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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[629]

No. 39.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der Unfried.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Mit aufgezogenen Brauen und verdutzten Augen schaute Karli der zur Stube hinauseilenden Kuni nach. Dieser Abschied mochte ihm doch ein wenig sonderbar bedünken. Aber Müdigkeit und Wein hatten ihm den Kopf bereits so schwer gemacht, daß er keine sonderliche Lust mehr zum Räthsellösen verspürte. Und wenn er sich schon Gedanken machen wollte, da hatte er ja an ganz andere Dinge zu denken, als an die „Dummheiten“ einer Magd. Seufzend streckte er die Füße, verschlang die Hände hinter dem Nacken, lehnte den Kopf an die Mauer und starrte so in den flackernden Schein der Kerze.

Er dachte an den kommenden Tag, an die Unterredung mit Götz, und überlegte, wie er seinen Entschluß, Sanni zu sprechen, am besten verwirklichen könnte. Es war selbstverständlich, daß er schon am frühen Morgen die blaue Montur anlegen würde. Erstens stand sie ihm einmal so gut zu Gesicht, und zweitens mußte Sanni, wenn er sie nur sehen sollte, ohne sie sprechen zu können, aus seinem Gewande den Zweck seines Besuches errathen. Das war aber nur ein angenommener Fall, denn in seiner rosigen Hoffnungsseligkeit war er der festen Ueberzeugung, daß ihm am kommenden Morgen alles nach Wunsch gelingen mußte. Er hörte sich schon in einem heimlichen Waldversteck mit Sanni plaudern und legte sich in Gedanken die Worte zurecht, in denen er „gar g’scheit“ mit ihr reden wollte, damit sie beide vor seinem Abschied doch wüßten, wie sie mit einander dran wären. Mit dem Bygotter würde es freilich seiner Zeit noch „schieche Sachen“ absetzen – so etwas schwante ihm – aber desto leichter und glatter würde er dafür mit dem eigenen Vater ins Reine kommen. Der Pointner konnte es ja kaum erwarten, daß er den Hof an seinen Buben los wurde – und daß dem Pointner die Sanni als Schwiegertochter wie keine Andere gefallen würde, darüber war Karli schon längst mit sich im Klaren, denn seiner Meinung nach gab es auf der weiten Gotteswelt kein weibliches Wesen, welches so wie Sanni die Ansprüche des Pointners gedeckt hätte: „a richtig’s G’müth, bildsauber, und so a recht a lieb’s Gsicht’l, daß man gleich ’neinbeißen möcht’!“ Was Wunder also, daß Karli in den Träumen des Halbschlummers, der ihn allmählich überfiel, bereits seinen


Marie Antoinette.
Originalzeichnung von A. Brunner zu: „Das Milchmädchen von Trianon“ (S. 637.)

[630] und Sanni’s Namen von der Kanzel verkünden hörte, daß ihm schon die Hochzeitsgeigen in den Ohren klangen, und – und – aber was er weiter noch hätte denken und träumen können, das hatte er schon hinübergenommen in den tiefen Schlaf, in welchen er, trotz seiner unbequemen Lage auf der harten Holzbank, mit lächelndem Behagen hineingeduselt war.

Stille Minuten vergingen. In der Stube war nichts zu hören, als die gleichmäßigen Athemzüge des Schlafenden, die leisen Pendelschläge der Wanduhr und das Ticken eines Holzwurmes. Mehr und mehr brannte die Kerze nieder; endlich erlosch sie, und die Gluth des Dochtes verqualmte in einem dünnen Rauchfaden. Da knarrte draußen die Treppe. Es war, als stiege Jemand mit leisen langsamen Schritten über die Stufen nieder. Durch das Schlüsselloch der Thür fiel ein dünner Lichtstreif; nun verschwand er wieder, mit sachtem Knirschen rührte sich die Klinke, und es öffnete sich die Thür, wobei ein dünnes Pfeifen aus ihren Angeln kam.

Karli erwachte. Es war ihm zu Muth, als hätte er eine Ewigkeit geschlafen. Im ersten Augenblick meinte er, daß er den Morgen versäumt habe und daß es der grelle Schein der Sonne sei, was ihm die verschlafenen Augen blendete. Erst als er sich halb emporrichtete, merkte er, daß er noch immer in der Stube saß und daß nicht die Sonne ihn in die Augen stach, sondern die flackernde Helle einer Kerzenflamme.

Nahe vor ihm stand Kuni, in der Hand den Leuchter mit der brennenden Kerze. Ein kurzes, dunkelrothes Röckchen schwankte um ihre Kniee und zeigte die weißbestrumpften Füße, die in leichten Pantoffeln staken. Den hübschen Kopf ein wenig zur Seite geneigt, so stand sie mit einem halb ärgerlichen, halb verlegenen Gesichte, über welches die zuckende Flamme zitternde Lichter warf, während die gelösten rothbraunen Haare, die ihr in langen Wellen um die Schultern rieselten, in metallenem Schimmer glänzten.

„Was – was is denn g’schehen – was willst denn?“ stotterte Karli, dessen Wangen von einer brennenden Röthe überflogen waren.

„Ja merkst es denn net, Du Dapperl, weßwegen als ich da bin?“ lächelte Kuni. „Eing’schlafen bist ja – daherunten in der Stuben – schau, und ’s ganze Licht is Dir ausbrennt!“

„No mein – das macht ja nix!“ stammelte der Bursche, dessen Augen mit scheuen Blicken über die Gestalt der Dirne huschten.

„Natürlich, machen thut’s freilich nix!“ wisperte Kuni, während sie einen hastigen Blick nach der Kammerthür warf, hinter welcher man den Pointner schnarchen hörte. „Aber droben, mein’ ich, hättst dengerst a bessers Schlafen, als wie da herunten auf der harten Bank! Ich hab’ mir’s aber gleich ’denkt, wie ich Dich so lange net kommen hab’ hören. Na, na, wie hast Dich denn nur so versitzen können? Geh, Du bist mir die richtige Schlafkappen!“

Kichernd streckte sie die Hand, mit welcher sie bisher die losen Falten des weißen Linnens dicht am Halse zusammengehalten hatte, und haschte den Burschen scherzend beim Schnurrbart.

Die Röthe auf Karli’s Wangen wurde zu dunkler Gluth, und ein trunkenes Feuer erwachte in seinen Augen. „Kuni – Kuni –“ stieß er mit bebender Stimme hervor, schlug seine Hände mit heftigem Griff um den Arm der Dirne und drückte ihn an seine Brust.

Kuni fühlte seinen heißen Athem; sie spürte das Zittern seiner Hände, und da stammelte sie wie erschrocken: „Aber, Bua, geh, was hast denn, sei doch g’scheit!“ Und während sie mit nicht allzu ernster Anstrengung ihren Arm zu befreien suchte, streckte sie den andern Arm mit dem Lichte weit zur Seite und drückte, als wäre ihr schon bange vor seinen Küssen, den Kopf tief in den Nacken.

Da öffneten sich langsam die Hände des Burschen, der mit erschrocken staunenden Augen an Kuni vorüber auf die weiße Kalkwand starrte. Dort sah er den mächtigen Schattenriß eines Gesichtes – aber diese harten, strengen Züge glichen nicht dem weichen, schmucken Profil der Dirne; sie glichen den steinernen Zügen des stillen ernsten Knechtes – und dem Burschen kam es vor, als wäre die Mauer von Glas und als stünde Götz hinter ihr, mit einem ins Riesenhafte gewachsenen Kopfe, mit finster drohendem Gesicht. Und während er so auf das seltsame Bildniß starrte, klangen in seinem Ohre die Worte, welche Götz vor Stunden im dunklen Hofe draußen zu ihm gesprochen – und vor den Augen stieg ihm Sanni’s Bild empor.

Mit verblüfften Mienen stand Kuni vor dem Burschen, dessen wunderliches Gebahren sie sich nicht zu deuten wußte. Nun drehte sie, der Richtung seiner starren Blicke folgend, den Kopf – und da verschwammen jene warnenden Züge an der Wand in einen formlosen schwarzen Schatten.

Aufathmend wandte Karli sein brennendes Gesicht der Dirne zu, und es zuckte so eigen um seine Lippen, als er ihr mit rauher Stimme zurief: „Geh’ weiter – und laß’ mir mein’ Ruh’! Ich bin schon munter jetzt – und weiß mein’ Liegerstatt allein zu finden!“ Polternd erhob er sich und schritt der Thür zu.

Kuni taumelte, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen. Bis in die Lippen war sie erblaßt, und während ihre Züge sich zur Unkenntlichkeit verzerrten, sprühte ein jäh erwachender Haß aus ihren Augen. Doch eine Sekunde nur – und jede Spur von Erregung war von ihrem Gesichte verschwunden. Und nur ein wenig Verwunderung sprach aus ihrer Stimme, als sie lächelnd sagte: „Was bist denn auf amal so grob? Da hätt’ ja doch ehnder ich an Grund dazu – ja – völlig weh thut mir mein Arm! Du bist mir Einer!“

Karli hörte noch das spitzklingende Kichern, mit welchem sie ihre Worte schloß, und sah noch, wie sie die Haare, die ihr über die Schultern gefallen waren, zurückschüttelte in den Nacken. Dann überschritt er die Schwelle und schlug hinter sich die Thür zu. Es war auch höchste Zeit, daß er aus der Stube kam. Ueber den letzten, lauten Reden, welche die Beiden geführt hatten, und über dem Knallen der Thür mußte der Pointner erwacht sein. Karli hörte die brummende Stimme des Vaters und es war ihm auch, als ginge drinnen die Kammerthür.

