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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[37]

No. 3.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. — In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. — In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 25 Pfennig.



Herzenskrisen.

Roman von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Hortense lag bewußtlos in den Kissen. – Der betäubende Chloroformgeruch drang jetzt mit aller Macht auf Lucie ein; sie lief zum Fenster und öffnete hastig die Flügel, unbekümmert darum, daß die kostbare Spitzengardine zerriß. Dann eilte sie wieder zurück zum Bette und schleuderte mit zitternden Händen das weiße Tuch zu Boden, das auf dem Gesichte der jungen Frau lag. Ein furchtbarer Geruch! Selbst Kissen und Decke mußten mit dem unseligen Stoff getränkt worden sein. Ihr Herz klopfte heftig; nun hob sie die Bewußtlose halb in die Höhe; schwer fiel der schöne Kopf gegen ihre Schulter; aber sie stöhnte wieder; sie flüsterte auch unverständlich. Jetzt mußte Hilfe herbei! Und doch – es wäre schrecklich, wenn man erführe, was sie gethan – was denn? Sie hatte vielleicht


Die Donauquelle in Donaueschingen.

[38] Zahnschmerzen – sie hatte aus Versehen – – nein! Nein! Sie wollte sterben! – Lucie ergriff das schreckliche Tuch und die geleerte Flasche und warf Beides aus dem Fenster; selbst halb betäubt nahm sie Kissen und Decken fort – da war ein Wandschrank, hinein damit! Und das andere Fenster noch auf – gottlob, Zugluft! Sie trug einen ganzen Strom von Fliederduft in das Zimmer und umspielte das blasse Gesicht, das unbeweglich auf dem Pfühl lag.

Und nun noch den Brief vom Nachttisch dort – „An meinen Großvater Herrn Alexander von Meerfeldt –“. Lucie steckte ihn in die Tasche ihres Kleides und riß am Glockenzug; wie Sturmläuten hallte der Ton in dem stillen Hause wieder. Sie rieb eben die Schläfen Hortense’s mit Kölnischem Wasser, als das Stubenmädchen hereinstürzte und hinter ihr die Stimmen von Mademoiselle und dem alten Herrn laut wurden.

„Lassen Sie den Arzt rufen,“ sagte Lucie ruhig, „sie ist ohnmächtig geworden.“

Die Klagen der beiden alten Leute verstummten; scheu traten sie an das Lager und sahen in das blasse stille Gesicht.

„En vérité nur eine Ohnmacht?“ fragte Mademoiselle.

„Hortense, mein Kind,“ flüsterte leise der alte Herr und hob ihre Hand, welche schwer wieder niederfiel.

„Mon dieu, sie stirbt!“ weinte die kleine Französin.

„Wenn Alfred doch käme!“ seufzte das Mädchen. „Barmherziger Gott, laß ihn zu Hause gewesen sein!“ betete sie leise. Jetzt glaubte sie seinen Schritt auf dem Korridor zu erkennen. Sie lief zur Thür hinüber, in welche der junge Arzt eben treten wollte. „Komm!“ rief sie, ihn zurückdrängend, „ich habe Dir etwas zu sagen.“

„Du zitterst, Lucie?“

„Ja!“ erwiederte sie mit versagender Stimme, „ich habe – ich fand Hortense von Löwen, wie sie – als sie – sie hatte Chloroform; Alfred, laß Dir nichts merken! Sie wollte, glaube ich – sie hatte einen großen Kummer erfahren gestern – und da –“

Er faßte ihre Hände. „Beruhige Dich, Lucie; was thatest Du zunächst?“

„Ich habe ihr das Tuch vom Gesicht genommen und die Fenster geöffnet, und –“

„Sie ist bewußtlos?“

„Ja! Ja! Ach, sage nicht, was sie gethan – sage, sie wäre ohnmächtig, Alfred!“

Er strich ihr liebkosend über das Haar und sah sie gerührt an. Sie merkte es nicht; sie bebte an allen Gliedern; jetzt, wo sie ihn an ihre Stelle treten sah, wollten die Kräfte weichen. „Setze Dich,“ bat er und drückte sie in einen Sessel, „werde ruhig; Du hast es brav gemacht, Lucie.“

Er nickte ihr zu und ging in das Schlafzimmer, dessen Thür offen blieb.

Es dauerte nicht lange, als Mademoiselle ebenfalls zurückkehrte. „Sie wird erwachen!“ rief sie. „Gott sei gelobt, es ist eine simple Ohnmacht. Himmel, wie oft fiel ich als junges Mädchen in Ohnmacht! Und deßhalb gleich solchen Lärm? Liebste, Sie klingelten ja, als ob es brenne oder ein Mord geschehen sei; den Schreck werde ich nie vergessen, jamais!“

„Ich möchte nicht, daß sie mich hier erblickt,“ hörte Lucie jetzt ihren Bräutigam sagen; „es wäre auch vielleicht besser, wenn Mademoiselle und der Herr Baron beim Erwachen nicht zugegen sind. Je weniger man aus solcher Geschichte macht, desto besser ist es für die Patienten.“

„Aber Jemand muß hier sein,“ sagte Mademoiselle auf den eintretenden Arzt zugehend, „und ich weiß, das Stubenmädchen darf sich nicht ungerufen in ihrer Nähe aufhalten.“

„Ich will hier bleiben, Alfred,“ rief die kleine Braut; „ich thue, als ob ich eben gekommen wäre, oder –“

„Es ist das Beste!“ stimmte er bei. „Sollte Frau von Löwen sehr unruhig werden, so laß mich rufen.“

Sie trat mit ihm in den Korridor hinaus.

„Welch furchtbare Kämpfe mögen vorangegangen sein, ehe sie soweit kam!“ flüsterte das Mädchen und schmiegte sich an ihn.

„Sie ist nervös und exaltirt, Kind,“ erwiederte er gelassen. „Derartiges kommt öfter vor als Du glaubst. Sorge nur, daß sie nicht allzusehr über ihren kopflosen Streich nachdenkt; sei unbefangen, erzähle ihr etwas! Du mußt mir schon einmal helfen, Lucie.“ Er küßte sie zärtlich auf die Stirn und drängte sie, hineinzugehen. „Mache, daß es bald ruhig wird,“ bat er.

Lucie saß schon über eine Viertelstunde in einem der tiefen Lehnsessel des Salons und schaute unverwandt durch die geöffnete Thüre des Schlafzimmers auf das Lager der jungen Frau. Sie waren Alle, dem Befehle des Arztes gemäß, hinausgegangen. Auf einem Tischchen stand Wein und ein Imbiß bereit. Man hatte eins der Fenster wieder geschlossen, und nun schien es, als schlummere dort süß und friedlich ein müdes Menschenkind, treu bewacht von einem anderen, und die Dämmerung des Frühlingsabends füllte die Räume, und im Garten schlugen die Nachtigallen.

Hortense rührte sich nicht; Lucie aber sah, daß sie mit großen offenen Augen dalag; noch mochte ihr das Geschehene nicht klar sein. Endlich setzte sie sich auf dem Lager auf und sah sich um, die Hände an den Schläfen; dann begann sie nach etwas zu suchen.

„Hortense,“ rief das junge Mädchen, „darf ich eintreten? Du schliefst so schön, ich wollte Dich nicht wecken; ich warte schon eine ganze Weile hier, um Dir nochmals zu danken für Deine gestrige Freundlichkeit.“

Sie war während dieser Worte zu dem Bette getreten und griff nach der Hand der Kranken.

Aus dem weißen Antlitz der jungen Frau starrten durch die Dämmerung zwei große erschrockene Augen zu dem schlanken Mädchen empor, als sei es ein Gespenst; aber Hortense antwortete nicht.

„Laß Dich nicht stören, Hortense, und nimm es mir nicht übel, wenn ich Dich so im Schlafe überfallen habe; ich wurde hierhergewiesen. Bist Du mir böse? Du kennst mich doch – Lucie Walter?“ Sie setzte sich auf den Bettrand und legte den Arm um die Schulter der Kranken. „Meine gute, liebe Hortense,“ sprach sie innig.

„Du!“ sagte die junge Frau und stieß den Arm zurück. „Wozu verstellst Du Dich denn und wozu lügst Du? Wozu kommst Du heute hierher?“

„Es war so gut, daß ich kam, Hortense!“

„Sehr gut – wie man es nimmt. Aber, ich bitte, bemühe Dich nicht weiter um mich; höchstens sage mir doch, wie spät war es, als man Dich herein wies?“

„Es war gegen halb sechs Uhr.“

„Und jetzt?“

„Ist es halb acht.“

„Wer hat Dich angemeldet? Wer war zuerst an meinem Bette?“

„Niemand! Ich fand Dich so,“ erwiderte das Mädchen, jedes Wort betonend.

„Du?“

„Ja, ich, Hortense.“

„Und die Andern?“

„Sie denken, wir plaudern zusammen.“

Hortense schwieg. „Geh,“ sagte sie dann, „vergiß das! Bedanken kann ich mich nicht; es ist zu bitter, was Du mir gethan.“

„Nein, ich gehe nicht,“ versetzte das junge Mädchen, obgleich Hortense sich herum warf, das Gesicht in die Kissen barg und die schmalen Hände in das Haar krallte. Sie blieb ruhig sitzen und begann leise zu sprechen: „Es ist doch merkwürdig, daß wir uns gestern trafen, nicht, Hortense? Mir ist dadurch die Kinderzeit wieder so lebendig geworden. Erinnerst Du Dich noch an Pet, an Papa’s kleinen Affenpinscher? Wie treu das kleine Thier war und wie drollig es aussah in der Ziegenbockequipage! Ich könnte das Fleckchen malen, wo wir ihn begraben haben unter vielen Thränen. Weißt Du noch, wie wir einmal umwarfen und Du Dir ein Loch in die Stirn fielst, das mein Vater nähen mußte? Du klammertest Dich so fest an meine Mutter, und ich weinte erbärmlich mit. Ach, meine liebe, unvergeßliche Mutter – gelt, sie war seelensgut, Hortense? Manchmal, wenn ich Abends im Bette liege, ist es mir vor dem Einschlafen, als streiche ihre Hand über mein Gesicht, und dann muß ich weinen. Geht es Dir nicht auch so?“

Hortense wandte sich um. „Nein!“ sagte sie, die Hand zur Faust geballt; „ich werde zornig, wenn ich an Mama denke, denn man hat sie zu Tode gequält, ins Grab gekränkt und mich um das einzige Wesen betrogen, das mich wirklich liebte!“

„Hortense, so spricht doch keine Braut!“ sagte das Mädchen vorwurfsvoll.

„Braut?“ lachte sie höhnisch. „Braut?“

Lucie schwieg erschreckt.

[39] „Gieb mir ein Glas Wein,“ bat die junge Frau. Lucie brachte es ihr; sie trank es mit einem Zuge leer. „Kennst Du noch die alte Baronin Luboska?“ fragte sie dann.

„Die schreckliche Person, der alle Kinder nachliefen, weil sie gewöhnlich betrunken war?“

„Ja! Sie hatte es sich angewöhnt, das Trinken, als ihr Mann sie verließ. Ist es nicht besser – todt, als so zu verkommen? Ich kann die Frau seit gestern nicht aus den Gedanken los werden. Gieb mir noch ein halbes Glas, Lucie.“

„Nein!“

„Wie Du besorgt bist! Aber einen andern Gefallen thue mir; hier lag ein Kouvert, lies mir den einen der beiden Briefe, die es enthält, noch einmal vor. Du wirst es an Dich genommen haben.“

„Ja, hier ist es,“ sagte Lucie und nahm es aus ihrer Wäsche. „Ich dachte, es wäre ein Abschied von Deinem Großvater.“

„Natürlich! Aber ein Schreiben an mich liegt noch darin, er sollte es aufbewahren – für meinen Vater, da lies, es ist das weiße starke Papier.“

„Morgen, Hortense, es erregt Dich vielleicht aufs Neue.“

„Lies!“ klang es bestimmt.

Und Lucie las:

 „Theuerste Hortense!

Wie namenlos schwer es mir wird, Dir diese Zeilen zu schreiben, vermag ich nicht auszudrücken. Du weißt, wie ich Dich liebe, und wirst daher den Schmerz begreifen, der mich erfaßt, und glauben, daß mich nur die eisernste Nothwendigkeit zwingt, Dir Dein Wort zurückzugeben. Wir müssen uns trennen, Hortense. Warum? – Dein Vater! Ich wage es nicht, der Tochter die bitteren Beschuldigungen zu schreiben, die ihn treffen; auch glaube ich fast – Du bist nicht unvorbereitet. Meine Stellung – Du wirst begreifen –“

„Hör’ auf!“ unterbrach Hortense die Lesende.

„Meine arme, liebe Hortense!“ schluchzte das Mädchen, am Bette niederkniend.

