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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[69]

No. 5.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 25 Pfennig.



Herzenskrisen.

Roman von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Die schöne Frau wickelte Lucie aus dem nassen Regenmantel und zog sie in die Stube. Auf dem Sofatische brannte die Spiritusflamme unter dem silbernen Kesselchen; die Theekanne aus gleich edlem Metall, die großen Meißner Tassen standen auf buntdurchwirkter Decke; ein süßer Duft wogte in dem Raume und lautlos verklangen die Schritte über dem weichen Teppich.

„Ach, wie schön ist es bei Dir, wie traut!“ sagte Lucie, „jedesmal empfinde ich es aufs Neue.“

„Ja, es ist heimlich hier, wenn der Regen an die Scheiben klopft und der Wind rauscht in den Bäumen. Und dann die hohe Mauer und das feste Thor – gottlob, die häßliche öde Welt bleibt draußen. Aber es ist überall heimlich und traut neben einem Menschen, den man gern hat. Früher war mir zuweilen der Aufenthalt hier eine Hölle; Du weißt’s ja.“

„Ich weiß es. Sprechen wir heute nicht davon, Hortense!“

Die junge Frau nickte beistimmend. Sie hatte so nach und nach der Freundin von ihrem Leben erzählt. Sie war hart angefaßt worden. Zu einer Zeit, wo sonst die Jugend andere Mädchen davor schützt, in die Abgründe des Lebens zu blicken, da hatte sie schon am schwindelnden Rande gestanden[WS 1] und nicht gewußt, woran sie sich halten solle.

„Sprechen wir nicht davon,“ wiederholte sie, und goß siedendes Wasser auf den Thee. Sein würziges Aroma mischte sich mit dem Veilchenduft, der Hortense stets umgab und aus Schubkästen und Schränken, aus jeder Kleiderfalte quoll. Sie trug ein schwarzes, eng anschließendes Kleid und als Schmuck eine kostbare Kamee. „Ich habe Dir auch die Photographien hervorgesucht,“ fuhr sie fort. „Willst Du sie ansehen? Sie liegen dort auf dem Tische.“

Lucie holte eine elegante Mappe und nahm ein Blatt nach dem andern heraus.

„Ach, wie köstlich muß es dort sein!“ rief sie und zeigte auf ein Bild.

„Das ist Capri, es sieht hier matt aus; die Farbe, das Licht, die herrliche durchsichtige Luft fehlen. Ich wollte, ich könnte es Dir beschreiben oder noch lieber Dir zeigen; es ist wunderbar.“

„Ich werde es nie sehen,“ sagte Lucie traurig und legte die Mappe bei Seite.

„Warum kam Dein Bräutigam nicht mit?“ erkundigte sich Hortense.

„Er ist auf Praxis über Land; vielleicht holt er mich ab.“

„Es ist doch schrecklich, so angekettet zu sein,“ sprach Hortense und goß den Thee ein, „und für was? Das liebe Publikum dankt es ihm doch nicht.“

„Es ist sein Beruf, sein Geschäft,“ fiel Lucie stolz ein.

„Schade um ihn in dieser kleinen Stadt!“

„Ei, die Krankheiten sind dieselben wie in einer großen Stadt, Hortense.“

Studienkopf.0 Nach dem Oelgemälde von E. v. Blaas.

[70] „Aber die Menschen nicht! Ich bitte Dich, Lucie! Er ist ein gescheiter Mann, er würde zum Beispiel in Berlin sicher Praxis finden und Anerkennung; nun sitzt er hier in solch jammervollem Nest und opfert seine besten Kräfte für Nichts. Was hat er davon im besten Falle? Eine Praxis, ja; aber er bleibt ein Durchschnittsmensch; sein Name wird nie genannt werden. – Ihr versauert hier Beide.“

Das Mädchen schwieg.

„Du müßtest ihm das einmal vorstellen,“ fuhr Hortense fort, „es ist wirklich schade um ihn.“

„Das kann ich nicht, Hortense, Alfred spricht nie über solche Dinge. Und, weißt Du, ich glaube, er hat diese kleine Stadt mit der einträglichen Praxis nur gewählt, weil er mich heirathen will und weil wir doch Beide“ – sie stockte – „mittellos sind.“

„Du bist zu scheu gegen ihn, es wäre doch nur sein Bestes, Lucie.“

Sie schüttelte den Kopf. „Er muß es wissen.“

Hortense lächelte. „Kusch! Kusch!“ sagte sie. „Du bist einmal das Urbild der lieben deutschen Weiblichkeit. Was Jupiter sagt, geschieht.“

„Ich meine, es soll so sein,“ erwiderte das Mädchen unsicher.

„Die Männer sind alle Egoisten! Wehre Dich nicht, und Du bist ganz verloren!“

Lucie standen die Thränen in den Augen.

„Hortense, sprich nicht so,“ bat sie, „ich bitte Dich –.“

Und diese kam herüber zu ihr, nahm sie in den Arm und sagte, sie herzend und küssend:

„Verzeihe mir, ich weiß es ja nicht besser; vielleicht ist er eine Ausnahme.“

„Meine arme Hortense, Du denkst auch noch einmal anders!“

„Nie!“ sagte gelassen die schöne Frau. „Nie! Ich habe genug von diesem sogenannten Glück. Es gehören eben harmlosere, weniger getäuschte Naturen dazu, um das zu glauben, was sie uns vorschwatzen von Liebe und innigem Zusammensein und von der Stütze, die sie uns fürs Leben sein wollen. Liebe!“ sie zuckte die Schultern – „Dein Herr und Gebieter freut sich vermuthlich, daß er so eine gute Seele gefunden hat, die es als idealsten Lebenszweck erkannt, ihm täglich ein gutes Mittagsessen vorzusetzen, seine Socken zu stopfen und die Knöpfe pünktlich anzunähen, und –“ Ein Blick auf das blaßgewordene Mädchengesicht ließ sie einhalten. „Ich habe Dich wohl erschreckt, Lucie? Ja, es ist ein böser Tag heute, ich will es nicht leugnen – der Todestag meiner Mutter und mein Verlobungstag. Heute vor einem Jahre machte ich den dümmsten Streich meines Lebens – und ließ mir etwas vorschwatzen.“

„Arme Hortense! Da sind wir wieder bei dem alten Thema; laß uns von etwas Anderem sprechen,“ bat Lucie.

„Sprich,“ sagte die junge Frau und ließ sich in einen Sessel nieder, der abgewandt vom Fenster stand. Lucie nahm in der Verlegenheit ihre Zuflucht wieder zu den Photographien.

„Wie schön muß die Welt sein!“ sagte sie endlich.

„Ich möchte Dir das Alles zeigen können, Lucie,“ wiederholte Hortense. „Allein möchte ich es nicht noch einmal sehen, aber mit Dir –“

Lucie saß jetzt auf der Lehne des Fauteuils und hatte den Arm um sie geschlungen. „Erzähle mir davon,“ bat sie. Und Hortense sprach von den grünen Schweizerseen, von Bergen mit ewigem Schnee bedeckt, von dem sonnigen Italien, dem blauen Mittelmeer und von Mondscheinnächten in Venedig. Lucie hatte ihre Handflächen in einander gepreßt und athmete rasch, ihre Wangen waren purpurroth und der kleine volle Mund leicht geöffnet, wie ein Kind saß sie da, das auf Märchen lauscht. So horchte sie stundenlang.

Hortense war inzwischen einmal aufgestanden und hatte ein Kistchen aus rothem Juchten herbeigeholt, dem sie Allerlei entnahm. Den verdorrten Alpenrosenstrauß pflückte sie auf dem Rigi; jenes mattschimmernde Bouquettchen von Edelweiß stammte vom Berninapaß, ein Engländer hatte es ihr geschenkt; dort den feinen Dolch erstand sie in Florenz; die Maske trug sie beim Karneval in Rom; die kleinen golddurchwirkten Schuhe kaufte sie in Konstantinopel auf dem Bazar und jene Brosche aus Lava in Neapel.

„Willst Du sie haben, Liebling?“

Lucie hielt die zierlichen Pantoffeln in der Hand und athmete den leisen Moschusduft ein „es riecht wie die Specereien von denen die Bibel erzählt.“

„Nimm sie Dir,“ bat Hortense, „nimm Alles, wenn es Dir Spaß macht; für mich hat es keinen Werth mehr. Schüttle nicht den Kopf! Du mußt Alles nehmen! Ich schicke es Dir nach, Du kannst Dich noch freuen daran; mich stimmt es trübe. Die Reise machten wir, Papa und ich, als ich eben Wittwe geworden war; er hatte mir sein Ehrenwort gegeben, vernünftig zu werden, nicht mehr zu spielen und ich – hatte es geglaubt –“ Sie zuckte die Schultern.

„Du schenkst mir zu viel, Hortense,“ sagte Lucie abwehrend, „ich habe Nichts für Dich.“

„Doch, Du hast mich lieb!“

Sie saßen wieder stumm. „Möchtest Du mit mir reisen, Lucie?“ fragte sie nach einer Weile.

Das Mädchen sah wie in weite Fernen hinaus. „Ach, reisen, reisen!“ flüsterte sie.

„Wenn Du willst – was thun wir auch eigentlich hier?“ „Wir Beide?“ fragte Lucie athemlos, und die Lust leuchtete aus ihren Augen und zitterte um die feinen Nasenflügel.

„Bist Du überhaupt schon gereist?“ fragte die junge Frau.

„Niemals! Doch ja, das heißt, ich war mit meinen Geschwistern auf zwei Tage in Holstein bei dem Vater meines Schwagers, so um Ostern herum; aber nicht an der See. – Ach, und ich hätte sie so gern gesehen; es war von jeher ein großer Wunsch von mir –“

„Möchtest Du reisen, Lucie? Möchtest Du?“

„Hortense, ich kann doch nicht,“ bat das Mädchen angstvoll, „schweige! – Alfred –“

„Ob Du hier sitzest oder nicht, er ist doch nie zu Hause. Er könnte es Dir wohl gönnen, ehe er Dich für ewig anschmiedet.“

„Nein, nein, Hortense, ich frage ihn nicht; es würde ihn betrüben. Sprich nicht mehr davon.“

Ich werde ihn fragen. Wenn er Dich liebt, Kleine, wenn er Dich nicht egoistisch liebt, sagt er ‚ja!‘“

„Nein, bitte nicht – bitte – wenigstens heute nicht,“ wiederholte Lucie erblaßt; denn eben kam sein wohlbekannter fester Schritt den Gang herauf, und Alfred trat ein. Lucie ging ihm eiliger entgegen, als es sonst ihre Art war, und erfaßte seinen Arm, als habe sie ihm etwas abzubitten. Hortense reichte ihm ihre Rechte und bot ihm einen Platz an. Er setzte sich ihr gegenüber, ohne die Hand seiner Braut loszulassen; ein ungewohnter Schimmer von Glück lag auf seinem ernsten Gesichte.

„Weißt Du, wo ich war, Lucie?“ fragte er, „rathe einmal!“

„Beim Großpapa,“ sagte Hortense.

Ja gewiß, aber die alten Herrschaften waren so in ihre Schachpartie vertieft, daß sie mich kaum bemerkten. Nein, vorher, gnädige Frau; das kann auch nur Lucie rathen.“

Das Mädchen schüttelte den Kopf und sah ihn unsicher an.

„In unserer künftigen Wohnung,“ ergänzte er und drückte die kleine Hand, bevor er sie fallen ließ. „Es ist nun Alles so weit fertig; Du kannst kommen und Dir Dein Reich beschauen, Dir die Möbel nach dem Platz bestellen und –“

„Heute waren Sie da?“ fragte Hortense.

„Eben in diesem Moment. Ich habe auch schon eine Stelle für Deinen Nähtisch gefunden, Lucie,“ fügte er hinzu, „das Fenster des Eckzimmers, welches nach der Straße hinaus sieht; ich lasse Dir da ein Blumenbrettchen vom Zimmermann anbringen.“

„Von außen scheint das Haus so klein; ich hätte nie gedacht, daß –“ unterbrach ihn Hortense.

Er lachte. „Es war ursprünglich ein Gartenhaus; es ist auch jetzt nur für ganz bescheidene Leute, gnädige Frau; eine Villa hätte ich nicht kaufen können. Aber es liegt anmuthig, ist zweckmäßig ausgebaut und ist unser eigen. Nicht wahr, Lucie?“

„Ja!“ sagte sie und blickte an ihm vorüber durch das Fenster.

Hortense saß still in ihrem Sessel. „Wann,“ begann sie, „soll denn –?“

Lucie stand auf, trat zum Flügel und blätterte in den Notenheften.

„Wann wir dort einziehen, meinen Sie, gnädige Frau? Im Herbst, denke ich, wenn die Blätter fallen.“

„Werden Sie eine Reise machen?“ fragte sie weiter.

Er lachte laut und herzlich.

[71] „Dann müßte ich nicht ein Arzt sein, der sich gerade fest niedergelassen hat, Frau von Löwen.“

„Aber Sie sind früher viel gereist?“ forschte sie.

„Viel? Nein! Aber ich kam doch durch ein gutes Stück von unserem Vaterlande und darüber hinaus.“

„Waren Sie in der Schweiz?“

Er nickte. „Ja! Und sogar weiter, in Italien. Ich bin als Student dort umher gewandert von den Ersparnissen meiner Stipendien, die ganz ansehnlich waren. Ich habe in Paris die Tuilerien besucht und in London den Tower und bin sogar einmal unter der Mitternachtssonne gewandelt.“

„Nun, dann wissen Sie ja zur Genüge, wie schön die Welt da draußen ist.“

„O herrlich! herrlich!“

Hortense lächelte jetzt. „Glauben Sie, daß andere Leute auch gern einmal reisen?“

„Ein Narr, wer es nicht thäte!“

Die junge Frau war aufgestanden und faßte seine Schulter. „Gefangen!“ rief sie fröhlich wie ein Kind.

„Ich? – Wie? – Was?“

„Sie müssen jetzt!“

„Was denn?“

„Lucie mit mir auf acht Wochen verreisen lassen.“

Er hatte sich erhoben und sah erstaunt zu seiner Braut hinüber, die stumm am Flügel lehnte.

„Lucie – Du – jetzt?“ fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich will nicht,“ sagte sie.

„O, sie will! Sie hat die größte Lust, lieber Herr Doktor, denken Sie doch, daß sie kaum aus der Provinz gekommen ist.“

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, aber antwortete nicht.

„Wir sprechen zu Hause darüber, Lucie,“ sagte er endlich. Die Farbe war noch nicht wieder in sein Antlitz zurückgekehrt. Das Mädchen versuchte zu lächeln; doch es mißlang, stumm nahmen sie Platz. – Es war ein seltsames Stürmen in Beider Herzen.

Er kennt die Welt,“ dachte sie, „er hat alles Schöne genossen, Du wirst es nimmermehr sehen!“ – Und er sah starr auf den blinkenden Theekessel. „Sie will Dich verlassen in der seligsten Zeit des Lebens, im Brautstande!“

Eine lange Pause entstand. Hortense räumte die Bilder in die Mappe und die fremdländischen Sächelchen in ihren Behälter, und als sich noch immer kein Wort finden wollte, setzte sie sich an den Flügel und begann zu spielen, als wollte sie den beiden stillen Menschenkindern einen Grund für ihr Schweigen geben. – Hortense spielte sehr schön und hatte eine tiefe klare Altstimme. Aber wie in ihren Lebensanschauungen herrschte auch hier die düstere Richtung vor. Meisterhaft erklang der Chopin’sche Trauermarsch unter ihren Fingern.