Hastig eilte er über die Treppe hinauf, tappte sich durch die Finsterniß in sein Stübchen, warf die Kleider ab und streckte sich auf sein Lager. Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf und keiner wollte ihm zu rechter Klarheit kommen. Dann wieder lauschte er mit verhaltenem Athem; aber Minute um Minute verstrich, ohne daß er Kuni über die Treppe heraufkommen und ihre Kammer betreten hörte. Aergerlich kehrte er sich endlich gegen die Wand und versuchte zu schlafen.

Was hatte er denn überhaupt an Kuni zu denken? Er hätte sich ohnehin am liebsten die Ohren vom Kopfe reißen mögen vor Unmuth darüber, daß sein Blut einen Augenblick die Oberhand über sein Herz hatte gewinnen können. Nun fiel ihm auch wieder jener seltsame Schatten ein – und als er nicht wußte, was er von der Sache glauben sollte, mußte der „gute Schutzengel“ herhalten, der ihm gewiß all’ das eingegeben hatte, was er dem wunderlichen Bilde gegenüber gedacht und empfunden. Das tröstete und beruhigte ihn und ungestört konnten seine Gedanken an dem Häuschen im Binderholz vorüber in die sonnige Zukunft wandern. Darüber fielen ihm die Augen zu, und Sanni und Liebe füllten seine Träume.




7.


Der Morgen graute durch das kleine Kammerfenster, als Karli durch ein Pochen an der Thür geweckt wurde. „Ja, ja – was is denn?“ stotterte er und rieb sich die verschlafenen Augen.

Da steckte Götz den Kopf zur Thür herein und nickte ihm lächelnd zu: „Ich bin’s! Guten Morgen! Gelt, versaum’ Dich’ net!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er die Thür wieder zu, um seiner Arbeit nachzugehen.

Eine halbe Stunde später war Karli zum Ausgang gerüstet. Wenn er meinte, daß ihm die blaue Dragoneruniform nicht übel stehe, so war das keine ungerechtfertigte Eitelkeit. Das lichte Blau mit den hochrothen Anschlägen paßte so gut zu seinem frischen, sonnverbrannten Gesichte mit dem sauber gescheitelten braunen Haar. Der knapp anliegende Waffenrock gab ihm eine stramme Haltung und hob den Wuchs seines jugendlich kräftigen Körpers. An dem Tuche war kein Stäubchen, und alle Knöpfe funkelten, als wären sie eben erst aus der Hand des Vergolders gekommen. Karli warf noch einen letzten zufriedenen Blick in den kleinen Spiegel, setzte achtsam die steife Mütze übers Haar und stapfte spornklingend zur Kammerthür hinaus. Als er an Kuni’s Stübchen vorüberkam, huschte ein leichtes Roth über seine Wangen. Die Thür stand halb offen und zeigte einen Theil des geordneten Lagers. Karli zog verwundert die Brauen in die Höhe – Kuni war doch sonst keine Freundin von allzufrühem Aufstehen. [631] Unbehaglich war ihm der Gedanke, daß er die Dirne wahrscheinlich drunten im Flur oder im Hofe treffen würde. Ganz erspart konnte ihm diese Begegnung freilich nicht bleiben – aber wenn es schon sein mußte, dann wenigstens später, nur jetzt nicht, wo er es so nöthig und eilig hatte, hinaus ins Binderholz zu kommen. Da athmete er nun erleichtert auf, als er den Hof erreichte, ohne von Kuni etwas gehört oder gesehen zu haben. Wo sie wohl stecken mochte? Aber was kümmerte das ihn? Er zuckte die Schultern, pflückte, als er am Garten vorüberkam, eine feuerrothe Nelke, steckte sie hinters Ohr und wanderte auf der thaufeuchten Straße mit rüstigen Schritten in den herrlichen Morgen hinein.

Ueber dem weiten Thale lag noch das zarte, glanzlose Frühlicht. Die Nebel der Nacht waren schon in Luft zerronnen; nur über den feuchteren Wiesen schwebten noch einzelne graue Streifen; aber auch diese zerschmolzen mehr und mehr, und immer kleiner werdend wirbelten sie sich langsam den steilen Bergwald empor, über welchem auf hochgebauten kahlen Felsen schon der röthliche Wiederschein der steigenden Sonne glühte. Tiefer und tiefer senkte sich dieser helle Glanz dem Thal entgegen, und als Karli den Wald betrat, blitzten schon die ersten goldenen Strahlen durch die Wipfel der leise rauschenden Bäume.

Lautlos zogen seine Schritte über den moosigen Weg; ab und zu nur knackte unter seinen Füßen ein dürres Reis. Winzige Vögel flatterten vor ihm auf und rings um ihn war ein hundertstimmiges Pispern und Zwitschern. Im tieferen Walde gurrte eine wilde Taube und vom nahen Berghang hallten die Schläge einer Axt. Rascher und rascher wurde Karli’s Gang. Jetzt traten die Bäume mehr aus einander, und durch die Lücken ihrer braunen Stämme gewahrte er den hohen, dichtgefügten Zaun, der das Besitzthum des Bygotter’s in weitem Bogen umzog. Unschlüssig blieb er eine Weile stehen, dann schritt er geraden Weges auf die Pforte zu. Sie war von innen fest verrammelt. Mit beiden Händen rüttelte er an ihr, aber sie rührte sich nicht. Lauschend verharrte er, doch war aus Haus und Hofraum nicht der geringste Laut zu vernehmen. „Schlafen werden s’ ja dengerst nimmer,“ murmelte er vor sich hin, besann sich ein paar Sekunden und schlich dann am Zaun entlang einer Stelle zu, wo er eine Lücke wußte, vor welcher er an den vergangenen Abenden manche Stunde mit nutzlosem Spähen verbracht hatte. Da fand er nun wohl die Stelle, aber nicht mehr die Lücke. Sie war mit frischem Astwerk dicht übernetzt. „Jetzt so ’was is doch a Bißl gar zu arg,“ meinte er und schaute ärgerlich um sich. Als er dabei nahe vor sich eine fast bis zur Erde belaubte Buche stehen sah, kam ihm ein rettender Gedanke. Doch schien er ihn im Erfassen schon wieder zu verwerfen, denn seine Augen glitten mit besorgten Blicken über die peinlich saubere Montur. Schließlich siegte aber dennoch die Sehnsucht über die „Propridöt“, und mit raschen, geschickten Griffen zog er sich an der Buche über Aeste und Aeste bis zur Krone empor, deren Laubwerk ihn verbarg und ihm dennoch einen genügenden Ausblick gewährte. Am Hause selbst, dessen Thür geschlossen war, vermochte er nicht die geringste auffällige Beobachtung zu machen. Inmitten der Wiese aber bemerkte er gleich jenes seltsame Etwas, das er wohl auch an den vergangenen Abenden gewahrt, in der Dämmerung aber niemals genauer hatte unterscheiden können. Es war dort ein zimmergroßer, viereckiger Raum vom Grase befreit, mit feinem Sande glatt überdeckt und von weißen, eng neben einander in die Erde gesteckten Stäben umgrenzt, die gegen das Haus zu einen schmalen Durchgang ließen. In diesem Raum erhob sich ein tischartiger Aufbau aus sorgsam an einander gefügten Steinbrocken, über denen eine rohbehauene Felsplatte ruhte, die in der Mitte wie von Ruß geschwärzt erschien.

Während Karli noch mit großen Augen das seltsame Ding bestaunte und erfolglos hin und her sann, wozu es wohl dienen könnte, öffnete sich an der Hütte die Thür, und der Bygotter trat auf die Schwelle.

„Ah, Narr – was is denn jetzt das für an Aufzug!“ murmelte Karli, als er des Alten ansichtig wurde.

Der trat mit zögernden Schritten ins Freie, während seine unheimlichen Augen mit raschen Blicken den Hofraum überflogen. Leicht rührte sich im Winde sein mächtiger silbergrauer Bart, der sich in der Farbe nur wenig von dem absonderlichen Gewande abhob, welches der Bygotter trug. Von den eckigen Schultern hing ihm, aus gebleichter Leinwand gefertigt, ein Etwas bis auf die Kniee nieder, das in der Form halb einem Talar und halb einem Fuhrmannshemde glich; die Aermel reichten den dunkelbraunen fleischlosen Armen kaum bis an die Ellbogen. Um die Beine schlotterte ihm eine weite Hose von gleichem Stoffe. Die Füße waren nackt und statt eines Hutes trug er eine weiße Binde in dicker Wulst um das Haupt gewunden.

