ist wohl auch im Jagdschloß Grunewald am Treppenaufgang das originelle, buntgetönte Sandsteinrelief in die Wand eingelassen worden. Eine Sehenswürdigkeit des Ortes! Es zeigt in Brustgröße rechts den Kurfürsten Joachim II., links eine unbekannte Person, Namens Consz Buntschug, vielleicht den damaligen Steinmetz, in der Mitte aber Kaspar Theyß selbst, der mit nackten, muskulösen Armen soeben einen mächtigen „Willkomm!“ mit der Inschrift: „Theyß es gilt!“ zum Munde führt, während der ersichtlich aufgeräumte Kurfürst ihn mit der beigefügten Anrede begrüßt:

„Caspar Theis was sal die kleine Flas
Die Consz Buntschug hot in der Tas
Diser Wilkum mus zuvor heraus
Sunst wurt ein solchger Lerman traus.“


(„Kaspar Theyß was soll die kleine Flasch
Die Consz Buntschug hat in der Tasch
Dieser Willkomm muß zuvor heraus
Sonst würd’ ein solcher Lärm daraus.“)

Die Einrichtung des Jagdschlosses ist, dem Sinn der Hohenzollern entsprechend, traulich und schlicht. Eine ansehnliche Vogelsammlung, Geweihe, Kuriositäten, alte Jagdwaffen, eine Reihe alter unter Friedrich Wilhelm I. angefertigter Jagdgemälde, historisch interessant, doch auch voll köstlichen ungewollten Humors, bilden in der Hauptsache die Ausschmückung der alten Räume, deren dunkle Eichenholzmöbel den Eindruck des Gesammtbildes noch erhöhen. Außer einem größeren Saale, wie zahlreichen

[57]

Jagdschloß Grunewald.
Nach dem Oelgemälde von O. v. Kameke.

[58] Jagdzimmern für den Hof und die Gäste, enthält der zweistöckige Bau noch im Erdgeschoß die Wohnränme des jetzigen Jagdzeuginspektors.

Von Joachim II. an sind alle Hohenzollern hier oft und gern aus- und eingegangen. Die Nähe der Residenz, der ausgezeichnete Jagdgrund mit seinem herrlichen Wechsel von Wald und Wasser mögen zum guten Theil diese Gunst bewirkt haben. Auch der große Kurfürst liebte es, mit reichem Gefolge hier manchmal Einkehr zu halten, mit ihm sein Hofpoet, der märkische Dichter Nikolaus Peucker.

Jagdschloß Grunewald in seiner Abgeschiedenheit, der malerischen Lage am blauen See, ist schön. Der Blick von den Uferhöhen droben unter den moosbefranzten, leise rauschenden Kiefern über das in lichtes Grün gebettete, giebelgekrönte Schloß, den leuchtenden See mit seinen schilfumgürteten Buchten, bietet ein Bild echt märkischer Poesie. Aber noch ein Anderes ist’s, das dieser Stätte einen unsagbaren Zauber verleiht. Es ist der Schatten einer unglücklichen Frau, die zu mitternächtiger Stunde händeringend durch die öden, dunklen Räume irrt.

Anna Sydow, genannt „die schöne Gießerin“, die Wittwe des Stückgießers Dietrich, deren tragisches Ende noch heute ein Räthsel für uns ist, sie ist es, welche die Sage als hier lebendig eingemauert bis heute nicht schlafen läßt. Nachgewiesen ist, daß schon Friedrich Wilhelm II., wenn er sich zuweilen hierher zurückzog, um dieses spukhafte, nächtliche Treiben wußte. Ist’s eine Sage? Zwischen den zwei Jagdzimmern, welche früher unser Kaiser benutzte, befindet sich hinter dem Ofen in der Mauer ein großer Hohlraum, welcher ehemals die Fortsetzung einer jetzt oben abgebrochenen alten Wendeltreppe aufwies. Die baulichen Einrichtungen beweisen, daß diese Treppe einstens bis zum Erdgeschoß reichte. Das ist die Grabkammer der schönen Gießerin, wie das Volk meint.

Vor den Augen des begehrlichen, lebenslustigen Joachim II. hatte die arme Gießerin einst Gnade gefunden. Die Schönheit ihrer Gestalt, die heitere Milde, welche von ihrem Wesen ausging, ihr kluger Sinn ließen den Kurfürsten für sie in heißer Liebe entbrennen, und als 1549 im Jagdschloß Grimnitz seine Gemahlin, Kurfürstin Hedwig, durch die morsche Decke auf darunter befindliche Hirschgeweihe so jammervoll stürzte, daß sie nur noch an Krücken sich fortbewegen konnte und bald das Zeitliche segnete – da sah der Fürst kein Hinderniß mehr, seine Gießerin fortan ganz auf seine Seite zu ziehen. Sie ward sein besseres Theil, das nunmehr sein ungebundenes Genußleben nach den Gesetzen der Schicklichkeit regelte. Die öffentliche Achtung blieb ihr nicht versagt. Ueberall erschien sie an seiner Seite und Jeder wetteiferte, der schönen, segenspendenden Frau seine Huldigungen darzubringen.

Es war im Schloß Köpenick. Von der Wolfsjagd in den Müggelsberger Forsten heimgekehrt, stand der Kurfürst mit seinem Gefolge, umdrängt von neugierig herbeigelaufenem Volk, im Schloßhofe, die erlegte Beute musternd, neben ihm Anna Sydow im Kreise ihrer herangewachsenen Söhne. Die Bauern steckten die Köpfe zusammen, als sie der noch immer schönen Frau ansichtig wurden, und flüsterten, daß es zu den Ohren des fürstlichen Jagdherrn scholl:

„Ist das die unrechte Frau unseres allergnädigsten Kurfürsten? Wie darf er thun, was wir nicht thun dürfen?“

Das schnitt dem Fürsten tief ins Herz. Ernst wandte er sich um und sagte leise zu der Gießerin:

„Du solltest bei Seite treten; sie nehmen Aergerniß daran.“

Sie that es und mied fortan alle öffentlichen Feste. Seitdem sind uns auch alle verbürgten Nachrichten über ihr trübes Lebensende verschwunden. Birgt diese Mauer eine Todte? Wir wissen es nicht, aber das Volk hält daran fest. Ehe Mitternacht herangekommen ist, geht es wie Seufzer durch die stillen Hallen, und es ist, als schlüge eine Stirn wehvoll gegen die Mauern unter Schluchzen und bitterem Weinen. Dann ist Jagdschloß Grunewald wieder ein verzauberter Märchenort geworden. Unten der schweigende dunkle See, in dessen Fluth sich die Sterne beschauen und an dessen Ufern das Schilf geheimnißvolle Zwiesprach mit den tief sich herniederneigenden Wipfeln der Erlen und Kastanien hält. Nebelschleier spinnen ihre feuchten Kronen um die schauernden Kiefernhäupter und nichts unterbricht die einsame Stille, als das Knarren der Wetterfahnen auf den Giebelthürmchen oder der Schrei eines Nachtvogels, der beutehungrig durch den schlafenden Forst streicht. A. Trinius.     


Das erste Jahr im neuen Haushalt.

Eine Geschichte in Briefen.
Von R. Artaria.
I.

Neustadt, den 23. Oktober 188..  
 Meine liebste Marie!

Weißt Du noch, wie wir vor einem Jahr beisammen saßen, Du, Jenny und ich, und überlegten, ob wohl unsere Zeichenkünste hinreichen würden, uns an der ausgeschriebenen Konkurrenz für die „Modezeitung“-Vignette zu betheiligen? Wie Tante Gustel dazu kam und sagte: „Ich will mit Euch wetten, was Ihr Lust habt, daß Ihr eine Konkurrenz nicht mitmachen könntet, nämlich, an die Tafel zu zeichnen, wie Lauch und Sellerie aussieht!“

Jenny rief darauf: „O, Lauch, das weiß ich schon, das riecht schlecht!“

Und Du fielst ganz glücklich ein: „Ja, Sellerie, das weiß ich auch! In der Oper ‚Aschenbrödel‘ kommen solche kleine Kerls vor, als Gemüse und derartiges Zeug verkleidet; dann fällt der Vorhang und Einer ist hinausgesperrt, der heißt Sellerie!“

Dann rief Jenny wieder: „O, ‚Aschenbrödel‘ habe ich auch gesehen, aber ich wußte nicht, was Sellerie ist!“

Die Tante lachte, daß ihre runden Schultern wackelten; dann nahm sie ihren Strickkorb und sagte: „Moderne Mädchenerziehung! So seid Ihr Alle – mich dauern nur einmal Eure Männer!“

Damals lachten wir mit, aber solltest Du’s glauben, daß mir seit ein paar Tagen diese Kassandra-Worte in den Ohren klingen und ich mehr als einmal schon fühlte, daß ich eigentlich im Grunde recht wenig verstehe, und mich voll Angst fragte, ob Hugo am Ende wirklich bedauernswerth sein wird?

Aber das kann ja doch nicht möglich sein! Ich liebe ihn so sehr, so viel mehr als in unserem Brautstand; kein Opfer wird mir zu groß sein, um ihm sein Haus so glücklich wie möglich zu machen. Oft auf unserer Hochzeitsreise, in der Schweiz und in Italien während der himmlischen Wochen, die wir frei, nur uns gehörend, in der größten Glückseligkeit verlebten, haben wir es uns doch ausgemalt, wie reizend es erst im eigenen Neste sein werde, und ich freute mich auf die Heimkehr in das kleine Amtsstädtchen, das im Frühjahr, als ich mit Mama Hugo hier besuchte, so reizend im Grünen lag. Aber jetzt – ich weiß es nicht, ist es der Herbst mit den kahlen Zweigen oder die Trennung von den Eltern und Geschwistern, von Dir und allen meinen Freundinnen, oder sind es die noch nicht eingerichteten Zimmer, in denen Vielerlei herumsteht, was noch ausgepackt werden soll – mich ergreift, wenn Hugo fort ist und ich mit dem fremden Mädchen allein bin, hier manchmal eine Art Heimweh und mir wird ganz verlassen zu Muthe. Wie anders war es doch, über Alles Mama fragen zu können, oder vielmehr, sicher zu sein, daß sie Alles machte! Ich habe mich deßhalb um Vieles zu wenig gekümmert; das sehe ich jetzt wohl ein.

Aber nur nicht melancholisch! In ein paar Tagen muß Alles in schönster Ordnung sein; ich wäre auch schon weiter, hätte mich nicht der Schlosser, der Vorhänge und Rouleaux aufmachen soll, im Stiche gelassen. Um acht Uhr sollte er da sein; nun ist es elf, und er ist noch nicht erschienen. So will ich denn in der nothgedrungenen Ruhepause Deinen lieben Brief beantworten, Herzens-Marie, und Dich ein wenig ausschelten, daß Du glaubst, ich werde über dem Manne die Freundin vergessen. Nein, das wird niemals geschehen. Ich habe nicht einmal mein Versprechen vergessen, Dir, Du neuverlobte Jungfrau, von meinen Erfahrungen [59] zu berichten, damit Du es schön bequem hast, Dich auf anderer Leute Kosten zur praktischen Hausfrau heranzubilden. Und wenn ich Dir getreulich und haarklein berichte, so ist auch ein Bischen Egoismus dabei; denn Hugo, das habe ich mir geschworen, soll von häuslichen Kalamitäten so wenig als möglich erfahren. Mama mag ich auch nicht beunruhigen, aber eine vertraute Seele muß ich haben, der ich beichten kann!