Sie spielte öfter vor dem jungen Paare; Alfred hatte seine Braut zuweilen abgeholt und war ein so andächtiger Zuhörer gewesen, wie es das schöne Spiel verdiente. Heute wogte es unheimlich vor seinem Ohr und drang nicht ans Herz. Er erwachte erst aus seinen Träumereien, als Hortense’s Stimme durch das große Gemach schwebte. Sie sang ein Eichendorff’sches Lied: die Sehnsucht eines jungen Herzens, mit hinaus in die Welt ziehen zu können:

„ – – von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Landen verwildern,
Palästen im Mondenschein –
00000000
Ach, wer da mitreisen könnte,
In der schweigenden Sommernacht – “

Der Doktor hob den Kopf. Ach, Jugend und Sehnsucht! Und er erinnerte sich mit Entzücken, wie er zum ersten Male den Rhein bei Bingen erschaut. Hatte er ein Recht, das junge Herz seiner Braut um solch reine Freude zu betrügen? Nein! Sie sollte sehen und staunen. Aber mit ihm. Sie war noch so jung, sie konnte noch warten, und dann, wenn er hier festen Fuß gefaßt, dann – wie kam er dazu, jene reine Freude, die ein junges Menschenherz empfindet, schaut es Gottes schöne Welt, diese Hortense sehen zu lassen, er, dem dies Herz gehörte? Niemals! – Und wie er jetzt seine Blicke auf sie richtete und ihre zierliche Gestalt betrachtete, die großen Augen, die unter den langen Wimpern hervor wie träumend in das Leere schauten, und den schmerzhaft verzogenen kleinen Mund, da kam ein inniges Mitleid über ihn. „Versteht sie Dich wohl, kann sie Dich lieb haben?“ fragte er sich.

„Komm, Lucie,“ sagte er ruhig und erhob sich, „daheim warten sie auf uns.“

Sie stand wie ein folgsames Kind auf und holte ihren Regenmantel. Hortense machte keinerlei Einwendungen, sie reichte dem Doktor die Hand und drückte Lucie an sich.

„Auf Wiedersehen!“ rief sie ihnen noch nach und bog sich über das Geländer der Treppe, die das junge Paar stumm hinabschritt.

Zu Hause herrschte noch dieselbe trostlos öde Stimmung. Frau Steuerräthin saß auf dem nämlichen Platz, Tante Dettchen war vom Schlaf erwacht und las beim letzten Tagesschein in ihrem schmutzigen Leihbibliothekbuch. Das kleine erbärmliche Dienstmädchen sah in ihrem knappen schwarzen Konfirmationskleide, das sie zu Ehren des Sonntags trug, noch dürftiger und verhungerter aus als sonst und deckte den Tisch nebenan so geräuschlos, als wären die Teller von Filz. Sie saßen dann auch sehr bald in der Hinterstube beim Essen, aber es wollte kein Gespräch in Fluß kommen.

Endlich nahm die Mutter das Wort.

„Nun, Alfred, wie ich höre, warst Du in Deinem Hause? Pastor Rißmann hat Dich darin umhersteigen sehen; wie gefällt es Dir denn?“

„Ich bin recht zufrieden,“ erwiderte er.

„Weil wir heute Nachmittag gar nichts vorhatten, haben wir die Tapetenprobe besehen, die Kunze gestern schickte, das heißt Dettchen und ich – Lucie war ja nicht da,“ setzte sie mit einem Seitenblick auf das Mädchen hinzu.

„So, so! Sind sie hübsch?“

„Es sind sehr praktische Master darunter, bedeckter Grund und matte Farben. Der Tischler kam auch heute Nachmittag und meinte, er möchte nun bald seine Bestellung haben, weil er noch vor dem September Lieferungen für eine Fabrik übernommen hätte. Ich sagte ihm schon, Ihr reflektirtet nur auf sehr einfache und praktische Sachen. Er wollte durchaus ein Büffett anpreisen, das er im vorigen Jahre auf der Ausstellung gehabt hat. Unsinn! Ein Büffett! Es ist gräßlich unpraktisch, oben drauf verstaubt Alles, und beim Abwischen wird’s zerschlagen.“

„Aber heut zu Tage!“ fiel Tante Dettchen ein.

„Dettchen, ich bitte Dich!“ sagte die Schwägerin, und Dettchen verstummte. Sie hatte im Laufe des Nachmittags so unendlich viele Seufzer über die dreitausend Thaler gehört, die Lucie als einziges Heirathsgut einbrachte, und die nicht hin und nicht her langen wollten, daß sie aus Angst, der kleinen Braut möge weh geschehen, nichts mehr zu sagen wagte.

„Nun, darüber werden wir uns schon einigen,“ meinte er und nahm ein paar Radieschen, „nicht wahr, Lucie? Zuvörderst müssen wir das Haus ausmessen. Aber Ihr entschuldigt wohl, ich habe noch einige Atteste zu schreiben. Gesegnete Mahlzeit, meine Damen.“

Er stand auf, schob seinen Stuhl an den Tisch und verließ das Zimmer. In der Thür wandte er sich noch einmal um. „Ach, Lucie, auf ein Wort.“

Sie folgte ihm in seine Stube und lehnte sich dort an den alten birkenen Sekretär, der noch von seinem Vater stammte. Es war ein kahler, ungemütlicher Raum. Ein Bücherschrank rechts und ein Instrumentenschrank links vom Sofa, davor ein runder, vom Alter schief gewordener Tisch, bedeckt mit Büchern, zwischen den Fenstern ein Spiegel, dessen Konsole Wasserflasche und Gläser trug, ein gelblicher baufälliger Kachelofen, einf uralter Lehnstuhl, und über alledem ein eigenthümlich scharfer Duft wie von Karbol oder Aehnlichem. Ihr wurde auf einmal körperlich ganz elend.

„Lucie,“ begann er –

„Ich weiß,“ unterbrach sie ihn, „ich will ja gar nicht reisen.“

„Das ist gut! Ich hätte es auch nicht gestattet.“ Sie zuckte empor. „Ich will nicht!“ Sie betonte das „will“ hart.

„Das trifft sich gut,“ erwiderte er ruhig, aber ein flüchtiges Roth färbte ihm die Schläfen, „denn nach meiner Ansicht kannst Du eine solche Einladung nicht annehmen.“

[72]

Besuch beim Verurtheilten.
Nach dem Oelgemälde von F. Brütt.

[73] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [74] „Wie wir uns stehen, Hortense und ich?“

„Nein, es spricht gegen meine Ansichten; aber darüber brauchen wir nicht mehr zu streiten, wir sind so einig – nicht wahr?“

Er hatte ihre Hände ergriffen und suchte ängstlich nach ihren Augen, aber sie sah den ehrlichen treuen Blick nicht, denn sie wandte das Gesicht.

„Mir ist nicht wohl heute Abend,“ flüsterte sie, „ich habe Kopfschmerzen. Gute Nacht, Alfred!“

„Gute Nacht!“ sagte er – es klang wie enttäuscht.

Sie ging langsam über den dunklen Flur in ihr eigenes Kämmerchen und riegelte die Thür hinter sich zu. Dann warf sie sich auf das Bett und fing leidenschaftlich an zu weinen. Trostlos öde sah es in ihrem jungen Herzen aus! Er hatte ihr nicht einmal gedankt, daß sie bei ihm bleiben wollte; er hatte einfach gesagt, er würde seine Erlaubniß verweigert haben. – War sie denn schon „angeschmiedet“? „Ach, Hortense hat Recht, er ist ein Egoist, ein Egoist!“

Nach und nach ward sie ruhiger; es kamen bessere Gedanken. Das kleine Haus; das Plätzchen am Fenster; das Glück, das mit ihnen über die Schwelle ziehen würde – noch einmal leuchtete die zage mädchenhafte Zuneigung für ihn im alten goldenen Sonnenlichte auf. Sie saß hoch auf dem Bettrande und richtete im Geiste sein Zimmer ein; so kahl, so häßlich durfte es nicht bleiben – des Vaters Stube, wie freundlich hatte sie ausgesehen! Daneben mußte das ihrige liegen, und auf beiden Seiten der Hausthür sollten Kletterrosen gepflanzt werden. Sie sprang empor, sie hatte auf einmal eine heiße Sehnsucht, ihm freundlich „Gute Nacht!“ zu sagen.

Sie schlüpfte hinaus und drückte scheu auf die Klinke seiner Stubenthür. Lampenlicht floß ihr entgegen; er saß und schrieb und blickte nicht auf.

„Alfred!“

„Ja! Entschuldige mich, Kind – hat’s nicht Zeit bis morgen früh?“

Sie zog die Thür wieder ins Schloß und kehrte in ihr Zimmerchen zurück. Sie stellte sich an das offene Fenster und schaute hinaus in die schweigende Ruhe der Gärten. Der Westwind trug ihr als einzigen Laut das Pfeifen einer Lokomotive und das verhallende Rasseln und Rollen der Wagenreihe zu; der Schnellzug flog an dem kleinen Städtchen vorüber in die Welt, in die schöne Welt hinaus.

Ach, wer da mitreisen könnte! – Es war hier Alles so anders, wie sie gedacht, so – kahl, so öde, so nüchtern!

Wenn Hortense allein fortginge! Es fuhr ihr schreckhaft durchs Herz – sie liefe ihr nach, ja gewiß, sie liefe ihr nach! Ohne Hortense mochte sie nicht mehr leben.

Und jede einzelne Stunde, die sie da drüben zugebracht, zog an ihr vorüber, von dem grausen Anfang bis heute. Es ist doch sonderbar, daß man Jemand so lieb haben kann, den man vor Wochen kaum noch gekannt, der so das vollkommene Gegentheil von Einem selbst ist! Hortense hatte sie aus ihrem gedankenlosen Dahinleben aufgerüttelt, Hortense hatte ihre unbestimmte, schlummernde Sehnsucht nach dem Schönen des Lebens geweckt; sie hatte eine Ahnung bekommen, was das Leben sein kann.

Sie schloß die Vorhänge, zündete ein Licht an, holte ihre kleine Briefmappe aus der Kommode und schrieb an ihre Schwester:

 „Liebe Mathilde!

Verzeihe nur, wenn ich so lange nichts von mir hören ließ; ich hatte wenig Zeit; meine Schwiegermutter wirthschaftet tüchtig mit mir herum, und Nachmittags muß ich Besuche mit ihr machen; in meiner freien Zeit aber bin ich bei Hortense. Liebe Mathilde, wenn sie nicht wäre – ich würde vor Sehnsucht nach Dir und den Kindern sterben! Alfred ist –“

Hier brach sie jäh ab; sie erinnerte sich schreckhaft, daß sie ihrer Schwiegermutter nicht „gute Nacht“ gesagt. Eilig schloß sie die Mappe in den Schubkasten und ging, die alte Dame aufzusuchen. Aus Alfred’s Thür fiel ein schmaler Lichtstreif auf den dunklen Flur, und die scharfe Stimme der Mutter drang in ihr Ohr:

„Du bist zwar groß geworden, Alfred, aber nimm es mir nicht übel, doch noch derselbe –“ sie stockte.

„Dumme Junge!“ ergänzte er, „das wolltest Du doch sagen? Du kannst Recht haben.“

„Ich habe Dich genug gewarnt, aber wer nicht hören wollte, warst Du! Und daß Du nicht einmal das Herz hast, zu sagen: ‚Diese Lauferei zu der Löwen hat jetzt ein Ende, Punktum!‘ das – das – –“

„Ist eine Schwäche von mir? Da hast Du wieder Recht,“ scholl seine Stimme in dem Augenblick, als Lucie ihre Thür wieder zumachte.

Sie stand mit fest auf einander gepreßten Lippen in dem kleinen Raum, die Hände zur Faust geballt. Das sollten sie nur versuchen! Sollten nur wagen, ihr das einzige Licht zu nehmen in diesem dürftigen, kahlen, entsetzlichen Leben!

Sie warf sich auf ihr Bette und starrte in die Dunkelheit.

„Ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen; ich wollte, ich wäre todt!“ sagte sie vor sich hin. Und so lag sie, ohne Thränen in stummem Zorn, bis zum Tagesgrauen.

(Fortsetzung folgt.)




Ueber den Schlaf und die Verhütung der Schlaflosigkeit.

Von Dr. A. Kühner, prakt. Arzt in Frankfurt am Main.

Es ist eine naturwissenschaftliche Thatsache, daß alles Leben in einem Wechsel von Thätigkeit und Ruhe besteht, indem die Thätigkeit den Verbrauch, die Ruhe eine Erneuerung der organischen Stoffe bedeutet. Selbst Organe, die, wie das Herz, sich scheinbar in fortwährender Thätigkeit befinden, zeigen bei näherer Betrachtung diese Aufeinanderfolge von Bethätigung und Erschlaffung, Bewegung und Ruhe.

Auch Schlaf und Wachen folgen diesem Wechsel, indem der Schlaf einen Zeitraum ausfüllt, in welchem das schöpferische Leben die durch Thätigkeit verbrauchten Kräfte von Neuem erzeugt und die abgenutzten Organe zu ihrer völligen Wirkungsfähigkeit wieder herstellt. Diese Wahrnehmung macht Jeder, der am Morgen neugestärkt, verjüngt, ja gleichsam wiedergeboren das Lager verläßt, welches er am Abend zuvor erschöpft, oft im Gefühl geistiger und körperlicher Aufreibung aufsuchte. Der Schlaf wird daher schon von Aristoteles, welcher zuerst über diesen Gegenstand geschrieben, als ein nothwendiges Bedürfniß der Ruhe bezeichnet und von dem französischen Gelehrten Bichat neuerdings als eine „mehr oder weniger vollkommene Unterbrechung der Thätigkeit der Sinnesorgane und vor Allem des Gehirns“ gekennzeichnet.

Diese Ruhe des Nervensystems ist über organische Wesen allgemein verbreitet; man beobachtet sie bei den niedersten Thieren und selbst bei gewissen Pflanzen findet man ähnliche Zustände; immerhin ist diese Erscheinung eines mehr oder weniger vollständigen Stillstandes der Gehirnthätigkeit am meisten ausgeprägt bei den höheren thierischen Wesen, und der Unterschied zwischen schlafendem und wachendem Zustande ist um so erheblicher, je mehr die geistigen Fähigkeiten entwickelt sind, wie beim Menschen, bei dem wir die charakteristischen Eigenschaften des Schlafes finden, welcher hier so zu sagen eine Funktion des Gehirns darstellt.