Wäre Karli ein wenig bibelkundiger gewesen, als er war, ihm hätte beim Anblick des Alten unwillkürlich jene Stelle aus dem Buche des Propheten Hesekiel einfallen müssen, an der es von den Leviten, den Söhnen Zadok’s, heißt: „Sie sollen zu meinem Heiligthume kommen und sollen meinem Tische nahen, mir zu dienen und meinen Dienst zu besorgen. Und wenn sie eingehen in die Thore des inneren Vorhofs, sollen sie leinene Kleider anziehen, und nicht soll Wolle an sie kommen, während sie mir dienen. Leinene Kopfbinden sollen auf ihrem Haupte sein und leinene Beinkleider an ihren Lenden.“

So wunderlich nun auch der Bygotter anzusehen war, so verlor Karli doch jählings alles Interesse an ihm, als er Sanni hinter dem Alten aus der Thür treten sah. Heftig fing ihm das Herz zu pochen an, und beinahe hätte er auf seinem luftigen Sitze den Halt verloren, so hastig reckte er sich empor, um im Laube eine Lücke zu finden, die ihm einen ungeschmälerten Anblick der Geliebten gönnte. Sie schien ihm in den Tagen, in denen er sie nicht mehr gesehen, größer und voller geworden. Trotz des ärmlichen Alltagskleides, welches sie trug, meinte er sich etwas Schöneres nicht denken zu können, als das Mädchen dort drüben. Da schnitt es ihm ganz in die Seele, als es ihm vorkam, daß ihr Gesichtchen gar blaß und traurig wäre. Und was hielt sie denn nur auf dem Arme? Das sah sich an wie eine hölzerne Schüssel. Und in der anderen Hand? Das war ein Bündel von dünnen Holzspänen und kleinen Scheiten. Und da folgte sie nun mit gesenktem Köpfchen dem Vater, der sich mit stelzenden Schritten jenem seltsamen Ding in der Wiese näherte. Als er vor den weißen Stäben hielt, nahm er Schüssel und Späne aus Sanni’s Händen und gab ihr in hartem Tone irgend eine Weisung. Mit verschüchterten Augen schaute sie zu ihm auf, und als er ihr den Rücken wandte, ließ sie sich außerhalb des umhegten Raumes zögernd auf die beiden Kniee nieder. Der Bygotter aber trat in den sandbestreuten Innenraum, schichtete über der Felsplatte aus den Spänen und Scheiten einen kleinen Stoß, steckte ihn auf eine seltsame Weise in Brand, und als die hellen Flammen in die Höhe züngelten, goß er unter murmelnden Worten den Inhalt der hölzernen Schüssel darüber.

Karli konnte nicht erkennen, was es war; doch meinte er Festes und Flüssiges zu unterscheiden – und als ihm gerade der leichte Wind den Rauch entgegentrieb, der in dicken Wolken aus dem gedämpften Feuer stieg, glaubte er den Geruch von verbranntem Fett zu spüren.

„Ja heilig – mir scheint ja gar, der thut an Opfer halten – ganz nach’m alten Testament!“ staunte der Bursche und schaute mit weit offenen Augen zu, wie der Bygotter sich vor dem Steinbau auf die Kniee warf, sich niederneigte und die Stirn auf die Erde drückte. Als aber auch Sanni mit sichtlichem Widerstreben dem Beispiel des Vaters folgte, ballte Karli die Faust und murrte: Meinetwegen könnt’ er treiben, was er mag – wenn er nur g’rad das arme liebe Deandl aus’m Spiel lassen thät’!“

Da richtete der Alte sich wieder in die Höhe, und mit starren Augen aufwärts blickend zum sonnigleuchtenden Himmel, breitete er weit die Arme.

„Na, na,“ flüsterte es droben in der Buchenkrone, „wer hat denn schon amal so was g’sehen! Der ganze Abraham – g’rad der Hammel geht ihm noch ab zu seiner –“

Mitten im Worte unterbrach sich Karli. Es war ihm gewesen, als hätte er die rauhe, rollende Stimme des Bygotter’s vernommen. Und da verstand er nun deutlich, wie der Alte mit leidenschaftlichen, fast zornigen Lauten emporsprach in die Lüfte: „Im wehenden Rauche, Herr, steigt mein Gebet zu Dir hinauf. Laß’ mich Deine Stimme wieder hören, daß ich den Weg finde, welcher der Weg Deines Willens ist. Ich bin Dein Knecht. Du willst nicht, daß ich mich umsonst gemühet habe und meine Kraft vergeudet um nichts. Sende mir den Schall Deines Mundes, auf daß ich ausgehe, die Finsterniß zu zerstreuen. Mache meine Zunge gleich scharfem Schwerte, und mit dem Schatten Deiner Hand bedecke mich!“

[632]

Das Oktoberfest in München.
Originalzeichnung von F. Messerschmitt.

[633] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [634] So unbehaglich es Karli bei der ganzen Sache um Sanni’s willen zu Muthe war, jetzt mußte er sich Gewalt anthun, um nicht hell aufzulachen. Es lag nicht in seiner Natur, weiter zu denken, als ihm gerade Ohr und Auge reichte. Sonst hätte er wohl das unheimlich Drohende und Beängstigende erfassen müssen, das aus der ganzen Art und Weise des Bygotters sprach, und statt des mühsam verhaltenen Lachens, das ihm die Thränen in die Augen trieb, hätte ihn vielleicht ein bangendes Grauen überkommen. Auch mit dem Sinn der Worte, die er hörte, machte er sich wenig zu schaffen – sie waren eben sinnlos für ihn. Und so hielt er sich nur an das Aeußerliche dieser Sprache, die in der That bei all ihrer grollenden Leidenschaft etwas von dem lächerlich steifen Pathos und dem kauenden Tone hatte, mit welchem ein schwerhöriger Bauer, für dessen Zunge das Hochdeutsch eine Arbeit bedeutet, seinem frommen Herzen in einsamer Sonntagsstunde die Bibel vorliest.

Als der Bygotter geschlossen hatte, blieb er lange Minuten regungslos mit ausgebreiteten Armen stehen und starrte in die Höhe, als erwarte er eine Stimme aus den Lüften oder ein Zeichen am Himmel. Dann plötzlich riß er, wie in jählings ausbrechender Wuth, vom Halse an sein Gewand entzwei, raufte den Bart, schlug mit den Fäusten die entblößte Brust und schrie mit heiser gellender Stimme: „Er hört mich nicht – will nicht hören das Rufen meiner Seele – nicht riechen den Rauch meines Brandes – nicht sehen die Flammen meines Feuers! Ekel und Aas ist ihm mein Opfer!“

Mit beiden Händen griff er in das verglimmende Feuer, und unter keuchenden Worten, deren Laute in Stöhnen und Schluchzen unverständlich erstickten, schleuderte er die halbverkohlten Scheite und die mit Funken gemischte Asche nach allen Seiten aus einander.

„O lieber, lieber Heiland – Vaterl – Vaterl!“ jammerte Sanni, während sie in zitterndem Schreck in die Höhe sprang und an die Seite des Vaters eilte. Der schien beim Anblicke seines Kindes wie aus einem wilden Traume zu erwachen. Schlaff sanken ihm die Arme nieder, und ein heftiges Zittern befiel seine hohe, magere Gestalt. Offen klaffte sein Mund, und mit glühenden, blutumränderten Augen starrte er in das bleiche, von Schreck und Angst verwirrte Gesicht des Mädchens. Nun streckte er langsam die eine Hand, spannte die knöchernen Finger um Sanni’s Arm, und während er die flackernden Blicke gegen Himmel hob, klang es in dumpfen Lauten von seinem Munde: „Und es geschah nach diesen Dingen, daß der Herr ihn versuchte – und Gott rief ihn bei seinem Namen – und da sprach er: hier bin ich!“

Wieder schaute der Bygotter in Sanni’s Gesicht, vorgeneigten Kopfes und mit einem Blick, als wolle er durch ihre angstvollen Augen tief in ihr Herz und ihre Seele schauen. Dann richtete er sich straff empor.

„Komm!“

Mit beiden Händen faßte er Sanni’s Hand und führte sie langsamen Schrittes mit sich fort ins Haus.

Dem Burschen droben in der Buchenkrone war zu Muthe, er wußte selbst nicht wie. Nun war ihm denn doch das Lachen vergangen. Was er zu der seltsam erschreckenden Wendung, welche dieser für ihn närrische Auftritt genommen, sich denken sollte, das wußte er freilich nicht. Er fühlte nur die drückende Angst, die in seinem Herzen um Sanni erwacht war. Mit Worten konnte er sich’s allerdings nicht sagen, was er denn eigentlich für das Mädchen besorgte. Aber von einem Narren war eben Alles zu befürchten. Denn daß der Bygotter ein Narr sei, das war jetzt bei ihm ausgemacht, das hatte er gleich, nachdem sich hinter den Beiden die Thür geschlossen, kopfschüttelnd und mit flüsternden Worten ausgesprochen:

„Na, na – so a Narr – der is ja ganz verruckt – der g’hört ja hinter Schloß und Riegel!“

Mit verlorenen Blicken irrten seine Augen über die Wiese, über den verlassenen Altar und über die im Grase zerstreuten Kohlenreste, von denen einzelne noch in dünnen Fäden rauchten. Dann suchte er wieder die Thür, und so saß er, keinen Blick von dem Hause verwendend, erregt und beunruhigt von jedem gedämpften Geräusche, das von da drüben seine lauschenden Ohren traf. Er hatte dabei so viel mit seinen langsamen Gedanken zu schaffen, daß er gar nicht merkte, wie schnell ihm die Zeit verrann. Schließlich zog er aber doch einmal die Uhr hervor, und da erschrak er völlig, als sie ihm die neunte Stunde zeigte. „Jesses na – jetzt muß ich gehn – jetzt kann ich nimmer länger warten!“ stammelte er trübselig vor sich hin.