„Früher konnte ich auch weinen,“ murmelte die junge Frau. „Steh’ doch auf! – Ach, ich hatte das Ganze so satt – hättest Du mich doch schlafen lassen! Alle, die ich lieb gehabt, haben mich betrogen, mir mit Haß und Undank gelohnt; Mißtrauen und Verachtung haben sie mich gelehrt.“

Lucie schluchzte leise fort. Sie dachte an das wilde sonnige Kind, das so zärtlich am Halse des Vaters gehangen, das so schwärmerisch von ihrem wunderschönen Papa gesprochen. Und sie sah vor sich eine blasse, verzweifelnde Frau, die ans Sterben dachte – dieses Vaters wegen!

„Ich bin sehr müde,“ klagte Hortense.

„Schlafe, ruhe aus,“ bat das Mädchen und legte die Kissen zurecht.

„Gieb mir Deine Hand, Lucie, bleib’ bei mir, bis ich eingeschlafen bin. Komm wieder morgen; Deine Stimme beruhigt mich. Nein, nein, Du sollst nicht hier wachen; Minna kann dort drinnen auf dem Sofa sitzen.“ Sie hielt die kleine Mädchenhand fest in der ihrigen. „Weine doch nicht,“ sprach sie noch einmal. „Kannst Du mich jetzt verstehen?“ Und nach einer Pause, als Lucie glaubte, sie schlafe längst: „Es hat mir so wohlgethan, mit Dir zu sprechen, Lucie. Weißt Du noch, Lucie, in Eurem Garten sangen die Nachtigallen eben so schön.“

Sie sprach noch weiter, leise, unverständlich, und endlich schlief sie.

Auf den Zehen schlich das Mädchen hinaus, die Dienerin saß in einem Lehnstuhl vor der Salonthür. Lucie schickte sie hinein mit den nöthigen Anweisungen und ging.




Die Herrschaft sei im Garten, sagte das kleine magere Dienstmädchen der Frau Steuerräthin. Lucie tastete die finstere Treppe wieder hinunter und kam durch das Gärtchen in die Laube.

„Bist Du es?“ fragte der Bräutigam und trat ihr entgegen. „Hast Du Mutter und Tante nicht getroffen? Sie sind ausgegangen, um Besorgungen zu machen! Vor allen Dingen aber, wie geht es nebenan?“

Sie lehnte statt aller Antwort den Kopf an seine Schulter und weinte.

„Was ist’s denn? Hast Du mit ihr gesprochen?“

Sie nickte. „Ihr Bräutigam hat ihr abgeschrieben,“ flüsterte sie, „ihres Vaters wegen.“

„Armes Weib!“ sagte er mitleidig. „Hast Du ihr zugeredet, sie ausgescholten wegen des kopflosen Streiches, Du kleine praktische Samariterin?“

„Ja, Alfred; – nicht wahr, ich hatte Dir überhaupt Alles recht gemacht?“

„Und ob!“ gab er lächelnd zu, „ich wußte es ja gleich, als ich Dich zum ersten Male sah, daß Du eine prachtvolle Doktorfrau sein wirst.“

Sie schmiegte sich noch inniger an ihn. „Wo war das? Sprich!“ forschte sie. „War es nicht an Mathildens Krankenbette?“

„Nein, bewahre! Wie Du der Rike die schlimme Hand verbunden hast.“

„Ach ja,“ sagte sie, „und das hat Dir so imponirt?“

„Freilich! Und fast noch mehr der delikate Rehbraten, den Du in Stellvertretung der Patientin gemacht hattest.“

„Ach pfui, wie materiell, Alfred!“

„Aber erlaube gütigst,“ neckte er, „wenn eine gelungene wirthschaftliche Leistung dem Manne nicht imponiren soll – da möchte ich wissen, was sonst!“ Er klopfte ihr die Wange und küßte sie. „Was mir so imponirt, ist Dein goldenes Gemüth, Deine waldfrische Natürlichkeit“ – dachte er. Aber es kam nicht über seine Lippen: er gehörte zu Denen, die Alles, was sie für geliebte Menschen im Herzen tragen, in sich verschließen, es nicht auszusprechen vermögen und darum für kalt gehalten werden – für gefühllos. Nur durch ein langes, langes Beisammensein ein förmliches Studiren, lernt man sie verstehen und doppelt schätzen.

Stumm saß sie neben ihm. Sie dachte so hoch, so groß, so ideal von der Liebe; sie fand es so begreiflich, daß man sterben müsse, wenn man den Gegenstand seiner Liebe verlieren sollte. Ob er mich so liebte? fragte ihr junges Herz. Und sie sah träumerisch in den bläulichen Mondenglanz hinaus.

Nach ein paar Minuten kam die Schwiegermutter den Weg entlang. Sie erwiederte leichthin den Gruß des Mädchens und blieb am Eingang der Laube stehen.

„Findest Du es nicht auch praktischer, Alfred,“ fragte sie mit ihrer schrillen Stimme, „wenn der Sattler das Sofa in unserem Hause umpolstert? Er stiehlt sonst die schönen Roßhaare, wenn wir es ihm hingeben, es steckt ganz voll davon, es stammt aus der Zeit meiner seligen Mutter, wo man die Leute noch nicht betrog mit Lumpen oder Seegras.“

„Gewiß, Mutter, gewiss!“ bestätigte er freundlich.

„Gute Nacht, Alfred! Komm, Lucie,“ sagte sie kurz, „man wird wieder nicht schlafen können vor Nachtigallensingen und Froschgequak. Hätte ich ’s nur geahnt, die Wohnung an dem verwünschten Garten hätte ich nicht genommen.“

Lucie blickte förmlich entsetzt in das Gesicht des Bräutigams; er lächelte.

„Ob die Frau jemals jung gewesen?“ dachte das Mädchen. Und sie stand lange, lange am offenen Fenster ihres Stübchens und sah hinaus in den Silberflimmer dieser Frühlingsnacht. Der Mondesstrahl, der die kleine Photographie der Schwester auf der Kommode beleuchtet hatte, lag schon schmal an der niedrigen weißgetünchten Decke, als sie ihr Lager aufsuchte.

Sie schlief noch kaum, da schrillte eine Glocke durch das Haus. Mit klopfendem Herzen fuhr sie empor und horchte. Nach einem Weilchen hörte sie Alfred’s Schritte auf der Treppe und wie er die Hausthür aufschloß. Nun sprach eine fremde Stimme; sie hörte, wie er erwiederte.

„Ich komme sofort!“

Wohin mochte er geholt worden sein? Sie schloß die Augen und vergegenwärtigte sich, wie er so ruhig an das Krankenbett trat, und hörte seine freundliche Stimme, mit der er fragte, tröstete, beruhigte. „Er ist so gut,“ flüsterte sie und faltete die Hände über der Brust. Und sie blieb wach, bis er nach Stunden zurückkehrte.




Es wurde frühzeitig Tag im Hause der Frau Steuerräthin. Die Familie saß um halb sieben Uhr bereits am Kaffeetisch; Tante Dettchen in rothbarchentener Nachtjacke und Steppunterrock und die Nachthaube auf den dünnen Zöpfchen. Das vermochte sie sich nun einmal nicht abzugewöhnen trotz aller beißender

[40]

Wintervergnügen.
Originalzeichnung von H. Schlittgen.

[41] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [42] Bemerkungen der Schwägerin. Man konnte ihr aber nicht böse sein; denn dieses primitive Négligé war von so leuchtender Sauberkeit, daß es bedeutend appetitlicher aussah, als das zum Morgenrock degradirte braune Kaschmirkleid der Frau Steuerräthin, dessen zerdrückte Falbeln und abgeschabte Sammetbesätze den Eindruck machten, als sei es aus der Lumpentruhe wieder hervorgeholt. Lucie, in zierlicher Morgenhaube und weißem Schürzchen, goß den Damen eben Kaffee in die Tassen, als ihr Bräutigam eintrat.

„Guten Morgen!“ rief die Mutter ihm entgegen. „Wo warst Du in dieser Nacht?“

Er küßte erst bedächtig Luciens Stirn, klopfte Dettchen auf die Schulter und nahm dann seinen Platz vor der Tasse ein, auf welcher in großer blauer Schrift prangte: „Dem Hausherrn“, eine Aufmerksamkeit Dettchens für den heimkehrenden Neffen.

„Bei Frau von Löwen,“ sagte er ruhig und langte nach einer Semmel.

„Ist sie kränker?“ fragte Lucie erschreckt.

„Sie bedarf der äußersten Schonung und Aufmerksamkeit. Es wäre mir lieb, Lucie, wenn Du Nachmittag hingingest; sie hat dringend nach Dir verlangt.“

„Gern!“ versicherte das junge Mädchen.

„Das geht nicht!“ erklärte die Mutter; „wir sind zum Kaffee bei der Postmeisterin gebeten; sie hat Lucie extra mit eingeladen.“

„Dann laß sie entschuldigen; ich versprach Frau von Löwen Luciens Besuch und möchte der Kranken mein Wort halten.“

„Was fehlt ihr denn? Sie hat sich doch sonst um keinen Menschen bekümmert?“ bemerkte die alte Dame ärgerlich.

„Sie ist nervös –“

„Das heißt, sie hat den Spleen!“ platzte die Mutter heraus.

„Den hat sie nicht! Du vermagst die Sache wohl nicht ganz zu beurtheilen, Mutter, weil Du sie nicht bis in alle Einzelheiten kennst. Kurz und gut, ich wünsche, daß Lucie – in Frau von Löwen’s Interesse als Kranke und in meinem Interesse als Arzt – hinüber geht und sie ein wenig aufzuheitern sucht.“ Er hatte während dieser Debatte Kaffee getrunken und nahm nun aufstehend seinen Hut vom Stuhl. „In der Voraussetzung natürlich, daß Lucie es gern thut,“ fügte er hinzu.

Sie nickte und folgte ihm auf den Flur. „Was war es mit ihr?“ flüsterte sie.

„Sie hatte einen Anfall von Verzweiflung; sie ist eine sehr nervöse Natur. Ich fand sie mit Beängstigungen und Athemnoth in ihrem Zimmer umherlaufend; das ganze Haus war in Alarm. Sie wollte immer zu Dir.“

„Ist das sehr schlimm?“ fragte das Mädchen mit angstvollen Augen.

„Nein, mein Kindchen; sie wird heute schon viel ruhiger sein. Sie muß vor allen Dingen auf andere Gedanken gebracht werden.“

Als Lucie wieder in die Wohnstube kam, sagte Frau Steuerräthin just zur Schwägerin:

„Man muß sich ja geniren zu erzählen, daß sie bei der Löwen ist! Alfred mit seinem neumodischen Toleriren aller solcher Spektakelangelegenheiten hätte auch besser gethan, in dem großen H. zu bleiben, wo Sodom und Gomorrha zum guten Tone gehören.“

„Aber, Schwägerin!“ vertheidigte Dettchen. „Was thut er denn? Du kannst der jungen Frau nichts nachsagen.“

Frau Steuerräthin schien wirklich „nichts“ zu wissen; sie begnügte sich mit einem langgezogenen „Na! na!“ Und sich zu Lucie wendend, sagte sie:

„Gestern Morgen hast Du vergessen, die Glasglocke über dem Federbouquett abzustäuben. Als Nachmittags die Postmeisterin kam, ist sie mit dem Finger darüber gefahren und hat sie dann an das Licht gehalten. Ich habe gethan, als sähe ich es nicht, aber –“

„Ach verzeihe,“ bat das Mädchen und begann das Staubwischen sofort bei der fraglichen Glocke.

Gegen vier Uhr ging sie zu Hortense. Vor ihr wanderte in gemessenem Schritt die Schwiegermutter im braunseidenen Kleide, den Haubenkorb und Pompadour am Arm. Sie war absichtlich etwas früher fortgegangen als Lucie, obgleich sie eine kurze Strecke den Weg gemeinschaftlich hatten; sie wollte es nicht mit ansehen, daß die Braut ihres Sohnes in das Meerfeldt’sche Haus hineingehe. Nun war sie durch eine Bekannte aufgehalten und mußte es erleben, daß ein leichter Schritt sie einholte. Ohne den Kopf zu wenden, duldete sie des Mädchens Begleitung; nur die Augen gingen in den linken Winkel und streiften das blühende Gesicht.

„Sie werden es Euch schon danken,“ sagte die alte Dame, „daß Ihr ‚ihretwegen‘ anständige Menschen vor den Kopf stoßt. Alfred wird schon sehen, daß ich Recht hatte – aber dann ist’s gewöhnlich zu spät.“

Sie nickte Lucien noch einmal zu, als sie in der Nähe der Pforte waren, und schritt erhobenen Hauptes weiter.

(Fortsetzung folgt.)




Der russische Muschik.

Mit Originalzeichnungen von G. Broling.

Vor dem „Obros“.

Alle Großstädte besitzen mehr oder minder ihre eigenartigen Volkstypen, die ein Spiegelbild des betreffenden nationalen und gesellschaftlichen Lebens sind. In den Städten Mitteleuropas haben indeß die Alles nivellirenden, unaufhörlich fortschreitenden Kulturbestrebungen schon viel Althergebrachtes und Eigenthümliches verwischt und dem öffentlichen Leben ein gleichförmiges Kleid angezogen, das man füglich die Ordonanzuniform unserer nüchternen Zeitrichtung nennen könnte. Nur im äußersten Süden, im Osten und Nordosten Europas hält man noch zähe an den nationalen Ueberlieferungen fest, aus denen sich naturgemäß verschiedene eigenthümliche Typen herausgebildet haben, die ausschließlich nur den betreffenden Ländern und Städten angehören. Wer könnte sich Neapel ohne Lazzaroni, den Osten ohne seine vielerlei charakteristischen, farbenprächtigen Gestalten, Petersburg und Moskau ohne Muschik denken?