Das Wesen des Schlafes zu definiren, bietet dem Physiologen dieselbe Schwierigkeit, wie eine Definition der Bedeutung des Todes. Wenn Bichat den Tod als das Aufhören der Funktionen des Lebens bezeichnet, so kann man den Schlaf als das Aufhören der Funktionen des wachen Zustandes definiren, wobei dann freilich zu bestimmen bleibt, was das Leben und was der Zustand des Wachens bedeutet. In Betreff des Lebens weiß man, daß die Physiologen mit mehr oder weniger Erfolg eine Definition festzustellen versucht hatten, bis zuletzt der berühmte Physiologe Cl. Bernard zu dem Schluß gelangte, daß das Leben sich nicht definiren läßt, sondern „sich äußert“ – und mit dem Zustand des Wachens verhält es sich eben so. Bei einem enthaupteten Frosche kann das Herz noch vierundzwanzig, ja achtundvierzig Stunden lang Bewegungen zeigen, die Nerven und Muskeln sind noch erregbar; wir können nicht sagen, daß das Herz, daß gewisse Muskeln und Nerven des Thieres aufgehört haben, zu leben, und doch ist das Thier, welchem jene Theile angehören, todt, vollständig todt. Eben so bethätigen sich bei einem Individuum im Schlafe gewisse Muskeln, [75] komplicirte Bewegungen im Innern werden auf diese Weise zu Stande gebracht, gewisse Eindrücke von außen gelangen zum Gehirn, gewisse Gehirntheile kombiniren Gedanken, Bilder, kurz in sämmtlichen Organen finden örtliche Bethätigungen statt, und doch – das Individuum schläft.

Das Bedürfniß nach Schlaf pflegt sich im Verlauf eines gewissen Zeitraums bei Jedem einzustellen; nach Schlaf sehnt sich Jeder, der des Tages Last und Mühe getragen, sowie sich der nach dem ewigen Schlafe sehnt, der alt, krank, arm, verfolgt und lebenssatt. Ohne Schlaf kann der Mensch eben so wenig sein Dasein erhalten, wie ohne Nahrung. Während im Wachen das geistige Leben vorherrscht, ruht es mehr oder weniger vollkommen im Schlaf; es waltet während dessen das vegetative vor: Verdauung, Blutumlauf, Athmung, Wärme-Entwickelung, Ernährung, Absonderung, kurz alle Lebensverrichtungen, durch welche der Stoffwechsel bewirkt wird. Die Empfindung und willkürliche Bewegung, die Sinnesorgane, die im Wachen in vollständiger Aktion sind und die Seelenthätigkeit anhaltend erregen, entziehen dem Körper Kräfte und Stoffe, die sich nicht allein durch Speise und Trank ersetzen lassen. Ein Ersatzmittel, einzig in seiner Art, hat uns die Natur durch den Schlaf verliehen. In ihm hören Empfindungen und willkürliche Bewegungen auf; die Sinne und die Seelenthätigkeit verharren mehr oder weniger in Ruhe, und der Mensch scheint, so lange der Schlaf dauert, gewissermaßen aufgehört zu haben, Mensch zu sein.

„Ich lade dich, des Todes Bruder, ein,
Geliebter Schlaf, komm über mich zu schweben!
Süß ist es, so zu leben ohne Leben,
Süß, ohne Tod so todt zu sein!“[WS 2]

Der Schlaf ist das einzige Geschenk, das uns die Gottheit ohne Arbeit gab, dessen Werth jedoch durch Arbeit vielfach erhöht wird.

Und wer sollte den erquickenden Schlaf nicht lieben, diesen wohlthätigen, lebensverlängernden Stillstand, der unsere Lebensuhr täglich ordnet und regelt? Die erste Frage an einen Unglücklichen oder Kranken, ja selbst an den Gesunden sollte daher sein: „Wie haben Sie geschlafen?“ Auch Sterne hat ein herrliches Lobkapitel über den Schlaf geschrieben[WS 3]; Shakespeare im „Macbeth“ preist mit markigen Worten des Schlafes Wohlthat und schildert die Qualen der Entbehrung:

„Schlaf nicht Nachts noch Tags erfreu’
Seines Auglids schwere Wucht,
Leben soll er wie verflucht,
Müde Wochen neun mal neun
Schwind’ er, siech’ er, leid’ er Pein!“[WS 4]

Aber Sancho Pansa’s Ausruf enthält das allergrößte Lob: „Gott ehre mir den Mann, der die hübsche Sache erfunden hat, die man Schlaf nennt.“

Bildet somit der Schlaf eine Erquickung für den ermüdeten Geist und den erschlafften Körper, ein wahres Bedürfniß für die Erhaltung und Kräftigung der geistigen und körperlichen Verrichtungen, das durch nichts Anderes ersetzt werden kann, so steht die Zeitdauer des Schlafs in den verschiedenen Perioden und unter verschiedenen Umständen des Lebens mit diesem Bedürfniß nach Kräftigung im innigen Zusammenhang: der Säugling schläft und trinkt; das Kind bringt mehr als die Hälfte des Lebens mit Schlafen zu; eben so viel schläft der Rekonvalescent; der Erwachsene bedarf kaum den dritten Theil seiner Zeit zum Schlaf. Eine allgemeine Regel über die Zeitdauer des Schlafes läßt sich füglich nicht geben. Alter, Temperament, Konstitution, vor Allem Gewohnheit, Lebensweise und Beschäftigung des Einzelnen haben eben hier einen großen Einfluß und gebieten erhebliche Abweichungen. Anstrengungen des Körpers und insbesondere des Geistes erfordern eine längere Dauer des Schlafes. Aus einer Reihe von Thatsachen wird unzweifelhaft erwiesen, daß die Wiederherstellung der Kräfte im Muskelsystem weit rascher von Statten geht, als in den Nerven. Hierauf beruht der Unterschied, welcher zwischen dem Schlaf Derjenigen obzuwalten scheint, welche vorzugsweise entweder nur mit dem Körper oder mit dem Geiste arbeiten, da Erstere, namentlich Landleute, Schiffer, nach dem Zeugniß der Erfahrung sich bei kurzer Nachtruhe wohl befinden, während Gelehrte im Allgemeinen eines längeren Schlafes bedürfen, wenn sie ihre geistige Frische bewahren wollen. Die ermatteten Muskeln des Arbeiters bedürfen zwar der Ruhe; da aber dieser weniger denkt und empfindet, so wird er durch Wachen auch weniger aufgebraucht als die feinere und – verfeinerte Welt, welche Denk-, Phantasie- und Nervenkraft weit mehr in Mitwirkung setzt.

Der Schlaf erfolgt meist nicht plötzlich als Gegensatz des Wachens, sondern es geht ihm das Gefühl der Schläfrigkeit voran. Durch diese wird erst das Individuum allmählich geistig isolirt. Nicht alle Empfindungsnerven schlafen gleichzeitig ein, auch schlafen nicht alle gleich tief, und eben so erwachen sie auch nicht alle zu gleicher Zeit; die Geschmacks-, Geruchs- und Sehnerven schlafen früher ein, als die Gehörnerven. Auch die Bewegungsnerven schlafen nicht alle gleichzeitig ein; zuerst erschlaffen die Muskeln des Nackens, woher die Senkung des Kopfes, der vermöge seiner Schwere nach der Brust sich neigt; dann erst folgen die Muskeln der Extremitäten. Das Centrum des Nervensystems, das große Gehirn, schläft viel später ein, als die Sinnesnerven. Alle diese Zustände machen es auch erklärlich, weßhalb die Träume am häufigsten zu Anfang und zu Ende des Schlafes erscheinen.

Auch bezüglich der Aufeinanderfolge der Vorgänge beim Einschlafen bewährt sich eine sehr bemerkenswerthe Uebereinstimmung mit den Erscheinungen des Todes. „Mehr Licht!“ rief Goethe im Sterben. Die noch vorhandene Seelenthätigkeit empfand den Nachlaß der Sehkraft.

Der Schlaf ist eine der wichtigsten und wesentlichsten Bedingungen und Anforderungen gerade an unsere Zeit, die sich durch den Reichthum auf materiellem und geistigem Gebiet auszeichnet und bei ihrer einseitigen Uebertreibung geistiger wie mechanischer Arbeit, bei ihrer Ueberstürzung, ihrem raschen Verbrauch der Kräfte in einer Verarmung der Nervenkraft sich geltend macht. Die massenhafte Konkurrenz in ihrem rastlosen Jagen nach materiellem und geistigem Besitz, die Ueberproduktion, die Spekulation, die immer größere Anstrengungen macht, damit nicht der Reiche hinter dem Reicheren, der Schwächere hinter dem Stärkeren, der Unternehmende hinter dem Spekulativeren zurückbleibe, dieses Ringen und Kämpfen auf allen Gebieten, diese übertriebene Zumuthung an die menschliche Leistungsfähigkeit, vor Allem aber diese ruhe- und rücksichtslose Ausnützung ihrer Kraft, diese Anspannung meist ohne Muße zu behaglichem Beschauen des Erworbenen muß überall in hohem Grade aufreibend auf die Betheiligten wirken, so daß ein gesunder Schlaf gerade für unsere gegenwärtige Generation als eines der werthvollsten und unentbehrlichsten Ersatzmittel für den massenhaften Verbrauch der Kräfte erscheint.

Daß diesen naturgemäßen Anforderungen gerade das gegenwärtige Zeitalter nicht allenthalben genügt, dürfte dem aufmerksamen Beobachter, er möge die Lebensordnung gewisser Arbeiter oder die geistigen Anstrengungen so mancher Gebildeten in Betracht ziehen, nicht entgehen. Vielleicht genügen diese Bemerkungen, damit Einzelne passende Verhaltungsregeln herausfinden.

Vor Allem aber glaube ich mich in Einklang zu finden mit dem Urtheil erfahrener Aerzte, wenn ich das Verhalten unserer Jugend in dieser Beziehung im Allgemeinen nicht als naturgemäß erachte und auf die erheblichen Gefahren hinweise, welche der heranwachsenden Generation bei den gesteigerten Anforderungen des Unterrichts für geistige und körperliche Ausbildung drohen. Das Gesetz bestimmt, daß der Unterricht im Sommerhalbjahr um 7 Uhr beginnt. Daß aber gerade zu dieser Jahreszeit die Fülle von Licht und Wärme Abends ein zeitiges Einschlafen der Kinder oft nicht ermöglicht, wird Jeder zugestehen, der dem Gegenstand näher getreten ist. Ich kann aus eigener Beobachtung von einer gewissen Erschlaffung, Mattigkeit, Erschöpfung berichten, die ich zu dieser Zeit unzweifelhaft als die Folge der großen Einschränkung des Schlafes an den Kindern beobachtet, Erscheinungen, die so oft die Vörläufer schwerer Erkrankungen bilden, und ich habe gewiß alle diejenigen Mütter auf meiner Seite, welche erkennen, wie schwer und hart die Pflicht ist, die Kinder vorzeitig wach zu rufen. Erzieher, die solche Anforderungen stellen, haben eingewendet, daß durch frühzeitigen Beginn der Schule der Unterricht auf die kühlere Tageszeit verschoben werde. Dies trifft nur zum Theil zu, da an heißen Tagen bekanntlich der Nachmittagsunterricht ganz in Wegfall kommt. Ich meinestheils bin von diesem Uebelstand und dessen praktischer Bedeutung für das Befinden unserer Jugend so fest überzeugt, daß ich Dispensationen von der ersten Stunde des Unterrichts, soweit sie irgend mit den Anforderungen [76] der Schule vereinbar, stets befürworte und jenen Nachlaß der leiblichen wie geistigen Entwickelung des Kindes angemessen finde. Vielleicht genügen auch diese Bemerkungen in einem so viel gelesenen Blatte, um jenem Uebelstand an maßgebender Stelle Abhilfe zu schaffen, deren Dringlichkeit vielfach lebhaft empfunden wird.

Von großer Bedeutung ist auch die Wahl der Zeit zum Schlaf. Der Tag mit seiner Fülle von Licht, auch oft von Wärme, Lärm und Getöse übt einen mächtigen Reiz auf den Körper aus, welcher, hierdurch in eine große Spannung der Kräfte versetzt, das starke Bedürfniß ihrer Bethätigung empfindet und demselben durchaus genügen muß. Die Dunkelheit, Ruhe und Kühle der Nacht entziehen dagegen dem Körper jene Reize, spannen dadurch seine Kräfte ab und laden zur Ruhe ein. Wenn viele Menschen gerade in unserem Zeitalter eine diesem natürlichen Verhältniß entgegengesetzte Gewohnheit angenommen haben und sich eine Reihe von Jahren hindurch scheinbar wohl dabei befinden, so übersieht man, daß Verstöße gegen wichtige Lebensregeln sich oft erst spät mit Heftigkeit äußern und daß nichts trügerischer ist, als zeitweiliges Wohlbefinden, hinter welchem sich oft die Keime schwerer Krankheiten, die Ursachen eines frühen Todes unmerklich verbergen. Wie viel auf die Wahl der Zeit zum Schlaf ankommt, erhellt aus den von zwei englischen Kavallerie-Officieren angestellten Versuchen, um auszumitteln, ob militärische Märsche zweckmäßiger bei Tage oder bei Nacht zu unternehmen seien. Beide legten mit ihren Truppen eine gleichlange Tour unter gleichen Bedingungen, aber zu verschiedenen Tageszeiten zurück. Derjenige, welcher den Tag zum Marsch benutzte, kam ohne Verlust an Mannschaft und Pferden an das bestimmte Ziel, während der Andere, obwohl ihm keine besonderen Unfälle zugestoßen waren, auf seinen nächtlichen Märschen einige Soldaten und mehrere Pferde durch den Tod verlor.

Aus dem, was wir über die Kräftigung des Muskel- und Nervensystems, die Erneuerung der organischen Stoffe durch den Schlaf gesagt, geht aber hervor, daß ein kurzer Schlaf bei Tag und gerade nach Tisch, eine Gewohnheit, die man Mittagsschläfchen bezeichnet, namentlich Solchen anzuempfehlen ist, die stark körperlich oder geistig thätig waren, überhaupt Solchen, die einen schwachen Körper haben, Rekonvalescenten, insbesondere im[WS 5] höheren Alter, bei dem der nächtliche Schlaf oftmals kurz oder unterbrochen ist. Nur für Solche, die überhaupt zu viel schlafen, eignet sich die Warnung, daß der Schlaf, der am Tag genossen wird, nachtheilig ist, da er den Nachtschlaf verkürze.

Ueberschreitet der Schlaf bei Tag oder Nacht eine den vorhergegangenen Anstrengungen angemessene Dauer, so werden die geistigen und körperlichen Kräfte, die nur durch ihren vollen und harmonischen Gebrauch in ihrer gedeihlichen Entwickelung fortschreiten können, abgespannt, ermattet, anstatt erfrischt; an Stelle geistiger und körperlicher Erholung, der Munterkeit und des Frohsinns, treten Gesühle von Trägheit, Unbehaglichkeit und Verdrossenheit; ein solcher Schlaf wirkt nicht heilsam, sondern störend für geistiges und körperliches Wohl.

Schlaflosigkeit ist eine häufige Theilerscheinung schwerer, namentlich fieberhafter Allgemeinleiden, verschiedener mit Schmerz, Aufregung etc. einhergehender örtlicher Erkrankungen, sowie eine oftmalige Folge gewisser Gehirn- und Nervenkrankheiten überhaupt. Alle diese durch krankhafte Störungen bedingten Abweichungen des Schlafes schließen wir von unserer Betrachtung aus. Wir handeln hier vielmehr von dem Mangel oder der Unvollkommenheit des Schlafes, welche bei sonst gesunden Menschen einen nicht nur sehr häufigen, sondern zugleich meist recht lästigen Zustand bildet und sich bald als sehr spätes Einschlafen, als verfrühtes Erwachen, als leiser, durch ungewöhnliche Erregung der Sinne und der Seelenthätigkeit gestörter Schlaf äußert. Es sind dies Zustände, die man gewohnt ist, gemeinhin als Schlaflosigkeit zu bezeichnen, wenn auch der Schlaf fast nie gänzlich unterbrochen und aufgehoben, sondern meist nur auf wenige Stunden, selbst auf noch kürzere Zeit beschränkt bleibt. Daß auch hier eine Grenze schwer zu ziehen, ist leicht begreiflich, wenn man bedenkt, daß schädliche Folgen, krankhafte Störungen, schwere Zufälle aus diesen verschiedenen Abweichungen des Schlafes beim Gesunden hervorgehen können, und zwar um so rascher und in um so höherem Grade, je mehr die Schlaflosigkeit eine vollkommene ist.