Schon wollte er sich zum Niedersteigen anschicken, als er drüben am Bygotterhäuschen die Thür gehen hörte. Und die helle Freudenröthe schlug ihm in die Wangen, als er Sanni mit einem hölzernen Wassereimer über die Schwelle treten und um die Hausecke verschwinden sah. Da wurden seine langsamen Gedanken gar flinkfüßig, und er hatte es gleich heraus, daß sie zum Brunnen ging, der hinter dem Hause war, im entlegensten Winkel des Gartens, gegen die Fenster vollkommen gedeckt durch die Stämme und das wirre Epheugeschling der beiden alten Eichen, welche das Dach beschatteten. Da war auch jede Spur von Rücksicht auf die schöne Montur vergessen. Mit einem hurtigen Rutsch erreichte er den Boden, rannte an der Umfriedung entlang, und als er die dem Brunnen zunächstliegende Stelle erreichte, schwang er sich kurz besonnen auf die Schneide des Zaunes. Das ging nun freilich ohne Rascheln und Poltern nicht ab – und Sanni, welche am Brunnen auf die Füllung des Eimers wartete, blickte erschrocken auf. Ein leiser Schrei huschte von ihren Lippen, als sie auf der Höhe des Zaunes die himmelblaue Gestalt erscheinen sah. Aber sie hatte den Burschen schon erkannt, noch bevor ihr Karli mit leisen Worten zurufen konnte: „Mußt net erschrecken – ich bin’s – ich – der Karli.“

Doch dieses Erkennen schien ihren Schreck noch zu mehren. Abwehrend streckte sie die Arme vor, als Karli niedersprang ins Gras und ihr entgegen eilte. Und während er mit glückseligem Lächeln und leuchtenden Augen ihre beiden Hände faßte, bewegten sich wortlos ihre Lippen und kein Tropfen Blut war in ihrem Gesichte.

„Hab’ ich Dich recht erschreckt – geh’ – Du Hascherl, Du arms!“ flüsterte er und drückte im Uebergefühl seiner Freude beinahe Sanni’s Finger wund. „Aber schau, es is nimmer anders ’gangen – und ich hätt’ in Frieden net fort können, ohne daß ich Dir’s g’sagt hab’ – weißt – einrucken muß ich – auf vier Wochen – zu die Manöver.“

Da löste sich Sanni’s Zunge. „Karli – Karli – um tausendgottswillen thu’ ich Dich bitten,“ stammelte sie mit versagender Stimme, während eine namenlose Angst aus ihren großen, blauen Augen sprach, die in ruheloser Hast zwischen dem Burschen und dem Hause hin und wieder glitten, „geh’, Karli – um Gottswillen geh’ – der Vater – wann er Dich sehen thät’ – Du kennst ihn net – er kann zum Fürchten sein!“ Ein Schauer überflog ihre schmalen Schultern.

„Fürchten? Ah na! Ich fürcht’ kein’ Menschen net, und schon g’wiß net, wann’s um Deinetwegen is!“

„Na, Karli – Du weißt net – schau – schier gar kein’ Herzschlag spür’ ich nimmer – vor lauter Angst. Du kannst net denken, wie er is – und jetzt erst – kaum a halbe Stund’ kann’s her sein, da hab’ ich ihm bei Blut und Leben schwören müssen, daß – daß –“ Ihre Worte stockten, und eine brennende Röthe flog über ihre schmächtigen Wangen. Dann schaute sie mit einem herzinnig flehenden Blicke zu ihm auf und weinte: „Thu’s mir z’ lieb, Karli – und geh’!“

Und mit zitternden Händen schob sie ihn schon von sich und dem Zaun entgegen.

„Ja, ja, Alles – schau – Alles thu’ ich, was Du haben willst,“ stotterte er verwirrt und unwillkürlich ein wenig angesteckt von Sanni’s Angst, „Alles thu’ ich – aber z’erst mußt mir sagen, ob auch a Bißl an mich denken magst, derweil ich fort bin?“

„G’wiß, Karli – g’wiß – in jeder Stund’ – hundertmal in jeder Stund’!“

Da wurde es ihm nun schwer, einen hellen Juhschrei zu unterdrücken. Aber die beiden Hände streckte er, faßte Sanni am Kopfe, zog die Widerstrebende stürmisch an sich und –

„Susanna! Wo bleibst Du so lange?“ tönte hinter dem Hause die zornige Stimme des Bygotters.

Erbleichend stieß Sanni den Burschen von sich. Der aber hätte einer solchen Mahnung nicht mehr bedurft. Mit einem einzigen Satze gewann er den Zaun, und rascher noch, als er vom Walde hereingekommen, stand er wieder draußen unter den Bäumen, mit dunkelrothem Gesichte, mit hämmerndem Herzen, lauschend unter fliegenden Athemzügen. Er hörte die Schritte des Alten näher kommen, hörte ihn seine Frage wiederholen und hörte die tonlose Antwort seines Mädchens: „Ich komm’ ja schon, Vater.“

[635] „Susanna! Was hast Du? Was ist geschehen? Warum zitterst Du? Warum bist Du so blaß?“

„So viel – erschrocken bin ich, Vater – a Wiesel – ja – a Wiesel is mir aus die Bretter ’raus an d’ Füß’ hing’fahren.“

„Närrin! Ein Thier ist Gotteswerk wie Du und ich!“

Langsam hörte Karli die Schritte der Beiden sich entfernen. Erleichtert athmete er auf, drückte kichernd die Augen zu, setzte die verschobene Mütze zurecht, klopfte den Rindenstaub von der blauen Montur und eilte hastigen Ganges davon. Er kehrte nicht auf die Straße zurück, sondern suchte durch Birken- und Weidengebüsch den nahen Fußpfad zu gewinnen, der sich bis in die Nähe des Dorfes immer am Ufer des Baches hielt.

Freudige Zufriedenheit war vorerst der einzige Ausdruck in Karli’s Zügen. Als er aber die Ereignisse der letzten Minuten noch einmal an sich vorüberziehen ließ, schien sich diese Zufriedenheit merklich zu mindern. „Das armselige Bußl hätt’ ich ihr dengerst noch geben können – auf die einzige Sekund’ da wär’s jetzt auch nimmer an’kommen,“ meinte er und machte eine verdrießliche Miene zu der Erfahrung, daß die besten Einfälle immer zu spät sich einzustellen pflegen. Dann dachte er an alles Andere, was diesen letzten Minuten vorausgegangen, und da war er gleich mit sich darüber einig, daß irgend etwas zur Erlösung Sanni’s geschehen müßte. Bevor er aber noch denken konnte, was da zu thun wäre, fiel es ihm wieder ein, daß jede Maßregel gegen den Bygotter auch auf Sanni eine schlimme Wirkung üben würde. Da war es ja eigentlich seine Pflicht, von Allem zu schweigen, was dieser Morgen ihm verrathen hatte; denn wenn die frommen Seelen des Dorfes oder der Hochwürdige im Pfarrhofe von diesem gottlästerlich heidnischen Treiben erfahren würden, das müßte einen schönen Spektakel setzen, aus dem der Bygotter wohl kaum mit heiler Haut entrinnen möchte. Dem Burschen schauderte ordentlich der Rücken bei dem Gedanken, was Alles ein unvorsichtiges Wort da heraufbeschwören könnte. Aber dem Götz, das wußte er, dem durfte er sich ohne Sorge anvertrauen und der würde auch sicher einen guten Rath zu dieser verwickelten Geschichte finden.

Unter solchen Gedanken hatte Karli die Nähe des väterlichen Hofes erreicht und sah von Weitem schon den Götz am Zaune stehen. Der Knecht schien ihn erwartet zu haben, und zwar mit Ungeduld, denn er winkte mit den Armen und rief dem Burschen entgegen: „Ja, Bua, wo bleibst denn so lang? Jetzt hast aber Zeit! Bis in d’ Station ’nein zieht sich der Weg. Länger als a halbe Stund’ darfst Dich nimmer verhalten; sonst versäumst mir noch den Zug und ruckst am End’ gleich mit Straf’ bei Deiner Schwadron ein.“

Als Karli zu Götz an den Zaun herantrat, sah er, daß inmitten des Hofes schon die leichte Einspännerkutsche von Stoffel in Bereitschaft gesetzt wurde, während unter der Stallthür soeben Martl mit der Frage erschien: „Was is? Soll ich einspannen?“

„Ah na, es is noch Zeit. Aber den Schimmel kannst derweil anschirren,“ erwiederte Götz und wandte sich wieder zu Karli, der jetzt den Hof betrat. „No, wie hat’s Dir ’gangen? Weil gar so lang ausblieben bist, mein ich, wirst dengerst ’was ausg’richt’ haben?“

„Da hast Recht! Für heut’ bin ich woltern z’frieden,“ lächelte der Bursche und wollte schon einen ausführlichen Bericht beginnen, als er Kuni unter die Hausthür treten sah.

Merkwürdig! Er hatte die ganze Zeit über so viel gedacht – und hatte dabei Kuni völlig vergessen.