Muschik, das fremde Wort, läßt sich schwer übersetzen. Es bedeutet nicht schlechthin Bauer, wie Viele meinen mögen, welche von Land und Leuten in Rußland eine oberflächliche Kenntniß nahmen. Bauer ist im Russischen „Kristjanin“, und so bezeichnet er sich auch selbst. Muschik hingegen ist Mann, der gemeine Mann. Auch der Ehemann wird so von den Frauen des niederen Standes bezeichnet: „Moi Musch“, mein Mann. „Mi Muschiki“ (wir Leute) hören wir auch den russischen Arbeiter sagen, wenn er von sich und seines Gleichen spricht. Sodann hat Muschik auch den Sinn von „Bauernkerl“, in so fern man nämlich einen Tölpel bezeichnen will.

Treffender hätte unser Künstler diesen Begriff der russischen Sprache, diese Figur der russischen Welt nicht illustriren können. Den Typus des Kristjanin, des russischen Bauern, dürfen wir uns ästhetischer und um vieles netter, sauberer vorstellen. Sauber und malerisch selbst dann, wenn wir auch keinen bäuerlichen Stutzer und Dorfprinzen im faltigen Manchesterbeinkleid und dunklen ärmellosen Kaftan, unter welchem das über dem Beinkleid getragene, grellfarbige Hemd von Zitz oder Seide gar elegant hervorlugt, im Auge haben. Der Stift des Künstlers zeigt uns [43] aber einen Mann des Volks, der, die ländliche Beschäftigung hinter sich lassend, in den Städten als Arbeiter thätig ist.

Beim Sonnenaufgang.

Mittagsschläfchen.

Mehr noch in Moskau als in St. Petersburg ist der Muschik eine oft wiederkehrende Figur in dem Straßenleben. Oefter als heut zu Tage begegneten wir ihm zur Zeit der Leibeigenschaft, wo die Adeligen Leibeigene in großer Zahl zu Dienstleistungen nach der Stadt brachten und außerdem dieselben für alle möglichen Arbeiten vermietheten. Nahmen nun auch die Herren eine bestimmte Abgabe (Obrok) von dem Verdienst des Arbeiters, so blieb immerhin der leibeigene Bauer in gesicherter Lage, da es im Vortheil seines Herrn lag, das nutzbringende Objekt, den Leibeigenen, ertragsfähig zu erhalten. Heute ist der Muschik freier Arbeiter und sein eigener Herr, und zwar in vielen Fällen nicht zu seinem Vortheil und Gewinn. Seine Leichtlebigkeit, seine Bedürfnißlosigkeit und ganz besonders sein Hang zum Branntwein verschulden es, wenn er nur ausnahmsweise seine Existenz dauernd verbessert, „es zu etwas bringt.“ Der Muschik ist trotzdem kein landloser Bauer, da seit der Aufhebung der Leibeigenschaft allen Bauern in Rußland Land zugewiesen wurde. Sein Antheil am Grund und Boden bleibt ihm darum gesichert, und so verläßt er in den meisten Fällen zur Zeit der Ernte die Städte und hilft seiner auf dem Lande zurückgebliebenen Familie, die Feldfrucht und das Heu einheimsen. In diesem Falle bringt er wohl den Seinen das in der Stadt Erworbene heim oder verwendet es zur Verbesserung seines Besitzes im Dorfe. Die Bauern jedoch, welche sich von der heimischen Scholle lossagten und ihren ständigen Aufenthalt in der Stadt haben, obschon sie gesetzlich noch stets als im Dorfe ansässig und dahin gehörig betrachtet werden, haben sich am allerhäufigsten von den schädlichen Einflüssen der Stadt nicht fern halten können, und es ist eben besonders der Genuß des Branntweins, der hier so verderblich wirkt. Wir sehen darum auch, daß der Künstler dem Muschik als sein Wahrzeichen, die, wenn auch in künstlerischer Freiheit etwas zu groß gerathene Flasche in den Arm gegeben. In der ersten Skizze finden wir ihn bei der Morgenandacht vor dem Obros (Heiligenbild) knieend, vor dem er sich übrigens nur unzählige Male verbeugen und bekreuzigen wird; denn eigentliches Gebet gehört kaum zu den religiösen Uebungen, die er mit großer Gewissenhaftigkeit beobachtet. Die große Schnapsflasche im zweiten Bild, mit welcher er beim Sonnenaufgang im Piteinin Dom, dem Branntweinladen, erscheint, will er sich keineswegs, wie man glauben möchte, füllen lassen; er kann sie höchstens gegen eine neue umtauschen; denn die alkoholischen Getränke dürfen in Rußland durchaus nicht wie in Deutschland und anderwärts nach dem Maß verkauft und verschenkt werden, sondern nur in versiegelten Gefäßen, die vom kleinsten bis zu den größten mit den russischen Steuerzetteln „verklebt“ sind. Der Branntwein bildet in Rußland ein Regal und die Haupteinnahmequelle des Staates, deren Erträgniß etwa 200 Millionen Rubel jährlich beträgt.

Mittagsmahl.

Beim Pfeifchen „Machorka“.

Wir finden den Muschik sodann bei der Arbeit; er leistet alle möglichen Dienste. Namentlich als Zimmermann zeigt er sich findig und anstellig. Seine Mahlzeit ist äußerst frugal, bescheiden und fast stets die gleiche: Kohlsuppe (Schtschi), Grütze von Buchweizen (Kascha) und grobes, schwarzes Roggenbrot; als Erfrischungsgetränk liebt er ungemein den nationalen Kwas, aus gesäuertem und gegohrenem Brotteig bereitet. Häufig sieht man ihn sein Mittagsbrot auf der Straße verzehren, das dann wohl bei den Pflasterern etwa auch nur aus Schwarzbrot und Wasser besteht. Sehr gebräuchlich aber ist es, daß die sogenannten „schwarzen“ Arbeiter sich zu einem Artel, zu einer Genossenschaft von Zwölfen und mehr vereinigen, um gemeinsame Menage in einem gemeinsamen Quartier zu machen. Volksküchen, welche als wohlthätige Anstalten in den Hauptstädten Rußlands unterhalten werden, besuchen in der Regel nur die Vagabunden und Bettler.

Ohne Rücksicht auf irgend welche Bequemlichkeit finden wir in den russischen Städten regelmäßig in der Mittagspause den Arbeiter im Freien, etwa auf dem Pflaster, falls dieses gerade sein Tagewerk ausmacht, zu einem Schläfchen ausgestreckt. Daß er sich bei der Arbeit des Wassertragens den Luxus eines Pfeifchens gestattet, beobachtet man seltener, obschon er den narkotischen Genuß des Tabaks keineswegs verschmäht. Indessen sind hierbei seine Ansprüche ungemein bescheiden. Er stopft sich in geschickter Weise in ein wenig Zeitungspapier, das er zu einer Cigarrette oder kleinen Pfeife zu drehen weiß, eine dem europäischen Westen [44] unbekannte, für denselben unmögliche billige Tabakssorte, die „Machorka“, welche auf den Feldern des südlicheren Rußlands gedeiht. Oder aber er schmaucht vergnüglich die letzten Züge aus dem Endchen eines „Papiros“, welches von dem eleganten Flaneur bei Seite geworfen wurde und von ihm sorgsam aufgehoben und aufbewahrt wird. Seltener schon raucht er aus einem kleinen messingenen Pfeifenkopf, wie unsere Skizze es zeigt. Der vielverbreitete, in Rußland unentbehrliche Samowar, die Theemaschine, gehört auch für Individuen, wie sie des Künstlers Griffel wiedergiebt, nicht gerade zum seltenen Luxus; der Theegenuß wird in Rußland ein immer allgemeinerer, und unser Muschik, der sich mit seinen Genossen behaglich um den Samowar reiht, wird gar gern nicht nur ein halbes, sondern ein ganzes Dutzend Gläser oder Schalen des dampfenden „Tschai“ schlürfen.

Beim Samowar.

Kamarinskaja.

Ganz regelmäßig pflegt der gemeine Russe die Woche mit einem Dampfbade zu beschließen, und so sehen wir unsern Muschik auf einer der Skizzen aus dem Bad kommend noch mit einem Bündel von Birkenruthen bewaffnet, mit denen er sich den mit Seifenschaum bedeckten Körper zu peitschen und zu frottiren pflegt. Eine Sitte, welche den niederen Ständen in Deutschland trotz ihrer hygienischen Vorzüge leider ganz unbekannt ist.

Ein anderes Bild führt uns die Stellung und Bewegungen des Muschik beim Kasak und Tropak vor, jenen originellen Nationaltänzen, die sich in dem Tanze Kamarinskaja vereinigen und für den gemeinen Russen den Inbegriff aller Lust bilden.

Das letzte Bild zeigt uns ein durchaus realistisch wiedergegebenes Interieur einer Bauernstube oder Schenke, wo ein Muschik in schwerem Schlafe auf einem Ofenungethüm ausgestreckt liegt.

Nach dem Bade.

Eine warme Schlafstätte.

Wenn uns auch der Künstler getreue und äußerst charakteristische Typen, die den russischen Städten eine ganz eigenartige Physiognomie geben, in seinen Bildern vorführt, so würde man sich doch irren, wenn man aus ihnen auf die Allgemeinheit schließen wollte. Es ist im Gegentheil darauf hinzuweisen, daß das russische Volksleben anziehenderer und ästhetischerer Motive nicht entbehrt, und daß wir vielmehr nur eine jener wenig sympathischen, aber doch häufigen Gestalten aus der niedersten und armseligsten Volksschicht vor uns sehen. Ein Stück socialen Elends, welches für Rußland so gefahrdrohend wird, ist in dem Leben des Muschik enthalten, welcher nur die harte Arbeit und die groben Genüsse des Lebens kennt. Sein Dasein ist ein Vegetiren, welches eben nur durch die Aufregungen des Branntweingenusses erträglich wird. Lehrt nun die Statistik, daß die westeuropäischen Länder zum Theil mehr Branntwein konsumiren als Rußland, so ist doch der Genuß desselben im Westen und Osten ein grundverschiedener. Der deutsche Arbeiter z. B. wird täglich ein bestimmtes kleineres Quantum Branntwein zu sich nehmen; der russische wird vielleicht eine Woche, ja nach Umständen einen Monat nüchtern bleiben, um sodann sich im Uebermaß, tagelang bis zur Sinnlosigkeit zu betrinken, und eben hierin liegt das unbedingt Schädlichere. In dieser Hinsicht nähern sich die russischen Verhältnisse gewissermaßen den seltenen Ausnahmen in den westeuropäischen Staaten. Auch in Holland giebt es einige wenige Distrikte, wo die Erdarbeiter zur Zeit der Kanal- und Dammbauten den Branntwein als Lohn verlangen und in ungeheuren Mengen trinken. Die russische Regierung arbeitet dem Uebel trotz der großen Einnahme, die sie aus dem Branntwein bezieht, mit aller Kraft entgegen, die Schädigung der Nationalwohlfahrt durch dasselbe sehr wohl erkennend. Sie hat noch kürzlich die Schenken um 80 000 im Reiche vermindert. Ebenso giebt es Gutsbesitzer, welche auf 10 Werst im Umkreise die Schenkgerechtigkeit erwerben, eine Branntweinschenke nicht gestatten und durch diese Maßregel die Pflege der Landwirthschaft und die Wohlhabenheit des Bauern ersichtlich heben. Und so darf von der Zukunft die Eindämmung der Branntweinpest in Rußland, die dem gewaltigen Reiche unberechenbare Nachtheile bringt, wohl erwartet werden.



[45]

Moltke in der Reichstagssitzung vom 4. December 1886.

Mit Illustration von Ewald Thiel.


Es erregt jeder Zeit Aufsehen, wenn der große „Schweiger“ in der deutschen Volksvertretung das Wort ergreift. Moltke spricht ja nur bei allerwichtigsten Anlässen, und ein solcher lag auch in der Sitzung vom 4. December 1886 vor, in welcher es sich um Erhöhung der deutschen Wehrkraft handelte. Der tiefe Eindruck, den die Worte des greisen Feldherrn überall hervorriefen, wird noch lange nachwirken, und wir hielten es darum für angemessen, jenen denkwürdigen Augenblick durch den Zeichenstift eines unserer Künstler festhalten zu lassen und ihn unsern Lesern vorzuführen. Wir sehen Moltke, trotz seines hohen Alters in aufrechter Haltung, an den Tisch des Hauses gelehnt; seine Züge beleben sich, während er spricht, und jugendliches Feuer sprüht aus seinen Augen. Hinter ihm, mitten auf der Treppe, steht der Kriegs-Minister Bronsart von Schellendorf; dicht über diesem erblicken wir von Caprivi, den Chef der Admiralität, und neben dem Letzteren, zur linken Seite, ist an dem Regierungstische auch Minister von Puttkamer deutlich zu erkennen. Die Abgeordneten verließen schon beim Beginn der Rede ihre Sitze und umgaben den Redner in einem dichten Kreise, um kein Wort aus seinem Munde zu verlieren. Trefflich ist auf der linken Seite des Bildes Windthorst wiedergegeben. Der Führer des Centrums legt sogar die Hand ans Ohr, um jeden Ton der Worte aufzufassen. Hinter ihm steht eine dichte Schar der Reichsboten, in vorderster Reihe: Beseler, Schorlemer-Alst, Lieber. Auf der rechten Seite stehen neben einander die beiden Führer der Deutsch-Freisinnigen: Hänel und Richter. Man erkennt leicht die Gesichtszüge beider Parlamentarier, deren Wiedergabe unserem Zeichner gut gelungen ist.