Schlaflosigkeit, selbst bei sonstiger Gesundheit, ist ein großes Unheil. Kant konnte mit Recht sagen: „Nimm von dem Menschen die Hoffnung und den Schlaf, und er wird das unglücklichste Wesen auf Erden werden.“ Um diesem lästigen Zustand erfolgreich zu begegnen, wird es zunächst unser Bestreben sein, alle jene schädlichen Einflüsse möglichst zu entfernen, durch welche im Einzelfall die Schlaflosigkeit hervorgerufen wird. Da, wie wir dargelegt, die nächste Ursache des Schlafes eine Unterbrechung der Thätigkeit der Sinnesorgane und vor Allem des Gehirns bildet, so wird Alles, was diese Thätigkeit über die Maßen steigert oder herabsetzt, sowie Alles, was die gleichmäßige, harmonische Entwicklung geistiger und körperlicher Kräfte stört, geeignet sein, Schlaflosigkeit zu verursachen. Die Schlaflosigkeit aus dieser Veranlassung ist um so bedeutungsvoller und hartnäckiger, als sie ihrerseits jenen ungewöhnlichen Erregungszustand des Gehirns unterhält und steigert, durch welchen sie ursprünglich entstanden ist, so daß der Schlaf unter diesen Umständen oft Diejenigen am eigensinnigsten flieht, welche seiner am dringendsten bedürfen. Zu diesen Ursachen einer mehr oder weniger hochgradigen Schlaflosigkeit gehören: große erschöpfende Anstrengungen geistiger und auch körperlicher Art, namentlich wenn die Anspannung der Kräfte noch bis zu später Abendstunde fortgesetzt wird; psychische Einflüsse, sowohl aufregender als deprimirender Art, namentlich quälende Gemüthsbewegungen, Kummer, Sorge, heftige Affekte und Leidenschaften, gewisse Genußmittel (Thee, Kaffee), welche die Erregbarkeit des Gehirns steigern. Auf der andern Seite ist die Schlaflosigkeit eine sehr häufige Klage solcher Personen, welche eine sitzende Lebensweise führen und denen es an Muskelarbeit fehlt, besonders wenn dieselben gleichzeitig durch die oben genannten erregenden Genußmittel ein weiteres schädigendes Moment einführen. Fachgelehrte, hochgestellte Beamte, Geschäftsleute, Kanzlisten, Schreiber leiden in Folge von einseitiger Ueberanstrengung recht häufig zeitweise oder dauernd an Störungen des Schlafs. Die Schlaflosigkeit bildet insbesondere eine oftmalige und lästige Beschwerde von Personen, welche ihr bis dahin thätiges und angestrengtes Leben mit einem beschaulichen und der Ruhe gewidmeten vertauschen, wie dies geschieht bei pensionirten Civil- und Militärbeamten, bei Landwirthen, Seeleuten, welche ihren Beruf aufgegeben und Rentner geworden sind, im Allgemeinen um so mehr, je frühzeitiger in noch verhältnißmäßig jungen Jahren dies geschehen.

Schlechte Gewöhnung steigert alle diese Zustände. Schon wenige Tage Schlafverkürzung reichen hin, die Fähigkeit zu einem dauernden und genügenden Schlaf zu vermindern; eine länger fortgesetzte Gewöhnung, eine sehr späte Nachtruhe, häufige Störung und Unterbrechung des Schlafs läßt oft eine Unfähigkeit zu genügendem Schlaf zu Stande kommen, welche nur schwierig überwunden werden kann.

Wir haben Eingangs unserer Darstellung betont, daß, während das geistige Leben im Schlaf gänzlich oder theilweise ruht, gewisse Lebensverrichtungen, welche den Stoffwechsel bethätigen, vorherrschen. Auch in dieser Beziehung muß eine gleichmäßige, harmonische Vertheilung von geistiger und vegetativer Thätigkeit im Körper herrschen, um einen gesunden Schlaf zu erzeugen. Wird die Verdauungsthätigkeit zu sehr angeregt durch reichliche und späte Aufnahme schwer verdaulicher Speisen, wird der Blutumlauf durch äußere Wärme, durch den Genuß aufregender Getränke, durch körperliche Bewegung insbesondere am späten Abend zu sehr bethätigt, so wird der Schlaf nicht selten gestört.

Hieraus geht hervor, daß Schlaflosigkeit fast immer einen Verstoß gegen gewisse Bedingungen und Anforderungen der Gesundheitspflege bedeutet, etwa wie wir Appetitlosigkeit leicht in Folge ungeeigneter Ernährung, eine Menge von Erkrankungen in Folge unpassenden Verhaltens entstehen sehen. Im Einzelnen können hier die verschiedenartigsten Ursachen zu Grunde liegen, so daß Das, was in dem einen Fall den Schlaf erzeugt, in einem andern dazu beiträgt, durch etwas zu viel oder zu wenig, durch Abweichungen von dem gewohnten gesunden Verhalten den Schlaf zu verscheuchen. Es wird darum oft einer ganz ins Einzelne gehenden, die verschiedenen ursächlichen Momente aus einander haltenden Selbstprüfung oder fremder Beurtheilung bedürfen, um jene zahlreichen Schädlichkeiten aufzusuchen und durch deren zeit- und naturgemäße Entfernung die Schlaflosigkeit zu beseitigen.

(Schluß folgt.)




[77]
Winterstürme im amerikanischen Nordwesten.
Mit Originalzeichnungen von R. Cronau.

Der Schneepflug beim Angriff.

Die letzten blutrothen Blätter des Sumachstrauches sind gesunken; wochenlang schon sind die Tage klar und heiter gewesen; die Luft ist rein und trocken, der Himmel wolkenlos. Eine eigenthümliche, melancholisch stimmende Ruhe liegt über den unermeßlichen Prairien, und Nichts verkündet, daß der „Indianersommer“, die schönste Jahreszeit in Nordamerika, zu Ende geht und der schlimme Gast vor der Thür steht, vor welchem selbst der wetterfesteste Dakotamann den allergrößten Respekt hat. Noch folgen sich einige dieser stimmungsvollen Tage; da, als abermals eine leichte Röthe im Osten das Aufsteigen der Sonne verkündet, umzieht sich der Horizont allgemach mit grauen schweren Dünsten, die langsam, langsam immer näher schleichen. Gegen Mittag senkt sich über die Hügel ein feiner weißer Nebel, die Umrisse derselben leicht verhüllend, wie etwa ein Traum die Gedanken umschleiert. Langsam und unmerklich kriecht der Nebel die Flußthäler entlang; Alles rings umher ist still, regungslos – die Natur bereitet sich zum Sterben vor. Leise, leise weht eine feine Flocke hernieder. Der erfahrene Trapper und die Indianer verstehen vollkommen diese Zeichen. Sobald wie möglich suchen sie die ebene Prairie zu verlassen und irgend eine geschützte Niederung, eine Schlucht oder das ausgetrocknete Bette eines Stromes zu erreichen, um unter diesem Schutze den „Blizzard“, den mörderischen Schneesturm, vorübergehen zu lassen.

Nicht lange mehr läßt dieser auf sich warten. Der Flöckchen und Flocken werden mehr und mehr; ihre Flugrichtung wird eine immer schrägere, je mehr sich der Wind zum Sturme steigert. Hat derselbe seine Höhe erreicht, so werden die feinen Flocken mit einer solchen Kraft getrieben, daß ihre Wirkung auf das Gesicht tausend Nadelstichen gleicht. Die Augen offen zu halten, ist schier ein Ding der Unmöglichkeit, und durch das beständige Bombardement werden die Sinne so in Verwirrung gebracht, daß Jedes Ortsgefühl verschwindet. Beispiele sind vorhanden, daß Farmer, die während eines solchen Unwetters von ihren Wohnhäusern nur bis zu den Ställen zu gehen versuchten, ihren Weg verloren, in die Prairie geriethen und wenige Schritte von ihrem Herd entfernt den Erfrierungstod starben.

Abgraben der Schneemassen.

Wegfahren der Schneeblöcke.

Die Gefahr beruht weniger in der mit dem „Blizzard“ verbundenen Kälte, als in der ungemeinen Schärfe des Windes, welcher gleich einem [78] Messer schneidet und jedes Atom von Lebenswärme aus den Gliedern treibt. Ein dicker Winterüberzieher schützt nicht mehr als ein Fetzen Musselin gegen das Wüthen des Schneesturmes, der, von den eisigen Gebieten Alaskas und der nördlichen britischen Besitzungen kommend, in der Regel drei Tage lang aus dem Norden bläst, dann plötzlich umschlägt und wieder drei Tage lang mit ungeschwächten Kräften sein Wüthen von Süden her fortsetzt. Glücklicher Weise treten für gewöhnlich diese äußerst schweren „Blizzards“ nur etwa 5 bis 6 Mal während eines Winters auf, ja im Jahre 1882 wurde Nord-Dakota nur von einem in den Monat März fallenden Schneesturm betroffen. Dagegen hat sich der Winter 1880 bis 1881 mit seinen gegen 60 schweren Stürmen für immer denkwürdig in die Chroniken des amerikanischen Nordwestens eingeschrieben. Der erste Schnee fiel früh im Oktober, und von dieser Zeit bis zum April führte der Winter ein unerhört strenges Regiment. Ueberall lag der Schnee 6 bis 20 Fuß hoch; einige Schneewehen erreichten sogar eine Stärke von über 50 Fuß. Weit und breit war Alles unter diesen enormen Massen begraben; die Menschen litten schrecklich, und die Thiere starben zu Tausenden. Jede Verbindung war abgeschnitten. Die Passagiere der Eisenbahnzüge waren nicht selten inmitten der ödesten Prairien zu tagelanger Haft verurtheilt; in mehreren Fällen waren sie, als endlich Befreiung kam, dem Hungertode nahe.

Ein Mann in Dakota, welcher zwei Nachbarfamilien, die über nicht so feste und sichere Behausungen zu verfügen hatten, bei sich aufgenommen, sah sich gezwungen, die Bretterhäuser dieser Familien, ja seine eigenen Möbel, Betten, Kisten, Koffer und Kasten als Feuerungsmaterial zu benutzen. An einer anderen Stelle verließ die Bewohnerschaft eines ganzen Dorfes aus ökonomischen Rücksichten ihre Häuser und versammelte sich in einem großen Raume, wo ein mit dem Holze der Schuppen beständig genährtes Feuer unterhalten wurde.

Aehnliche Zustände fanden statt während des durch eine ganz abnorme Kälte sich auszeichnenden Winters 1885 auf 1886.

Beide Winter machten namentlich den Eisenbahnen viel zu schaffen, und die Arbeiten, die unternommen werden mußten, um die Geleise frei zu halten, waren geradezu erstaunlich. Die „Northwestern-Company“ zahlte 1881 allein über 11/4 Millionen Mark für Freilegung der Schienenwege. Diese Gesellschaft hatte beständig 34 mächtige Schneepflüge in Thätigkeit, ohne indeß der furchtbaren Schneemassen Herr werden zu können. Wie ungeheuer diese Massen waren, dürfte aus der Thatsache zu ersehen sein, daß ein 48000 Pfund schwerer Schneepflug, der noch dazu mit 80000 Pfund Eisen belastet und von sechs hinter einander gespannten Lokomotiven getrieben wurde, vollständig machtlos war, eine ihm entgegenstehende Schneewand zu durchbrechen. Als nach der furchtbaren Attake die Werkleute den immensen Pflug besichtigten, fanden sie, daß derselbe trotz seines 128000 Pfund schweren Gewichtes wie eine Feder zurückgeschlagen und gegen einige Bäume geschleudert worden war, woselbst die ganze Maschinerie bis zum Schmelzen der Schneemassen im Frühling liegen bleiben mußte. Die Schneewehe hatte eine Mächtigkeit von 52 Fuß.

Einige Bahngesellschaften suchten ihre Linien frei zu halten, indem sie Tausende von Arbeitern anstellten, die den Schnee in große Blöcke von der Breite des ganzen Bahnbettes und 12 Fuß Länge zu zerschneiden hatten. Diese Blöcke wurden dann, durch Stricke und Planken zusammengehalten, mittelst einer vorgespannten Lokomotive an freiere Plätze geschafft, wo sie mit leichter Mühe aufgebrochen und beseitigt werden konnten.

Nicht immer aber war der Erfolg ein den ungeheuren Arbeiten entsprechender. So hatte man an einer Stelle nach fürchterlicher Mühe 324000 Kubikyards Schnee hinweggeschafft, aber ein plötzlich sich aufmachender Wind füllte innerhalb acht Stunden die ganzen Oeffnungen wieder zu.

So dauerte der Kampf gegen die Elemente fort bis zum Frühjahr, welches mit seiner ungewöhnlichen Sonnengluth die ungeheueren Schneemassen überraschend schnell zum Schmelzen brachte. In Folge dessen schwollen alle Flüsse und Ströme zu enormer Höhe an und verursachten jene furchtbaren Ueberschwemmungen des Missouri, Ohio und Mississippi, welche, wie wir im Jahrgange 1884 der „Gartenlaube“ bereits geschildert haben, viele tausend Menschen um ihre Heimstätten brachten.




Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Adlerjagden des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich.
II.

Am ersten Reisetage durch das Gebiet der Urwaldungen kamen uns die Adler noch nicht vor das Gewehr, nicht einmal zu Gesicht; dafür aber besuchten wir die weltberühmte Reiherinsel Adony und hatten Gelegenheit genug, das Leben ihrer Brutvögel zu beobachten. Seit zwei Menschenaltern horsten auf den Hochbäumen dieses Eilands unter den weit länger angesessenen Saatkrähen Reiher und Scharben oder Kormorane, und wenn auch die letztgenannten seit Beginn der sechziger Jahre erheblich abgenommen haben, sind sie doch nicht gänzlich verschwunden. Vor vierzig Jahren horsteten hier nach Landbeck’s Schätzung etwa tausend Paare Nacht-, zweihundertundfünfzig Paare Fisch-, fünfzig Paare Seidenreiher und hundert Paare Kormorane. Heutzutage bilden die Saatkrähen wiederum bei Weitem den Hauptbestand mit fünfzehnhundert bis zweitausend Paaren; die Fischreiher aber sind bis auf etwa anderthalb Hundert, die Nachtreiher bis auf dreißig oder vierzig Paare zusammengeschmolzen, die Seidenreiher gänzlich verschwunden, und nur die Kormorane haben sich in annähernd derselben Anzahl wie früher erhalten. Gleichwohl klingt uns wenigstens noch ein Nachhall des früheren Lebens in die Ohren, wenn wir die Insel betreten, und hier und da bietet der Wald sogar wohl noch ziemlich genau das alte Bild.