„Du, da paß auf, was Dir ich Alles zum verzählen hab’,“ flüsterte er dem Knechte zu. „Aber jetzt muß ich z’erst um meine Sachen schauen. Wir Zwei haben ja noch Zeit mit einander – oder net? Du fahrst mich doch in d’ Station ’naus?“

„Natürlich, das is doch g’wiß, daß ich mir das von kei’m Andern net nehmen lass’.“

„No also, nachher richt’ ich mich jetzt z’samm’ derweil.“

Und steif erhobenen Kopfes stelzte Karli auf die Thür zu, an deren Pfosten Kuni mit verschränkten Armen gelehnt stand. Ihr Gesicht war nicht so frisch und rosig wie sonst. Ein müder Zug lag um ihre Lippen und eine leichte Blässe deckte ihre Wangen. Ihre Augen allein waren unverändert – es war in ihnen eher noch ein heißeres Funkeln, ein unruhigeres Leben als je.

Mit wohlwollendem Lächeln und freundlichen Blicken empfing sie den Burschen. Karli meinte, er sähe das gleiche Lächeln und die gleichen Blicke, die sie stets für ihn gehabt. Und dennoch war etwas ganz Eigenes in diesem Lächeln und diesem Blick. Mit scherzenden Worten schalt sie ihn wegen seines befremdlichen Ausgangs und wegen seines verspäteten Heimkommens. Er zuckte die Schultern und redete sich auf die „guten Kameraden“ aus, „wo Ein’ aufhalten auf Schritt und Tritt“. Ohne ihr ins Gesicht zu sehen, drückte er sich an ihr vorüber und schaute in die Stube, die er leer fand.

„Wo is denn der Vater?“

„Davon is er, an nothwendigen Gang hat er g’habt.“

„Ah was, nothwendig! Hätt’ auch daheim bleiben können, wann er weiß, daß ich fort muß auf vier Wochen.“

„No schau, schiergar die gleichen Wort’ hat der Vater g’sagt: hätt’ auch daheim bleiben können, der Sakrabua, am letzten Tag’.“

Gegen die Logik dieser Erwiederung fand Karli nichts mehr einzuwenden. Aergerlich zog er die Thür zu, deren Klinke er nicht aus der Hand gelassen, und stapfte an Kuni vorüber die Treppe hinauf.

Mit funkelnden Augen schaute sie ihm nach, und während sie so mit ihren beweglichen Blicken seine kräftige, schmucke Gestalt verschlang, erschien in ihren Zügen ein Ausdruck, fast wie Bedauern um irgend ein Etwas, fast wie peinigender Aerger über irgend ein Geschehenes, das nun nicht mehr ungeschehen zu machen war. Als aber Karli in der Höhe der Treppe verschwand, kehrte sie sich trotzig auf den Hacken um, und nach der offenen Küche sich wendend, drückte sie den Kopf in den Nacken und stieß mit zornigen Worten hervor: „Ah was – jetzt mag’s gehen, wie’s geht!“

(Fortsetzung folgt.)




Von der Camorra.

(Schluß.)


Es war bisher nur von der sogenannten „Camorra di piazza“, der Beherrscherin des Marktes, die Rede; jetzt bleibt uns noch übrig, auch die Camorra im Gefängniß kennen zu lernen; denn der Kerker war in der Blüthezeit dieses Geheimbundes seine eigentliche Wiege, Pflanzstätte und Domaine. Der erste Keim der Camorra soll sich, wie die Forscher der nationalen Zustände versichern, in den Zuchthäusern gebildet haben und erst von da aus in das bürgerliche Leben eingedrungen sein.

Jedenfalls war für den Camorristen, den Sohn des Volks, der vor dumpfen übelriechenden Räumlichkeiten nicht zurückbebte, die Freiheitsentziehung eine sehr zweifelhafte Strafe; denn jedes Zuchthaus stand mit allen übrigen Strafplätzen des Königreichs beider Sicilien sowie mit den städtischen Sektionen der Camorra im innigsten Wechselverkehr.

Sobald ein neu eingelieferter Sträfling den gemeinsamen Gefängnißraum betrat, wurde ihm von der Camorra der Beitrag „für das Lämpchen der Madonna“ – so lautete die herkömmliche Formel – abverlangt. Wehe dem, der mit leeren Händen kam! Kein Aufseher konnte ihn vor den blutigsten Mißhandlungen schützen, bis er Mittel und Wege fand, das Eintrittsgeld zu entrichten. Doch waren damit seine Verpflichtungen gegen die Camorra keineswegs abgetragen; auf Schritt und Tritt mußte er sich ihre Ueberwachung gefallen lassen, konnte ohne ihre Genehmigung nicht die kleinste Handlung vornehmen und schuldete ihr bis zum Tage seiner Freilassung den zehnten Theil jeder Einnahme. Und nicht zufrieden mit diesen direkten Kontributionen wußte die Camorra ihre unglücklichen Opfer durch indirekte Steuern völlig auszusaugen. Sie verkaufte an die Mitgefangenen Tabak und Wein, wofür sie gleichsam das Monopol hatte, vermiethete den Bemittelteren die vom Staat für jeden Einzelnen gelieferten Matratzen oder Strohsäcke, während sie die Armen auf dem nackten Boden zu schlafen zwang; sie besteuerte das Spiel, zu dem sie die Sträflinge zwang, und kaufte ihnen zu niedrigem Preis ihre neuen Kleidungsstücke oder die Hälfte der eben [636] gefaßten Ration ab, um sie durch das Geld zum Weiterspielen nöthigen zu können, und die Summen, die sie solchermaßen dem nackten Elend auspreßte, sollen in der Woche eine sehr beträchtliche Höhe erreicht haben.

Vor allem verfügte sie über die Waffen, deren Tragen sie allem Reglement zum Trotz einem Gefangenen gestatten oder verbieten konnte und die hundertmal konfiscirt immer aufs Neue beschafft wurden. Die Angehörigen der gefangenen Camorristen wußten sie auf tausend scharfsinnige Arten hereinzuschmuggeln; die Sträflinge verfertigten sie selbst aus eifrig gesammelten Nägeln, entwendeten Eisenstückchen, Ketten etc., die sie nächtlicherweile einschmolzen und zwischen zwei Steinen, wovon der eine als Hammer, der andere als Amboß diente, schmiedeten. Trotz der unermüdlichen Jagd, welche die Schließer auf diese oft ellenlangen Messer machten, gelang es ihnen höchstens durch Spionage dann und wann eines aufzufinden, etwa hinter dem Bewurf des Gemäuers oder in einem sorgfältig ausgehöhlten und wieder verstopften Hausgeräth, wie zum Beispiel in den hölzernen Löffeln der Sträflinge, die ein bequemes Futteral dieser Dolche abgaben.

Der im Jahre 1848 zum Tode verurtheilte und zum Zuchthaus begnadigte italienische Patriot und Schriftsteller Luigi Settembrini erzählt sehr ergötzlich, wie eines Tages ein höherer Officier mit einem ganzen Bataillon Soldaten im Gefängnißhof von Santo Stefano einrückte und verkünden ließ, die Gefangenen hätten binnen drei Stunden ihre sämmtlichen Waffen in den Hofraum herunterzuwerfen, wer eine einzige zurückbehalte, würde augenblicklich erschossen. „Drei Stunden lang regnete es Messer von allen Formen und Arten in den Hof herunter, und es wurden über tausend eingesammelt. Aber sobald die Soldaten abgezogen waren, tauchten die Waffen wie durch Zauber von Neuem auf.“

Als zwei andere bekannte Patrioten, M. Persico und Baron Poerio, in das Castel Capuano gebracht wurden, empfing sie dort bei ihrem Eintritt ein Camorrist, der ihnen mit einer tiefen Verbeugung im Namen der Camorra zwei Dolche zur Wahrung ihrer Sicherheit überreichte.

Solche Auszeichnung von seiten des Geheimbundes wurde jedoch nur den politischen Gefangenen zu Theil, die selbst ihren halb entmenschten Schicksalsgenossen Sympathie und Bewunderung einflößten, wiewohl die Camorra an der nationalen Bewegung keinen Theil nahm. Der gemeine Sträfling dagegen mußte sich, wollte er seines Lebens sicher sein, unter den persönlichen Schutz eines Camorristen stellen, der sich für seine Dienste bezahlt machte, indem er dem unglücklichen Schützling den letzten Sou aus der Tasche zog.

Freilich ließen nicht alle Verurtheilten diese Herrschaft gleich willig über sich ergehen, und zuweilen konnte es dann wohl geschehen, daß die Auflehnung einem Unerschrockenen gute Früchte trug.

So jenem calabresischen Priester, von dem M. Monnier erzählt. Da derselbe kein Oel für die Madonna beizusteuern vermochte, weil er keinen Sou besaß, hob der Camorrist den Stock gegen ihn.

„Wenn ich eine Waffe hätte,“ rief der Calabrese, „so würdest Du Dich hüten, mir so zu begegnen.“

„Daran soll es nicht fehlen,“ antwortete der Camorrist, in seiner Ehre gekränkt, holte eilig zwei große Messer, wovon er eines dem Calabresen reichte, und setzte sich in Positur. Aber der Priester war der Gewandtere und tödtete seinen Gegner. Jetzt erst gerieth er in Furcht, denn er fühlte sich doppelt bedroht durch die Strenge der Justiz auf der einen und den Groll der Camorra auf der andern Seite. Doch zu seinem großen Erstaunen entging er, Gott weiß wie, jeder Gefahr. Nicht nur daß die Camorra die ganze Angelegenheit vertuschte, vielleicht um ihre Autorität nicht zu erschüttern, sondern der Priester fand überdies Abends beim Zubettegehen einen großen Haufen Kupfermünzen auf seinem Kissen. Es war sein Antheil am „barattolo“, den man ihm wie einem neuen Gefährten von da an bis zur Abbüßung seiner Strafe jede Woche pünktlich auszahlte.