Der Schwerpunkt von Moltke’s Aeußerungen lag in den Worten, welche wir am Fuße der Zeichnung abdrucken. Die friedliche Richtung der deutschen Politik ist in ihnen deutlich betont, und darum fanden sie so allgemeinen Anklang. Wie die Abgeordneten und Zuhörer auf den Tribünen athemlos der Rede des Feldmarschalls lauschten, so las sie am folgenden Tage ganz Deutschland mit der größten Spannung, und ein Gefühl durchdrang ohne Zweifel alle Herzen: mag auch der politische Himmel noch so gewitterschwül scheinen, das Heer, welchem solche Heldenführer beschieden sind, braucht den Krieg nicht zu fürchten und wird den Frieden Europas zu schirmen wissen.

„Die ganze Welt weiß, daß wir keine Eroberungen beabsichtigen; mag sie aber auch wissen, das wir das, was wir haben, erhalten wollen, daß wir dazu entschlossen und gewappnet sind.“




Speranza.

Novelle von A. Schneegans.
(Fortsetzung.)


Der Frühling war gekommen, und mit ihm die linden, von Rosen- und Veilchenduft geschwängerten Lüfte und der hohe, blaue Himmel mit der frohen, lachenden Sonne des Südens.

Durch das Dämmern der alten Normannenwölbungen zieht leise flüsternd der Abendwind, und in dem summenden Säuseln tönt es wie fernes Singen von Engelsstimmen; zu dem Madonnenbild schaut fragend und nach Antwort flehend die Jungfrau empor, und es ist, als lege sich ein himmlisches Lächeln um der Madonna sanft sich eröffnende Lippen und als leuchte der Heiligenschein auf in einem goldigen Glänzen, und in Speranza’s Herzen singt es leise dem Singen des Abendwindes unter den Wölbungen nach: „Verzage nicht, Kind! Auch Dir bringt der Frühling neues Leben und neue Liebe!“

Sogar auf Schwester Josefa übte der junge Frühling seinen Alles bezwingenden Zauber aus; vor Speranza’s stiller Ergebung schien ihr harter Sinn zu milderem Wesen zusammen zu schmelzen. Des Klosters Pforten öffneten sich wieder vor der Dulderin; bis zu dem Platanenhain durfte sie wieder wandeln, und ruhen [46] durfte sie auf den Felsen des die Mauern umspülenden Waldbachs und sinnend Blumen und Blätter hinstreuen in das murmelnde Wellenspiel.

„Wo ziehet ihr hin, duftende Blumen, im rastlos dahineilenden Tanze der Wellen? Ach! Fändet ihr ihn, meinen einzig Geliebten: den Weg bis zu mir zeigtet ihr ihm dann, und zum neuen Leben flögen wir auf!“

Keine Mauer trennte den Garten von den offenen Bergesgefilden, und noch so oft konnte Schwester Josefa dem kleinen Hirten zurufen, auf die höheren Gelände möge er doch seine Ziegen führen, fettere Weide fänden die Thiere dort oben – „dort oben,“ antwortete Nino, „hausen im Winter die Wölfe, und brennt im Frühling die sengende Sonne!“ und zum Thale trieb er die Herde, von einem Ufer des Baches zum andern plauderte er mit Speranza, und selig glänzten seine Augen, wenn er Abends in des Vaters Hütte zurückkehrte.

„Speranza,“ sagte er ihr eines Morgens, „in zwei Tagen ist das Fest der Madonna, darf ich Dir helfen, die Kirche und den Altar mit Blumen zu schmücken? Morgen hole ich die weißen Heidekrautblumen von dem höchsten Berge herunter, wo sie blühen in Pracht und Fülle, daß man glauben möchte, der Winterschnee bedecke wieder die Gipfel!“

„Nino,“ antwortete sie lächelnd, „warum willst Du auf die Berge? Im Winter, sagtest Du ja zu Schwester Josefa, hausen die Wölfe dort oben, und im Frühling brennt dort die sengende Sonne!“

Aber schon kletterte er von Fels zu Fels in die schwindelnde Höhe, und als er zurückkehrte, schüttete er ihr einen Arm voll weißer Heidekrautblumen in den Schoß.

„Speranza! Für Dich wage ich Alles, und gebötest Du mir, in den Höllenschlund des Fegefeuers hinunter zu steigen für Dich, auch das Fegefeuer fürchtete ich nicht!“

Sie sah ihm ins Auge bei diesen Worten, und ein tiefer Ernst legte sich über ihr Antlitz, als sie mit leiser, zögernder Stimme zu ihm sagte:

„Und würdest Du, wenn ich es geböte, eine Botschaft für mich in der Stadt am Meere besorgen?“

Da leuchtete es düster in des Knaben Auge:

„An wen hast Du eine Botschaft zu besorgen, Speranza? Ist’s für … den Spanier?“

Wie ein scharfer Dolchstich traf das Wort ihr Herz. Eine dunkle Röthe überzog das Antlitz. Langsam erhob sie sich, hoch richtete sich ihre Gestalt auf vor dem Hirtenknaben, daß es war, als stände vor ihm nicht Schwester Speranza, die Novizin des San Benedetto, sondern im Glanze eines Thronsaales die Tochter eines Königs.

„Was soll das Wort? Was meinst Du mit dem Spanier? Sprich! Ich befehle es!“

Nino schaute finster zu ihr auf, seine Hand zitterte.

„Schwester Josefa sagte mir damals, als ich den Wolf tödtete, den spanischen Ritter zu spielen, dazu sei ich zu jung; – den Sinn der Worte konnte ich nicht verstehen, vergessen hab’ ich sie aber nicht! – und Du, Speranza, Du kannst es mir deuten. – Kennst Du einen Spanier?“

Sie schwieg.

„Bist Du der Spanier Feind?“ fragte sie endlich.

Er sprang auf.

„Ja!“ rief er, „wenn Du einen Spanier liebst!“

Und ein Thränenstrom entquoll seinen Augen.

„Kind!“ sagte weich Speranza und legte liebkosend ihre Hand auf die seinige, „was ist Dir? was sprichst Du? Wie kannst Du der Spanier Feind sein, da Du keinen Spanier kennst?“

Wild wollte er ihr seine Hand entreißen, aber mit sanfter Gewalt hielt sie ihn fest.

„Ja!“ rief er, „wohl kenne ich einen Spanier und wehe ihm, wenn er es ist! … Ja! ein Spanier war’s – an seiner Sprache erkannte ich ihn – der zu meinem Vater heraufritt – gestern, vorgestern – und ihn fragte, ob er das Kloster kenne – und wer hier wohne – und ob er nicht eine junge Schwester gesehen habe …?“

Speranza’s Hand zuckte zusammen; sie zog sie rasch zurück.

„Speranza!“ rief der Knabe, und es schien, als überfalle ihn eine blinde Raserei – „Deine Hand zittert! … Du kennst ihn! … Du liebst ihn!“

Er hatte einen Feldstein von der Erde aufgerissen, und drohend schwang er ihn in seiner krampfhaft geballten Faust:

„Wehe ihm!“ rief er, „wehe ihm! Du weißt, Speranza, den Wölfen zerschmettere ich den Schädel!“

Im selben Augenblick aber lag er auch wieder zu Speranza’s Füßen, und flehend, wie ein kleines Kind, umklammerte er ihre Hand.

„Speranza!“ sagte er mit leiser, von Schluchzen erstickter Stimme, und in seinen zitternden Fingern spielte das Kreuz, das sie ihm damals gegeben, „siehe! wie ein Kleinod, wie einen Talisman trage ich dies Kreuz auf meiner Brust, kein Mensch hat es gesehen, kein Mensch wird es jemals sehen! Zu ihm bete ich Abends und Morgens, und droben auf den Bergen, wenn ich allein stehe in der Sonne Glanz, da ziehe ich es hervor, und wie Deine Augen so funkeln die hellen Sterne, die darauf eingegraben sind! Speranza … Du gabst es mir! … und wenn Du mir es gabst – so liebst Du mich! … O Speranza, Speranza, betrüge mich nicht!“

Sie hatte ihre Ruhe wiedergewonnen.

„Nino,“ sagte sie, „mein Leben hast Du damals gerettet; das Kreuz begehrtest Du von mir – die Madonna sprach aus Deinem Munde – ich gab es Dir hin, als Pfand meines Dankes; glaubst Du aber, ich betrüge Dich, Nino, so gieb es mir zurück, und ein anderes, viel schöneres …“

In seiner geschlossenen Faust riß aber Nino das Kleinod zurück.

„Nein!“ rief er mit dumpfer Stimme, „nein! … nicht für ein Königreich!“

Die Klosterpforte knarrte hinter den Beiden.

„Des Geplauders endlich genug!“ rief Schwester Josefa; „Dein Dienst ruft!“

In tiefes Brüten versunken kehrte Nino in des Vaters Hütte zurück. Ein fremder Reiter verabschiedete sich gerade von Letterio. Der Alte schob einen schweren Beutel in seine Holztruhe. Nino hörte das Gold im Kasten klirren.

„Vater!“ rief er, „das ist Gold!“

Langsam wandte sich der Alte um, ein schelmisches Lächeln spielte auf seinem Munde, als er antwortete:

„Zum Feste unserer Kirche steuern jetzt sogar die fremden Ritter bei!“

„Der Spanier?“ unterbrach ihn Nino, in wildem Aufbrausen.

Verwundert schaute der Vater zu ihm hin.

„Freilich, ein Spanier!“ erwiderte er, „aber was hast Du, daß Du das Wort mit so sonderbarem Klange betonst? … Höre meinen Rath, Sohn, und verstehe meine Worte: unsere Herren sind die Spanier, und hassen dürfen wir Siciliens Unterdrücker – und der Tag wird kommen, wo auch ihnen, wie den Franzosen, wie allen unsern Feinden eine blutige Vesper erblühen wird; bis dahin aber, Kind, vergiß es nicht! bis dahin können wir von ihnen nehmen Alles, was ihre Hand uns reichen wird!“

Die Glocke des Klosters ertönte. Es war das Ave Maria. Andächtig falteten die Beiden die Hände und fielen in die Kniee. Wie hell und fröhlich summend klang aber diesmal die Glocke über das Thal! Ein Singen war es, leichtbeschwingt, wie ein Jubel von unendlichem Siegesjauchzen.

„Schwester Speranza freut sich wohl schon des bevorstehenden Festes!“ lächelte der Vater. als er sein Ave Maria ausgebetet hatte. „Arme Speranza!“ fügte er mit einem leichten Seufzer hinzu, „kein Klostergelübde bindet sie ja!“

An was mochte der Vater wohl dabei denken? So unverständlich und ohne Zusammenhang mit seiner vorigen Rede waren die letzten Worte über seine Lippen geflossen.

Ja, ein Jubel erfüllte Speranza’s Herz, und Gewalt mußte sie sich anthun, daß Schwester Josefa nichts ahne von all den Gedanken, die mit mächtig jauchzendem Flügelschlage ihre Seele zu allen Himmeln hinaufrissen! Er war’s, er kam, er hatte sie aufgefunden, ihre Fesseln zu lösen nahte er!

Bis tief in die Nacht hinein blieb Speranza, zu Füßen ihres Lagers, vor dem kleinen Krucifixe hinknieend. Das Fenster stand offen; hell leuchtete der Mond herein, und balsamische Waldesdüfte erfüllten das enge Gemach. Horch! von ferne sang es jetzt das Thal herauf, von späten Wanderern, Hirten oder Bauern, die aus der Stadt heraufzogen zu ihren Bergen. Es sang so hell, so scharf! – und Speranza horchte [47] auf. Nein! das war keine von den Volksweisen dieser Gegend; eine andere Weise war es, die zu ihr herauftönte – eine bekannte Melodie war es, die all ihre Kindesträume wieder erweckte: so sangen, in den mondbeleuchteten Nächten, die Jünglinge unter der Geliebten Balkon, in ihrer Vaterstadt, in Palermo! – und lauschend und bebend sprang Speranza an das Fenster. Näher und näher kam das Singen, an des alten Letterio’s Haus zog es vorüber, drei Männer waren es, wie die Hirten der Berge gekleidet, das Haupt mit der kalabresischen Mütze bedeckt. Langsam schritten sie ihres Weges, den trippelnden, schwerbeladenen Eseln nach. Siehe! jetzt hielt die Schar vor Letterio’s Thür. Ein schwerer Sack war von dem Rücken eines Esels zur Erde geglitten. Der Gesang verstummte.