Seit ich hier bin und Wirthschaftsgeld habe und sehe, wie schnell ich mit zehn Mark immer fertig bin, kommen mir auch finanzielle Gedanken. Nicht eigentlich Sorgen, wir haben zu leben, aber brillant sind unsere Verhältnisse gerade nicht, die Mama hat darin den Bekannten gegenüber ein Bischen übertrieben, weil sie immer sagt: besser Neider, als Mitleider! Und daß sie meine Ausstattung elegant machen ließ, das war gewiß sehr recht; man richtet sich doch nur einmal ein, und alle meine Freundinnen hatten es eben so. Du solltest nur einmal meinen kleinen Salon sehen. Reizend, sage ich Dir, mit den türkischen Vorhängen und Kameltaschen-Fauteuils! Ich kniee jeden Morgen eine Viertelstunde vor der kleinen japanischen Ausstellung, die auf dem lackirten Schränkchen aufgebaut ist. Hugo sagt zwar, er könne den Nutzen von Porcellanaffen und kupfernen Kröten im Wohnzimmer nicht einsehen, aber das macht mich nicht irre. Nebenan im Eßzimmer steht dann das wundervolle große Büffett und die hohen geschnitzten Sessel – Alles so pikfein! Die Menschen waren ja vermuthlich früher auch nicht unglücklich in ihren altmodischen, häßlichen Möbeln, aber so glücklich wie wir können sie sich nicht gefühlt haben!

Eines ist ärgerlich: wir werden leider nicht oft Gäste von unserem Prachtbüffett bewirthen können. Gestern haben wir unseren Jahresüberschlag gemacht. Hugo’s Assessorgehalt und meine Zinsen (Papa konnte eben auch nicht so viel für mich abgeben, wir sind ja Vier!), also das zusammen macht im Jahre beinahe viertausendfünfhundert Mark aus; davon soll man als gute Hausfrau hier in Neustadt ausgezeichnet wirthschaften können. Wenn man nur erst diese gute Hausfrau wäre!

Mama gab mir ein, wie sie sagt, ausgezeichnetes Kochbuch mit als Rath für alle zweifelhaften Fälle. Ich habe es wiederholt schon heimlich konsultirt, um vor meiner als sehr brav und ehrlich berühmten, aber herzlich unkultivirten Rike mit der gehörigen Festigkeit auftreten zu können. Aber das, was ich suchte, stand leider nicht darin.

Solltest Du’s zum Beispiel glauben, daß ich mir seit gestern den Kopf zerbreche, um heraus zu bringen, wie man eigentlich das Zimmerreinemachen angeben muß? Lächerlich, nicht wahr? Aber wenn man es eben nicht weiß!

Daß die meinigen nicht ordentlich gemacht sind, soviel sehe ich, aber ich suche umsonst in meiner Erinnerung, wie das bei uns zu Hause angestellt wurde. Ich weiß nur so viel: wenn wir drei Mädels Morgens zum Frühstück kamen, saß die Mama hinter der Kaffeemaschine und das Zimmer war rein und warm. Dann gab es zwei Stunden lang draußen und in den Stuben ein Herumfahren mit Besen und Wischlappen, es wurde geklopft und gebürstet, und man stolperte im Dunkeln im Hausflur über die Putzkübel. Das ist meine ganze Erinnerung, denn Morgens spielte ich immer Klavier und ging dann in meine Stunden. Aber jetzt gäbe ich viel darum, wenn mich Mama einmal so gründlich den „Stubendienst“ gelehrt hätte, wie sie das immer mit den neuen Mädchen that, die wir bekamen! Dann wüßte ich jetzt, wann gekehrt und wann naß abgewaschen wird, und hätte nicht ein unbestimmtes Angstgefühl bei dem Worte „Putzerei“. Die tritt ja wohl von Zeit zu Zeit mit einer gewissen Regelmäßigkeit ein, aber woran merkt man, daß es Zeit ist? Ich habe keine Ahnung davon und vor meiner Rike will ich mich nicht durch falsche Angaben blamiren, lieber warte ich, bis sie von selbst zu putzen anfängt!

Aber das könnte vielleicht lange dauern. Heute Morgen, als ich ins Eßzimmer trat, war es sehr warm, aber schlechte Luft darin, der Boden zeigte lange Streifen und auf den Möbeln lag der Staub bereits in der Höhe meiner Nase (Du weißt, daß dies keine sehr beträchtliche Erhebung ist). Hugo merkte glücklicher Weise nichts; er war während des Frühstücks so fröhlich und übermüthig, daß er mir vorschlug, die prachtvolle Krystallbowle als Opfer für den „Neid der Unterirdischen“ aus dem Fenster zu werfen. Als er nun auf sein Bureau gegangen war, holte ich mir Rike herein, um ihr zu sagen, das Zimmer sei nicht gut gemacht. Ich hütete mich wohl, vom „Kehren“ oder „Aufwaschen“ zu sprechen, weil ich nicht wußte, welches von Beiden zu geschehen habe. Darauf schrie sie mir in wirklich ganz grobem Tone zu: „Jetzt mach’ ich schon sechzehn Jahre die Zimmer bei den feinsten Herrschaften, und jetzt soll’s auf einmal nicht recht sein!“ Fuhr hinaus und schlug die Thür hinter sich zu, und ich hörte absichtlich nicht auf die abgebrochenen Worte, die noch einige Minuten lang hereindrangen.

In unserer großen Stadt sind doch die Dienstboten viel artiger. Aber hier in dem kleinen Nest – und diese ist von der Hauswirthin noch extra als „Juwel“ engagirt worden! Nun, sie kann wenigstens kochen, das ist ein Trost, und ich gedenke, es ihr so schnell als möglich abzusehen. Hugo hat mir freilich oft gesagt: Du brauchst nicht zu kochen, dafür giebt es Dienstboten! Aber gestern, als ich Rike wegen nothwendiger Besorgungen Vormittags ausschicken mußte, und in ihrer Abwesenheit nur Feuer anmachen und das Fleisch zusetzen wollte, und es gar nicht hinbrachte und dreimal die rauchenden Steinkohlen wieder aus dem Herd herausholen mußte – da hatte ich Mühe, die Thränen zurückzuhalten. Als sie kam, brannte es in fünf Minuten, aber die Zeit zum Zusetzen des Fleisches war längst vorüber, es kam hart auf den Tisch, und Hugo machte ein kurioses Gesicht. Das war mir schrecklich, ich fühlte mich so beschämt, aber er tröstete mich, er ist so unendlich gut und lieb!

Einen Weg wüßte ich, um mir Rath zu holen, aber ich scheue mich zu sehr davor. Du hast wohl gehört, daß meines Mannes Mutter hier lebt, nicht bei uns im Hause, aber ganz in der Nähe; zu ihr könnte ich wohl gehen, doch gerade sie soll mich nicht in meiner jetzigen Unbehilflichkeit sehen und ihren Sohn wegen seiner unpraktischen Frau bedauern. Meine Mama sagte mir beim Abschied: „Emmy, sei klug der Schwiegermutter gegenüber! Immer Distanz und keine Einmischung, sonst wirst Du die Sklavin in Deinem Hause! Und wenn sie auch hierin vielleicht ein wenig zu weit geht, denn böse sieht die Frau Regierungsrath (ich kann sie nicht Mutter nennen!) nicht gerade aus – so hat sie doch Etwas in ihrem strengen Blick, das mir das Herz zusammenzieht. Ich bin ganz sicher, daß sie mich nicht leiden mag – das sage ich auch nur Dir, liebste Marie, aber es ist gewiß so. Vorigen Winter, als mich Hugo nach unserer Verlobung zu ihr brachte, glaubst Du, sie wäre auch nur ein Bischen aufgethaut? Nein, sie verlor ihr feierliches Wesen keinen Moment, und ich hatte das Gefühl, daß sie mit einer völlig strafenden Miene den Vogel auf meinem Hut und das reizende Theerosenbouquett betrachtete, welches meinen Muff verzierte. Du weißt, auf mein Gefühl kann ich mich unbedingt verlassen, es sagte mir in jenem Augenblick, daß niemals zwischen uns ein herzliches Verhältniß sein wird, daß sie mich mit Abneigung betrachtet, vielleicht eben, weil sie ihren Sohn so zärtlich liebt. Vor ihm darf ich auch alles Dies nicht laut werden lassen, er verehrt sie grenzenlos und sagte mir schon zwei Tage nach der Hochzeit: „Wenn Du es erreichst, meiner Mutter ähnlich zu werden, Herzensschatz, so bist Du der Vollkommenheit nahe.“

Wenn Einen nur nicht so frieren würde neben dieser Vollkommenheit!

Nein, mein Herz schlägt in wärmeren Pulsen:

„Die Welten dreh’n sich all um Liebe,
Lieb’ ist ihr Leben, Lieb’ ihr Tod,
Und um mich wogt ein Weltgetriebe
Von Liebeslust und Liebesnoth!“ …

Das Letztere ist nun freilich nicht gerade wörtlich zu nehmen, aber es klingt doch reizend. Weißt Du was? Ich möchte einmal eine rechte Liebesnoth haben, so eine Situation, wo man mit Gefahr seines Lebens den Geliebten rettet, oder sein Vermögen für ihn hingiebt, oder sich einer glücklicheren Nebenbuhlerin opf– nein, das lieber doch nicht!

Der Schlosser, die Rike, der Laufbursche aus dem Materialwaarenladen, Hugo’s alter Pintscher, Alles durch einander rufend, schreiend, bellend – und schon halb ein Uhr – ich noch im Schlafrock – und Hugo kann in fünf Minuten da sein! Leb’ wohl, schnellstens lebe wohl!
 Deine Emmy.




[60]

Im Affentheater.
Originalzeichnung von C. W. Allers.

[61]

Eingeschneit.

Von C. Falkenhorst.


„Das ist unser Wetter!“

Es schneit! Es schneit! Freudig und fröhlich klang dieser Ruf von tausend Lippen, als die ersten Schneeflocken im December 1886 in der Luft wirbelten und langsam zur Erde niederfielen. Jung und Alt stimmte in diesen Ruf ein; denn es war gerade acht Tage vor Weihnachten, und, Alt oder Jung, um diese Zeit sind wir Alle von einem geheimnißvollen Zauber ergriffen, und unter tausend anderen Wünschen hegen wir auch den, daß sich die Natur zum Weihnachtsfest schmücke und das blendend weiße Schneekleid anlege. Und sie legte es wahrlich an; bald schimmerten auf den Bäumen weiße Kronen, auf Giebeln und Erkern hoben sich sanft geschwellt weiße Polster und Linien, und immer dichter wurde die Schneedecke des Erdbodens. Schon hemmte sie den Fuß des eilig Dahinschreitenden, und in den Straßen der Großstädte erschienen die dunklen Haufen der Schneeschipper; vergnügt lachten die bärtigen Gesichter und die Lippen murmelten zufrieden: „Das ist unser Wetter!“ – „Das ist unser Wetter!“ jubelte auch die Schar der lieben Schuljugend und warf die Schneebälle in heller Lust! Ja, freudig wurde jener Schneefall begrüßt!

Und weiter schneite es; immer dichter fielen die feinen Flocken; eisiger Wind pfiff von Zeit zu Zeit dazwischen; hin und her trieb er weiße Wolken, formte auf der ebenen Straße Mulden und Hügel und heulte und pfiff immer lauter und siegesbewußter, bis er die vollen Töne des Sturmes erreichte. Aber was focht das die Menschen an in der erwartungsfrohen Zeit vor Weihnachten!