Zu der eben erzählten Geschichte, so wunderbar sie klingen mag, werden von Allen, die je mit der Camorra zu thun hatten, unzählige Seitenstücke berichtet. Diese rohen, nur durch persönlichen Muth ausgezeichneten Menschen respektiren Den, welcher der Gewalt Gewalt entgegensetzt und wissen ihn nicht besser zu ehren, als indem sie ihn für ihres Gleichen anerkennen.

Auch den Gefängnißbehörden wußte sich die Camorra als eine Macht gegenüber zu stellen, und nicht selten wurde sie von den Schließern, die mit ihr auf bestem Fuße standen, in Anspruch genommen, um widerspenstige Mitgefangene niederzuhalten oder verborgene Missethaten ans Licht zu bringen.

Zuweilen aber brachen im Schoß der Genossenschaft selbst Konflikte und Feindseligkeiten aus, die zu dämpfen die Kerkermeister alsdann machtlos waren. Die politischen Mitgefangenen haben Schilderungen blutiger Schlachten hinterlassen, die sich in den Zuchthäusern abspielten und ihren Anlaß in Eifersüchteleien und inneren Zerwürfnissen der Camorra hatten. Doch auch ohne solche Massenkämpfe feierte das Messer nicht, und häufig wurde das Gefängniß Schauplatz eines regelrechten Bluturtheils, von der Camorra an treulosen oder rebellischen Mitgliedern vollzogen. Nur selten gelang es der Behörde, einen solchen Verurtheilten durch Isolirung oder Versetzung in ein anderes Gefängniß zu retten, die Sentenz wurde augenblicklich sämmtlichen Häuptern der Camorra, den Internirten wie den auf freiem Fuße Befindlichen, bekannt gemacht, und überall, so weit der Arm der Camorra reichte, also im ganzen Königreich, lauerte der Dolch seiner Richter auf den Schuldigen.

In offener Versammlung wurde das Urtheil gesprochen und alsdann ein „Picciotto“ mit der Vollstreckung desselben betraut. Entzog sich der Erwählte seinem Amt, so verfiel er selbst wegen Insubordination dem gleichen Schicksal.

Für geringere Vergehen gab es andere Strafen wie zeitweilige Enthebung vom Amte, Entziehung des „barattolo“ etc., die alle mit eiserner Strenge gehandhabt wurden.

Wenn jedoch ein gefeiertes Oberhaupt, einer von den Auserwählten, die im goldenen Buch der Camorra stehen, von der Staatsgewalt wegen irgend eines Verbrechens verurtheilt wurde und im Gefängniß seinen festlichen Einzug hielt, so konnten an einem solchen Freudentag alle über seine geringeren Brüder von dem Bunde verhängten Strafen durch eine Generalamnestie aufgehoben werden.

Von der Bestrafung eines Camorristen, der eine unabsichtliche Indiskretion gegen die Gesellschaft begangen hatte, berichtet ein Augenzeuge folgendermaßen:

„Bei einem Festmahl, das die Kameraden abhielten, mußte der Schuldige in einer Saalecke stehen und alle erdenklichen Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Er wurde geschlagen, geohrfeigt, angespuckt, und erst mit Schluß der Mahlzeit nahm seine Buße ein Ende.“

Derselbe Gewährsmann theilt noch andere Details über die strenge Disciplin der Camorra mit. Wenn bei dem allmorgendlichen Rapport der Camorristen in seinem Stadtviertel, so erzählt er, einer der Anwesenden aus Versehen rede, ohne aufgefordert zu sein, oder die Hände, die zusammengelegt sein müssen, entfalte, so springe der Vorgesetzte auf und traktire den Ungeschickten mit Ohrfeigen, was diese gewaltthätigen, rachsüchtigen, an Blut gewöhnten Männer ohne Murren über sich ergehen ließen.

Es ist klar, daß eine so streng organisirte und dabei so geheime Institution, über welche es ja noch heutigen Tages schwer hält, genaue Aufschlüsse zu bekommen, in ihrem Mutterboden viel zu tiefe Wurzeln geschlagen hat, als daß ein Regierungswechsel und der gute Wille der neuen Staatsgewalt genügt hätten, um das Uebel von Grund aus zu vertilgen. Doch ist in Neapel ein großer Schritt auf diesem Wege geschehen, und vor Allem ist durch die allgemeine Wehrpflicht mit dem beständigen Garnisonswechsel ein neuer Geist in das Volksbewußtsein eingedrungen: der Name des Camorristen hat aufgehört, ein bewunderter Ruhmestitel zu sein; sah ich doch selbst unlängst einen neapolitanischen Marinesoldaten Thränen hilfloser Wuth vergießen, weil ein Vorgesetzter aus den nördlichen Provinzen die Aeußerung gethan hatte: „Neapolitaner ist gleichbedeutend mit Camorrist.“

Anders leider verhält es sich in Sicilien, wo die Mafia noch alle Zweige des bürgerlichen Lebens und der Verwaltung durchdringt und wo Dank der Abgeschlossenheit der Insel und den unausrottbaren Traditionen des Brigantenwesens noch auf lange Zeit alle Bemühungen scheitern werden, das 19. Jahrhundert unmittelbar dem Feudalismus und dem Faustrecht aufzupfropfen. Isolde Kurz.     



[637]

Das Milchmädchen von Trianon.

Eine Lieder-Erzählung von Ernst Pasqué. 0Mit Illustrationen von A. Brunner.

Die prachtvolle ehemalige Residenz des Sonnenkönigs Ludwig’s XIV. mit ihren Gärten, Wasserkünsten und den beiden Trianon, übt stets einen geheimnißvollen, mächtigen Reiz auf den Fremden aus, denn Versailles ist der Schauplatz, auf dem sich während eines Jahrhunderts nicht allein Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung vollzogen, sondern auch ein buntes, interessantes Leben, reich an phantastischen, blendenden Festen, heimlichen Intriguen und pikanten Scenen entwickelte. Besonders sind es die beiden Trianon, welche die Phantasie des Neulings in Paris vorzugsweise beschäftigen: findet er doch heute noch in „Petit Trianon“ einen ganzen Sagenkreis um die Person der unglücklichen Königin Marie Antoinette gewoben, von dem die Wissenden sich nur flüsternd zu erzählen wagen.

Das letzte Mal, als ich Paris besuchte – nur wenige Jahre sind es her – da verbrachte ich mehrere Tage in „Petit Trianon“, das damals in liberalster Weise dem Besucher täglich offen stand – und doch so wenig besucht wurde! Der geheimnißvolle Zauber des Orts hielt mich gebannt und wirkte um so mächtiger auf mich ein, als ich mich ganz allein in dem weiten Parkbereich sah. Kein Besucher störte mich in meinem Wandeln und Träumen, kaum daß ich in der Ferne einen Gartenarbeiter bemerkte. Nur am Eingange des Dörfchens, in dem Häuschen des „Feldhüters“, fand ich einen rothhosigen Infanteristen, der, mit seinem Seitengewehr bewaffnet, die historisch interessanten ländlichen Bauten, deren Inneres zu betreten verboten war, bewachte.

Mit Hilfe freundlicher Worte und besonders einiger Regiecigarren gelang es mir, den harmlosen Troupier zu gewinnen, und an seiner Seite durchwanderte ich die sämmtlichen Häuschen des Dörfchens. In der Mühle ließ mein Gefährte das Rad sich drehen, und es sang heute noch dasselbe melancholische „Klipp-Klapp“ wie zur Zeit, als Ludwig XVI. dort als „Müller“ hantirte. In der „Laiterie“, der Milchkammer, sah ich die weiße Marmortafel, wo Marie Antoinette als Bäuerin die von ihr oft selbstgemolkene Milch in einfachen Gefäßen ihrem intimen Hofstaat, den zeitweiligen Bewohnern des Dörfchens, auftischte; wo man vermittelst Leitern von Mahagoni auf die niedlichen Futterspeicher stieg, mit Waschbläuel von Ebenholz die Wäsche reinigend schlug – mit „goldenen Scheren“ die Schäfchen schor! Ich sah das Schulhaus, in welchem der junge, doch ernste und gelehrte Graf von Provence, später Ludwig XVIII., als Dorfschullehrer fungirte, während sein Bruder, der Graf von Artois, später Karl X., das Amt eines Flurschützen versah und in dem Häuschen wohnte, das heute meinem republikanischen Führer als Aufenthalt diente. Ich sah die Wohnung des „Bailly“ (Landvogt), ein wichtiges Amt in dieser arkadischen Maskerade, das meistens in den Händen des gewandten Grafen d'Adhémar ruhte, den „Marlborough-Thurm“, das Pfarrhaus und endlich das „Boudoir“ und den Pachthof, das größte und schönste Gebäude des Dörfchens, den Wohnort der königlichen Pächterin, mit seinen Lauben und Laubgängen, mit den Vasen, in denen einstens die von der Herrin des Orts gepflegten Blumen blühten.