„Eh! Letterio!“ rief Einer der Männer, „der Riemen ist zerrissen, komm heraus und hilf uns!“

Und während sie dort herumarbeiteten, hub das Singen wieder an – ja! und das waren palermitanische Laute! das war ein palermitanisches Lied! Eine Volksweise war es, welche sie kannte, ein altes Volkslied, mit seiner so ergreifenden, langgedehnten, halb klagenden, halb jauchzenden Melodie, und mit der seltsamen Wiederkehr des Anfangs- und des Schlußreimes; so alt, so bekannt – und doch schien es ihr, als seien es andere Worte, die der fahrende Sänger zwischen Anfang und Schlußreim hineingefügt hätte:

„Es blühet im Laube der rothe Oleander! Es lebt sich still im ruhigen Thal, die Mädchen tanzen im Mondenschein, und lustig schwirrt die Guitarre dazu. Marianina, Marianina, was sagst Du zu meinem Sang?[1]

Es blühet im Laub die Orangenblume! Der Ritter denkt an seine Schöne, an den Schwur der Liebe, die sie ihm geschworen. Ach! Ninetta, ach! Ninetta, was sagst Du zu diesem Schwur?

Es blühet im Grase das blaue Veilchen! Ich warte, ich warte auf meinen Ritter, einsam wart’ ich, in enger Zelle, und die Seine bin ich in Ewigkeit! Ach! mein Ritter, ach! mein Ritter, was sagst Du zu diesem Schwur?

Ja, blühe im Grase, mein blaues Veilchen! Und so tief sie Dich auch im Laube versteckt, ich finde, ich finde Dich wieder hervor, und mit mir ziehest Du morgen schon fort! O Blandina, o Blandina, was sagst Du zu diesem Schwur?“ …

Hinter ihrem Fenster sank Speranza in die Kniee, als sie ihren Namen im Liede hörte.

… „Es blühet die Rose tief unten im Thal! Wenn morgen die Dämmerung das Thal umhüllt, ertönet Hufschlag vor Deiner Thür. Den Brautkranz flicht dann in Dein Haar, und öffne die Thür, denn die Liebe klopft an. Ach, Ninetta, ach! Blandina! was sagst Du zu diesem Schwur?

Es blüht auf dem Berge das Heidekraut! Und hörst Du mein Singen und willst Du mir folgen, wenn morgen das Ave Maria erschallt, so gieb mir ein Zeichen von hohem Balkone, so wirf eine Blume in des Sängers Hand! Marianina! Marianina! was sagst Du zu diesem Schwur?“ …

Zu dem Kloster hatte sich der Sänger hingewandt, leise spielten die Saiten seiner Guitarre die Melodie weiter. Da lehnte eine weiße Hand über das Gesimse, und ein Strauß von blühendem Heidekraut fiel hernnter.

… „Es blühen Oleander und Rosen und Veilchen! Es blühet das weiße Heidekraut! Jede Blume aus Deiner Hand ist Blume der ewigen Liebe; jeder Schwur aus Deinem Mund ist ewiger Liebe Schwur. Blandina, Ninetta, Marianina, was sagst Du zu diesem Schwur? …

„Glückliche Reise!“ rief der alte Letterio den abziehenden Männern nach.

„Die Madonna behüte Dich!“ rief es fröhlich zurück, und eine Hand voll blinkender Silbermünzen fiel in des Alten Hut.

Und um die Ecke des Klostergemäuers tönte das leise verhallende Singen:

… „Es blühen alle Blumen auf Berg und Thal! Wenn morgen das silberne Glöckchen verklingt, erwarte den Ritter vor Deiner Thür! Wir reiten hinaus ins rosige Licht; wir reiten hinaus ins Morgenroth, in das Leben hinaus, in die ewige Liebe! Ach! Blandina, ach! Blandina! was sagst Du zu diesem Schwur?“ …

Vom hellen Mondlicht umleuchtet, das Antlitz in ihrem Kissen vergraben, die Hände über ihrem Haupte zu dem Bilde der Madonna hinaufgefaltet, lag Speranza auf den Knieen.

„Barmherzige Madonna! Du hast ihm den Weg gewiesen! Du weißt, daß ich ihn liebe. Du weißt aber auch, daß ich Deinem Willen unterthan bin! Darf ich ihm folgen, morgen, wenn er an meine Thür klopfen wird? Entbindest Du mich des Gehorsams, den ich meinem Vater schulde? In Deine Hände befehle ich meinen Willen, gieb mir ein Zeichen, morgen, o Madonna, und Deinem Zeichen werde ich gehorchen wie ein williges Kind!“




Die Sonne war noch nicht über Kalabriens Berge heraufgestiegen, als an Letterio’s Thür geklopft wurde.

„Oeffne, Letterio! ich bin’s, Schwester Josefa! Einen Auftrag mußt Du bei der Oberin besorgen. Setze Dich auf Deinen Esel, reite zum Kloster und sage der Frau Aebtissin, ich schicke Dich zu ihr, in zwei Tagen sei das Fest der Madonna, da werde eine Menge Volks heraufströmen. Wie soll ich dann die Schwester Speranza bewachen? Wäre es nicht besser, sie kehrte in das Kloster in der Stadt zurück, wo sie sich in sicherem Gewahrsam befände?“

Der Alte schwieg und sattelte langsam seinen Esel.

„Sie fangen ja jetzt schon an mit ihrem Singen und Lärmen,“ fuhr Schwester Josefa fort, „und wenn bis spät in die Nacht die Guitarren erklingen und die Tamburins zur Tarantella rasseln, was soll aus Schwester Speranza werden. deren junges Herz noch von der Welt und ihren Freuden umgarnt ist? … Ich hörte ja genau, wie sie gestern bei dem leidigen Singen, ihre Ruhe nicht zu finden vermochte, und wie sie weinte und laut zur Madonna betete!“

Sie hielt einen Augenblick inne.

„Und dann?“ hub sie wieder an, „weiß ich denn, was all dies Singen bedeutete und weiß ich, ob man ihr nicht nachstellt, und ob man ihr nicht ein Zeichen geben wollte, und ob nicht …“

Plötzlich trat Nino vor sie hin.

„Ein Zeichen?“ rief er; „von wem?“

Verwundert schaute Josefa den Knaben an; zu einem höhnenden Grinsen verzog sie ihren zahnlosen Mund.

„Ei, Du einfältiges Kind!“ rief sie ihm zurück, „was mischest Du Dich in Dinge, die Dich nichts angehen? Du siehst ja wahrlich aus, als wärst Du schon eifersüchtig! Da kämest Du an den Rechten. wenn Du es mit Jenem aufnehmen wolltest, um dessentwillen Schwester Speranza in diesem Kloster weilt!“

In Nino’s Augen leuchtete ein unheimlicher Blitz auf. Er stand im Begriff zu antworten, als sein Vater sich zu ihm wandte und kurz befehlend zu ihm sagte:

„Mache Dich aus den Weg, Nino! Ich sagte Dir es gestern schon; meinem Gevatter über den Bergen drüben führst Du die große, weiße Ziege zu; er hat sie mir abgekauft. Der Weg ist weit; vor Sonnenuntergang erreichst Du seine Hütte nicht, Du bleibst bei ihm über Nacht und kehrst morgen zurück. Spute Dich!“

„Ja, zum Feste bin ich aber wieder hier!“ rief ihm Nino im Tone einer wilden Herausforderung zurück.

Der Vater schwang sich auf einen Esel und trabte eilig der Stadt zu. Vor Speranza trat aber Schwester Josefa:

„Speranza,“ sagte sie, „zum Träumen ist heute keine Zeit! Rasch hole die Teppiche und die Altardecken hervor; auch die Fahnen und die alten kostbaren Vorhänge. Uebermorgen ist das Fest der Madonna, und heute noch muß Alles bereit stehen, denn heute Abend noch kehrst Du in die Stadt zurück! So lange das Fest dauert, kann ich Dich hier draußen nicht brauchen. Dort bist Du besser aufgehoben … es ziehen zu viel nächtliche Sänger in dem Thale herum!“

Aufs höchste befremdet starrte Speranza die Schwester an. In die Stadt sollte sie geführt werden? Heute Abend noch? O himmlische Jungfrau, um ein Zeichen hatte sie gestern zu Dir gefleht, – war dies das Zeichen ihres Willens?

„Schwester Josefa!“ antwortete sie – aber wie seltsam erzitterte ihre Stimme dabei! „Alles geschieht nach dem Willen der heiligen Jungfrau, vor ihrem Willen beuge ich mich, und ihrem Befehle werd’ ich gehorchen!“

Den Sinn dieser Worte verstand Schwester Josefa nicht:

„Thue, was ich befohlen. und spare Deine unnützen Reden!“

[48] Speranza war noch mit dem Aufstellen der goldenen Fahnen und mit dem Anheften der Bänder und Teppiche beschäftigt, als Letterio zu Schwester Josefa hintrat:

„Die Oberin läßt Dir sagen, Schwester Speranza sei besser hier draußen aufgehoben, als in der Stadt; Du mögest ihr nur verbieten, während des Festes ihre Zelle zu verlassen. Mit eigener Hand sollst Du den Riegel vor ihre Thür schieben, wie Du es bisher gethan. Heute aber noch erwartet Dich die Frau Aebtissin in der Stadt. Du mögest, so hat sie mir befohlen Dir’s zu überbringen, Dich nach dem Ave Maria auf den Weg machen, um nicht in zu später Nacht hierher zurückzukehren.“

Den Händen Speranza’s entfielen die schweren Teppiche. Es war ihr, als flösse all ihr Blut wie in einer heißen Welle nach ihrem Herzen zusammen. Das Zeichen! ja, das war das Zeichen der heiligen Jungfrau!

Schwere Wolken zogen am Himmel auf, als Josefa das Kloster verließ und langsamen Schrittes den Weg zur Stadt einschlug. Ein Gewitter war im Anzug. Der Wind sauste in unheimlichen Stößen aus den Schluchten des Thalgrundes herunter. Im Sturme wehte die Kirchenthür und knarrte in ihren Angeln.

Oben in ihrem Kämmerlein eingeschlossen, saß Speranza klopfenden Herzens in bangem Warten, ob nicht bald der Schleier der Nacht sich herniederzöge über Berg und Thal, ob nicht bald ein Hufschlag ertöne durch die Dämmerung, ob er nicht bald vor sie trete und ihre Hand ergriffe, und … Aber fest in dem Riegel lag ihre Thür, und wenn ihr Retter erschiene, wie konnte sie zu ihm gelangen, wie ihn auf der Schwelle der Kirche erwarten?

Plötzlich erhob sich von unten Letterio’s Stimme:

„Speranza, steige herab! Der Wind hat die Kirchenthür zugeworfen, und nur von innen ist sie zu öffnen! … und offen muß sie doch bleiben, sonst kann Schwester Josefa nicht mehr hinein!“

„Ach, guter Letterio,“ antwortete die Jungfrau „Du weißt es ja, ich kann nicht heraus; Schwester Josefa hat den Riegel vorgeschoben.“

„Ei, der morsche Riegel! Ich kenne ihn! Ein Druck, und er fällt aus dem Nagel! Die Kirchenthür mußt Du öffnen, Speranza; bei dem Unwetter, das sich vorbereitet, darf Schwester Josefa nicht einem Uebernachten draußen ausgesetzt sein. Drücke nur, mein liebes Kind, und zögere nicht! Die heilige Jungfrau führt Deine Hand!“

Ja, die heilige Jungfrau war es, die ihre Hand führte; denn ein leiser Druck genügte, und auf der Erde lag der Riegel! Und jetzt erst jubelte Speranza’s Herz auf in unbändigem Jauchzen, denn jetzt konnte sie hell und klar den Willen der Madonna erkennen! Zeichen auf Zeichen hatte sie ihr gesandt, und zweifeln konnte die ihrer Erlösung harrende Maid nicht mehr. Und da erfaßte sie ein Taumel von nie geahnter Freude und seliger Lust.

„Der Bräutigam naht! Im bräutlichen Schmucke will ich ihn erwarten!“ rief Speranza und ihre Treppe kletterte sie rasch hinauf, in ihrer Zelie lagen die weißen Heidekrautblumen, die ihr gestern Nino von den Bergen heruntergebracht; von ihrem Haupt streifte Speranza mit rascher, siegreicher Gebärde die knappe Nonnenhaube ab, und in langen Ringeln wallte ihr aufgelöstes Haar über ihre Schultern und von gestern noch, während sie die Blumen in ihr Haar flocht, von gestern noch sang es in ihrem Herzen:

„Es blühet die Rose tief unten im Thal, wenn morgen die Dämmerung das Thal umhüllt, ertönt ein Hufschlag vor Deiner Thür. Den Brautschmuck flechte dann in Dein Haar, und öffne die Thür, denn die Liebe klopft an! Ach, Ninetta! ach, Blandina! was sagst Du zu Deinem Schwur?“

In die Kirche war sie zurückgetreten – nicht mehr Schwester Speranza, sondern Blandina, die Fürstentochtcr im bräutlichen Schmuck, und vor dem Altar stand sie, hochaufgerichtet, matt erleuchtet von dem fahlen Schein des ewigen Lämpchens, das Auge auf die offene, im Winde wehende Thür gerichtet. Draußen lag tiefe Finsterniß über dem Thal, und schwarz schaute die Nacht durch die hohen Kirchenfenster herein auf die wundersame Jungfrau.