Scheinbar in bester Eintracht leben auf solchem gemischten Reiherstande die verschiedenen Vögel zusammen, und dennoch herrscht weder Friede noch Freundschaft unter ihnen. Der eine bedrängt und unterstützt, brandschatzt und ernährt den anderen. In den Siedelungen der Saatkrähen finden sich die Reiher ein, um der eigenen Arbeit des Nestbauens sich zu entziehen; jene schleppen die Reiser herbei und bauen die Nester auf; diese, zunächst die Reiher, vertreiben die Raben vom Neste, um letzteres, mindestens dessen Baustoffe, gewaltsam in Besitz zu nehmen; die Scharben endlich machen wiederum den Reihern die gestohlene Beute streitig und werfen sich schließlich zu Gewaltherrschern in dem gemischten Brutstaate auf. Aber auch sie, die Diebe und Räuber, werden bestohlen und beraubt; denn Krähen und Milane, welche letztere solchen Siedelungen selten fehlen, ernähren sich und ihre Jungen zu nicht geringem Theile von den Fischen, welche Reiher und Scharben zur Atzung ihrer Weibchen und Jungen herbeitragen. Die erste Begegnung der verschiedenartigen Brutvögel ist feindlich. Heftige, langwierige Kämpfe werden ausgefochten, und der zehnmal Besiegte erneuert zum elften Male den Streit, bevor er sich in das Unvermeidliche fügt. Mit der Zeit aber bessern sich die Verhältnisse in demselben Maße, wie die einzelnen Mitglieder des Verbandes erkennen, daß aus dem Zusammenleben doch auch Vortheile erwachsen und daß für friedliche Nachbarn Raum genug vorhanden ist. Kämpfe und Streitigkeiten enden allerdings niemals gänzlich; aber der erbitterte Krieg der einen Art gegen die andere weicht allgemach mindestens erträglichen Zuständen. Man gewöhnt sich aneinander und nutzt die Leistungsfähigkeit des Gegners so viel als möglich. Ja, es kann geschehen, daß der Beraubte schließlich dem Räuber folgt, wenn dieser sich veranlaßt sieht, seinen Brutplatz an einer anderen Stelle aufzuschlagen.

Der Anblick eines gemischten Reiherstandes ist im hohen Grade fesselnd. „Wechselvolleres, Anziehenderes, Schöneres,“ schildert Baldamus, „giebt es schwerlich, als diese ungarischen Sümpfe mit ihrer Vogelwelt, welche ebenso sehr durch die Anzahl der Einzelwesen wie durch die Verschiedenheit in Gestalt und Farben ausgezeichnet ist. Man sehe sich nur die hervorstechendsten dieser Sumpfbewohner in einer Sammlung an und denke sie sich dann stehend, schreitend, laufend, flatternd, fliegend, kurz lebend, und man wird zugeben müssen, daß solches Vogelleben ein wunderbar anziehendes ist.“ Diese Schilderung ist selbst dann noch richtig, wenn man sie auf die verarmte Insel Adony bezieht. So zusammengeschmolzen die einst sehr reiche Bevölkerung auch ist, noch immer handelt es sich um Tausende und andere Tausende. Auf weite Strecken des Waldes hin trägt jeder Hochbaum Horste, mancher deren zwanzig bis dreißig, und um sie wie auf ihnen regt und bewegt sich das lärmende Volk der verschiedenartigen Siedler. Auf den Horsten sitzen brütend die Weibchen der Saatkrähen, Fisch- und Nachtreiher und Scharben und lugen mit ihren dunkeln, schwefelgelben, blutrothen, seegrünen Augen auf den Störenfried herab, welcher ihr Heiligthum betritt; auf den höchsten Aesten der Riesenbäume hocken und klettern, über ihnen flattern, fliegen und schweben die schwarzen, braunen, grauen, einfarbigen und bunten, glanzlosen und schimmernden Vogelgestalten; über ihnen ziehen Milane ihre Kreise; an den Stämmen hängen und arbeiten Spechte; in den Blüthen eines Birnbaumes suchen glatte geschmeidige Grasmücken, im Wipfel der bereits belaubten Traubenkirschbäume Finken und Waldlaubsänger ihr tägliches Brot. Der an einzelnen Stellen so wunderherrliche Maiblümchenteppich [79] am Boden ist auf weite Strecken hin übertüncht und beschmutzt vom Geschmeiße der Vögel, verunziert durch zerbrochene Eier oder deren Schalen und aus den Restern herabgefallene verwesende Fische.

Der erste Schuß aus dem Gewehr unseres Jagdherrn ruft unbeschreiblichen Wirrwarr hervor. Kreischend erheben sich die erschreckten Reiher, unter sinnbethörendem Krächzen die Krähen; mutwillig knarrend verlassen auch die Scharben ihre Horste. Eine Wolke von Vögeln bildet sich über dem Walde, schwebt hierhin und dorthin, auf und nieder, überschattet, sich verdichtend, die Wipfel und löst sich in einzelne Theile auf, welche zögernd zu den eben verlassenen Horsten hernieder sinken, sie zeitweilig förmlich umhüllen und dann wiederum mit der Hauptmasse sich einigen. Jeder einzelne schreit, knarrt, krächzt und kreischt, daß die Ohren gellen, jeder flieht, und jeder wird durch die Sorge um Horst und Eier wieder herbeigezogen. Der ganze Wald geräth in Aufruhr, unbekümmert um diesen, um das wüste Gelärm aber schmettert der Fink seinen Frühlingsgruß durch den Wald, jauchzt ein Specht, schlagen Nachtigallen ihre herrlichen Weisen, offenbaren sich Dichterseelen unter Dieben und Räubern.

Reich mit Beute beladen, kehren wir nach vier- bis fünfstündiger Jagd zu dem wohnlichen Schiffe, unserem gemüthlichen Heim zurück, um während dessen Weiterfahrt unsere gewonnenen Schätze wissenschaftlich zu verwerten. Stundenlang fahren wir durch Auwaldungen, wie ich sie geschildert, dann und wann auch an größeren oder kleineren Ortschaften, Städten und Dörfern, vorüber, bis die zunehmende Dunkelheit Halt gebietet. In der Dämmerfrühe des nächsten Morgens erreichen wir Apatin. Böllerschüsse, Musik und freudige Zurufe begrüßen den geliebten Thronerben. Allerlei Volk drängt sich um das Dampfboot, eingeborene Jagdgehilfen, Horstsucher, Baumsteiger, Abbälger kommen an Bord , mehr als ein Dutzend kleiner Kähne, „Czikeln“ genannt, werden aufgeladen. Dann wendet der Dampfer, um wieder stromaufwärts zu fahren und uns in der Nähe eines breiten Stromarmes abzusetzen. Auf letzterem dringen wir zum ersten Male in die nassen Auenwälder ein. Dem größeren Boote, welches uns trägt, folgen alle die kleinen, welche wir in Apatin aufgeladen, wie Küchlein der Mutterente nachziehen. Heute gilt Aller Jagd dem Seeadler, welcher in diesen Wäldern so häufig brütet, daß im Umkreise einer Geviertmeile nicht weniger als fünf Horste erkundet werden konnten. Mit Waidmannsheil trennen wir uns, um diesen Horsten in verschiedener Richtung uns zuzuwenden.

Ich kannte den kühnen und raubfähigen, wenn auch unedlen, Raubvogel von früher her recht gut, denn ich hatte ihn in Norwegen und Lappland wie in Sibirien und in Aegypten oft gesehen, jedoch noch niemals an seinem Horste beobachtet; die jetzt sich dazu bietende Gelegenheit war mir daher hoch willkommen. Seinem Namen entsprechend, bewohnt er mit Vorliebe die Seeküsten, außerdem die Ufer größerer fischreicher Seen und Ströme. Vertreibt ihn der Winter aus seinem Gehege, so wandert er so weit nach Süden hinab, als er eben muß, um auch in den kalten Monaten sein Leben fristen zu können. In Ungarn ist er der häufigste aller größeren Raubvögel, verläßt das Land auch im Winter nicht und unternimmt nur in seinen jüngeren Jahren, vor seiner Mannbarkeit, weitere Streifzüge, gleichsam als wolle er sich in der Fremde versuchen. Während des Frühjahrs sieht man daher in unserem Jagdgebiete ausschließlich alte, ausgefärbte oder, was dasselbe sagen will, erwachsene, fortpflanzungsfähige Seeadler, wogegen im Herbste und Winter neben den wenige Monate früher ihrem Horste entflogenen Jungen auch zugewanderte Seeadler die Uferwälder der Donau beleben. So lange diese nicht mit Eis bedeckt ist, wird es ihnen nicht schwer, sich zu ernähren, denn sie jagen im Wasser nicht minder geschickt, vielleicht geschickter, als auf dem Lande, kreisen über der Fluth, bis sie einen Fisch erspähen, stürzen sich wie ein Wetterstrahl auf ihn herab, verschwinden, ihm nachtauchend, zuweilen förmlich unter den Wellen, arbeiten sich mit Hilfe ihrer mächtigen Schwingen aber rasch wieder empor, tragen die Beute, welcher sie die unwiderstehlichen Fänge durch den Schuppenpanzer schlagen, einem ruhigen Platze zu und verzehren sie hier in aller Gemächlichkeit. Ebenso finden sie sich, da man ihre Räubereien in Ungarn nicht so streng verdammt, wie bei uns zu Lande, regelmäßig in der Nähe der Fischerhütten ein und lungern hier oft in nächster Nachbarschaft derselben auf Bäumen sitzend, bis der Fischer ihnen die in seinem Hälter abgestandenen Fische zuwirft oder sonst etwas für sie abfällt. Wie der Fischer, sorgt auch der ungarische, serbische und slavonische Bauer für sie, indem er gefallene Thiere nicht verscharrt, sondern frei auf das Feld wirft und es unserem Adler und den Geiern oder Hunden und Wölfen überläßt, das Aas wegzuräumen. Entzieht die Eisdecke dem Seeadler seine gewöhnliche Beute und findet er zufällig auch kein Aas, so leidet er dennoch nicht Mangel, denn, wie der edlere und kühnere Steinadler, jagt er auf alles Wild, welches er überwältigen zu können glaubt. Er schlägt den Fuchs wie den Hasen, den Igel wie die Ratte, den Tauchvogel wie die Wildgans, nimmt der Seehundsmutter das säugende Junge weg, geht in blinder Raubgier so weit, daß er seine mächtigen Fänge in den Rücken von Delphinen oder Stören klammert und dafür von den einen wie von den anderen in die Tiefe gezogen und, bevor es ihm gelingt, die Klauen wieder zu lösen, ertränkt wird, er greift unter Umständen sogar den Menschen an. So kann es ihm kaum jemals fehlen, und, wenn er vollends nicht regelmäßig verfolgt wird, führt er ein geradezu beneidenswertes Leben.

Bis gegen die Brutzeit hin lebt der Seeadler mit seines Gleichen in Frieden; gegen Eintritt der ersteren regt sich auch in seinem Herzen, in den meisten Fällen wohl durch Eifersucht hervorgerufen, Kampflust und Streitsucht. Um des Weibchens wie um des Horstes willen ficht er erbittert mit anderen seiner Art. Wohl währt die einmal geschlossene Ehe eines Adlerpaares so lange wie einer der Gatten lebt, – aber nur dann so lange, wenn der Adler im Stande ist, die Adlerin gegen die Werbungen anderer seines Geschlechtes zu schützen und seinen eigenen Horst sich zu erhalten. Begehrlich richtet ein mannbar gewordenes, seiner Vollkraft bewußtes Adlermännchen Auge und Sinn auf des anderen Weibchen und Horst, und beide sind diesem verloren, wenn es dem ersteren gelingt, ihn zu besiegen. Der rechtmäßige Gatte kämpft daher auf Tod und Leben mit jedem Eindringlinge, welcher das eheliche und häusliche Glück zu stören trachtet. In hoher Luft wird der Kampf begonnen und oft erst am Boden ausgefochten. Mit Schnabel und Fang stößt bald dieser, bald jener auf den Gegner herab, bis es dem einen gelingt, den anderen zu packen, und er sofort wiederum des letzteren Krallen in seinem Leibe fühlt. Als wirrer Federballen stürzen dann beide aus hoher Luft herab in die Tiefe, entweder ins Wasser oder aufs feste Land, entkrallen sich gegenseitig, aber nur, um sofort einen neuen Kampf auszufechten. Wie erboste Hähne balgen sich die edlen Recken, wenn sie auf dem Boden weiter kämpfen, und zurückgelassene Federn und Blut bezeichnen die Wahlstatt, wie sie den Ernst der Kämpfer bezeugen. Das Weibchen kreist über den beiden Kämpfern oder steht von einem Hochsitze aus dem Streite anscheinend gleichmütig zu, liebkost den Sieger jedoch jedesmal, wenn er nach beendetem Kampfe zu ihm zurückkehrt, gleichviel ob dieser Sieger der erwählte Gatte oder der Eindringling ist. Wehe dem ersteren, wenn das Kriegsglück dem letzteren hold bleibt! In den Augen einer Adlerin gebührt nur dem Starken die Krone.

Nach siegreich zurückgeschlagenen Anfechtungen und Kämpfen solcher Art, welche keinem Adlermännchen erspart bleiben und in Ungarn alljährlich sich wiederholen dürften bezieht das Paar, voraussichtlich das längstverbundene, den alten Horst und beginnt bereits im Februar mit der Ausbesserung desselben. Die dazu erforderlichen Stoffe lesen beide Gatten vom Boden ab oder fischen sie aus dem Wasser heraus, brechen sie wohl auch von den Bäumen ab und tragen sie in den Fängen manchmal von weither zum Horste, um sie hier so kunstgerecht zu verbauen, als ein Adler vermag. Da solcher Ausbau alljährlich stattfindet, wächst der Horst nach und nach zu beträchtlicher Höhe heran, und man erkennt schon an dieser sein Alter, ebenso wie man von letzterem aus die Dauer einer Adlerehe schließen darf, denn die ältesten Horste haben auch die ältesten Adlerpaare inne. Der Horst steht nicht immer in den Wipfelzweigen, in allen Fällen aber hoch über dem Boden, mehr oder minder nahe am Stamme und stets auf starken Aesten, welche das schwere und immer schwerer werdende Gebäude zu tragen vermögen. Knüppel oder schwächere Zweige, alle sperrig durch- und übereinander gelegt, bilden Unter- wie Oberbau und gewähren vielen Feldsperlingspaaren , welche sich dreist und zuversichtlich in die Nähe des Gewaltigen drängen geeignete Höhlungen für Nester und Schlupfwinkel.




[80]

Ein verhängnißvolles Blatt.

Erzählung aus den bayerischen Bergen von Anton Freiherrn v. Perfall.
1.

Durch den im glühenden Sonnenlicht ruhenden Buchenwald am Bergabhang schallt Axthieb, das Kreischen einer Säge, und hier und da weckt ein rauschender Fall, von dem Krachen zersplitterten Holzes begleitet, das Echo in den gegenüberliegenden schroffen Wänden. Der längst überständige Buchenwald am Grünberg ist heuer vom Oberförster in S… zum Abtriebe bestimmt. Bis der erste Schnee fällt, muß die ganze Arbeit gethan sein; jetzt ist schon Ende Juli, und noch wogt überall das grüne Laubdach, den nahen Tod nicht ahnend.

Auf dem Schlagplatz sieht es aus wie auf einem Schlachtfelde! Uralte Buchen liegen gefällt kreuz und quer, von den einen nur noch der Rumpf, der nackte Stamm, andere ächzen eben unter den wuchtigen Axthieben zweier kräftiger Bursche, die das Geäst abhacken. Bereits in gleich lange Stücke zerschnittene sind die steile Berglehne hinabgerollt und sammeln sich unten in wirrem Haufen; die gelbbraunen Schnittflächen blitzen wie polirt herauf – das Brennholz! Stämme von besonders edlem, geradem Wuchse sind der Rinde beraubt und glänzen hell im Sonnenlichte – das Bauholz!