Dann verabschiedete ich dankend meinen Führer, warf mich am Ufer des kleinen Sees auf den Rasen nieder, und, das Dörfchen vor mir, versenkte ich mich in Erinnerungen längst vergangener Zeiten und überließ mich meinen Träumereien, und was ich damals in der Idylle des „Petit Trianon“ träumend geschaut, bereits wußte und sonst noch erfahren habe, will ich jetzt der Reihe nach erzählen.




Das Dörfchen der Königin und dessen Bewohner.

Im Jahre 1774 starb Ludwig XV. und sein Enkel bestieg als Ludwig XVI. den Thron Frankreichs. Als Angebinde schenkte der König seiner jungen, damals neunzehnjährigen Gemahlin das Schlößchen „Petit Trianon“ mit seinen Gärten, und dankbar nahm die lebensfrohe Königin die Gabe an, jedoch mit der halb ernstlich, halb schelmisch gestellten Bedingung, daß der König nur dann dort erscheinen dürfte, wenn man ihn dazu einladen würde. Nun begann sie Schlößchen und Garten, die ihr von Anfang an ein Lieblingsaufenthalt waren, nach ihrem Geschmack, ihren Neigungen zu verschönern und umzuwandeln. Jedem Zwange abhold, war sie auch eine Gegnerin der steifen altfranzösischen Gartenkunst Le Nôtre’s, und während der Architekt Micque das Schlößchen, das kleine Theater und die verschiedenen Pavillons umbaute und errichtete, zeichneten der Architekt Leroy und der Maler Hubert Robert, nach Anordnung der Königin, den neuen landschaftlichen Garten im englischen Geschmack, mit seinen Wiesen und Wäldchen, seinen natürlichen Felspartien, Grotten und Wasserfällen, seinem Bächlein, dem See und dem kleinen koketten Dörfchen, welche Arbeiten dann auch unter Leitung der beiden Künstler ausgeführt wurden. Es dauerte dies indessen mehrere Jahre, und erst 1781, beim Besuche Josef’s II. in Versailles, fand die eigentliche Einweihung des kleinen selbstgeschaffenen Paradieses der Königin Marie Antoinette statt.

Nun begannen auch die ländlichen Maskeraden der Königin und der Intimen ihres Hofstaats, welche, außer dem König und dessen Geschwistern, den Grafen von Provence und von Artois und Madame Elisabeth, nur noch aus wenigen Personen, mehreren Damen und älteren Herren bestand, unter denen Baron von Besenval, die Grafen d'Adhémar und Vaudreuil die bevorzugtesten waren. Der einzige jüngere Kavalier dieses intimen Hofstaats war der etwa zwanzigjährige Graf Artois – sein nur um zwei Jahre älterer Bruder, der Graf von Provence, zählte, weil er zu ernst war, nicht mit.

Das Dörfchen erhielt erst gegen 1783 die volle Ausdehnung. Die ersten der ländlichen Bauwerke waren die Meierei und die Milchkammer mit ihrem marmorgepflasterten Stalle. Marie Antoinette verlangte aus Gesundheitsrücksichten und weil es zugleich ihrem Geschmack entsprach, nach frischer süßer Milch, die unter ihren Augen gemolken werden sollte – bis sie später solche ländliche Arbeit selber besorgte. Als die beiden Bauten fertig waren, als ihr hübsches malerisches Aeußere, die kokette und einladende innere Einrichtung und Ausstattung der jungen Königin größte Freude machten, ließ sie durch ihren Agenten in der Schweiz und im Kanton Freiburg zwei prächtige Schweizerkühe aufkaufen und nach Versailles senden. Da die kostbaren Thiere auch gute und besonders richtige Pflege haben mußten, so wurde dem französischen Agenten bald der weitere Auftrag, auch eine junge hübsche Schweizerin, in solchen ländlichen Arbeiten wohlerfahren, zu suchen, zu engagiren und ebenfalls nach Versailles zu schicken. Rasch wurde der Befehl der Königin erfüllt, und noch waren die beiden Schweizerkühe in ihrem Marmorstalle zu Trianon nicht heimisch geworden, da langte auch schon eine Landsmännin von ihnen an, eine junge frische und sehr hübsche Dirne aus dem Kanton „Fribourg“ mit Namen Emmi. Das Mädchen sah in seiner volksthümlich ländlichen Tracht, mit dem blendend weißen bauschigen Linnenhemde, dem schwarzen, mit silbernen Kettlein verzierten Mieder ganz allerliebst aus. Der flache Strohhut, den sie stets mit Blumen verzierte, hob das rothwangige Gesichtchen mit den großen braunen Augen äußerst vortheilhaft hervor. Eine besondere, auffallend schöne und überraschende Zierde bildeten die beiden braunen, bis weit unter die Taille niederhängenden Haarzöpfe, die den hochauftoupirten und gepuderten Hofdamen erst ein Gegenstand des Lächelns, sehr bald aber der Bewunderung und sogar des stillen Neides wurden. Daß die hübsche frische Schweizerin auf die Herren des kleinen Kreises einen noch lebhafteren Eindruck machen mußte, konnte nicht ausbleiben, doch war hierbei wohl nichts für Emmi zu fürchten, denn Marie Antoinette hatte, wie schon angedeutet, nur ältere Kavaliere zu ihrer „Société intime“ zugezogen.

[638] War doch Graf d'Adhémar, der auf dem Privattheater der Königin die Liebhaberrollen spielte – den Schäfer Collin im „Dorfwahrsager“ von J. J. Rousseau, Graf Almaviva in Beaumarchais’ „Barbier von Sevilla“ – ein Sechziger, dessen Stimme beim Deklamiren bedenklich zitterte, worüber die Königin, als Colette und Rosine, sogar oftmals auf der Scene laut auflachen mußte. Nur Graf Artois, ein lebensfroher Kavalier, zu allen lustigen und galanten Abenteuern aufgelegt, konnte gefährlich werden. Doch auch diesem geboten der Ort und dessen königliche Herrin Schranken, die er offen niemals zu überschreiten gewagt haben würde. Desto eifriger bemühte er sich bald im Geheimen um die schöne Schweizerin, wie dies denn auch, und wohl noch heimlicher, doch getreu seinem Fach als „jugendlicher Liebhaber“ und ehemaliger wirklicher Roué, der alte Graf d'Adhémar that, nur daß Ersterer dabei den feuerigen Bewunderer spielte, während sein stiller Rivale den Liebhaber geschickt unter dem väterlichen Freunde zu verbergen wußte. Und Ursache und Gelegenheit zu solcher heimlichen Annäherung und Bewerbung sollte sich mit der Zeit, sogar recht bald ergeben. Die kleine Emmi hatte ihr neues Amt als königliche Kuhhirtin und Melkerin in Trianon mit der vollen Unbefangenheit und Lust eines fröhlichen Kindes der Schweizerberge begonnen, den ganzen Tag und überall, wo sie sich auch befand, erklang ihre helle Stimme. Bald sang sie französische, bald deutsche Liedlein, denn beide Sprachen waren ihr geläufig; jodelte bald einen französischen „Ranz des vaches“, bald einen deutschen Kuhreigen, zum größten Vergnügen der heimlich horchenden Königin und ihrer Gesellschaft. Doch nur zu bald änderte sich dies. Emmi wurde stiller – immer stiller und einsilbiger, bis endlich Stimme und Gesang vollständig verstummten und auch die Rosen ihrer Wangen zu erbleichen begannen. Eines Tages überraschte die Königin das Mädchen sogar in Thränen, und als Marie Antoinette sich mit Worten wahrer Theilnahme nach der Ursache dieser plötzlichen Traurigkeit erkundigte, da entfloh Emmi, ohne nur eine Silbe zu erwiedern der Milcherei und eilte hinaus zu ihren beiden Kühen, die draußen auf der duftenden Wiese weideten.

Im „Petit Trianon“: Das Haus des Landvogts (Bailly).