Im Hochgebirge mag solch ein Schneesturm zu Besorgniß Anlaß geben. Jahraus jahrein gewinnt ja dort der Schnee die Oberhand, daß die Dörfer, von jedem Verkehr abgeschnitten, wie in langen Winterschlaf versinken und über Berge und Kämme kein Weg und Steg führt. Gefahrdrohend erscheint er wohl auch in der weiten, menschenleeren Steppe des Ostens, wo der verirrte Reisende auf den weißen endlosen Schneefeldern nach den klagenden Glockentönen naher Dorfkirchen horcht, die ihm den rettenden Weg weisen. Aber im Herzen Europas, im Herzen unserer stolzen Kultur, wer würde da die Gewalt eines Schneesturmes fürchten? Wir wissen ja: der Wintermonarch mit der Eiskrone vermag den heißen Herzschlag des schnaubenden Dampfes nicht zu ersticken; wie oft schon in den letzten Jahren hat er Wälle auf Wälle dem Blitzzuge in den Weg geworfen! Wohl hielt stellenweise das Dampfroß an, aber hundert fleißige Hände bahnten ihm durch Schneewehen den Weg, und donnernd und schnaubend erreichte es stets sein Ziel – einige Stunden Verspätung, sie sind leicht einzuholen in dem Zeitalter des Dampfes.

So dachten wir alle, als die lange Winternacht mit schwarzen Fittigen die Erde umfing und die Stadt zur Ruhe ging, unbekümmert um das Toben des Sturmes. Als aber der Morgen graute, da hatte der Tückische sein Werk vollbracht. Der Schneefall hatte durch alle menschlichen Berechnungen einen einzigen großen Strich gezogen. Der Verkehr stand still; kein Pfeifen der Lokomotiven, kein Glockensignal ankommender und abgehender Züge auf den Bahnhöfen; nur in den Wartesälen lärmende Menschen; sitzengebliebene Reisende, die weder vor- noch rückwärts konnten; Reiselustige, die vergebens nach dem Bahnhofe gekommen waren. Hier trieb der Galgenhumor seine Blüthen; dort schaute tiefes Leid aus den blassen Gesichtern. Der Bräutigam, der zur Hochzeit wollte, kann nicht vorwärts und muß die Braut im festlichen Schmucke warten lassen; der Sohn kann nicht eintreffen zum Begräbniß des Vaters; der Geschäftsmann rechnet still die Verluste nach, welche ihm der unfreiwillige Aufenthalt zufügt. So wogt auf und ab die Menge in den Bahnhöfen der Großstadt, bis die Hoffnung auf Weiterkommen schwindet, bis sich die Säle leeren und die großen Hallen tagelang stumm und still dastehen, wie noch niemals, seitdem die Menschenhand sie aufgeführt. –

Ein anderes Bild bieten uns die Bahnhöfe kleiner Orte; auch hier wimmeln die Säle von Sitzengebliebenen. Verzweiflungsvoll depeschiren sie nach allen Himmelsrichtungen um Rettung und Erlösung. Vergeblich! Die Nacht vergeht und der Tag bricht an; im nahen Städtchen suchten die Einen Unterkommen, die Anderen übernachteten in den kalten Eisenbahnkoupés. Reich und Arm, Hoch und Niedrig brachte der Zufall zusammen, und man sieht, wie ein Hut durch die Gesellschaft wandert, wie gesammelt wird für die mittellosen Reisegenossen; und als die Thränen der Armen angesichts der gebotenen Hilfe trocknen, da erfaßt auch fröhlichere Lust die Gemüther der Geber. Die Sitzengebliebenen veranstalten Tanzkränzchen, und es wird sogar von Verlobungen, von verlorenen und gefundenen Herzen gemunkelt. Wundersamer Humor der Eingeschneiten!

Draußen aber auf dem blachen Felde hat der Sturmwind eine malerische Landschaft aufgebaut, Wälle und Dämme, Hügel und Berge aufgethürmt, Straßen verweht, Eisenbahnlinien unsichtbar gemacht. Zwischen den Baumreihen, die schwarz aus dem Schneefelde hervorragen und die Chausséerichtung andeuten, liegen ausgespannte Wagen und Lastfuhrwerke. Man ließ sie stehen, da ein Vorwärtskommen unmöglich war. Zwischen den schlanken Telegraphenpfählen schaut aus dem hohen Schneedamme eine Reihe dichtgedrängter Eisenbahnwagen hervor. Eingeschneit! Der Zug kann weder vorwärts noch rückwärts; kein Rauch steigt aus dem Schornstein der Lokomotive gegen den grauen Himmel; die Menschen spähen ungeduldig hinaus, ob die Hilfsmaschine nahe mit Feuerungsmaterial und Nahrungsmitteln und hoffentlich auch mit Arbeitern, welche die Bahn frei legen.


Alte Post wieder in Ehren!
Originalzeichnung von Rudolf Cronau.


Hier sitzen noch die Passagiere streng nach Klassen gesondert. Die gelben Nummern auf der Wagenthür behalten noch ihre Geltung, und [62] wer durch die Koupéfenster hineinschaut, der erblickt seltsame „lebende Bilder“. Hier die stumme Ergebung in das Unvermeidliche, von der Philosophie des Rauchens unterstützt, dort der übliche Zeitvertreib mit der Lektüre eines auf der letzten Station aufgegriffenen Blattes. Die Jugend hat Zeit, sich genauer zu betrachten; durchdringender und muthiger werden die anfangs scheuen Blicke, und obwohl es draußen winterlich schneit und der Sturm durch die Landschaft tobt: die Jugend setzt sich leichter über das Schicksal hinweg und in ihrem Herzen wird’s Frühling! Düsterer sitzen zusammengedrängt die weniger Bemittelten in den letzten Klassen. Zeit ist ihnen Geld im vollsten Sinne des Wortes; denn sie leben von der Hand in den Mund. Unmittelbar empfinden sie darum auch die Härte des sie treffenden Verlustes. Als aber die Hilfe naht, aus der Umgegend eine Schar von Arbeitern und eine Abtheilung Soldaten erscheint und kräftig mit Schaufeln und Spaten eingreift, da erhellen sich die Züge, und die Lustigsten denken an Zeitvertreib und spielen gar Skat und rufen in bitterer Laune: „Ein prächtiges Skatwetter!“ Draußen aber wetteifern der Nährstand und der Wehrstand um die Freilegung des Verkehrs.

So bildet der eingeschneite Zug eine Welt für sich; ein kleines Abbild der großen menschlichen Gesellschaft, die so verschiedenartig das Schicksal zu tragen weiß und ihm bald lachend, bald weinend begegnet.

An dem bleigrauen Himmel ballt sich aber von Neuem das düstere Gewölk. In Scharen fliegen die weißen Flocken zur Erde; in erneutem Angriff stürmt der Schnee, und, unterstützt vom Winde verschüttet, er wiederum das rettende Werk tausend fleißiger Hände.

Auch das Antlitz der Großstadt verändert seine sonst so gleichmäßigen Züge. Schneedämme wachsen mitten auf dem Straßenpflaster auf; Schneelawinen stürzen von den Dächern. Auch in der Stadt stockt der Verkehr; die Pferdebahnen stehen still, nur vereinzelt erscheinen die Droschken in den Straßen; dafür erblickt man in langen Reihen schwere Wagen, welche langsam den Schnee zum Stadtthore hinausfahren. Der Wochenmarkt ist leer, die Stadt wie belagert, die Zufuhr von Lebensmitteln abgeschnitten, und selbst in der warmen, traulichen Kinderstube spürt man die Rückwirkungen des Schneeunwetters. Draußen vor dem Stadtthore ist der Milchkarren im Schnee stecken geblieben. Selbst vom nächsten Dorfe kann Niemand herein. Vergeblich schreit das kleine Gretchen nach Milch; sie ist selbst für das theuere Geld nicht zu beschaffen. „Gewöhne dich, kleines Herz, an Entsagung; nimm mit Suppe und Nestle’schem Kindermehl vorlieb!“ „Ihr habt gut reden,“ meint verzweifelt die Mutter.

Durch die verschneiten Straßen bahnt sich der Briefträger den Weg. Zur gewohnten Stunde tritt er seinen Gang an, ein Sinnbild der Regelmäßigkeit; aber seine Brieftasche ist leer. Die Post von auswärts ist ausgeblieben: keine Nachrichten, keine Briefe, keine Zeitungen!

Und Weihnachten naht. An den Postschaltern stehen lange Züge von Menschen, alle mit Weihnachtssendungen beladen. Die Weihnachtspost wächst an; schon liegen Tausende von Packeten da; andere Tausende kommen hinzu. Sie alle müssen unbefördert bleiben; denn die Eisenbahnzüge gehen nicht. Und es ereignet sich das Unerwartete, kaum noch Dagewesene: die Post verweigert die Annahme neuer Sendungen; denn sie hat keine Lagerräume, um alles Das aufnehmen zu können, was den Menschen das Christkind bescheren will.

Da liegen sie in buntem Wirrwarr, groß und klein, all die Päckchen und Ballen, als ob ein launiger Kobold sie zusammengeworfen hätte: schlichte Gaben der Liebe neben Geschenken, welche der Scherz stiftete. Und der Kobold lacht boshaft aus der Ecke; denn nicht nur Täuschungen hat er den Menschen bereitet; die Geschäftswelt weiß leider von Verlusten zu berichten, deren Summen fast unglaublich klingen.


Liegengebliebene Weihnachtssendungen.
Originalzeichnung von Rudolf Cronau.


Die zweite Nacht vergeht; der dritte Tag bricht an, und der tolle Flockentanz in der Luft will nicht enden. Der Himmel läßt uns seine Uebermacht fühlen. Aber wie erdrückend auch die Lage ist, der Kampf wird nicht aufgegeben. Neue Bataillone rücken aus den Garnisonen gegen den feindlichen Schnee nach den bedrohten Punkten der Eisenbahn; die belagerten Städte stellen ihr letztes Aufgebot ins Feld. Dort rücken sie aus, von einem Straßenmeister geführt, die neuen Schneeschipperkolonnen: einst hatten die Leute bessere Tage gehabt; das sieht man ihnen wohl an. Es sind stellenlose Familienväter darunter, die sonst am Kaufmannspult mit der Feder gearbeitet. Endlich haben sie Arbeit gefunden, eine harte Arbeit in Wind und Wetter; aber der Lohn ist ehrlich verdient, und einen kurzen Sonnenschein wird er in die trüben Wohnungen in der Dachkammer bringen, einen Abglanz des frohen Kerzenscheines der heiligen, Wunder wirkenden Nacht.

Der Kampf wird nicht aufgegeben! Die Post wahrt den Ruf ihrer Findigkeit. Vom Dampfe im Stiche gelassen, weiß sie andere Mittel und Wege zu finden. Der lustige Postillon, der wird schon dem Schneesturm trotzen; und vierspännig, auf Schlittenkufen, fährt die alte Postkutsche zum Stadtthor hinaus, und herausfordernd schmettert wieder das Posthorn. Hoiho! Alte Post wieder in Ehren! Sie fährt ja wieder zwischen Dresden und Leipzig, zwischen Leipzig und Halle, zwischen Chemnitz und Leipzig und so weiter zwischen Stadt und Stadt. Langsam kommt sie zwar vorwärts; im Schritt nur geht es, eine wahre Schneckenpost! Aber sie ist heute doch schneller als der Dampf; triumphirend überholt sie den eingeschneiten Zug; was nützen ihm die vielen Dampfmaschinen! Das Posthorn klingt siegreich durch die leeren Straßen: wir bringen wenigstens Briefe und Zeitungen!