Die zwei Burschen hieben mit einer wahren Wuth, daß die kleinen Aeste oft weit davon sprangen. Aus dem groben Hemde blickte die braune behaarte Brust, man sah jede Muskel anschwellen beim Heben der Axt. Kurze Lederhosen, unzählige Male mit grobem Zwirn geflickt, in allen möglichen Farben spielend, in denen das ursprüngliche Schwarz kaum mehr zu erkennen war, bedeckten das Bein bis an die Kniee, die dunkelbraun aus den grobwollenen Strümpfen hervorsahen.

Von unten herauf, wo die geschnittenen Blöcke sich angesammelt, ertönte der Axtschlag des Kliebers, der mit dem Keil die Blöcke spaltete, von oben das Gekreisch der Säge, welche zwei Holzknechte automatisch hin und her bewegten. Aus dem Einschnitt spritzten die Sägespähne links und rechts, immer tiefer fraßen die gierigen Zähne in das saftige Fleisch.

„Obacht, Mathias,“ ruft jetzt einer der Männer, „sonst druckt’s uns ’s Blatt ab. Die Keil’ her und trau dem Tropf’n net!“ Dabei sah er prüfend in die Wipfel der Buche, „wenn er über ’n Stock einirennt, kann’s an Fuß kost’n.“

Der Angesprochene, ein junger hochgebauter Mann mit üppigem blonden Vollbarte, folgte dem Rath und holte die eisenbeschlagenen Keile. Mit wuchtigen Hieben, deren Echo die Wände drüben scharf wiederhallten, trieb sie der Alte in den Schnitt ein.

„Obacht, Tony, er kimmt!“ rief der Jüngere; der Alte sprang auf die Seite – der Baum neigte sich zuerst langsam; dann stürzte er, die Luft durchschneidend, mit einem dumpfen Krach zu Boden! Im den Bergen antwortete es, von Schlucht zu Schlucht vergrollemd – wie Ehrensalven für den zweihundertjährigen tapferen Kämpen in Sturm und Ungewitter!

Die Beiden wischten sich den Schweiß, der von der Stirn, von dem durchnäßten Haar, von dem Nasenrücken herabträufelte, mit den unförmlichen Händen ab. Auch die Andern rasteten einen Augenblick; nur der Klieber unten hieb noch wacker drauf los, als gälte es, Franzosenköpfe zu spalten.

„Hast noch a Bisl an Schnaps?“ rief der Eine zu Mathias herauf, ein kleiner magerer Kerl, dem man die Kraft nicht zutraute, mit der er die Axt eben schwang.

„Nix mehr, David,“ dabei winkte Mathias mit der leeren Flasche. „Im Kob’l[1] is no eppas, trink a Wasser, das giebt Kraft! Bei dem Verdienst leid’s so kan Schnaps mehr! Bei dem schiach’n Holz vierundfünfzig Pfennig für’n Kubikmeter – da kannst’ D’r d’ Seel aus’n Leib außa hak’n und derhakst da no nix! – No – wenn heut’ der Forstner kimmt, sag i’s ihm frisch weg!“

„Und wann er da ist,“ erwiederte David, „sagst do nix! Immer die alte G’schicht; ös habt’s d’ Schneid net dazua!“

Der Alte mit der Säge hatte sich unterdeß auf einen Stumpf niedergesetzt und stopfte seine Pfeife, mit zwei Fingern in einer riesigen vergilbten Schweinsblase herumgrabend. Er lachte still vor sich hin bei dem Gespräch der Jungen.

„Für enk langt’s nacher a net,“ begann er, „ös versauft’s do am Sunnta all’s und verthuat’s es mit die Madeln. I bi an alt’r Loda[2] und arbeit dreißig Jahr auf dem Revier, es war ender schlechter wia jetz’ und daspart hab’ i’ mir dengerscht a bisei was fur die alt’n Tag. Hab a koa Bier g’sehn den ganz’n Summa –“

„Und wohl a koa Madl,“ fiel der Mathias lachend ein, „da bin i net dabei, Toni, i net!“

„Und i a net,“ rief der Kleine herauf, „freu’ mi jetz scho am Sunnta.“

„Und was willst am Sunnta?“ fragte Mathias.

„Tanz’n, Mathias, tanz’n, daß d’ alte Post unt’n wacklat wird!“ dabei schlug er auf die Schenkel und schnackelte mit der Zunge.

„Und mit wem willst denn gehn?“ führ Mathias lachend fort, „mit der Anna a mal net!“

„Und Du a net!“ fiel David ein, „dafür werd der Rupert sorg’n, Dei guater Freund! Er is grad ob’n bei ihr!“ Er deutete auf die Höhe, wo ein grüner Almenfleck sich saftig an das dunkle Himmelsblau anfügte. Der Giebel einer Almenhütte ragte fast schwarz daraus hervor. „Und bitt’s zum Tanz für nächst’n Sunnta, i hab’n g’seh’n wia i Butt’r g’holt hab’!“

„Oben is er?!“ Das Gesicht des Mathias verlor den früheren gutmüthigen Ausdruck, und unwillkürlich sah er auch hinauf. „Na! weg’n meina gnua! Und am Sunnta geht er mit der Anna zum Tanz nach S…?“

„Freili,“ erwiederte David, „hab’s ja selber g’hört, wia sie’s mit anand ausg’macht hab’n!“

„A netta Jaga! Am Sunnta zum Tanz gehn! I hab’ nix dageg’n,“ fügte er hinzu, „mir is glei liab’r so, nacher bleib’ i da!“

„Gieb Obacht, Mathias!“ David winkte mit dem Finger, „dem Rupert is net z’traun, der hat lange Füaß, in oaner Stund geht er auffi von S…!“

Der Alte erhob sich kopfschüttelnd und ging wieder an die Arbeit, dem nächsten Buchenstamme zu, der jetzt fallen sollte.

Mathias kerbte ihn auf der Seite, nach der er stürzen sollte, mit einigen Beilhieben ein. David und der Andere hieben wieder mit neuem Eifer drauf los. Ein Schwarzspecht ließ seinen klagenden Ruf vernehmen, Witterungswechsel verkündend. Die Säge knarrte wieder, sonst regte sich kein Leben in der Mittagshitze.

Die Männer merkten es in ihrem Eifer gar nicht, daß unterdeß ein junger untersetzter Mann in Jägertracht auf die Lichtung hinausgetreten war. Die graue Joppe mit dem gestickten Eichenzweig auf dem grünen Kragen, das Emblem mit der Krone am verwitterten Hut, den die Spielhahnfeder zierte, ließen in ihm den Forstmann erkennen. Es war der Gehilfe Reiser aus S… Das männliche Braun seines Antlitzes, der kohlschwarze mächtige Vollbart gaben ihm etwas Martialisches, aber eine gewisse Koketterie, mit welcher er das flotte Hütchen auf dem schwarzen wolligen Haar trug, stimmte nicht gut dazu. Auf einen mächtigen Bergstock sich stützend, den linken Arm auf die Büchse gelehnt, schaute er lange unbeobachtet der Arbeit zu. Sein schwarzer „Dachsel“ mit braunen Läufen war auf einen Stamm gesprungen und betrachtete von da aus bald die Arbeiter, bald fragend seinen Herrn, was er denn eigentlich wolle.

Plötzlich zog dieser einen gelben Maßstab hervor und legte denselben prüfend an einen abgeschnittenen Block, der eben abgerutscht und vor ihm an einem alten Stock hängen geblieben war.

„Mathias,“ rief er. „Was soll das heiß’n? Da sind schon wieder einige zu kurz abg’schnitt’n. Könnt Ihr denn net aufpass’n? Ihr wißt, daß der Förster es g’nau damit nimmt! Habt Ihr denn keine Aug’n im Kopf? Ich glaub’, Du hast Deine Gedank’n wieder wo anders, Mathias! Nimm Dich in Acht, es kost Dir sonst Dei Brot!“

Dieser sägte ruhig weiter und entgegnete kein Wort; Toni hörte so weit überhaupt nichts.

Der Forstgehilfe ging zu David, der ihm eine Prise aus der Birkendose bot.

[81]

Sitzen geblieben.
Nach dem Oelgemälde von Max Koner.

[82] „Heiß macht’s, Herr Reiser! Und das Holz hat ’n Fluch. Der Peter unt’n klibt g’wiß fleißi’! Er bringt keine fünf Ster z’samm im Tag! Des macht zwei Mark! Des is do a Bisl z’ hart!“

„Wird schon wieder besser hergeh’n,“ entgegnete Reiser, „und dann thut Ihr’s auch net billiger! Das gleicht sich alles aus! Ihr habt’s so doch all’weil Geld im Sack! Woher kommt’s denn nachher, he? Heut früh hab’ i ein angeschoss’nes Reh g’fund’n, der Rupert hat ’s net g’schoss’n!“ Er schaute zu Mathias hinauf, mächtige Rauchwolken aus seiner Pfeife stoßend. „Der Mathias is net sauber! Warn’ ihn, David! Holzarbeiten und Wildern thut kein Gut in d’ Läng’, und leben muß er doch von der Arbeit!“

David lachte verschmitzt.

„Halt a Bisl a Tanzgeld’l tragt’s und ’s Renommiren, das is ja d’ Hauptsach! Sonst gilt’st ja nix mehr bei den Dirndel’n! Glaubt’s es wirkli, daß der Mathias –?“

Er zwinkerte mit den Augen nach oben.

„Thust wohl, als ob’st nix davon wiss’n thät’st und steckt’s do all’weil die Köpf z’samm! I glaub, Du bist no der Schlimmere, so klein D’ bist. Wenn der Rupert Euch derwischt, seid Ihr g’liefert. Thut mir leid, seid sonst tüchtige Arbeiter. War der Rupert denn heut’ schon da?“

„Na Herr, ob’n auf der Alm is er, weiß net, auf was er da paßt den ganz’n Namittag!“

„Aha!“ Reiser lachte; „er laßt net aus, er laßt net aus!“

„Wenn er’s hinbringt, hat er Recht!“ fügte David bei, „’s is bessa der Langbauer sein als a Jaga!“

Reiser zuckte die Achseln. „S’ is Geschmacksach’, i möcht net tausch’n!“

„Ja! Ihr –“ erwiederte David, „Ihr seid a Herr! Werdet a mal Först’r! Aber der Rupert bleibt halt der Rupert!“

Der Gehilfe ging aufwärts zu den Sägern. In den nackten Kniekehlen spielten gewaltige Muskeln, und trotz der Schwere des breiten Körpers war der Gang elastisch. Eben war wieder ein Baum gestürzt, und Mathias und der alte Toni warteten auf den Gehilfen.

Mathias machte sich am Boden zu schaffen. Im Dickicht scheute ein Reh; der rauhe Ton, der dem zarten Geschöpf nicht zuzutrauen ist, klang ganz nahe! Mathias gab es unwillkürlich einen Riß, die Jagdleidenschaft blitzte aus seinen Augen.

Reiser lachte. „No Mathias! Warum reißt’s Di denn so? Denkst wohl an frühre Zeit’n in Tirol drinn! Schlag’ Dir do die G’schicht’n aus den Kopf; es taugt nix! Schau, wir wiss’n, daß D’ net sauber bist! Wennst amal erwischt wirst – und der Rupert hat Dir’s geschwor’n – nachher verlierst Dei Arbeit, und drunt im Landgericht versteh’n ’s kein G’spaß mehr, seit der Leonhard erschossen word’n is!“

Mathias wurde dunkelroth.

„Der Rupert soll mehr thuan und wen’ger schrein! Am Tanzbod’n fangt ma die Wilderer net, Herr Reiser, und ’s Fluchen in die Wirthshäuser umanand fürchten s’ a net!“

„Hast net so unrecht, Mathias! Die Anna hat’n halt ganz verdreht!“ entgegnete Reiser. „Ja! die kann einen a verdreht mach’n, weiß Gott! a sakrisch Mad’l! Also Mathias –“ er drohte gutmüthig lächelnd mit dem Finger – „sei g’scheid!“

Dann ging er bergauf über den Schlag der Almenfläche zu.

„I glaub, den hat ’s a scho eing’fad’lt! Ja auf d’ Jaga is’s wia narrisch!“ murmelte Mathias, „und bin i denn net a oaner, wann a nur die Sonntag! Ja, wann der Rupert net wär!“

Der alte Toni hielt ihn zur Arbeit an, und von neuem griff er zur Säge, um einen gefällten entästeten Baum in einundeinhalb Meter lange Blöcke zu zerschneiden.

Die einförmige wiegende Bewegung des Sägens, die drückende Hitze machten ihn fast schläfrig – er nickte ein und nur mechanisch bewegten sich die Arme hin und her. Als er wieder aufblickte, sah er oben auf der Almfläche die Gestalt des Jägers, in der strahlenden Luft sich abhebend – der Gewehrlauf blitzte in der Sonne, die eben ihre letzten Strahlen über den Berg herüberwarf.

Eine finstere Wolke legte sich über sein Gesicht – er dachte gewiß nichts Gutes.

Reiser hatte sich unterdeß der Almhütte genähert; ein rother hochbeiniger Dachshund, wie man sie im Gebirge zu verwenden pflegt, sprang ihm bellend entgegen.

„Ah, der ‚Gams‘, no do is der Rupert freili net weit!“

Gams und Reiser’s Hund „Dierndel“ begrüßten sich als alte Bekannte; dann sprangen sie beide, sich balgend und überkugelnd, vor dem Kommenden her.

Ein Juhschrei, so klar und rein wie Quellwasser, tönte von der Hütte her, die niedrig, aus starken schwarzbraunen Balken gefügt, in einer kleinen Einsenkung lag. Vor der Thür stand die Almerin Anna, die Langbauerntochter von S…, eine prächtige, kraftstrotzende Gestalt! Ihr Gesicht war nicht schön, die Züge etwas zu derb, aber die braunen kräftigen und doch fein modellirten Arme, der wohlgeformte Nacken, der schneeweiß aus dem rothkarrirten Janker sich heraushob, die ganze Haltung des Körpers, das energische frische, schwarze Auge: das Alles ließ sie als ein echtes Bergkind erscheinen.

Im Kaser (Küche) brannte ein Feuer, dessen Schein ihre kräftigen Kontouren mit röthlicher Gluth einsäumte.

„Grüß’ Gott, Reiser!“ rief sie, „suchst den Rupert? Grad is er kema!“

„Grad?“ erwiederte lachend der Gehilfe, „ich will Di ja net ausfrag’n, deßweg’n bin i net kommen! I muß nur Dei Vieh aufschreiben, das is Alles, und wennst a Schal’n Kaffee für mi hast, hab i auch nix dageg’n, i riech’ so was!“

Er stellte Bergstock und Büchse in die Ecke und trat in den Kaser. Dort saß Rupert, der Jäger, vor einer Schüssel mit Kaffee, dessen angenehmer Geruch den Raum erfüllte.

„Grüß’ Gott, Reiser! Grad hab i geh’n woll’n!“ sagte Rupert.