Hufschlag ertönt auf dem harten Gestein, und siehe! unter der Thür erscheint eine hohe Gestalt, den Reitermantel über die Schulter geworfen, das blinkende Schwert an der Seite und den federwallenden Helm auf dem jugendlich schönen Haupt.

„Blandina!“ ruft es leise fragend in die dunkle Kirche, und auf der Schwelle zögert forschend des Ritters Fuß.

Und: „Gonzaga!“ ruft es zurück mit jubelnder Stimme, und blumenbekränzt fliegt sie hervor, die Langersehnte, Heißgeliebte, und mit ausgebreiteten Armen sinkt Blandina an seine Brust.

„Ich hab’ Dich gesucht! Ich hab’ Dich gefunden! Folge mir! Aufs Pferd, daß der nächste Augenblick Dich hier nicht mehr treffe!“

„In Deinen Armen, Gonzaga, ist Leben und Liebe! Siehe, im bräutlichen Schmucke komme ich zu Dir! Wohin Du mich führst, ich folge Dir!“

„Für die Braut und den Bräutigam ist der Altar bereit. Heute Nacht noch, in stiller Bergesklause, feiern wir unseren ewigen Bund.“

Und Herz an Herz ruhen die Beiden in langem Kusse.

Wild schnauben plötzlich und stampfen die Rosse vor der Thür.

„Auf, auf, Blandina! die Stunde eilt!“

Um ihre Hüfte legt sich sein Arm; an seine Schulter lehnt sie ihr Haupt, und den Blick erhebt sie zu ihm hinauf – aber, von jähem Schreck erfaßt, starrt ihr Auge plötzlich über des Ritters Schulter in der Kirche schwarze Nacht; denn dort durch die offene Thür ist Einer hereingetreten; dort an dem Pfeiler steht Einer; wild funkelt sein Blick – mit beiden Händen schwingt er gegen den Ritter einen schweren Feldstein.

„Hilf, Himmel!“ schreit Speranza auf.

„Der Wolf, der Wolf! Tod dem spanischen Wolf!“ gellt es aber zurück, und auf den Ritter stürzt der Knabe los; rasch wendet Gonzaga das Haupt und reißt das Schwert aus der Scheide – an seiner Stirn fährt sausend der Feldstein vorbei – an den Schläfen getroffen sinkt das Mädchen zur Erde – mit gebrochenem Auge liegt Speranza auf den Altarstufen.

„Blandina!“ ruft mit furchtbarem Aufschrei Gonzaga: er vergißt den Mörder beim Anblick der sterbenden Braut, und über das blutüberströmte Mädchen wirft er sich hin; „Blandina! Himmlische Mutter Gottes, beschütze sie!“

Dort hinten aber unter dem schwarzen Gewölbe starrt Einer, mit gesträubtem Haar, wie besinnungslos, wie gelähmt von gräßlichem Schreck, auf Speranza’s todtenblasses Antlitz. Sein Blut stockt; er ringt nach Athem; aus ihren Höhlen treten seine Augen. Plötzlich wirft er die Arme in die leere Luft, und ein Schrei entfährt seinen Lippen: „Speranza!“ und fort stürzt er, in die schaurige Nacht hinaus, hinaus in die Berge, hinaus! hinweg über Steingeröll und schäumende Wildbäche; hinaus, hinweg, mit den Händen seine Augen bedeckend, daß er es nicht mehr sehe, das schreckliche Gesicht – hinaus, hinweg, über Berge und Thäler hinweg, – und jäh emporgeschreckt flattern in weit verlorenen Thalgründen die Eulen und Nachtschwalben umher, wenn in dem Echo sein jammernder Ruf widerhallt:

„Speranza! Speranza!“

(Schluß folgt.)




Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Adlerjagden des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich.
I.

Ungarn war von je und ist und bleibt ein Ziel der Sehnsucht deutscher Vogelkundiger. Günstiger gelegen als irgend ein anderes Land Europas, zwischen Nordsee und Schwarzem Meere, Ostsee und Mittelmeere, der großen nordosteuropäischen Ebene und den Alpen sich erstreckend, Norden und Süden, Steppen und Gebirge, Wälder, Ströme und Sümpfe in sich vereinigend, bietet es seßhaften wie wandernden und ziehenden Vögeln gleich erhebliche Vortheile und Annehmlichkeiten und weist daher einen Vogelreichthum auf wie kaum ein, vielleicht kein anderes Land unseres Erdtheils. Begeisterte Schilderungen dieses Reichthums,

[49]

Torpedoboot im Schwimmdock.
Originalzeichnung von F. Kallmorgen.

[50] der Feder unserer hervorragendsten Forscher und Meister entflossen, tragen nicht wenig dazu bei, jene, ich möchte sagen, angeborene Sehnsucht aller Vogelkundigen Deutschlands zu mehren und zu verstärken. Aber sonderbar – das schöne, reiche Land liegt uns so nahe, und wird dennoch so selten von uns Deutschen besucht.

Auch ich hatte nur seine Hauptstadt und sonst noch das gesehen, was man von einem Eisenbahnwagen aus sehen kann; ich theilte daher im vollsten Maße die Sehnsucht, von welcher ich eben sprach. Sie sollte erfüllt werden, aber nur, um brennender wieder aufzuleben. „Niemand wandelt ungestraft unter Palmen,“ und kein Vogelkundiger verlebt, ohne später sehnsüchtig Wiederkehr zu verlangen, Maientage in der Fruschkagora.

„Wollen Sie mich,“ frug mich mein gnädiger Gönner, Kronprinz Rudolf, „zu Adlerjagden nach Südungarn begleiten? Ich habe bestimmte Nachrichten von vielleicht zwanzig Adlerhorsten und glaube, daß wir Alle viel werden lernen können, wenn wir sie besuchen und dabei fleißig beobachten.“

Zwanzig Adlerhorste! Man muß jahrelang an die in dieser Hinsicht arme Scholle Norddeutschlands gebannt gewesen sein, muß freudige Ereignisse ähnlicher Art aus dem Wanderleben eines Vogelkundigen sich vergegenwärtigen können, um die Freude zu würdigen, mit welcher ich zusagte. Zwanzig Adlerhorste, in nicht allzugroßer Entfernung von Wien, in geringer von Pest: ich müßte nicht meines Vaters Namen führen, wäre ich gleichgültig geblieben![2] Zu Stunden kürzten sich die Tage bei allerlei Vorbereitungen, und zu Wochen wollten sie sich verlängern bei der Ungeduld, mit welcher ich die Abreise herbeiwünschte.

Es war eine kleine, aber heitere, hoffnungsvolle, waidwerkskundige und strebsame Reisegesellschaft, welche am zweiten Osterfeiertage des Jahres 1878 von Wien aufbrach. Außer unserem hohen Jagdherrn und seinem erlauchten Schwager befanden sich nur Obersthofmeister Graf Bombelles, Eugen von Homeyer und ich als Jagdgenossen auf dem schnellen und behaglichen Schiffe, welches uns einen Tag später von Pest aus der Mündung der „blauen“ Donau entgegen trug. Lenzduftig übergossen von der Morgensonne lag die stolze Kaiserburg in Ofen vor uns; im ersten Grün des jungen Jahres prangten die Gärten des Bloxberges, als wir in früher Morgenstunde von Ungarns Hauptstadt Abschied nahmen.

Mit einer Fahrt auf dem Rheine, der oberen und, wie man sagt, auch der unteren Donau, läßt sich die Strecke, welche wir jetzt durcheilten, nicht vergleichen. Wenige Kilometer unterhalb der Schwesterstädte verflachen die Ufer; rasch sinken zumal die Berge der rechten Stromseite zu ausdruckslosen Hügeln herab, und nur die blau überduftete Ferne zeigt dem Auge noch sanft bewegte Linien mäßig hoher Züge. Am linken Ufer breitet sich die weite Ebene aus. Unabsehbar, ohne Wechsel, gleichförmig, eintönig liegt sie vor den schweifenden Blicken; kaum daß eines der großen reichen Dörfer letztere zu fesseln vermag. Hier und da lehnt ein Hirt in Schäfertracht auf seinem gewichtigen Stabe; aber nicht das fromme Volk der wolligen Schafe ist seiner Obhut anvertraut, sondern grunzende Borstenträger umdrängen den sonnengebräunten Mann oder liegen reihenweise um ihn her, behaglicher Ruhe sich freuend. Um die durch Hochfluthen gefüllten Lachen gaukelt der Kiebitz; über die weiten Flächen schwankt der Kornweih; vor den in steil abfallenden Wänden eingegrabenen Nisthöhlen schweben Uferschwalben auf und nieder; auf den Schindeldächern der zahllosen Schiffsmühlen schreiten, schwanzwippend, zierliche Bachstelzen einher; vom Strome stehen polternd Enten und Scharben auf; über seinem Spiegel kreisen und fliegen Milane und Nebelkrähen. So etwa ist das Bild dieser Gegend beschaffen.

Bald aber ändert sich die Landschaft. Noch mehr verflacht sich die Ebene, welche der Strom einst gebildet und jetzt durchfurcht. Auf weiten noch nicht eingedeichten Flächen, welche jede Hochfluth der Ueberschwemmung aussetzt, theilt er sich in zahl-, meist auch namenlose Arme. Ueppig aufgeschossener Wald bedeckt deren Ufer und die Inseln dazwischen; dichte Ufersäume wehren dem Auge jeden Einblick in das Innere dieses Auwaldes, welcher auf meilenweite Strecken ringsum den Gesichtskreis abschließt. Bei aller Eintönigkeit gleichwohl wechselvolle Bilder entstehen und vergehen, gestalten, verschieben und lösen sich auf, je nachdem das Schiff sich mit dem Strome wendet. Weiden, Weiß-, Silber- und Schwarzpappeln, Ulmen und Eichen, erstere in überwiegender Menge, letztere oft spärlich eingesprengt, bilden den Bestand. Den dichten, fast ausschließlich aus Weiden bestehenden Ufersaum überhöhen ältere Bäume derselben Art; tiefer im Innern der oft weit in das Land einspringenden Waldungen erheben riesige Silber- und Schwarzpappeln ihre ausdrucksvollen Kronen, recken alte knorrige Eichen dürre Wipfelzweige in die Luft. Vom sprossenden Weidenschößlinge an bis zum absterbenden Baumriesen umfaßt ein einziger Blick alle Stufen des Baumlebens: entkeimende, erstarkende, in der Fülle des Wachsthums strotzende, wipfeldürre, vom himmlischen oder irdischen Feuer gefällte und halb verkohlte, auf dem Boden liegende, vermorschende und vermodernde Bäume. Dazwischen glitzert fließendes oder stehendes Wasser hervor; darüber wölbt sich der Himmel. Aus heimlichem Dunkel tönt der Schlag der Nachtigall, des Finken, der Gesang der liederreichen Singdrossel, gellt der Schrei des Falken oder Adlers, jauchzt der Specht, krächzt der Rabe, kreischt der Reiher. Dann und wann reißt eine Lichtung, ein noch nicht wieder überwucherter Schlag eine Lücke durch den Wald und gestattet einen Blick auf die ferne Landschaft dahinter, auf die weite Ebene des rechten Ufers und den sie begrenzenden Hügelsaum, auf endlos scheinende Felder, auf ein Kirchdorf, eine Stadt. Im Sommer, wenn das Blattgrün wesentlich dieselbe Färbung zeigt, im Spätherbste, Winter und Vorfrühlinge, wenn die Bäume unbelaubt sind, mag diese Uferlandschaft ermüdend wirken; jetzt erscheint sie zwar gleichförmig, aber nicht reizlos; denn alle die Weiden- und Pappelarten stehen gegenwärtig im jugendlichen Blätterkleide, meist auch im Schmucke der Blüthenkätzchen, und lassen die Waldungen, hier und da wenigstens, förmlich bunt erscheinen.