Aber welche Fahrt! Hier überschaut das Auge die Größe der Zerstörung. Die Wälder stöhnen unter der schweren Last, und dumpf krachen die Bäume im Schneebruch zusammen. Das Wild bricht ermattet zu Boden. Nur Raben und Krähen durchschweifen das weite Gefilde. Hier ist der Tod durch die Landschaft geschritten, und in entlegenen Dörfern und Weilern kreist die Trauerbotschaft von verlorenen Menschenleben.

Endlich, endlich hat das Wetter ausgetobt. Blendend huscht von Zeit zu Zeit der Sonnenstrahl durch die weißen Strecken, als ob er frohe Zukunft verkünden wollte. Milde Hoffnung weckt er in den Herzen und scheint leise zu flüstern: bald wird kommen die Zeit, wo ich die Schneedecke schmelze und grüne Kräuter und blühende Pflanzen zu neuem Leben wecke, und auch ihr werdet den Schneesturm vergessen und in rüstiger Arbeit euch des Lebens freuen! Und schneller, als man glauben sollte, geht die Hoffnung in Erfüllung; denn wahrlich, schon rollen die Eisenbahnzüge von Stadt zu Stadt, von Land zu Land; allmählich tritt die gewohnte Ordnung der Dinge in ihr Recht.

In seinem Arbeitszimmer sitzt der Gelehrte; er hat die Richtung des Windes, die Stärke des Schneefalls gemessen, die Zahlen zusammengezogen und gelangt zu einem seltsamen Schlusse. Die Masse des Wassers, die in gefrorenem Zustande in den letzten Tagen niedergefallen war, so gewaltige Störungen verursacht und so viele Menschenopfer gefordert hatte, ist recht unbedeutend. Ein einziges Gewitter, welches am schwülen Sommertage mit Blitz und Donner auf die Erde herniederfährt, vermag in wenig Stunden dieselbe Wassermenge zu liefern. Der Gelehrte trägt seine Beobachtungen einfach in das große Buch der Wetterberichte ein. Im Laufe der Jahrhunderte war es nicht der erste Schneefall von solcher Ausdehnung und Gewalt, und er wird auch nicht der letzte sein.


Endlich Arbeit gefunden!
Originalzeichnung von Arthur Lewin.


Sinnend schaut er auf die Staubatome, die, wie draußen die Schneeflocken, jetzt in seinem Zimmer in den Strahlen der Sonne schwingen und tanzen. Eine Welt ruht in ihnen, unsichtbar, aber voll Werdens und Vergehens wie die große majestätische Natur, welche die Menschheit schreckt und entzückt. Er lächelt aber leise, denn er weiß, daß ein höheres Gesetz über dem Wandel der Erscheinung steht: Wolkenbrüche, Ueberschwemmungen, Schneestürme und Erdbeben, sie schrecken die Menschheit nur im Augenblicke, aber sie vermögen ihre Entwickelung nicht zu hemmen; denn größer noch als im Zerstören ist die Natur im Heilen der Wunden, welche sie geschlagen.



[63]
Speranza.
Novelle von A. Schneegans.
(Schluß.)


Auf dunklem Bergespfade reitet ein Ritter, in seinen Armen hält er ein blutendes Weib; wie ein Kind hält er die theuere Last, auf welche er mit ängstlicher Sorge niederschaut.

Ein wegekundiger Bauer führt die Rosse über felsige Pfade den Berg hinan. Tief unten liegt schon das Thal. In weiter, weiter Ferne blitzt der Meeresspiegel. Zu einer im Pinienwalde verlorenen einsamen Klausnerei geleitet der Bauer den stummen Reiter.

Zwei Kerzen brennen auf dem Altar der kleinen Waldkapelle. Unter der Thür erwartet der Klausner den späten Besuch.

„Braut und Bräutigam! Herzog und Fürstin! Im Namen des dreieinigen Gottes, seid mir gegrüßt!“

Ein Laut des Schreckens aber entfährt dem Mönche, als sein Auge auf das blasse, leblose Mädchen fällt.

„Bevor der Tod uns trennt, heiliger Bruder, eile und traue die Lebenden, so lange es noch Zeit ist!“

Vor dem Altar kniet der Ritter. An seiner Brust lehnt die schwerathmende, ohnmächtige Braut.

„Im Namen des dreieinigen Gottes, seid vereint hienieden und droben, auf ewig und immerdar!“

Und leise spricht der Chorknabe im weißlinnenen Hemde die heiligen Gebete nach, und leise antwortet der mit gefalteten Händen unter der Thür stehende Bauer. „Im Namen des dreieinigen Gottes, Amen, in alle Ewigkeit!“




Monden sind verflossen. In dem Kloster dort unten im einsamen Thale ertönen keine Glocken mehr. Verödet und verlassen liegt die blutbefleckte Kirche. Erloschen ist das ewige Lämpchen über dem verwaisten Altar. Durch die klaffenden Fensteröffnungen ziehen die Winde und sausen die Stürme, und unter den hohen Normannenwölbungen nisten krächzende Raben.

Gesenkten Hauptes schleppt sich der alte Letterio in seiner Hütte und auf seinen Feldern herum. Sein Kind ist verschwunden seit jener Nacht. Bei dem Gevatter über den Bergen war Nino nicht angekommen; die Ziege wurde von einem Nachbar hoch oben auf unwegsamem Berge gefunden. Des Spaniers Geld hatte dem alten Letterio kein Glück gebracht.

Jubel aber herrschte in dem Palaste des Herzogs von Gonzaga; Jubel erfüllte Palermos Straßen, Jubel hallte wieder bis unter die dämmerigen Wölbungen des vom lachenden und jauchzenden Volke umlagerten Domes, wo der greise Bischof, umgeben von seinem Klerus, in goldschimmerndem Ornate unter dem weitgeöffneten, blumenbekränzten Portale den Fest- und Brautzug erwartet und wo in gemeinsamem Dankgebet für die Genesung der einzigen Tochter des Fürsten Roccaguelfonia und für das eheliche Glück der jungen Herzogin von Gonzaga Sicilianer und Spanier Herzen und Hände zu ihrem gemeinsamen Gott erheben und ihrem langen Hasse und Hader entsagen werden.

Er war es gewesen, der ehrwürdige Greis, der zu dem alten, in Gram und Kummer um sein Kind vergehenden Fürsten hingetreten war; er war es gewesen, der, tröstend und befehlend die Hand über das von unsäglichem Schmerze jäh gebleichte Haupt des Fürsten erhebend, ihm zugerufen hatte:

„Fürst! Nach Dir begehrt Dein Kind! Mit dem Tode ringt Dein einziger Sproß! Nach Deiner Verzeihung fleht Blandina’s Herz! Ein Wort aus Deinem Munde rettet Dein Kind, Dein Schweigen aber ist sein Tod. In Deiner Hand liegt ihr Leben! Kannst Du noch zaudern?“

„Ehrwürdiger Vater!“ hatte der Fürst geantwortet mit dumpf zitternder Stimme, „Du kennst meinen Schmerz, Du kennst aber auch meinen Eidschwur: Haß und ewige Fehde habe ich in feierlicher Stunde den Spaniern geschworen – für mich und für mein ganzes Geschlecht! Und als mein unseliges Kind sich von jenem Spanier entführen ließ, und als er sie, die zum Tode Verwundete, die gegen meinen Willen von einem Deiner Priester heimlich ihm Angetraute zurückführte, um sie in dem Palaste der Gonzaga zu verbergen – nur meines Hasses, nur meines Schwures konnt’ ich da eingedenk sein! Und furchtbarer noch als bis daher entbrannte mein Grimm gegen dies Volk! Und als er seinen Boten zu mir sandte und mir melden ließ, meine Tochter rufe nach mir in fiebernden Todesphantasien und die Thore seines Palastes ständen mir offen – Priester, die Liebe eines Vaters für sein einziges Kind, Du kennst sie nicht und darfst sie nicht empfinden, die Treue aber, die ein Ritter, ein Fürst, ein Christ seinem vor dem Altar des allmächtigen Gottes gelobten Schwur bewahren soll, die kennst auch Du, und träte ich als Eidbrüchiger vor Dich hin, Du wärest der Erste, der die verdammende Hand gegen den Elenden erhöbe! – ‚Hierher in des Vaters Schloß,‘ antwortete ich dem Boten, ‚bringe man mir mein Kind, und zum Leben wird des Vaters Pflege die vaterflüchtige Tochter zurückführen!‘ Und er ging und kam nicht wieder – und meine Tochter brachte Keiner in des Vaters Haus – und stumm, einsam, mit meinem unsäglichen Wehe ringend, verschloß ich mich in meine Gemächer, wartend, ob sie nicht käme! Von den Zinnen dieses Schlosses suchte mein Auge dort die Stelle, wo unter dichtem Laubwerk verborgen jenes Haus liegt – und wenn die Nacht hereingebrochen war, da hüllte ich mich in meinen Mantel, und allein, ungesehen wie ein Dieb und wie ein Mörder schlich ich mich bis zum Fuße jener Mauern, und mein Auge suchte ein mattbeleuchtetes Fenster – dort lag sie! Dort rang sie mit dem Tode! – Dort rief ihre Stimme nach mir! – und ihrem Rufe durfte ich nicht folgen, denn über jenem Thore flammte, wie das wehrende Schwert des Cherubs, mein Schwur!“

Auf der Erde haftete des Bischofs Blick. Langsam erhob er ihn.

„Haß und ewige Fehde schwurst Du dem Spanier. Für Dich durftest Du schwören, Fürst! Für Dein Geschlecht hast Du kein Recht dazu. Durch der Väter Willen sollen die Kinder nicht gebunden werden. Unterbrich mich nicht, Roccaguelfonia! Hätte Deine Tochter erklärt, auch gegen Dein Gebot, als fromme Dienerin der Kirche in ein Kloster eintreten zu wollen – ich selber wäre vor Dich getreten und hätte Dir zugerufen, wie ich es heute thue: ‚Deines Kindes Wille ist frei, wie es der Deinige war!‘ – Nun aber höre: Deinem Schwure sollst Du getreu bleiben, wie sie auch dem freiwillig vor Gott geschworenen Gelübde bis zur Schwelle des Todes getreu geblieben ist! Kein Schwur aber verbietet dem Vater, an das Lager seines sterbenden Kindes zu treten und dem Kinde zuzurufen: ‚Lebe, ich verzeihe Dir!‘“ …

„Kein Schwur?“ rief der Fürst, von seinem Stuhle aufspringend, „sie liegt in eines Spaniers Haus, und ein Spanier wacht zu ihres Bettes Häupten!“

„Und läge Dein Kind auf der Bahre, geschmückt zum ewigen Schlafe mit den Blumen des Todes, unter dem Schutze der Engel und Heiligen am Fuße des Altars in Gottes Kirche, dann trätest Du heran und fragtest nicht, ob unter den dämmernden Gewölben, mit Deinem Gebete vermischt, von spanischen Lippen Gebete für die arme Todte zum Himmel steigen – und, uneingedenk der Spanier, drücktest Du des Vaters letzten Kuß auf die Stirn des todten Kindes. Wohlan denn stehe auf, folge mir! – und mit mir knieest Du heute noch vor Blandina’s Lager und zum Leben führt sie Dein Wort und Deine verzeihende Liebe zurück.“

Da bohrte sich fragend des Fürsten Blick in des Priesters Auge. Seine Lippen bebten. Seine Hand ballte sich krampfhaft über dem harten, kalten Marmor des Tisches.