„Aber was habt’s denn?“ erwiederte Reiser, „habt’s a schlecht’s G’wiss’n, weil Ihr Euch so vertheidigt, oder halt’s mich für an Spion vom Förster? Weg’n meiner kommst oder gehst, was kümmert’s mi!“

Anna setzte ihm eine schön geblumte Tasse mit dem duftenden Trank vor; sie hatte sie eigens aus ihrer Kammer nebenan geholt, für den Herrn Forstgehilfen. „Viel Glück!“ stand darauf, rosenumschlungen. Dann setzte sie sich an das blau angestrichene Butterfaß und begann zu rühren. Die Zwei löffelten schweigend den Kaffee aus.

„Hab’ eben wieder ein ang’schossnes Reh g’fund’n, Rupert, ganz frisch! Jetzt treiben si’s wieder stark, die Lump’n! Mußt ihnen einmal wieder tüchtig auf die Näht geh’n! Der Förster is ganz auseinand drüb’r!“

„Der Först’r? Der is selbst schuld dran! Hab’ i ihm net hundertmal g’sagt, er soll den Mathias entlass’n und den David? Es is koan Andrer als der Mathias; begegn’ i ihm im Revier, so geht er auf’n Arbeitsplatz; grad so der David, der Schlingenleger – aber wenn i eimal oan derwisch, mach’ i kurze Rechnung!“

„Wie nur d’ Mensch’n weg’n so an Stuck Wild einander so feind sein mög’n?“ warf Anna ein, „nix dümmer’s woas i meiner Seel net, und da will der Bua, daß i ihn heirath als Jag’r! Daß ma’n amal derschoss’n heimbringt und i in ew’ger Angst leb’n muaß!“

„No wann ’s wirkli so weit kommt und Du die Tochter vom Langbauern heirath’st, wirst wohl auf d’ Jagerei verzicht’n!“ sagte Reiser zu Rupert.

„Net gern,“ erwiederte dieser, „wann des amal im Bluat steckt, kann ma’s net so schnell ausreiß’n! Wenn’s d’ Anna net anders thuat, in Gott’s Nama! Aber sie braucht si a net z’schama, an ordentlich’n Jaga zum Mann z’hab’n!“

„No, Ihr werd’s Euch schon einig’n, denk i, net, Anna?“ Diese lächelte mit einem verliebten Blick gegen Rupert –

„I hoff’s, Herr Reiser!“

Rupert war aufgestanden und zu Anna hingetreten, er lehnte sich auf das Butterfaß und sah ihr in die Augen. Sein schwarzer Schnurrbart war in kecke Spitzen gedreht, sein ganzer Körper strotzte von Gesundheit und Kraft.

„Und doch hast die Jagerei so gern, Anna! Wann i so mit an Gamsbock heraufkomn’ zu Dir, da juchzest ganz anders als wann i leer komm’! Mei’ Lebtag war’n d’ Almerinna und d’ Jag’ guat Freund, und werdn’s a bleib’n!“ Dabei packte er sie bei den vollen Armen, daß das Butterrad stehen blieb, zog sie an sich und drückte einen herzhaften Kuß auf ihre vollen Lippen. In demselben Augenblick stand Mathias unter der Thür mit einem irdenen Krug und betrachtete spöttisch die verliebte Gruppe.

(Fortsetzung folgt.)

[83]

Blätter und Blüthen.


Die Heilsarmee läßt wieder von sich hören. Ihr General Booth ist von seiner amerikanischen Rundreise nach London zurückgekehrt, und diese Rückkehr ist in Exeterhall festlich begangen worden. Ein Zug von 4000 bis 5000 Mann holte den General von der Eisenbahnstation ab und marschirte durch London unter ungeheurem Zudrang des Volkes. In Exeterhall wurden Hymnen gesungen und der mit der üblichen stürmischen Begeisterung begrüßte General stattete Bericht ab über seine amerikanische Reise: er erzählte, er habe 15000 Meilen durchstreift und in 200 Versammlungen gesprochen.

Diese Heilsarmee ist eine der merkwürdigsten Ausgeburten der englischen Sektirerei: auf ihrem Programm steht in erster Linie eine lärmende Frömmigkeit, welche gerade durch diesen Lärm, den sie auf den Straßen und in den Blättern macht, immer neue Anhänger zu werben sucht. Begründet wurde die Armee von William Booth, jetzt General Booth, einem früheren Methodistenprediger. Im Jahre 1865 hielt er in den östlichen Armenvierteln Londons eine Reihe von Missionspredigten zur Rettung des Seelenheils der Armen, deren trostlose Lage durch den Schnapsgenuß noch verschlimmert wird; er gründete einen Ostlondoner christlichen Wiederbelebungsverein, der später den Namen „Christliche Mission“ führte, doch es wurde in den Ausschußsitzungen zu viel debattirt, und Booth kam auf den Gedanken, eine militärische Disciplin einzuführen. Er verwandelte die Mission in eine Armee, deren Oberbefehlshaber er selbst war: diese Armee von bekehrten Männern und Weibern soll alle Menschen veranlassen, den Ansprüchen Gottes an ihre Liebe und Verehrung gerecht zu werden, die Sklaven der Sünde befreien und in Kinder Gottes verwandeln. Alles in dieser Armee ist militärisch organisirt und benannt: es giebt einen General, einen Generalstab, ein Hauptquartier, Kasernen, Fahnen, Soldaten, Kanonaden, schweres Geschütz, Bombardements, Exercirübungen. „Blut und Feuer“ ist die Losung: das Blut der Erlösung und das Feuer des heiligen Geistes im Kampfe gegen den Teufel. Die Uniform besteht aus einer dunkelblauen, höchst einfachen, mit rothen Schnüren eingefaßten Jacke, deren Kragen auf jeder Seite ein S trägt („Salvation“, Erlösung); unter der Jacke tragen die meisten noch ein rothes Garibaldihemd. Die weibliche Uniform besteht aus sehr einfachen Hüten und Kleidern. Die Armee besitzt eine Schulungskaserne, aus der die Kadetten als Probelieutenants hervorgehen; die Lieutenants und Kapitäne leiten die Processionen und Versammlungen; es giebt auch weibliche Officiere. Die Frau des Generals erfreut sich des größten Ansehens bei der Armee, und eine seiner Töchter leitete die Operationen in Paris und in der Schweiz. Die Officiere haben wöchentliche Berichte an das Hauptquartier in London einzusenden, die im Hauptblatte des Vereins, „Das Kriegsgeschrei“, zum Abdruck kommen; sie berichten darin besonders über die Städte, die sie „erobert“ haben, und diese Mittheilungen sind in lauter Wendungen militärischer Berichterstattung abgefaßt.

Wo die Heilsarmee einrückt oder einen Umzug veranstaltet, da macht sie einen wahren Höllenspektakel: je mehr Lärm, desto mehr Erfolg; Frau Generalin Booth hat sich dahin geäußert, daß dies Alles nothwendige Reklame sei, die eine so gute Sache so wenig entbehren könne wie manche schlechte: daher blutrothe Plakate und Fahnen, lärmende Musik bei den Märschen, der Gesang frommer christlicher Lieder, die oft in ganz burschikosen Versen abgefaßt sind und nach Melodien aus Operetten und Tingeltangels gesungen werden. Die an der Spitze schreitenden Kapitäne machen oft die verrücktesten Gebärden. Diese Umzüge mit dem Skandal, den sie mit sich bringen, reizen den Spott der Gassenjugend, welche die Heiligen oft mit Koth bewirft, oder die Unbekehrten mißhandeln die Bekehrten auf offener Straße; ja es hat sich eine ganze Armee, die sogenannte „Skelettarmee“, gebildet, welche auf ihren Fahnen Todtengerippe, an schweren Knütteln, welche gelegentlich den „Seligmachern“ sich sehr unliebsam erweisen, farbige Tücher trägt und mit Zinnpfeifen, zerfetzten Trommeln und Eisentöpfen, die mit Steinchen gefüllt sind, einen tollen Lärm macht; in jeder Hinsicht sucht diese Armee die Heilsarmee zu überbieten; auch im Geheul von Liedern will sie dieselbe übertäuben: natürlich kommt es zu gelegentlichen Zusammenstößen, wobei die Skelettmänner, da sie keine christliche Milde zu üben brauchen, in der Regel den Sieg davontragen.

In den Erlösungsversammlungen fehlt es ebenfalls nicht an Gesang und Musik. Blasinstrumente und Trommeln werden von Tambourins begleitet, die von den sogenannten Hallelujahmädchen gespielt werden, die dann auch das Geld auf Tellern einsammeln; es wird gepredigt, die Rekruten melden sich; die Bekehrten erzählen von den Wundern des Glaubens; in den Zwischenpausen ergeht man sich in unheiliger Plauderei. Dann giebt es auch Versammlungen der Heiligen selbst, die ohne diesen ganzen Hokuspokus stattfinden und einen ernsten geistlichen Charakter tragen.

Es würde unbegreiflich scheinen, daß diese „Heilsarmee“, die in ihren äußeren Formen eine Karikatur des religiösen Lebens darstellt, einen so außerordentlichen Erfolg erringen konnte, wenn man nicht des gesunden Kerns gedenkt, der allen diesen Verzerrungen zu Grunde liegt: der Kampf gegen den Alkohol und das Laster in jeder Art ist gewiß ein berechtigter und wird außerdem in den verrufensten Stadtvierteln der großen Städte geführt, inmitten einer Bevölkerung, welche nie von einem Strahle geistigen und religiösen Lichts berührt wird. Der Lebenswandel, zu dem sich viele Hunderttausende bekehren, steht in schroffem Widerspruche mit den Wegen, die sie früher gewandelt sind; die Kleidung muß schmucklos sein, das Rauchen und der Genuß geistiger Getränke ist aufs Strengste verboten, eben so das Spielen von Glücksspielen, das Lügen und Fluchen, jeder Betrug im Geschäftsleben, jede unreine Handlung, jeder unreine Gedanke.

Damit mag man sich den großen Zuwachs der Heilsarmee von Jahr zu Jahr erklären. Nach dem letzten Jahresbericht zählt dieselbe gegenwärtig 1786 Korps mit 4192 Offizieren, während sie im vorigen Jahre nur 1322 Korps und 3076 Offiziere zählte. In der ersten Woche des Jahres 1886 wurden 25496 Versammlnngen abgehalten, in der letzten Woche 29733, während des ganzen Jahres 1435980. Die Einnahme betrug im Ganzen 73430 Pfund Sterling. Immer andere Länder sucht die Heilsarmee in ihr Netz zu ziehen; in Amerika hat General Booth jetzt große Eroberungen gemacht. Doch in der Schweiz und in Deutschland stößt der Siegeszug der Erlöser auf unüberwindliche Hindernisse. †     

Besuch beim Verurtheilten. (Mit Illustration Seite 72 und 73.) Die Hände faltend, in tiefer Zerknirschung, sitzt der Unglückliche, über den das Urtheil gesprochen worden, im einsamen Kerker. Sein ganzes Leben zieht an seiner Seele vorüber, ein Leben, glücklich und fleckenlos, bis zu der einen unseligen That, die ihn auf einmal in einen Abgrund des Elends stürzte. Tiefe Reue hat ihn erfaßt; die Einsicht in das Unabwendbare drückt ihn zu Boden. Da hat der alte Schließer die Thür zu seiner Zelle geöffnet: Weib und Kind besuchen ihn in seiner Haft; er wendet ihnen keinen Blick zu. Mitleidsvoll unter Thränen steht die Gattin neben ihm; sie macht ihm keine Vorwürfe; sie beklagt nur ein Schicksal, das auch auf ihr selbst, auf ihrem Kinde lastet. Und dies Kind, dem es unheimlich zu Muthe ist in den düstern Räumen, klammert sich ans Kleid der Mutter fest. Das Ganze ist ein Bild, wie es oft genug das Leben bietet. Die Gerechtigkeit muß den Schuldigen verdammen; aber die Liebe bleibt ihm treu. †     

Ein Asyl für Frauenarbeit in Griechenland. In seinen lebendigen Reiseskizzen aus Griechenland „Griechische Frühlingstage“, in denen Volkssitten und Leben der Gegenwart mit großer Anschaulichkeit geschildert sind, ohne daß die geschichtlichen Streiflichter fehlen, berichtet Eduard Engel über eine nachahmenswerthe Pflege der Frauenarbeit in Athen, ein großes Atelier, in welchem die Frauen thätig und wirksam sind, ohne mit den Schattenseiten des Fabrikwesens in Berührung zu kommen. Es ist dies ein kunstgewerbliches Institut, welches den Namen „Ergastirion“ führt. Die ganze Verwaltung desselben liegt in weiblichen Händen.

„Wenn von irgend einer Seite der Ueberfluthung Griechenlands durch die häßlichen Moden Europas und den Fabrikplunder Einhalt gethan werden kann, dann geschieht das durch das Ergastirion in Athen. Hier werden auf Handwebestühlen die schönen Seidenstoffe gewoben, die an Dauerhaftigkeit es mit den besten französischen Stoffen aufnehmen. Der Seidentüll, mit Goldfäden durchsetzt, der hier immer durch Handarbeit hergestellt wird, findet an Feinheit kaum irgendwo seines Gleichen. Kopftücher, Schleier, Brautkleider, die duftigsten Gewebe, von denen wirklich mehrere Meter in einer Nuß Platz fänden, wie von jenen Märchengeweben, werden hier auf Bestellung oder auf Lager angefertigt, in hohen hellen Arbeitssälen, bei weitoffenen Fenstern, nicht unter der Fuchtel eines Fabrikaufsehers, sondern unter Aufsicht und Lehre mütterlicher Freundinnen. Kein Tagelohn, sondern Stücklohn – und da die Verwaltung für ihre schönen Waaren hohe Preise fordert und erhält, so kann sie auch die Arbeiterinnen reichlich lohnen. Für den Unterricht wird nichts bezahlt. Gegenwärtig liefert das Ergastirion Seidenstoffe aller Art, farbige, weiße, goldgestickte Baumwollstoffe zu Kleidern, sehr originelle orientalische Muster, und handgewebte Sachen wie alle Erzeugnisse des Hauses, wollene Teppiche jeder Größe nach den schönsten Mustern uralter bäuerlicher Hausweberei; Stickereien in Seide, Silber und Gold; Spitzen aus Zwirn oder Seide gleichfalls je nach Wunsch mit Silber und Gold durchwirkt – endlich farbige Wäsche.“

Wir nannten dies Institut nachahmenswerth und gewiß mit Recht. Einmal hat es eine nationale Bedeutung und erklärt der Pariser Mode, allem fremdländischen Geschmack den Krieg. Kein Modemagazin der Welthauptstadt vermag solche Goldstickereien auf Seide, Sammet, Gazegrund zu liefern, wie sie auf Euböa, in Epiros und auf manchen Inseln des ägeischen Meeres mit so sicherem, durch Jahrhunderte lange Uebung gefestigtem Geschmack angefertigt werden. Doch wie in Griechenland, so würde sich auch in Deutschland die einheimische Industrie in vielen Branchen vom Pariser Geschmack freimachen können.

Noch wichtiger aber ist die harmonische Gestaltung der weiblichen Arbeit, die in den Fabriken mit mancherlei Mißständen zu kämpfen hat. †     

Unser Briefpapier. Unübersehbar sind die Stadien der Verfeinerung und Vervollkommnung, welche das Papier von ersten Anfängen bis auf den heutigen Tag durchgemacht hat; besonders gilt dies von den Papieren, auf welchen wir unsere Privatkorrespondenz besorgen. Noch vor 20 oder 25 Jahren war der Luxus auf diesem Gebiet ein unbekanntes Ding. Wer sich einer besonders eleganten Papiersorte bedienen wollte, der wählte das aus der englischen Stadt Bath stammende Papier, welches oben in der Ecke links den Hochdruckstempel „Bath“ trug.