Nur an wenigen Stellen ist solcher Wald zugänglich, weil er im großen Ganzen nichts Anderes ist als ein ungeheurer Bruch. Versucht man, bald auf trockenen Pfaden, bald auf Wasserstraßen und Gewässern anderer Art vordringend, in das Innere zu gelangen, so erreicht man früher oder später eine Wildniß, wie Deutschland keine ähnliche aufzuweisen hat. Auf den am höchsten über dem Stromspiegel gelegenen Stellen, da wo fetter, theilweise schlammiger Boden sich findet, wird man noch am ersten an deutsche Auwaldungen erinnert. Hier stellen Maiblümchen einen saftig grünen, durch die weißen, duftigen Glöckchen wunderherrlich verzierten Teppich dar, welcher oft auf weite Strecken hin den Boden deckt; aber schon hier wuchern geilwüchsige Nesseln und Brombeeren in solcher Fülle auf, verschlingen verschiedene kletternde Rankengewächse ganze Waldestheile so vollständig, daß dem Fuße fast unüberwindliche Hindernisse entgegentreten. Auf anderen Stellen aber wird der Wald thatsächlich zum Bruche, aus und über welchem sich die Riesenbäume erheben. Mächtige Stämme, vom Alter, vom Sturme, vom Blitze, vom leichtsinnig entzündeten Feuer des Hirten gefällt, liegen vermorschend im Wasser, oft schon zum Nährboden jüngeren, üppig aufgeschossenen Buschwerkes geworden; andere, noch weniger von Verwesung ergriffen, sperren Weg und Steg. Abgefallenes Holz, von dicken Aesten an bis zu den schwächsten Zweigen herab, ist vom Winde zusammengeschwemmt worden und stellt schwimmende Inseln und vorspringende Zungen dar, welche dem kleinen Boote oft nicht geringere Hindernisse bereiten wie dem watenden Fuße. Aehnliche Schwimminseln, aus Rohr und Schilf bestehend, bilden auf weithin eine schlotternde Decke freierer Wasserflächen. Erhöhte Schlammbänke, auf denen Weiden- und Pappelarten den geeigneten Boden für ihre Samen fanden, stellen undurchdringliche Dickichte her und machen selbst den Rohrwaldungen, welche geographische Geviertmeilen bedecken können, den von ihnen bewachsenen Grund streitig; Zwergweiden, jugendfrische und greisenhafte Horste zugleich darstellend, treten tiefer in den Rohrwaldungen als dunklere Flecke hervor. Was der dichtere Wald mit seinen Brüchen und Dickichten, was das Röhricht bergen mag, bleibt dem suchenden Auge des Forschers größtentheils verborgen; denn nur die Säume dieser Waldwildnisse vermag er zu durchspähen.

Auf solchem Gebiete begannen wir die Jagden, welche in erster Reihe den Beherrschern der Lüfte gelten sollten.



[51]

Blätter und Blüthen.

Eine neue Klaviatur. Von den Fortschritten des Erfindungsgeistes wird auf einmal eins der ehrwürdigsten Erbstücke unserer Väter bedroht, das jetzt noch mit voller Sicherheit sich der Alleinherrschaft in hunderttausend Salons und in hundert Koncertsälen freut, unser Klavier. Herr von Jankò hat eine neue Klaviatur erfunden, in Leipzig bereits Proben seiner Fertigkeit auf derselben abgelegt und eine Reihe von Klavierkompositionen mit großem Geschick gespielt. Die neue Erfindung erregt Aufsehen in der musikalischen Welt, und bereits haben sich mehrere Fachkritiker zu ihren Gunsten erklärt. Der Hauptunterschied von der bisherigen Klaviatur besteht darin, daß, wie unsere Abbildung zeigt,

die Tasten in sechs Reihen terrassenförmig über einander gelagert sind; sie liegen nicht genau über einander, sondern jede Reihe scheint gegen die unterliegende um eine halbe Tastenbreite verschoben; doch befinden sich die Tasten der dritten und fünften Reihe genau über denjenigen der ersten, die der vierten und sechsten über denen der zweiten. An den Seiten der Figur ist das Innere der Klaviatur veranschaulicht: man sieht daraus, daß die über einander liegenden Tasten mit einander niedergehen müssen, wenn man auf eine der Reihen schlägt, und so auch denselben Ton geben. Die andere Abbildung zeigt uns die Ungezwungenheit der Handhaltung, wenn der C-dur-Akkord gegriffen wird, der sich durch eine leichte Verschiebung nach rechts, ohne Aenderung der Handhaltung, in den D-dur-Akkord verwandeln läßt; jede Anschlagstelle ist durch einen Punkt bezeichnet.

Außer dieser natürlichen Handhaltung rühmt der Erfinder der neuen Klaviatur noch als ihre Vorzüge die vermehrte Spannfähigkeit, die Kraftersparniß, die vermehrte Sicherheit des Anschlags. Viele Schwierigkeiten sind damit nach seiner Ansicht aus dem Wege geräumt, manche Leistungen des Virtuosenthums bedroht. Wir wollen dem Erfinder und seinen Jüngern nicht die Freude an dem neuen Werk verkümmern, das sich allerdings erst in der musikalischen Praxis bewähren muß. Jedenfalls ist es ein neuer Schlachtruf, der jetzt ertönt: Krieg unserem Klavier, unserem Pianoforte. Wer so gering vom Klavier denkt, wie Richard Wagner es trotz seiner innigen Freundschaft mit Liszt gethan, der wird sich für diese Streitfrage wenig interessiren; aber das Klavier hat seine enthusiastischen Verehrer und Verehrerinnen, und die Aussicht, bei einem endgültigen Sieg der neuen Erfindung noch einmal alles um- und neulernen zu müssen, was man im Schweiße seines Angesichts und für Unterrichtsgelder, die sich im Laufe der Jahre zu beträchtlichen Summen angehäuft haben, gelernt hat, mag zunächst einen niederschlagenden Eindruck auf die Jüngerinnen und Meisterinnen ausüben, die mehr oder weniger das Pianoforte beherrschen.

Doch mögen sie sich immerhin beruhigen: so rasch geht es mit derartigen Revolutionen nicht, und der hinkende Bote pflegt öfters nachzukommen. †     

Der Frauenfeind. Mit offenem Visir tritt er vor die Frauenwelt, geharnischt von Kopf zu Fuß, und nur ein leises Lächeln, das um seine Lippen spielt, beweist, daß er es doch nicht ganz so schlimm meint, wie es den Anschein hat. Wir sprechen von einer neuen Monatsschrift, von Ferdinand Groß herausgegeben, welche diesen Titel führt. Freilich hat der Herausgeber Recht, wenn er meint, es sei ihm jede Aussicht geraubt, nach seinem Tode als armer Frauenlob von weiblichen Händen zu Grabe getragen zu werden; dagegen hofft er, daß die vernünftigen Frauen sich um seine Fahne scharen werden; denn es gelte ja nur den Kampf gegen den maßlos angewachsenen Frauenkultus – und darum wendet sich die Zeitschrift sogar in erster Linie an die Leserinnen und bittet um ihre Zustimmung. Nicht gegen das Weib, ruft Max Nordau, der jedenfalls auch in anderer Weise begraben werden wird als Frauenlob, richtet sich der Zorn der Wahrheitsfreunde, sondern gegen den Mann, der den lächerlichen und blödsinnigen Weiberkultus treibt. Gleichwohl rathen wir auch den Frauen, diesem dem Anschein nach so wohlwollenden Gegner aus dem Wege zu gehen; denn er versetzt wahre Keulenschläge den Vergötterern des Weibes; die Hälfte davon geht aber daneben und trifft das Weib selbst. Nun, deutlich genug ist der Strohwisch auf dem Titel der Zeitschrift, um die Frauen zu warnen, daß sie nicht Pfade wandeln, wo ihnen solch eine ungalante Begegnung mit einigen Rippenstößen den Weg versperrt.

Am schlimmsten ergeht es den schriftstellernden Frauen: die Blaustrümpfe werden in Vers und Prosa arg mitgenommen. Die litterarische Frauenarbeit wird als eine weibliche Handarbeit geschildert, die meist verderblich wirke. Glücklicher Weise werden Ausnahmen zugelassen; es ist von den „wenigen talentvollen Schriftstellerinnen“ die Rede, und diese seien zum Theil gerade in Oesterreich zu Hause. Der in Wien erscheinende „Frauenfeind“ sichert sich wenigstens gute Nachbarschaft. Nun, die erfolgreichsten Schriftstellerinnen leben nicht an der blauen Donau – das wenigstens ist eine Thatsache. Ueberhaupt muß doch jedes litterarische Werk für sich selbst sprechen: es kommt zunächst nicht darauf an, ob es einen Verfasser oder eine Verfasserin hat. Wir haben geistreiche Schriftstellerinnen wie die George Sand und die Fanny Lewald; wir haben andere, die mit der Lust zu fabuliren eine lebendige Phantasie und ein gefälliges Darstellungstalent vereinigen, wie die Schriftstellerinnen der „Gartenlaube“. Ein Roman soll das Lesepublikum fesseln: das gehört mit zu den Eigenschaften, welche auch die strenge Kritik von ihm verlangen darf. Und wenn das den Schriftstellerinnen besser gelingt als vielen Schriftstellern: ist denn das ein Unglück, welches der Litteratur Verderben bringt? Man schimpft auf die Blaustrümpfe: nun, so mache man’s besser als sie. Der „Frauenfeind“ darf freilich vor dem weiblichen Talent nicht salutiren, sonst würde er ja fahnenflüchtig werden. Immerhin bleibt seine Aufgabe schwierig, immerfort mit grimmer Miene und in herausfordernder Stellung dem „ewig Weiblichen“ gegenüberzustehen, das ja unsern großen Dichter „hinangezogen“ hat. †     

Die Donauquelle in Donaueschingen. (Mit Illustration S. 37.) Im Süden des Großherzogthums Baden, am Ostabhange des Schwarzwaldes, liegt das alte Städtchen Donaueschingen, schon in den Tagen der Karolinger bekannt, die Residenz des ehemaligen Fürstenthums Fürstenberg. Neben dem schönen Schlosse, das durch seine künstlerischen und litterarischen Schätze berühmt ist, quillt in einem runden Becken, von einem steinernen Geländer umrahmt, ein klarer Quell, der Quell der Donau. Glitzernde Sonnenlichter fallen von oben herab in diesen Born, und die Heimathbäume rauschen über dem stillen Wässerchen, welches sich nichts davon träumen läßt, daß es 2800 Kilometer abwärts fließen soll durch alemannisches, schwäbisches und bayerisches Land, durch Oesterreich und Ungarn, an den Grenzen von Serbien, der Walachei und Bulgariens vorüber ins ferne Schwarze Meer. Und welche reiche Gesellschaft findet die Donauwelle während ihres langen Thalwegs! Kaum hat sie unterirdisch ihren Brunnen verlassen, so vereinigt sie sich mit zwei größeren Schwarzwaldbächen, der Breg und der Brigach, in einer sumpfigen Ebene, welche ehedem ein See war, dessen Abfluß die Donau bildete; nachdem die junge Donau die Zuflüsse aus den fernsten Gauen des Böhmerwaldes, den entlegensten Hochthälern von Tirol und Graubünden aufgenommen, wird aus dem winzigen Quell einer der stolzesten Ströme Europas, eine Völkerstraße, welche West und Ost verbindet.

Ein chinesisches Begräbniß in New-York. Eine chinesische Dame in der Hauptstadt der Union, welche bei Lebzeiten nicht viel von sich reden machte, was ihr aber, wie andern Frauen, nach dem Tode eine gute Nachrede sicherte, hat sogar den New-Yorker Blättern nach ihrem Hinscheiden Stoff zu größeren Artikeln gegeben. Und Madame Mai Shum hatte dazu nichts nöthig als zu sterben und sich nach ihrer Landessitte beerdigen zu lassen. Das Begräbniß einer Chinesin bietet aber allerlei Merkwürdiges, und wie es scheint, ist es bisher keiner Tochter des himmlischen Reichs in den Sinn gekommen, in New-York zu sterben.

Die verstorbene Gattin Chin Shum’s wurde zunächst im Vordergrund ihrer Wohnung in einem Sarge ausgestellt, der mit allerlei nach chinesischer Sitte aufs Feinste zubereiteten Eßwaaren umgeben war. Dann wurde die Leiche nach dem Evergreen-Kirchhof übergeführt; doch nicht der Sarg allein wurde in den Leichenwagen gehoben, auch das ganze Bett mit dem Bettzeug und die Kleider, welche die Verstorbene zuletzt getragen, wurden mit aufgeladen.