„Schwöre,“ sprach er endlich langsam und feierlich, „schwöre bei Gott dem Allmächtigen, daß in jenem Hause keines Spaniers Fuß dem meinigen folgen oder vorangehen wird – und ich gehe!“

„Ich schwöre es! Offen und leer stehen die Gänge und Gemächer für Dich und für mich, so lautet des Herzogs Befehl!“

Und sie gingen. Die spanischen Wachen am Thore zogen sich in ehrerbietiger Scheu zurück, als die Beiden nahten. Offen und leer standen die Gänge und Gemächer im stillen Palaste. Von den weichen, dumpfen Teppichen erstickt, erstarb unter denhohen Wölbungen der Tritt der still und langsam Wandelnden.

[64]

Augenblicksbilder aus einem eingeschneiten Eisenbahnzug.0 Originalzeichnung von Arthur Lewin.

Dort hinten, am Ende des Ganges, zitterte ein mattes Licht durch die geschlossenen Vorhänge; mit leisem Finger hob sie der Bischof in die Höhe. Auf ihrem Bette, die Hände gefaltet, die Haare über die Schultern aufgelöst, den fieberglänzenden Blick hinaufgerichtet zu einem Bilde der Madonna, lag Blandina. Sie hatte die Nahenden nicht gehört; halblaut betete sie vor sich hin:

„Heilige Jungfrau! Um ein Zeichen flehte ich Dich an, als ich auf den Stufen Deines Altars lag, um ein Zeichen, ob Du mir erlaubtest, gegen den Willen meines Vaters glücklich zu werden, und das Zeichen, Hochgebenedeite, du gabst es mir! Eine Sühne aber hast Du mir auferlegt, daß ich durch Leiden und Gram wieder erkämpfen müsse die Liebe und Verzeihung des von seinem Kinde gekränkten Vaters, und die Sühne, ich habe sie, als von Dir kommend, willig hingenommen. Nun aber, Madonna, erweiche auch meines Vaters gestrengen Sinn; führe ihn her zu des Kindes Lager, daß er die Arme um meinen Leib schlinge wie damals, als ich ein kleines Kindlein war, und daß er mir den vergebenden Vaterkuß auf die Stirn drücke, und daß seine Stimme, ach! seine liebe, so lang vermißte Stimme zu mir sage: Kind, ich habe verziehen!“

Aus dem Halbdunkel beugte sich leise eine Gestalt über die Betende:

„Ich bin es, Blandina, fürchte Dich nicht! Breite Deine Arme aus, meine Tochter – der Vater hat verziehen!“

„Vater! … mein Vater!“ rief Blandina, und hoch richtete sie sich auf von ihrem Lager, und die Arme breitete sie aus nach ihm; dann überflog ein Zittern ihre Glieder, und zu des Vaters Füßen lag das weinende Kind. In seinen Armen hob er sie von der Erde auf und zog sie an seine Brust. Heiße Thränen rollten über des Fürsten Wangen, als er sein Kind an das Herz drückte. Langsam und sanft – so sanft, daß es ihr schien, als sei es der längst entschlafenen Mutter Arm – legte er Blandina auf ihr Lager zurück und sprach dann die Worte zu ihr:

„Dein Gebet habe ich gehört, Blandina! Wo die heilige Madonna Dir helfend zur Seite stand, darf Dein Vater Dir nicht mehr grollen. Ja, einen Schwur hast Du gethan – in unbewachter Stunde – aber ein Schwur war es, und Du bist ihm treu geblieben – bis zur Schwelle des Todes! Mein Geschlecht erkenne ich wieder in Dir; denn wie Du dem Deinigen, so werde ich meinem Schwur getreu bleiben – bis zum Tode! Dir, Blandina, hab’ ich verziehen!“ –

Sie genas. Jede Nacht kam, in Begleitung des Bischofs, durch die leeren, stillen Gänge ihr Vater zu ihr; des Herzogs Name aber berührte seine Zunge nicht und mit keiner Silbe gedachte er des Feindes seines Volkes.

In ernsteren Falten lag sein Antliz, als er eines Abends zu seiner wiedergenesenen, in blühendem Leben strahlenden Tochter sprach:

„Morgen, Blandina, soll im Dome das Fest Deiner Genesung gefeiert werden – und ein anderes Fest noch wird sich daran schließen: der Segen, den Du in einer verlorenen Waldkapelle empfingst, soll morgen der Fürstentochter, wie es ihr gebührt, vor dem versammelten Volke ertheilt werden. Der alten Sitte unserer Vorfahren werde ich mich nicht entziehen; an der Pforte des Domes werde ich Dir die Hand reichen und den Händen der Kirche werde ich Dich übergeben; bis zum Altar führt Dich Dein Vater; – meinen Segen lege ich dann auf meines Kindes Haupt! Aus dem Dome führt Dich ein Anderer hinaus!“

Wie er es gesagt, so geschah es. Als der Brautzug des Herzogs von Gonzaga in den weiten Hofraum des Domes einzog, erblickten die spanischen Edelleute einen andern Zug, der vor dem Portale ihrer schon wartete. Um den Fürsten von Roccaguelfonia hatte sich der sicilische Adel geschart; nicht im Hochzeitsgewande aber waren die Grafen und Barone erschienen; gepanzert und gewappnet standen sie da, als ginge es zum blutigen Waffentanze, und finster schauten ihre Augen zu den im Festkleide, mit wehenden Federn auf dem Sammtbarette, leichten Fußes den rauschenden Klängen ihres Musikkorps folgenden Spaniern. Lächelnd bemerkten diese die seltsame Hochzeitstracht; lächelnd – denn unter ihren seidenen Gewändern trugen auch sie Panzer und Waffenhemd, und an ihrer Seite hing das breite Streitschwert; ohne Verlaß war ja dies Volk und unberechenbar die Leidenschaft, die in diesen haßerfüllten Herzen wohnte.

Milchkarren im Schnee.
Originalzeichnung von H. Heubner.

[65] „Gonzaga!“ hatte an diesem Morgen vor seinen Herrn hintretend ein im Dienste ergrauter Rittersmann gesagt, „nimm Dich in Acht, und das feinste, aus festestem Stahl gewirkte Schuppenhemd lege an unter Dein seidenes Wams, und Schwert und Dolch lasse nicht im Hause zurück; Dein bestes Schlachtroß trage Dich zum bräutlichen Feste und all Deinen getreuen Mannen befiehl, daß sie Dich begleiten – denn blutige Vespern pflegt man in diesem Lande zu feiern!“

Dem Rathe des Alten hatte sich der Herzog gefügt.

In einer von zwei reich verzierten Maulthieren getragenen Sänfte nahte dte Braut; nicht aber neben ihr, wie es die Sitte erheischte, saß der Bräutigam, sondern hoch zu Roß ritt er neben der Sänfte daher, und ein Gemurmel zog durch die Reihen des Volkes:

„Seht, mit dem Schwert an der Seite kommen auch die Spanier zum Hochzeitsfeste!“

Die Faust in die Seite gestemmt, stumm und ohne Gruß ritt Gonzaga an den sicilischen Edeln vorbei, bis zum Portale, wo er sich aus dem Sattel schwang.

Mit entblößtem Haupte, tief sich verbeugend, traten nun die sicilischen Ritter zu der Sänfte heran. Ihren Fuß setzte die Fürstin, der Landessitte gemäß, auf das rechte Knie ihres vor ihr zur Erde sich herniederlassenden nächsten Anverwandten und schwang sich, seine Schulter leicht mit der Hand berührend, aus der Sänfte; und wie sie sich nun, grüßend und dankend, vor den Edeln verneigte, und wie sie dastand, umgeben von dieser Schar von erzgepanzerten Männern, da war es, als glänze eine zweite Sonne vom Himmel herunter, so lieblich, so milde, von so weichem Lichte umflossen war diese königliche Erscheinung. Es war, als müsse all das Erz und all der Stahl dieser Helme und Schwerter und Panzer schmelzen, wie starres Eis an den Strahlen der Frühlingssonne. Es schien, als zerrisse plötzlich der Haß dieser düsterfunkelnden Augen, als müsse sich ein Lächeln Bahn brechen durch diese haßerstickten Gemüther. Es war, als schwebe ein sanft versöhnender Friedensengel über den weiten Plan: so legte sich plötzlich bei dem Erschetnen der Fürstin das Wogen und Rufen der dichtgedrängten Volksmenge. Nicht eine Herzogin, nicht eine Fürstin – eine Königin stand sie da, in ihrer blendenden Schönheit, mit ihrem holdseligen Lächeln auf dem vor Freude und Erregung leichtgerötheten Antlitz. Eine kleine, scharfgezeichnete Narbe an der Schläfe, halb verdeckt unter ihrem Perlendiadem, zeugte allein von den Schrecken und Leiden, die seit Wochen und Monden ihr Lager umschwebten. Als wolle aber der Himmel selber, für Ritter und Volk, die Erinnerung an jene Tage verwischen, spielte, wie scherzend an Winde, eine dem Perlenschmuck entschlüpfte Locke über Stirn und Schläfe, und mit anmuthiger Gebärde suchte die Fürstin das rebellische Haar zu bändigen … Ach! Einer war aber auf der Welt, der – hätte er die kleine, rothe Narbe an dieser Stirn erblickt – ein Wehe in seinem Herzen empfunden hätte, gegen welches alles Weh der ganzen Erde ihm leicht erschienen wäre! Und nicht nur Wehe und Jammer hätten bei diesem Anblick das arme, todwunde Herz erfüllt: eine blinde Wuth hätte drin aufgetobt, gegen das Schicksal, gegen sich selber – und auch noch gegen einen Andern, gegen Einen, dem jener Wurf ja gegolten! Wie oft war in ihren Fieberträumen des armen Nino Bild vor Blandina’s Seele getreten! Was war aus dem Knaben geworden? Es war ihr, als müsse er plötzlich wieder vor sie treten, wie dort in der alten Kirche, mit wuthfunkelndem Blicke den Feldstein über seinem Kopfe schwingend. Gestern erst – war es Wirklichkeit? War es Täuschung? – Als sie sich über das Gitter ihres Balkons lehnte und das Auge über des Palastes Gärten schweifen ließ – da glaubte sie eine Stimme zu vernehmen und ein leises, fernes Singen: „Zwei Herzen hast Du jetzt, Speranza! das Deinige und das meinige dazu!“

Durch die hohen Baumkronen säuselte der Wind, dumpf brauste das schäumende Meer gegen das Gestade – es war wohl das Singen des Meeres und des Windes gewesen. Wie ihr Finger jetzt vor dem blumenbekränzten Portale des Domes leicht über die Narbe an ihrer Stirn strich, da mußte Blandina wieder an den Hirtenknaben denken. Armer Nino! … In welch öder Bergeseinsamkeit liegst du wohl, vergessen, verschwunden, begraben? …

Der Vater trat zu ihr heran.

„Blandina, Fürstin von Roccaguelfonia!“ sprach er mit erhobener Stimme, „zum Feste Deiner Genesung giebt Dir das Geleite bis zu dieser


Ohne Milch.
Originalzeichnung von H. Heubner.

[66] Schwelle Dein Vater und Siciliens versammelter Adel! Fasse meine Hand und beuge Dein Knie vor dem Altar, daß ich mein Kind anvertraue der Kirche unseres allmächtigen Gottes!“

Vor dem Bischof kniete er nieder mit ihr, und seinen Segen erflehte er für sich und für sein Kind. Auf den Knieen lagen ringsum die sicilischen Edeln; entblößten Hauptes, mit gefalteten Händen, standen die Spanier bei Seite.