In den sechziger Jahren begann man in Wien – von dort ging der Anstoß zur Verfeinerung der Papiere aus – diesen Stempel durch verschlungene Buchstaben, „Monogramme“, zu ersetzen, die zunächst farblos und unansehnlich waren, mit der Zeit aber an Ausdehnung gewannen, so daß sie zuletzt sich über die ganze Höhe des Blattes ausdehnten. Auf das Monogramm folgten geprägte Darstellungen der verschiedensten Art, für alle Lebensverhältnisse und Situationen passend. Den Beginn machten Veilchen, Nachtschatten, Alpenrosen, Edelweiß; dann kam das Schwalbenpapier in die Mode, das Papier mit den aufgedruckten Sinnsprüchen; sogar ein Notenpapier, welches links oben Liederanfänge trug, tauchte auf.

Der Erfindung war ein unbegrenztes Feld eröffnet; der Sportfreund, der Reiter, der Jäger, der Ruderer, der Schöngeist, der Gelehrte, Alle fanden Briefpapiere mit entsprechenden Sinnbildern. Nicht minder verschieden wären die Formate, die nun entstanden: winzig kleine Blättchen wechselten mit Großoktav ab; dann war das Format langgeschnitten oder gar dreieckig; dieselbe Mannigfaltigkeit stellte sich bei der Wahl der Farbe heraus, [84] die vom Zartgrau alle Nüancen durchmachte, bis zum Feuerroth. Die Anstrengungen der Fabrikanten Neues zu bieten und Moden hervorzurufen, haben naturgemäß zu einer Ausartung geführt, und die Schaufenster großstädtischer Papiergeschäfte liefern die überraschendsten Beweise für die Verirrungen und Geschmacklosigkeiten, welche der Briefpapierluxus verschuldet hat.

Als Muster dafür mag das Papier gelten, welches oben in der Ecke einen Tintenklecks mit der Unterschrift „O wie fatal!“ trägt, oder das „Ausgegrabene Papier“, dem künstlich das Ansehen des Alterthums verliehen wurde. Ganz unsinnige Einfälle sehen wir hier verkörpert. Es giebt Papier mit „angebrannten Rändern“, von „Mäusen angenagtes“, das heißt künstlich an den Kanten zerfasertes Briefpapier, und solches, welches dem Leder, einer Schlangenhaut, Kattunstoff und Seide gleicht. Dabei hat man die unmöglichsten Farben zu Hilfe genommen; die Monogramme waren bald nicht mehr auffallend genug; man nahm zu ganzen Namen seine Zuflucht; man klebte natürliche Blumen auf und bunte Federchen, überzog das ganze Papier mit einem mattgedruckten bunten Dessin, vergoldete die Ränder – kurz jede, auch die excentrischste Idee wurde aufgegriffen und ausgeführt. Dahin gehört auch das sogenannte „Machdi-Papier“, dessen grellrothe Farbe das Auge beleidigt; wie soll man darauf mit schwarzer Tinte Geschriebenes lesen?

Aber wenn man von diesen lächerlichen Moden absieht, muß man zugeben, daß diese neue Industrie auch sehr Liebenswürdiges und Hübsches hervorgebracht hat. Trotz alledem ist dem vollkommen weißen, unbedruckten Briefpapier von nicht zu dünner Sorte, so daß die Schrift nicht durchscheint, und welches nicht sogleich zerreißt, der Vorzug zu geben. Das Monogramm, schwarz oder in matten Farben oder auch in Gold aufgedruckt, darf man füglich gelten lassen, alles Uebrige ist Spielerei und durchaus nicht „chic“. Paul von Schönthan.     

Sitzen geblieben. (Mit Illustration S. 81.) Warum sie wohl „sitzen geblieben“ ist? Sie ist doch eigentlich ganz nett … nicht?

Ja, wer konnte das auch ahnen? Sonst war sie immer Ballkönigin gewesen; sie hatte bisher die Auswahl unter Dutzenden von Tänzern gehabt, und das war auch leicht erklärlich, denn Adele war „schön“! Sie hatte den kleinsten Mund und die größten Augen von allen jungen Mädchen der ganzen Stadt, und sämmtliche Lieutenants der Garnison schwuren „auf Ehre“, daß dieser kleine Mund „süß“ und diese großen Augen „seelenvoll“ seien. Das Civil stimmte damit ganz überein. Schwüre ewiger Treue, süß duftende Blumensträuße, Heirathsanträge und Liebesbriefe fielen Adele nur so in den Schoß; sie brauchte keinen Finger darum zu regen – das machte sie übermüthig. Was man gar so leichten Kaufes erlangen kann, das pflegt man gering zu achten. Adele begann, die Männer, die ihr scharenweis zu Füßen lagen, zu maltraitiren, zu quälen und in der raffinirtesten Weise zu „narren“. Endlich aber war das Maß ihrer Sünden voll. Sie hatte den schneidigsten Officier des Regimentes so beleidigt, daß dieser sich erbleichend vor ihr verneigte, die Hacken zusammenschlug, daß die Sporen klirrten, und von ihr ging, um nie wiederzukehren. Sie hatte dem gesammten Civil ins Gesicht geschlagen, indem sie auf Kosten eines geistvollen Journalisten, des allgemeinen Lieblings männlicher und weiblicher Kreise, einen boshaften Witz gemacht – das forderte Rache.

Im Kasino wurde ein böser Plan geschmiedet und auf dem nächsten Kasinoballe ausgeführt – man ließ Adele sitzen. Man ging immer direkt auf sie zu und wandte sich erst in ihrer nächsten Nähe rechts oder links, engagirte immer gerade die Damen, die Adele zur Seite saßen. Es war unerhört – neu – noch nicht dagewesen. Sie war anfangs sprachlos. Endlich setzte sich ein unbesoldeter Referendar an ihre Seite, um sie zu unterhalten. Sie hatte ihn früher nie beachtet und begriff das heute nicht. Sie fand ihn heute wirklich recht nett. Wie doch ein Mann in der Stunde der Gefahr und in Zeiten der Noth an Werth steigen kann! Adele war ganz entschieden liebenswürdiger gegen ihn, als sonst gegen alle ihre Anbeter zusammen. Da – als der Tanz begann – stand er auf und verabschiedete sich. Er hatte für diesen Tanz schon eine Tanzkarte beschrieben und konnte wirklich nicht anders. Da saß nun die einstige Ballkönigin. Ihr kleiner Mund preßte sich fest zusammen, und ihre großen Augen vergrößerten sich noch, um die Thränen zu unterdrücken, die darin aufsteigen wollten und doch nicht sollten. O diese Männer! Ein Narr, wer auf ihre Schwüre baut! Der abscheulichste unter ihnen war ein Maler, der die arme Adele in dieser ihrer unwürdigen Lage auch noch verewigt hat.

Robert Schumann’s Werke. Da am 1. Januar d. J. das Verlagsrecht an den Werken des genialen Komponisten erloschen ist, so veranstaltet die Verlagsbuchhandlung von Breitkopf und Härtel in Leipzig eine Volksausgabe seiner Werke. Diese Ausgabe ist von seiner Wittwe Klara Schumann nach den Handschriften und persönlicher Ueberlieferung herausgegeben und mit Fingersatz und Vortragsbezeichnung versehen. Die Sammlung der Lieder und Gesänge wird vier Bände, diejenige der Klavierwerke acht Bände umfassen; außerdem werden auch seine Kammermusikwerke, Orchesterwerke, Klavierauszüge, Chorstimmen und Texte in die Sammlung aufgenommen werden. Die Volksausgabe der Lieder wird in drei Lagen, für hohe, mittlere und tiefe Stimmen zum praktischen Gebrauch eingerichtet, erscheinen. Vor uns liegt der erste Band seiner Lieder und Gesänge, der erste Band seiner „Klavierwerke“, ferner ein Band seiner Kompositionen für Pianoforte zu zwei Händen: die treffliche, wohlfeile Ausgabe wird wesentlich dazu beitragen, den feinsinnigen Meister der Töne in weitesten Kreisen einzubürgern. †     



Sprechsaal.

Frage 1: Welche von unsern einheimischen Pflanzen lassen sich mit Erfolg während des Winters im Aquarium ziehen?

Antwort: Gute Erfolge wurden nach dieser Richtung hin mit dem ährenblüthigen Tausendblatt (Myriophyllum spicatum L.) erzielt. Die Pflanze verdankt ihren Namen den äußerst fein und zierlich gefiederten quirlständigen Blättern. Sie wurzelt im Schlamme und erbebt ihren Stengel bis zur Oberfläche des Wassers. Die dünne Blüthenähre ragt aus dem Wasser hervor. Das Tausendblatt entwickelt gegen den Herbst hin knospenartige Vermehrungsorgane, welche, von dem Mutterstengel abgelöst, sich im Aquarium trefflich entwickeln. Die jungen Pflänzchen erinnern durch ihre Farbe und Gestalt an einen frischgrünen Fichtenzweig und bilden einen wirksamen Schmuck. – Es wundert uns übrigens, daß Sie ein Aquarium besitzen und es unterlassen haben, sich ein Buch zu verschaffen, welches Ihnen über alle einschlägigen Fragen Auskunft ertheilen würde. Wir rathen Ihnen dringend, die geringfügige Ausgabe nicht zu scheuen. Die Winke und Belehrungen, welche Sie in einem solchen Buche finden, werden Sie vor vielfachem recht empfindlichen Schaden bewahren. Wir möchten Sie namentlich auf das vor Kurzem erschienene Werk: „Das Süßwasseraquarium und seine Bewohner“ von Dr. W. Heß (Stuttgart, Ferdinand Enke) aufmerksam machen. Das Buch giebt treffliche Rathschläge über die Einrichtung eines Aquariums, Auswahl und Pflege der Thiere und Pflanzen und ist mit mehr als 100 Abbildungen geschmückt. Die beistehende Abbildung des Tausendblattes ist demselben entnommen.

Frage 2: Giebt es billige Imitationen der Glasmalerei, welche den Witterungseinflüssen und namentlich dem Waschen genügenden Widerstand leisten, sodaß man sie als Fensterscheiben, Fenstervorsätze etc. benutzen kann?

Antwort: Schon seit langer Zeit finden sich im Handel sogenannte Abziehbilder aus wasserfesten Farben, die, auf Glas übertragen, von ziemlich langer Dauer sind. Das Beste in dieser Art dürften jedoch die sogenannten „Diaphanien“ von Grimme und Hempel in Leipzig sein. Die farbigen Bilder sind in denselben zwischen zwei Scheiben angebracht, so daß man sie durch Waschen vom Staub und Schmutz reinigen kann, ohne die Farben irgendwie zu beeinträchtigen. Die Muster, zumeist in altdeutschem Stil ausgeführt, sind durchaus geschmackvoll. Die „Diaphanien“ werden in allen möglichen Größen angefertigt.


Allerlei Kurzweil.

Skat-Aufgabe Nr. 2.

Von K. Buhle.

Die Hinterhand gewinnt mit folgender Karte:

(p. B.) (c. B.) (car. B.) (tr. K.) (tr. D.) (tr. 8.) (tr. 7) (p. Z.) (p. K.) (car. As)

ein Eichel-(Treff)Solo mit Schneider, obwohl nur 3 Augen im Skat liegen, denn die Gegner erhalten nur 29 Augen. Der Spieler würde dagegen sein Solo mit Schneider verlieren, wenn die Gegner je zwei leere Blätter in einer Nebenfarbe mit einander tauschen dürften, denn sie würden 90 Augen hereinbekommen.

Wie sitzen die übrigen Karten? Welche Karten würden zu tauschen sein, und wie ist in beiden Fällen der Gang des Spieles?[3]


  1. Kob’l gleich Rindenhütte.
  2. Loder gleich Geselle.
  3. Abkürzungen: e., g., r., s. = Eicheln (tr.); Grün (p.); Roth (c.); Schellen (car.). W., D., Z., K., O., 9, 8, 7 = Wenzel (B.), Daus (As), Zehn, König, Ober (Dame) etc.


Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 1 auf S. 36: Die Vorhand wird auf folgende Karte:

rK, rO, r9, r8, r7, eD, eZ, gD, gZ, gK,

das Roth-Solo sogar mit Schneider gewinnen, wenn die übrigen Karten so vertheilt sind:

Mittelhand: eW, gW, rZ, e8, gO, g9, g8, sK, s8, s7,
Hinterhand: rW, sW, rD, eK, eO, e9, sD, sZ, sO, s9,

und Skat: e7, g7; denn nach den in der Aufgabe angegebenen ersten 4 Stichen wird der Spieler mit r9 die letzten Trümpfe der Gegner herausholen und nur noch diesen einen (5.) Stich mit 4 Augen abgeben, so daß die Gegner nur 29 Augen erhalten können.


Kleiner Briefkasten.

Hugo G. in L. Eine gut redigirte Zeitschrift, welche die gesammten Interessen der Sangeskunst vertritt, ist „Der Chorgesang“, herausgegeben von dem Weimarer Hoforganisten A. W. Gottschalg (Leipzig, Verlag von Licht und Meyer). Der Inhalt des eben beendeten ersten Jahrgangs ist reich und mannigfaltig; der starke Band enthält Bildnisse und Biographien hervorragender Tonkünstler, größere Aufsätze theoretischen Inhalts, kleine ansprechende Erzählungen, Musikalien für Kinderchor, gemischten Chor und Männerchor etc.

Schlesierin Ok. in Breslau. Besten Dank für ihren Gruß!


Inhalt: Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 69. – Ueber den Schlaf und die Verhütung der Schlaflosigkeit. Von Dr. A. Kühner, prakt. Arzt in Frankfurt am Main. S. 74. – Winterstürme im amerikanischen Nordwesten. Mit Illustrationen. S. 77. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. Adlerjagden des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich. II. S. 78. – Ein verhängnißvolles Blatt. Erzählung aus den bayerischen Bergen von Anton Freiherrn v. Perfall. S. 79. – Blätter und Blüthen: Die Heilsarmee. S. 83. – Besuch beim Verurtheilten. S. 83. Mit Illustration S. 72 und 73. – Ein Asyl für Frauenarbeit in Griechenland. S. 82. – Unser Briefpapier. Von Paul von Schönthan. S. 83. – Sitzen geblieben. S. 84. Mit Illustration S. 81. – Robert Schumann’s Werke. S. 84. – Sprechsaal. S. 84. – Allerlei Kurzweil: Skat-Aufgabe Nr. 2. S. 84. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 1 auf S. 36. S. 84. – Kleiner Briefkasten. S. 84.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ge-gestanden
  2. An den Schlaf von Johann Christoph Friedrich Haug (Sinngedichte, 1791). Die abgewandelte Form der ersten Zeile findet sich in einer Besprechung (ALZ, 1792, Bd. 4, Sp. 656). Vgl. Mörikes Gedicht an den Schlaf und seine Vorläufer, in: Reinhold Köhler: Kleinere Schriften, Bd. 3, Berlin 1900, S. 203–212 Internet Archive
  3. Tristram Shandy, 101. Kapitel
  4. Macbeth I, 3
  5. Vorlage: dem