Als auf dem Kirchhofe die Leiche eingesenkt worden, wurde das ganze Hab und Gut auf dem frischen Grabe verbrannt: der tiefgebeugte Gatte und die jammernden Angehörigen streuten bei dieser Leichenfeier Thee in die Flamme. Das Ehebett kam zuletzt an die Reihe: es gab dem Feuer mit seinen hölzernen Scheiten die willkommenste Nahrung. Kaum aber war das letzte Holz des Gestells und das letzte Stück Zeug verbrannt: da änderte sich die Scene; es war, als wenn das Trauergefolge plötzlich von der Tarantel gestochen worden. Schwatzend und schreiend stürzten alle auf den Wittwer los und brachten ihm mit lärmendem Jubel ihre Glückwünsche dar; es herrschte auf einmal die heiterste Stimmung wie bei einem fröhlichen Feste. Noch wurden zu Ehren der glücklich heimgegangenen Mai Shum, die von jetzt ab zu den gefeierten Ahnen des Hauses Shum gehörte, Kerzen rund um das Grab gestellt; dann begab sich die lustige Gesellschaft ins Trauerhaus, um die köstlichen Speisen und Delikatessen zu verzehren, welche die Todte, wie man mit Recht erwarten durfte, unberührt gelassen hatte. So begann Chin Shum das erste Jahr seiner Wittwerschaft mit der landesüblichen Freude, welche er vor allem Volk offen zur Schau stellen durfte. †     

Torpedoboot im Schwimmdock. (Mit Illustration S. 49.) Die Riesenschiffe unserer Zeit kosten oft viele Millionen Mark und der Verlust eines solchen Fahrzeuges kann oft den Ruin eines großen Handelshauses herbeiführen oder tiefe Lücken in das Budget eines Staates reißen. Man wendet darum auch der Reparatur beschädigter Schiffe dieselbe Sorgfalt zu, wie dem Bau neuer. Einen Blick auf diese Thätigkeit der Werftanlagen gewährt uns die treffliche Originalzeichnung von F. Kallmorgen. Der Künstler zeigt uns in derselben die Arbeitsstätte der berühmten Stettiner Aktien-Bau-Gesellschaft Vulkan, welche in Deutschland auf dem Gebiete der Errichtung von Panzerschiffen bahnbrechend vorgegangen war. [52] Das Bild führt uns ein Torpedoboot im Schwimmdock vor. Die Einrichtung des letzteren läßt sich mit wenigen Worten erklären. Es ist im Wesentlichen ein ungeheurer, vorn und hinten offener Eisenkasten, den man beliebig zu heben oder zu senken vermag, je nachdem man in die hohlen Wandungen Wasser einströmen läßt oder dasselbe auspumpt. Das reparaturbedürftige Schiff fährt einfach zwischen die Längswände des gesenkten Docks; kräftige Dampfpumpen leeren hierauf die inneren Behälter, deren Wasserzuflüsse abgeschlossen wurden. Das Dock hebt sich allmählich, und mit ihm steigt auch das Schiff in die Höhe. Es taucht zuletzt ganz aus dem Wasser empor, so daß es von allen Seiten den Arbeitern zugänglich wird. F. Kallmorgen zeichnete ein Torpedoboot in dieser Lage. Es ist bekanntlich eines der kleinsten Kriegsschiffe der Neuzeit; aber mit dem Schwimmdock vermag man auch die schwersten Panzerkolosse zu heben. *      

Brasilianische Benefizvorstellungen. In Deutschland geben gefeierte Künstler und Künstlerinnen öfters Benefizvorstellungen zu wohlthätigen Zwecken, z. B. zum Besten der Choristen und Choristinnen; sie erhalten dafür Applause und Kränze und die Anerkennung der Presse. Jenseit des Oceans wird dies Alles viel wirksamer inscenirt: die Erfüllung des schönen Zwecks wird dem Publikum selbst vor Augen geführt und der Jubel der dankbaren Menge kennt keine Grenzen. Freilich handelt es sich da nicht um die „weißen Sklaven“, wie sie Hackländer in seinem bekannten Roman geschildert hat, denen ein Brocken vom Tische der reichen Gastgeber und Gastspieler zufällt, sondern um naturwüchsige schwarze Sklaven, welche zwar nicht vor dem Publikum weißgewaschen, deren Ketten aber von graziösen Künstlerinnen gelöst werden. So haben in Rio Janeiro zwei Sängerinnen den Ertrag ihrer Benefizvorstellungen zum Loskauf von Sklaven verwendet: eine Russin, Nerina Lulisloff, und eine Operettensängerin Preciosi. Die erste gab die „Aïda“ zu ihrem Benefize und kaufte mit dem Ertrag der Vorstellung fünf Negersklaven los. Diese erschienen am Schluß auf der Bühne, und die Sängerin übergab ihnen die Karten, welche ihre Freiheit verbürgten. Natürlich war der Enthusiasmus der Zuschauer ganz maßlos. Fräulein Preciosi verwandte den Ertrag der „Fatinitza“ zu dem gleichen Zweck; doch reichte derselbe nur für zwei Negersklaven aus, die als freie Männer das Podium verließen. Um diesen glänzenden Effekt werden edelmüthige deutsche Künstlerinnen jedenfalls ihre Kolleginnen im Lande der Feuerkäfer und Riesenschmetterlinge beneiden. †     

Die Nilbraut war ein unglückliches Opfer ägyptischen Aberglaubens, welches in früherer Zeit, wenn der Nil zögerte zu steigen und das Land zu überschwemmen, in die Fluth gestürzt wurde. Solche Opferung kam auch noch vor zur Zeit, als das Heidenthum der Aegypter längst christlicher Gesittung gewichen war und die fanatischen Anhänger des Propheten siegreich in das alte Nilland eingedrungen waren. Wenigstens in dem neuen Romane von Georg Ebers, der diesen Titel führt (Stuttgart und Leipzig, Deutsche Verlagsanstalt), bildet ein solches Jungfrauenopfer den Höhepunkt der Handlung: wir wissen nicht, ob der Dichter an eine geschichtliche Thatsache anknüpft oder ob diese Erneuerung alter Bräuche in so später Zeit eine freie Erfindung seiner Phantasie ist.

Der neue Roman von Ebers beginnt mit der Darstellung von Vorgängen, welche die Theilnahme der Leser alsbald gefangen nehmen: es ist das um so höher anzuschlagen, als Vieles, was uns da vorgeführt wird, am Anfange sehr fremdartig gemahnt. Mit einem hohen Beamten, welcher den Titel Mukaukias führt, müssen wir uns erst allmählich befreunden, und die Glaubensstreitigkeiten zwischen den melchitischen und jakobitischen Christen, die sich gegenseitig mit grimmem Hasse verfolgen, sind auch nicht danach angethan, uns sonderlich zu interessiren. Sie bilden zwar einen Angelpunkt der Handlung; aber erst, wenn wir für die Menschen, welche in diese Kämpfe verwickelt sind, ausreichende Theilnahme gewonnen haben, überwinden wir das Fremdartige dieser uns so fernliegenden dogmatischen Streitigkeiten und folgen mit Antheil den Geschicken der Einzelnen, die in diese häßlichen Kämpfe eines beschränkten Glaubensfanatismus verstrickt sind.

Die Heldin des Romans, Paula, ist eine Griechin, deren Vater, ein tapferer Streiter im Kampfe gegen die Moslemin, verschollen ist und die bei ihren Verwandten in der Familie des Statthalters in Memphis lebt. Der Sohn des Hauses, Orion, von Byzanz zurückgekehrt, soll ein reiches Mädchen in Memphis heirathen; sein Herz aber gehört der schönen Paula, die sich indeß anfangs von dem Ungetreuen abwendet. Der Diebstahl eines prachtvollen Smaragds, dessen sich Orion schuldig macht, den er aus einem vom Vater gekauften Teppich entwendet und einer früheren Geliebten nach Konstantinopel schickt, entfremdet ihm Paula’s Herz noch mehr; Orion verleitet die ihm bestimmte Braut Katharina zu falscher Aussage vor Gericht; Paula, welche Orion verderben konnte, da sie Zeugin jenes Diebstahls war, verschont ihn. Wie nun jener Smaragd mit einem andern, welcher Paula gehört und den sie veräußert, um einen Boten zu bezahlen, der ihren verschollenen Vater aufsucht, verwechselt wird: das hat einen gewissen märchenhaften Reiz, und in der That liest sich der erste Band wie ein buntes orientalisches Märchen. Auch später tauchen Gestalten auf, die aus den Erzählungen einer Scheherezade entsprungen zu sein scheinen: so der fanatische ägyptische Magier, welcher Paula um jeden Preis verderben will, und der schwarze Vicefeldherr des Kalifen, Obadah, ein grimmes Raubthier. Paula und Orion haben sich wiedergefunden; aber da sie die Flucht melchitischer Nonnen begünstigten, verfallen sie dem Gericht der arabischen Machthaber und der christlichen Geistlichen. Da zugleich die Seuche Aegypten verheert, der Nil nicht steigen will, so wird die zum Tode verurtheilte Paula dazu bestimmt, das Opfer des Stromgottes zu werden. Alles ist schon zum Feste gerüstet, das Opfer soll in die Fluth gestoßen werden: da erscheint Katharina, die an Paula’s Stelle sich freiwillig dem Tode weiht.

Dieser Roman von Georg Ebers, der nur in der Mitte etwas zu sehr ins Breite geht, während der erste und letzte Band interessant und spannend sind, ist mit vielem Geschick entworfen und bewährt eine originelle Erfindungskraft; alle Fäden sind gut geschürzt und gleiten dem Dichter nirgends aus der Hand. Daß seine Phantasie dabei nicht ins Blaue schweift, sondern durch geschichtliche Studien wohlgeschult ist, giebt dem Ganzen einen festen Halt, und durch Klarheit der Darstellung vermag uns der Verfasser in einer Zeit zu orientiren, in welcher sich Aegypten in einen bunten Völkermarkt verwandelt hatte und die Glaubenskämpfe innerhalb der christlichen Kirche wie zwischen den Christen und den Moslem mit ihren oft verwirrenden Stichwörtern durch einander wogten.

Der Dichter, dessen andauerndes, schweres Leiden die allgemeinste Theilnahme erweckt, hat in Richard Gosche („Georg Ebers“, Leipzig, Schloemp) einen Biographen gefunden, der seinen Verdiensten durchaus gerecht wird. †     


Allerlei Kurzweil.


Schach.
Von Karl Höppner in Königstein (Sachsen).
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Auflösung der Schach-Aufgabe auf Seite 20.
     Weiß:  Schwarz:
1. D h 3 – g 2  d 5 – d 4 !
2. S c 3 – a 4 ! A)  K d 3 – c 4
3. D g 2 – d 5 †  beliebig.
4. S resp. D setzt matt.

A) Weiß droht mit 3. T c 2 nebst 4. D c 2 matt. – Secondespiel. 1. … K : S (K c 4), 2. D d 5 :, K b 4 :, 3. T e 3, Zugzwang, 4. B resp. D setzt matt. Falls 2. … a 5 – b 4 : so 3. T d 2 etc. Oder 2. … beliebig anders, 3. D e 4 nebst 4. T c 2 matt. – Auf sonstige Züge folgt 2. D d 5 : † etc. oder auch 2. S d 5 : nebst 3. K b 6 : ! etc. – Der Versuch 1. D h 7 † scheitert nur an K c 4 ! Gegen 1. D h 5 oder 1. D h 1 schützt nur d 5 – d 4 ! Ohne schw. B b 7 wäre das beabsichtigte Hauptspiel (1. D g 2, d 4,) mit 2. S b 1 ! partiell zu umgehen. Die Aufstellung des Problems ist sehr gewagt und zeugt von des Verfassers bedeutender Technik.


Schach-Briefkasten.

„Gartenlaube“-Leser in Berlin. Da Ihnen weder die Benennung der Schachfiguren noch die Bezeichnung der Schachbrettfelder geläufig ist, so möchten Sie sich doch wohl zunächst ein Lehrbuch und zwar am besten „Das Lehrbuch des Schachspiels von Jean Dufresne“ kaufen. Dasselbe ist im Verlage von Ph. Reclam jun. in Leipzig erschienen und kostet gebunden 1 Mark 50 Pf.

Sofie Schlett in Unter-Waltersdorf. Nr. I. ist durch 1. D e 1 schon in 2 Zügen lösbar, außerdem vielfach nebenlösig: 1. T b 3 (b 5, b 7, b 8), 1. D c 1 (f 3, h 3) etc. Nr. II lösten wir mit 1. S d 3 † und ließen es dabei bewenden. Probleme, denen keine Lösungen beigefügt sind, können wir für die Folge keiner Durchsicht unterziehen.

Auflösung der Domino-Aufgabe auf Seite 36.

Die Anordnung ist folgende:


Inhalt: Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 37. – Wintervergnügen. Illustration von H. Schlittgen S. 40 und 41. – Der russische Muschik. S. 42. Mit Illustrationen S. 42, 43 und 44. – Moltke in der Reichstagssitzung vom 4. December 1886. Mit Illustration S. 45. – Speranza. Novelle von A. Schneegans (Fortsetzung). S. 45. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge von Alfred Edmund Brehm. Adlerjagden des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich. I. S. 48. – Blätter und Blüthen: Eine neue Klaviatur. Mit Abbildungen S. 51. – Der Frauenfeind. S. 51. – Die Donauquelle in Donaueschingen. S. 51. Mit Illustration S. 37. – Ein chinesisches Begräbniß in New-York. S. 51. – Torpedoboot im Schwimmdock. S. 51. Mit Illustration S. 49. – Brasilianische Benefizvorstellungen. S. 52. – Die Nilbraut. S. 52. – Allerlei Kurzweil: Schach. S. 52. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 20. – Schach-Briefkasten. S. 52. – Auflösung der Domino-Aufgabe auf S. 36.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Nach einem alten Volkslied.
  2. Die Biographie und das Portrait des „alten Brehm“ findet der Leser in dem Artikel „Der Vogelfreund im Pfarrhause“ (Jahrgang 1861, Seite 661. Sie ist mit einem stimmungsvollen Bilde geschmückt und von dem Sohne Christian Ludwig’s, von Alfred Edmund Brehm, geschrieben.