„Der Himmel segne Euch, Vater und Tochter! Und mögen sie sich auch trennen in dieser Stunde, Eure Wege werden sich wieder begegnen, hienieden und im ewigen Leben!“

Schluchzend hing Blandina an des Vaters Halse. Feierlich löste der Fürst sich los aus ihrer Umarmung:

„Kind, wohin Du auch ziehest, Deines Vaters Haus und seine Arme bleiben Dir offen immerdar!”

Gerührt schauten Sicilier und Spanier auf die liebliche Gruppe und in manch einen alten, silberglänzenden Bart träufelten langsam Thränen hinab. Lautlose Stille lag über dem weiten Platze. Einen Schritt that jetzt Gonzaga vor, um Blandina die Hand zu reichen und sie einzuführen in den Dom – siehe! was war das plötzlich dort unter dem Volke? Was stürzte sich aus der Menge hervor? Welch wilder Schrei, wie vom Adler in den Bergesklüften, durchriß das tiefe Schweigen?

„Nieder mit den Spaniern! Tod dem spanischen Wolf!“

Ha! war das Empörung? War das Mord? War das Verrath und Friedensbruch? Aus den Scheiden fuhren der Spanier Klingen. Wie eine Bestie, in rasendem Sprung, ein Messer in der Rechten, stürzte Einer auf den Herzog los; im Nu – wer konnte den Wüthenden fassen und halten? – stand er hinter Gonzaga und mitten auf dessen Rücken blitzte der Stahl. An den Schuppen des Panzers glitt jedoch das Messer ab, und zum neuen Stoße holte der Mörder aus.

„Ha! Mord! Verrath! Tod den sicilischen Hunden!“

Wie gebannt aber blieben die Spanier – denn, bevor sie noch ihrem Herzog zu Hilfe eilen konnten, war schon der Mörder, von dem Eisenhandschuh des Fürsten von Roccaguelfonia schwer getroffen, zur Erde gesunken, und das Rufen der Spanier mit gewaltiger Stimme übertönend, rief der alte Roccaguelfonia:

„Von meiner Hand getroffen liegt der Mörder in seinem Blute! So wie er, falle jeder Verräther!“

Und zu Gonzaga sich wendend:

„Herzog,“ sprach er, „nicht zum Verrathe sind wir hierhergezogen! Mit einem Schurken haben Siciliens Edle nichts gemein! Schaffe Diesen hinweg in Dein Schloß, daß er seinen Lohn empfange! Deinem Gerichte überantworte ich ihn! Und nun lebt wohl! … Lebe wohl, mein Kind!“

Und Blandina noch einen Kuß auf die Stirn drückend, zog der Fürst mit Siziliens Edeln ab.




Als der Herzog mit seiner jungen Gemahlin in den Palast zurückkehrte, trat ihm unter dem Thore ein alter Kriegsmann entgegen.

„Herr,“ sagte er, „nicht nur ein Mörder ist’s, den Du uns überliefert – ein Räuber und ein Dieb ist der Jüngling, der geknebelt dort auf der Erde liegt! Seit einigen Tagen schon bemerkte ich ihn, wie er sich an den Mauern herumschlich! – Siehe! ein Kleinod, mit Deinem herzoglichen Wappen geschmückt, haben wir bei ihm gefunden. An dieser goldenen Kette trug er es, unter den Kleidern versteckt, auf der bloßen Haut. Erlaube, daß wir den Missethäter an einen Thürpfosten aufhängen wie einen Fuchs oder Wolf, als abschreckendes Beispiel für die Andern!“

Betroffen blieb des Herzogs Blick auf dem Kleinod haften. Es war ein mit Perlen besäetes Kreuz, darauf das Wappen der Gonzaga mit dem kastilischen Löwen eingegraben war. Das Kreuz kannte er – und er wußte auch, wie es in den Besitz des Hirtenknaben gelangt war. Seine Stirn furchte sich, ein Blitz flammte in seinem Auge auf.

„Blandina’s Mörder – und jetzt der meine!“ murmelte er vor sich hin.

Dann, als hätte ihn dies Kleinod noch daran erinnert, daß dieser Mörder es war, der damals am Felsenquell seiner Blandina das Leben rettete, fügte er mit weicherer Stimme hinzu:

„Der Unselige!“

Und er befahl, daß man den Schwerverwundeten herauf trage in die Vorhalle. –

Als Nino aus seiner Betäubung erwachte, lag er auf einem Feldbette. Fragend flog sein gebrochener Blick zu dem Mönch, der zu Häupten seines Lagers saß und die Gebete der Sterbenden murmelte. Langsam wandte er sich zu ihm und leise, mit schon halb erstickter Stimme drang es aus seinem Munde:

„Bete für mich zu Schwester Speranza im Himmel! ... flehe von ihr Vergebung für meine Sünden!“ …

War es schon der Himmel, der sich ihm eröffnete? War es ein Gesicht des Paradieses, das seine sterbende Seele zu trösten kam? War es ein seliger Engel, der zu ihm herunterstieg, umflossen von leuchtendem Heiligenschein? … Der schwere Vorhang, der zu den innern Gemächern führte, theilte sich, und vor ihm stand Speranza – nicht aber, wie er sie im einsamen Kloster und am rauschenden Waldbach gekannt, in grauer Nonnenkutte und mit der engen Haube über der Stirn, nein! wie eine Königin erschien sie, im schimmernden Fürstengewande, mit funkelndem Diadem im langwallenden Haar. Wie eine Königin? – und wirre Erinnerungen tauchten plötzlich in des Sterbendem bangem Geiste auf. So hatte er sie schon gesehen – auf großem, freiem Platze – aus einer Sänfte stieg sie heraus – die Ritter verbeugten sich vor ihr – o Erinnerung voller Schrecken und herzbeklemmender Qual! – Aber Erbarmen und vergebende Liebe auf dem Antlitz neigte sich jetzt Speranza zu ihm, und mitleidsvoll erfaßte sie seine erkaltende Hand, und leise flüsterte sie:

„Nino, armes Kind!“

Mit aufgerissenen Augen starrte er das wunderbare Himmelsgesicht an.

„Speranza!“ sagte er, „kannst Du vergeben?“

Da fiel sein Auge auf den Herzog, und mit wildem Aufschrei: „Der Wolf!“ – wollte er aufspringen von seinem Lager; doch in des Mönches Arm fiel er zurück – eine Leiche.

„Armes, armes Kind!“ weinte leise über den Todten gebeugt die Fürstin; „seiner mit dem Tode ringenden Tochter konnte der schwergekränkte Vater vergeben – Du aber konntest nicht verzeihn!“

Und eine Thräne fiel auf Nino’s Stirn.

Da legte Gonzaga Speranza’s Kreuz auf des Todten Brust:

„Die Verzeihung kennt, wer glücklich geliebt! Unglückliche Liebe aber verzeiht nimmermehr!“




Blätter und Blüthen.

Dr. med. Karl Theodor, Herzog in Bayern. (Mit Portrait S. 53.) Wer im letzten Frühjahr in der sonnigen Heilstätte Meran den Weg an der schmucken Villa Bavaria vorüber nahm, konnte vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag zahlreiche Personen, reich und arm, jung und alt, in modischem Gewand und in bäuerlicher Tracht, geduldig im Garten und im Vorzimmer warten sehen. Sie alle erhofften Hilfe und Heilung von dem fürstlichen Arzte, dessen Name einen hellen Klang in den Bergen hat. Und von Allen, die zu ihm wallfahrten, vom höchsten Alpenhof und vom fernsten Dorfe, werden nur Wenige in ihrer Zuversicht betrogen. Denn Herzog Karl Theodor hat einen sicheren Blick und eine glückliche Hand, und er liegt seinem ärztlichen Berufe mit jener Pflichttreue ob, welche die Gewissenssache von der Liebhaberei unterscheidet.

Der Keim dieser segensreichen Thätigkeit ist kein anderer als das sittliche Gebot: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“

Prinz Karl Theodor, Herzog in Bayern, war ursprünglich für den militärischen Beruf bestimmt, in welchem er heute den Rang eines Generals der Kavallerie einnimmt. Am 9. August 1839 zu Possenhofen am Starnberger See als zweiter Sohn des Herzogs Maximilian und der Herzogin Luise geboren, wandte er sich nach dem Feldzuge von 1866, an welchem er ehrenvollen Antheil nahm, den Wissenschaften zu. Von ausgezeichneten Lehrern wie Johannes Huber, Windscheid, Hölzl wurde er in die Philosophie, das Staatsrecht, die Geschichte eingeführt, seine Neigung aber gehörte der Medicin, für deren Ausübung er sich mit rastlosem Eifer vorbereitete, als der Krieg gegen Frankreich ihn zur Erfüllung patriotischer Pflichten auf das Schlachtfeld rief. Mit Begeisterung nahm Herzog Karl Theodor an der nationalen Erhebung des deutschen Volkes theil. Nach dem Friedensschlusse kehrte er in die Hallen der Wissenschaft zurück.

Er setzte seine Studien an der heimischen Universität mit solchem Eifer und Erfolg fort, daß er anläßlich der Jubelfeier der Münchener Hochschule zum Ehrenmitglied der Universität und Doktor der Medicin ernannt wurde. Doch er wollte die Medicin nicht nur als Wissenschaft [67] erfassen, sondern als edelste Kunst ausüben. Unter Rothmund’s Leitung hatte er sich vorzugsweise der Augenheilkunde gewidmet, welche er durch einige von der Fachwelt gerühmte Arbeiten bereicherte. Der junge Arzt war so vorgeschritten in seiner Wissenschaft, daß er das reichsgesetzlich vorgeschriebene Staatsexamen im Herbst 1879 mit höchster Auszeichnung bestand.

Seitdem übt Herzog Karl Theodor unablässig eine ausgedehnte Praxis aus. Der größere Theil des Jahres gehört seiner Thätigkeit in Tegernsee, dessen Distriktskrankenhaus zahlreiche Klienten des fürstlichen Arztes auf dessen Kosten beherbergt. Mit dem ersten Frühlingshauche aber kehrt der von Hunderten sehnsüchtig erwartete Herzog in der Gartenstadt an der Passer ein. In der Zeit vom 20. März bis 1. Juni 1886 hat Herzog Karl Theodor in Meran 200 Operationen vollzogen, darunter nicht weniger als 76 Staarextraktionen. Sein Ambulatorium war von 1160 augenkranken Personen besucht. In wenigen Jahren wird Herzog Karl Theodor uber eine medicinische Statistik verfügen, wie sie nur den gesuchtesten Klinikern zu Gebote steht. Die meisten Patienten aber werden ihm um so dankbarer sein, als sie von ihm nicht nur unentgeltliche Hilfe, sondern auch Arznei, Pflege und mannigfache Unterstützung erhalten haben. Walter Lund.     

Ein Dank aus Kindermund. Die Zinsen des Wohlthuns sind der Dank, welcher aus dem Herzen kommt und zu Herzen geht. Diesen Dank den edlen Menschenfreunden mitzutheilen, welche durch unsere Vermittlung ihre Gaben, seien es nun kleine Geldbeträge, Nähmaschinen, Fahrstühle oder Klaviere, an Kranke und Bedürftige gelangen lassen, ist uns immer hocherfreulich und ein Ersatz für alle Mühe. Eine ganz besondere Freude hat uns aber jüngst ein Knabe von 11 Jahren, Sohn eines Gerichtsdieners im Westfälischen gemacht, welcher, seit 8 Jahren leidend und an Krücken gehend, uns eines Tages, ohne Vorwissen seines Vaters, um ein Klavier bat, damit er seine musikalischen Fähigkeiten ausbilden könne.

Der betreffende Brief lautete:
 „Meine liebe Herren!
In meiner Mama ihrer ‚Gartenlaube‘ habe ich gestern gelesen, daß Sie an arme Leute Klaviere verschenken, und da mochte ich Sie recht sehr bitten, mir auch eines zu schenken, ich heiße Paul B., bin 11 Jahre alt, aber seit 8 Jahren, seit ich 3 Jahre alt wurde, immer krank gewesen, so daß ich jetzt nur mit Krücken gehen kann und sehr kurzsichtig bin, und weil ich mit den andern Kindern nicht spielen kann, ist mein Allerliebstes Musik, etwas Geige kann ich schon spielen, aber ich möchte viel lieber Klavier spielen lernen, damit ich später einmal die Orgel in der Kirche spielen kann. Lernen kann es mir mein Papa, denn der ist 12 Jahre Musiker bei den Soldaten gewesen, und jetzt ist er Gerichtsdiener in C., aber er kann mir kein Klavier kaufen, denn er hat nur ein kleines Gehalt, und ich habe noch fünf kleine Geschwister, und mein Papa sagt immer, ein Beamter muß wohl einmal hungern können, aber er darf nicht betteln. Meine liebe Herren, jetzt grüße ich recht schön und bitte Sie mich nicht zu vergessen.
  Paul B.“

Zur selben Zeit sandte eine edle Frau aus Torgau uns ein Klavier, das ihren Kinder zum Ueben gedient hatte, und wir überwiesen dasselbe dem kleinen armen Burschen, der uns darauf den folgenden Dankbrief schreibt:
 „Meine liebe Herren!
Heute Vormittag ist das Klavier angekommen, und ich bin so glücklich darüber, daß ich vor Freude bis an die Decke springen möchte, wenn ich es nur könnte, darum will ich mich auch vieltausendmal bedanken, bei Ihnen und auch bei den guten wohlthätigen Menschen, die es Ihnen gegeben haben, ich bedanke mich auch für die beiden hübschen Briefe, ich habe sie mir gut aufbewahrt, den ersten gab mir unser Briefträger, und da habe ich keinem was von gesagt, aber den zweiten brachte mein lieber Vater von der Post mit, da war ich bange, er würde schelten, aber er hat mich nur geküßt, und hat dabei geweint, da glaube ich nun, das er gar nicht böse war.

Nun will ich mich noch recht viel, viel bedanken, und wünsche Ihnen, das der Weihnachtsmann Ihnen eben so was Schönes bringt als mir, und die ‚Gartenlaube‘ werde ich wohl immer lieb behalten, aber Sie noch viel lieber.
  Es grüßt Sie alle recht schön
 Paul B.“

Gleichzeitig mit dem Briefe des Knaben kam ein solcher des Vaters, welcher lautet:
 „Geehrte Herren!
Obgleich mein Sohn Paul ohne mein oder meiner Frau Vorwissen die Bitte um ein Klavier an Sie gerichtet, bin ich Ihnen und den edlen, gütigen Gebern doch nicht weniger dankbar dafür. Wenn Sie die Freude gesehen hätten, die mein armer Junge (er ist leider schon seit länger denn acht Jahr ungesund) empfand bei der Ankunft des Instrumentes, aber auch die gluckseligen Gesichter und die Freudenthränen in den Augen der Jüngeren, als ich ihnen das erste Lied vorspielte! Wenn tiefe Dankbarkeit, gute Wünsche edlen Menschen Freude bereiten kann, so feiern die gütigen Geber des Klaviers ein ebenso fröhliches Weihnachtsfest, als sie meinen Kindern und dadurch auch uns bereitet haben.

Paul stattet eben seinen Dank selbst ab, aber er ist so eifersüchtig, daß er niemand einen Blick in sein Schreiben thun läßt. Noch einmal herzlichen Dank und Gruß.
  C. B., Gerichtsdiener."

Wir glaubten die vorstehenden Briefe unserm Leserkreise nicht vorenthalten zu sollen. Was wir damit bezwecken – das werden unsere freundlichen Leser wohl ohne besondere Schwierigkeit errathen.


Der Ursprung der Zeitungsenten. Zu den merkwürdigsten Vögeln gehört die Zeitungsente, die namentlich während der heißen Jahreszeit sich recht vortheilhaft entwickelt und dann unermüdlich von einem Blatte zum andere flattert. Ihre Herkunft war bis jetzt in Dunkel gehüllt – sie war eben auf einmal da, „man wußte nicht, woher sie kam“. Es dürfte daher die Leser interessiren, zu erfahren, daß es mir gelungen ist, aus uralten, in Schweinsleder gebundenen Büchern, die über viele seltsame Sachen berichten, den Ursprung der Zeitungsente festzustellen. Lange hatte ich in allen möglichen Scharteken geforscht, ohne eine Spur des fabelhaften Thieres zu finden, bis mir ein gütiges Geschick Peter Lauremberg’s „Vierhundert außerlesene nützliche, lustige und denkwürdige Historien und Diskursen“ vom Jahre 1650 in die Hand spielte, woselbst auf S. 509 ein Geschichtchen steht, das die vielversprechende Ueberschrift „Endvögel wachsen auf Bäumen“ führt. Freudigst überrascht durch diese großartige Entdeckung, habe ich nicht den mindesten Zweifel, daß ein solcher auf dem Baume gewachsener Entenvogel nur unsere Zeitungsente sein kann. Lauremberg schreibt über dieselbe: „Es fällt mir ein Wunderding nach dem andern ein (die vorhergehende Erzählung führt nämlich die Ueberschrift: „Lämmer wachsen wie Kräuter aus der Erden“) und ist die Natur so reich und überflüssig, daß man immer was neues findet: es wird nicht allein in Schottland und den Orknischen Inseln, sondern auch in England an der Themse (ist ein Fluß, welcher die Stadt London anstösset) eine sonderliche Art kleiner Muscheln gefunden, welche ganz rund und auswendig weiß, wachsen und hangen an die Schiffe, an alte Bretter, insonderheit an die Bäume, so am Ufer mit den Aesten ins Wasser reichen: die Muscheln, wenn sie ins Wasser fallen, so kriechen daraus junge Vögel, welche hernacher den Enten gleich werden an Größe, Art und Federn, und aufm Wasser schwimmen, sich von Fischen ernähren und oftmals bei hundert, ja tausend sich zusammenrotten und weit hinfliegen.“ Daß sie weit hinfliegen, ist uns nur zu bekannt, schrecklich ist aber, daß sie zu Hunderten und Tausenden sich zusammenrotten.

Viel besser als in Lauremberg’s Buche ist in Adam Lonicer’s „Vollständigem Kräuterbuch", herausgegeben von Peter Uffenbach, Dr. med. in Frankfurt am Main (Ulm, 1716), der Nachweis gebracht, daß die Ente zu den Pflanzen gehört. Auf S. 164 desselben findet sich die Beschreibung des Enten-Baumes, Anatifera arbor. „Zum Beschluß dieses ersten Theils von den Bäumen, Staudten und Hecken muß ich hinzusetzen und beschreiben die Historien von dem Enten-Baum, das ist, von dem Baum, aus dessen Frucht lebendige Enten, so zur Speise gebraucht werden (sie werden meist mit Heißhunger verschlungen), wachsen. Und es lautet wohl lächerlich und unglaublich, daß Enten oder Vögel auf den Bäumen sollen wachsen … so ist es doch keine Fabel, sondern bestehet und befindet sich also mit der Wahrheit, und es bezeugen auch solches die Angli oder Engelländer in ihrem Kräuterbuch, daß sie es selbst also gesehen haben. Es wachsen solche Früchte an etlichen Bäumen, an den Gestaden oder Ufern des Meeres“ etc. Diese Früchte, welche wie Muscheln sehen, thun sich auf, wenn sie ins Wasser fallen, und die berühmte Ente kriecht daraus hervor. Lonicer oder Uffenbach aber irren, wenn sie schreiben: „Die aber auf das truckene Land fallen, dieselbige verderben“; im Gegentheil, das ist meist erst ein recht günstiger Boden für sie, auf welchem sie sich bis ins Ungeheuerliche entwickeln können.

Im Jahre 1716 war die Naturforschung schon so weit fortgeschritten, daß sie dem Texte auch eine Abbildung des Entenbaumes beifügen konnte. Am bergigen Meeresufer sehen wir einen Baum vor uns, der keine Blätter, sondern nur große muschelartige Früchte trägt, von welchen eine bereits so reif ist, daß sie etwas aufgesprungen ist und den Schwanz der Ente etwas herausstehen läßt. Zwei der Früchte sind aufs Trockene gefallen, statt der sechs ins Meer gefallenen aber erblicken wir sechs fidel sich tummelnde Enten. Leider ist der Holzschnitt nur ganz klein, was sehr zu bedauern ist; wir würden sonst sicher auch die bekannte Seeschlange sehen, welche, wie man schon seither wußte, mit der Zeitungsente engverwandt ist; daß diese Verwandtschaft aber eine noch viel innigere ist, als man seither annahm, ist durch unsern Nachweis, daß auch die Ente ihre Jugendzeit auf der See verlebt, klärlich dargethan.

Wer an der Wahrhaftigkeit unserer Mittheilungen zweifeln sollte, dem empfehlen wir zur Beachtung die goldenen Worte Lauremberg’s, die er bei seinen Lämmerpflanzen oder Pflanzenlämmern niedergeschrieben: „Die Natur regieret oder schicket sich nicht nach unserm Kopf oder Begreiflichkeit, sondern was wir in der Natur finden, davon müssen wir unsere Speculationes machen.“ Wer sich aber auch damit nicht zufrieden giebt, dem können wir nur den Rath geben, welchen Uffenbach am Ende seiner Beschreibung des Entenbaumes giebt: „Wer solchem nicht Glauben geben will, der mag in dieselbige Lande hinein reisen und den Augenschein dieser Dinge selbst einnehmen.“ Hans Boesch.     


Im Affentheater. (Mit Illustration S. 60.) Ein so glänzendes Los wie die in den heiligen Pagoden Indiens gepflegten Affen haben ihre Brüderchen nicht, die sich bis zu uns in den rauhen Norden verirren: hier müssen sie sich fleißig ihr Brot verdienen. Dafür haben sie den Anspruch, wie Familienmitglieder behandelt zu werden. Bei den großen Affentheatern freilich müssen sie den Ruhm, einer berühmten Truppe anzugehören, mit ihrer Freiheit bezahlen: sie müssen all ihre Lebensfreude für den kurzen Glanz der Vorstellung aufbewahren – dann wandern sie wieder in ihren Holzkäfig. In dem kleinen Cirkus, dessen Inneres uns der Maler enthüllt, bilden der Herr, sein Töchterchen, sein jüngerer Bruder, zwei Eselchen, eine Ziege mit 5 Beinen, einige dressirte Pudel und Pinscher so wie eine Zahl junger und jüngster Aeffchen eine große Familie, die einen mit Requisiten und zwerghaften Kostümen gefüllten Bretterverschlag hinter der Bühne theilen. Daß es bei dieser Theilung nicht immer so ruhig zugeht, wie bei der Theilung der Erde, wo selbst der zu kurz gekommene Dichter sich mit resignirter Verbeugung bescheidet, ist selbstverständlich. Das zischt, bellt, faucht, meckert und brrrt in allen Tonarten. In dem Toilettenzimmer zweier Pudel, von denen der eine zum Kavalier, der andere zur Marquise herausgeputzt wird, zerrt der mit der Laterne versehene Affenpage ungeduldig an der Herrin Schleppe, die er zu tragen berufen ist. Ein hübsches zwölfjähriges Theaterprinzeßchen, auf dem umgestürzten Wäschkorbe, läßt ihr angekettetes Lieblingsäffchen mit Federhut und Halskrause an ihrem Abendbrot [68] theilnehmen und wird von einem kartenlegenden Pinscherchen erinnert, daß es Lust habe, der Dritte im Bunde zu sein.

Dort malt der findige Budenbesitzer inmitten seiner Getreuen einen neuen Anschlagzettel, und zwar unter recht erschwerenden Umständen: denn zwei Aeffchen im Halbnégligé unterwerfen seine Haare und seine Taschen einer sorgfältigen Untersuchung, während ein dritter die dünnen Arme durch die Käfigsstäbe zwängt, um mit dem ein gutes Maß von Neckerei vertragenden Wachhund zu spielen. Wüßte er, daß ein vierter inzwischen in seinem auf den Sims geworfenen Hut Quartier genommen und ein fünfter ihn aus diesem Logis zu vertreiben sucht; er würde wahrscheinlich unter sie treten und strenge Musterung halten. Das vierte Bildchen endlich zeigt uns den verhängnißvollen Moment – avant la bataille – einige Sekunden vor Eintritt der etwas gemischten Künstlergesellschaft auf die Bühne. Aber während Schauspielern in solchen Momenten, wo sie hinter der Koulisse ihres Stichwortes harren, das Herz höher pocht, sehen wir zwischen dem hinter den beiden Herren hockenden Bedienten und dem zur Seite galoppirenden Jockey einen Konflikt ausgebrochen, der in Thätlichkeiten auszuarten droht. Das Klavier im Zuschauerraum hat noch nicht ausgespielt – der Dresseur hält die vor Thatenlust bellenden Kutschpferde, einen Pinscher und zwei Pudel, mit der Hand zurück – jetzt ist’s zu Ende – die Klingel tönt – einmal – zweimal – dreimal – der Vorhang fährt zurück, und auf das Kommandowort „nu aber raus“ betreten die vierbeinigen Künstler die Bretter, die für das aus hundert Kindern bestehende Publikum die Welt bedeuten.

Zwei Lyriker, die in ihrer Eigenart sehr verschieden sind, haben zwei neue Sammlungen von Gedichten erscheinen lassen. Robert Hamerling „Blätter im Winde“ (Hamburg, F. Richter), und Emil Rittershaus „Aus den Sommertagen“ (Oldenburg, Schulze). Der österreichische Sänger, der sich sonst in kühngefugten Gedankensymphonien gefällt, hat diesmal meistens kurzathmige Lieder als „Blätter im Winde“ in die Welt flattern lassen; doch es lohnt sich, dieselben einzufangen, denn es sind farbenbunte Blüthenblätter darunter und die meisten haben eine sinnvolle Zeichnung. Hamerling’s Poesie verräth auch in diesen kürzeren Ergüssen das leidenschaftlich Bewegte und Gedankenvolle, das ihr eigen ist. Hier und dort bei einem größeren Gelegenheitsgedichte wandelt sie pomphafter und in gewählterer Gewandung einher; selten treffen wir eine poetische Novelle oder eine Ballade wie die eigenartige „Todtengräberhochzeit“.

Emil Rittershaus dichtet zwar auch bisweilen „unter schwarzen Wolken“, aber der Gewitterhimmel, der in manchen Dichtungen Hamerling’s grollt und flammt, ist ihm fremd. Er macht kein Hehl aus dem Leid, das ihn oft erfüllt:

„Ihr glaubt, ich sei von heitrem Sinn
Und meine Brust sei voller Lust.
Wie ich so krank und elend bin,
Das ist nur Gott allein bewußt.

Ob euch auch stark mein Herz erscheint,
Er weiß, wie oft es bebt und zagt!
Die Thränen, die ich nicht geweint,
Die haben mir die Brust zernagt.“

aber er sucht Trost und findet ihn.

„Mich hatte tiefe Seelenpein
Zum Opfer sich erkoren;
Ward je ein Glück der Erde mein,
Schien Alles mir verloren.

Da tief im Leiden fand ich ihn,
Den rechten Friedensbronnen –
Als Alles mir verloren schien,
Hatt’ Alles ich gewonnen.“

Die Sammlung enthält viele warmempfundene Gedichte in durchsichtig klarer Form, einfache Melodien, die zum Herzen sprechen. †.

Ein schönes, buntes, zwei Meter langes seidenes Kopftuch – umsonst! „Das ist Schwindel!“ rufen gleichzeitig hundert jugendliche Leserinnen, die den Abstand zwischen kurzem Taschengeld und langen Kopftüchern schon längst mit Schmerz erkannt haben, „reiner Schwindel!“ Mit Eurer Erlaubniß, Ihr lieben schönen Kinder, nein, es ist kein Schwindel, sondern vollste Wirklichkeit. Das Kopftuch liegt hier vor mir, weich und leicht, quergestreift, roth, blau und grün auf gelbem Grund, auf den ersten Blick von einem echten, orientalischen gestreiften Tuche nicht zu unterscheiden und gleich diesem am Rand unregelmäßig ausgefranzt. Aber wenn man es in die Hand nimmt und genau betrachtet, welche Ueberraschung! Das sind ja – Cigarrenbänder, gelbe, rothe, blaue und grüne Floretseidebänder, wie sie die Cigarrenpäckchen in den Auslagen umgeben und vom Verkäufer bei der Einzelabgabe zurückbehalten werden! Hundertundzwanzig Cigarrenbänder, von geschickten und geduldigen Fingerchen mit feiner gelber Seide überwendlich zusammengenäht, aber nicht zu fest, daß man die Naht glätten kann, immer zwei gelbe, ein rothes, wieder zwei gelbe, ein blaues, dann später ein grünes, ganz nach Geschmack und Neigung, nur daß das Gelb im Fond immer überwiegt. Acht Tage Arbeit in ein paar Ueberstunden täglich und das Tuch ist fertig und schmückt das Köpfchen seiner glücklichen Besitzerin allerliebst.

„Und woher die Cigarrenbänder nehmen?“

Nun, das ist ja eben der Hauptreiz an der Sache. Alles, was raucht und nicht raucht in der ganzen Verwandtschaft und Freundschaft, wird um eines solchen Tuches willen in Bewegung gesetzt. Einkäufe beim Materialwaarenhändler besorgt man selbst, statt das Dienstmädchen zu schicken, und erobert mit einer freundlichen Bitte von dem geschmeichelten Ladenjüngling gleich eine Hand voll der ersehnten Bänder. (Daß sie auch gerade die zum Kopftuch nöthige Breite und Länge haben, ist ein nicht genug anzustaunendes Naturwunder.) Man sieht plötzlich Bruder Gustav’s früher so scharf getadelte „unpassende Liebenswürdigkeit“ gegen das hübsche Cigarrenjettchen in der Ecke drüben mit milden Augen an: hat er doch neulich alle Taschen voll Bänder heimgebracht, genug, um zwei ganze Tücher davon zu nähen! Lucie und Julie haben sie genäht; allerdings riechen sie in der ersten Zeit etwas nach Cigarren; aber, merkwürdig, der Geruch war gar nicht unangenehm. Außerdem verflog er sehr bald, und dann wurden die Tücher vorsichtig und klug parfümirt und sind nun wirklich entzückend!

Welches Glücksgefühl nach ihrer Vollendung, und welcher Triumph gegenüber der rauchenden Männerwelt, die stets über den Aufwand der Frauen schilt, ein solches Tuch zeigen zu können als positiven Gewinn aus ihrer Verschwendung, die wohl Hunderte von Cigarrenpacketen in blauen Dunst aufgehen läßt, aber noch nie auch nur ein einziges Bändchen zu nutzen verstand!

Die ersten Theaterkritiken. Wir sind mit der Theaterkritik in den Zeitungen und Lokalblättern aufgewachsen und können uns kaum eine Zeit denken, wo die darstellende und dichtende Kunst in paradiesischer Unbefangenheit existirte, ohne dem Kreuzfeuer der Kritik ausgesetzt zu sein. Gleichwohl ist die Theaterkritik nicht von so ehrwürdigem Alter, daß unsere Sprach- und Litteraturforscher alte Urkunden derselben aus archivalischem Schutte herausgraben müßten. Die ersten abgesonderten Theaterbeurtheilungen in Deutschland erschienen erst im Jahre 1755, wenngleich schon vorher die Schauspielkunst in litterarischen Zeitschriften neben andern Gegenständen der Kunst und Wissenschaft besprochen worden war. 1755 wurden in Leipzig Schilderungen der Koch’schen Bühne, die erste Leipziger Dramaturgie, herausgegeben, und damit der Kritik von Haus aus die Antikritik nicht fehle, erschienen gleichzeitig Gegenschilderungen und „Vernünftige Gedanken über den Zustand der Koch’schen Bühne“. Das größere Publikum begann, sich für die Schauspielkritik zu interessiren, deren Wiege also an der Pleiße stand.

Rosenbowle. Mit der Rose würzt man im Orient Getränke und Zuckerwaaren, auch in England sind Rosenbowlen längst bekannt. Neuerdings haben zwei Baumschulenbesitzer in Trier in der gelben Theerose „Marschall Niel“ eine Konkurrentin für die Ananas und Pfirsiche entdeckt, durch welche man bisher Weinbowlen schmackhaft zu machen suchte. Auf zwei Flaschen Wein rechnet man drei mittelgroße Blüthen und läßt diese etwa zehn bis fünfzehn Minuten darin ziehen. Dann theilt sich dem Getränk der köstliche Duft der Blüthe mit, und die Bowle kann in Bezug auf Aroma und Geschmack mit den gepriesensten Weinbowlen wetteifern, welche durch in- und ausländische Früchte Wohlgeruch und Wohlgeschmack gewonnen haben.

Allerlei Kurzweil.
Schach-Problem.
Für Nicht-Schachspieler.


Kleiner Briefkasten.

O. D. Becker’s Weltgeschichte wird in 66 Lieferungen à 40 Pfennig oder in 6 Bände gebunden für 36 Mark durch jede Buchhandlung geliefert.

R. B. in Köln. Voraussichtlich im Laufe des nächsten Sommers.

E. F. in C. Die „Dreißig Jahre deutscher Geschichte“ von Professor Dr. Karl Biedermann (Breslau, Schottländer) erschienen bereits in dritter Auflage.


Inhalt: Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 53. – Jagdschloß Grunewald und die „schöne Gießerin“. Von A. Trinius. S. 56. Mit Illustration S. 57. – Das erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. I. S. 58. – Eingeschneit. Von C. Falkenhorst. S. 61. Mit Illustrationen S. 61, 62, 64 und 65. – Speranza. Novelle von A. Schneegans (Schluß). S. 63. – Blätter und Blüthen: Dr. med. Karl Theodor, Herzog in Bayern. Von Walter Lund. S. 66. Mit Portrait S. 53. – Ein Dank aus Kindermund. S. 67. – Der Ursprung der Zeitungsenten. Von Hans Boesch. S. 67. – Im Affentheater. S. 67. Mit Illustration S. 60. – Zwei Lyriker. S. 68. – Ein schönes, buntes, zwei Meter langes seidenes Kopftuch – umsonst! S. 68. – Die ersten Theaterkritiken. S. 68. – Rosenbowle. S. 68. – Allerlei Kurzweil: Schach-Problem. Für Nicht-Schachspieler. S. 68. – Kleiner Briefkasten. S. 68.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.