„Sie hat das Heimweh,“ sagte Marie Antoinette sinnend vor sich hin, dabei an ihre eigene österreichische Heimath denkend. „Nur dies kann die Ursache ihrer Traurigkeit, ihrer Neigung zur Einsamkeit sein, denn hier fehlt es ihr doch an nichts. Nun, es wird vorübergehen,“ fuhr sie wieder heiterer in ihrem Selbstgespräch fort. „Auch ich habe es kennen lernen, dieses böse Heimweh, und ich zählte erst fünfzehn Jahre, als ich mein liebes Wien und Schönbrunn verlassen mußte, während Emmi älter ist und auch nur ein armes Dörfchen, öde Thäler und Höhen zu betrauern hat, wogegen Trianon ein wahres Paradies ist. – Es wird vorüber gehn!“

Doch bei der armen Emmi ging es nicht vorüber; das böse „Heimweh“ wurde sogar tagtäglich schlimmer, denn nun ließ sie ungehindert ihren Thränen freien Lauf, gleichviel, ob ihre königliche Herrin oder die andern Damen des Hofes zugegen waren oder nicht. Jetzt wurde auch die Theilnahme eine allgemeine, und von allen Seiten versuchte man das arme Kind, von dem Marie Antoinette sich nicht trennen wollte, zu trösten. Dadurch erhielten die beiden Herren, welche sich von Anfang an für die ländliche Schöne interessirt hatten, einen Vorwand, sich Emmi zu nähern, um, ein jeder auf seine Weise, den Tröster zu spielen. Am Tage weilte Emmi mit Vorliebe auf den einsamen, zwischen Baummassen und Gebüsch versteckten Rasenflächen des Parkes, die sie als Weideplätze für ihre Kühe benutzte. Es war, als ob sie sich von den beiden schönen Thieren nicht hätte trennen können, denn Abends saß sie wiederum und bis spät in die Nacht hinein bei ihnen im Stalle, stets sinnend und weinend. Auf diesen Umstand bauend, hatten die beiden Bewerber um die Gunst Emmi’s ihren Belagerungsplan entworfen. Glaubte das Mädchen sich in seiner Waldeinsamkeit allein, dann trat plötzlich der junge hübsche und unternehmende Graf Artois zwischen den Bäumen hervor und war bald an Emmi’s Seite, in feurigen Worten ihr zuraunend, das böse Heim- und Herzensweh sei sicher durch ein anderes, weit süßeres Weh: die Liebe, zu bekämpfen und in die Flucht zu schlagen. Das Mädchen schaute wohl auf bei solcher unerwarteter Annäherung; doch floh sie nicht, bangte nicht einmal, sondern ließ den Prinzen reden, als ob er ihr die allerunschuldigste und gleichgültigste Geschichte erzählt hätte, ohne daß sie dabei irgend eine Bewegung machte oder nur eine Silbe erwiederte. Wenn endlich der junge Prinz auf eine Antwort drang, dann schaute Emmi ihm mit ihren großen thränennassen Augen fragend und dabei so tief traurig in das Antlitz, daß dieser Blick dem enttäuschten Liebhaber nur zu deutlich kündete, wie wenig seine schönen feurigen Reden von dem Mädchen verstanden – daß sie vielleicht nicht einmal beachtet worden waren!

Im „Petit Trianon“: Der Marlborough-Thurm.

Weit glücklicher war der alte geistvolle Roué Graf d'Adhémar, der nicht umsonst den Ruf eines vorzüglichen Schauspielers genoß, in seinen Bestrebungen. Er hatte sich dafür den Abend und die Milchkammer, ja, wenn es sein mußte, sogar den Stall, erwählt; er redete dem armen Mädchen zu wie ein väterlicher Freund, erfaßte ihre Hand, drückte das Köpfchen der Weinenden mit inniger Theilnahme an seine Brust, und Emmi verstand ihn, ließ es nicht allein geschehen, sondern nachdem sie sich an der Brust des alten guten Herrn ausgeweint hatte, redete sie zu ihm und öffnete ihm endlich auch [639] ganz ihr Herz. Da erlebte nun freilich der gar zu kluge Graf eine arge Enttäuschung, denn was bekam er da zu hören!

Es war an einem Abend und im Stalle mit dem weißen Marmorboden und der gleich kostbaren Krippe, Graf d'Adhémar hatte sich auf den dreibeinigen blankpolirten Schemel von Mahagoni, der zwischen den beiden Kühen stand und für gewöhnlich der Melkerin bei ihrem Geschäft diente, niedergelassen, und neben ihm kauerte die hübsche, interessante Emmi, stützte sogar ihren Arm mit sammt dem allerliebsten Köpfchen auf die lebhaft zitternden Kniee des alten Herrn und erzählte. Wohl habe sie Heimweh, so berichtete sie unter Thränen, doch hauptsächlich nur nach ihrem – lieben armen Jakob, ihrem „pauvre Jacques“, den sie mehr als die Heimath – mehr als das Leben liebe, der sterben würde – wie sie nicht mehr leben könne – wenn sich Beide nicht wiedersehen, nicht einander in die Arme fliegen, sich nicht nach Herzenslust küssen und lieben dürften!

Es war eine einfache, alltägliche Geschichte und doch eine Geßner’sche Idylle, oder eine der ländlichen Erzählungen Florian’s, von denen die Königin oft gesagt, es wäre ihr beim Lesen zu Sinne, als ob sie eine köstliche Milchsuppe verspeise. Emmi berichtete, wie sie früher die Kühe eines einfachen Bauern ihres Heimathdorfes gehütet, während Jakob jeden Morgen mit der dörflichen Ziegenherde ausrückte. Auf den Weideplätzen lernten Beide sich schon als Kinder kennen, spielten anfänglich mit einander, um sich dann später, was eben nicht ausbleiben konnte, zu lieben. Hätte Emmi gewußt, welch Herzeleid ihr nach der Trennung bevorstehe, sie würde nun und nimmer ihre Berge, ihren lieben armen Jakob verlassen haben, und wäre der Weg nach Paris und Versailles auch mit Gold gepflastert gewesen. Aber das wußte sie eben nicht und nun, nachdem sie Alles habe, was man nur wünschen könne, fühle sie sich tief unglücklich, Nichts erfreue sie mehr. Zu singen sei sie nicht mehr im Stande; nur zu weinen – zu weinen vermöge sie, von Morgens bis Abends und sogar des Nachts in ihren Träumen. Der Sonnenschein quäle sie, und suche sie die Schatten des Waldes auf, so treibe es sie auch von dort wieder fort. Die Sehnsucht nach ihrem armen Jakob drücke ihr eben das Herz ab und Ruhe finde sie wohl nur noch im Grabe.

So weit war Emmi mit ihren Schilderungen und Klagen gekommen, da versagte ihr plötzlich die Stimme und die letzten Worte erstarben in einem herzbrechenden Schluchzen. Arme Emmi! Armer Jakob! Graf d'Adhémar, der sich schließlich von dem tiefen Schmerz, von der naiven Hingabe des lieben, ihm vertrauenden Kindes wahrhaft und seltsam ergriffen fühlte, wollte nun sein Amt als Tröster beginnen und hätte jetzt gewiß auch Worte gefunden, die vom Herzen gekommen, zum Herzen gedrungen wären. Doch es sollte nicht sein! Kaum öffnete er die Lippen, um zu reden, als er in seiner Nähe ein Geräusch vernahm, das nicht von der Gesellschaft ihm zur Rechten und zur Linken, den beiden königlichen Schweizerkühen, herrühren konnte, und als er überrascht aufschaute, wäre er bald vor Schreck mit sammt seinem Mahagonimelkstuhl umgesunken, denn vor ihm stand Marie Antoinette und derselbe Blick zeigte ihm in der offenen Thür des Stalles und draußen den ganzen kleinen Hofstaat der Königin, zugleich auch das schadenfroh lächelnde Antlitz seines Nebenbuhlers, des Grafen von Artois, der allein ihn verrathen haben, der Urheber dieser Scene gewesen sein konnte.

Wie war das zugegangen?




„Pauvre Jacques“ – und das Lied der Marquise von Travanet.

Die Königin hatte an diesem Abend eine musikalische Unterhaltung angeordnet und dazu Einladungen an mehrere Damen des Hofes von Versailles ergehen lassen, unter Anderen auch an die Marquise von Travanet, die nicht allein das Klavier vortrefflich spielte und dabei sang, sondern auch hübsche Romanzen und Lieder dichtete und komponirte, die dem damaligen Geschmack entsprachen und in glücklicher Erfindung den melodisch sentimentalen Weisen Monsigny’s und Gretry’s nachstrebten. Das kleine Koncert fand in einem Musikpavillon statt, dessen offene Thüren nach dem umgebenden Park gingen, und da es gestattet war, den Produktionen auch draußen unter den Bäumen zu lauschen, so glaubte Graf d'Adhémar die beste Gelegenheit gefunden zu haben, sich unbemerkt zu seiner kleinen Schweizerin zu stehlen.

Doch unglücklicher Weise beschäftigten gleiche Gedanken auch den jungen Grafen von Artois. Da sein galantes Abenteuer am Tage keinen Erfolg gehabt, hoffte er, am Abend glücklicher zu sein, und so trat denn auch er, sobald es ohne Aufsehen geschehen konnte, seine heimliche Wanderung nach der königlichen Meierei und der schönen Emmi an. Er kam zu spät. Nach einigem Spähen zeigte ihm endlich ein Blick durch die kleinen bleigefaßten Scheiben des Stallfensters die junge Schweizerin, doch zugleich auch seinen glücklicheren Rivalen und Beide, im Verein mit den Kühen, in einer solchen originellen Gruppe, daß dies noch mehr seine Lachlust als seinen Aerger reizte. Eiligst kehrte er nach dem Musikpavillon zurück und begann dort heimlich und dringend auf Marie Antoinette einzureden, sie möge ihm nach der Meierei folgen, wo sie den eigentlichen Grund des Kummers und der Schwermuth der jungen Schweizerin kennen lernen würde. Nur müßte man vorsichtig zu Werke gehen, [640] um die arme Emmi und ihren Schmerz unbemerkt beobachten zu können. Marie Antoinette, die sich lebhaft für das junge Mädchen interessirte, fand nichts Bedenkliches in diesem Vorschlag ihres Schwagers. Die musikalischen Produktionen wurden unterbrochen und die Königin mit ihrer ganzen Gesellschaft machte sich, von dem Grafen Artois geführt, von einigen Lakaien mit Windlichtern gefolgt, auf den Weg nach der Meierei. Unbemerkt langten sie dort an und sahen allerdings die arme Emmi – und bei ihr – den Grafen d'Adhémar. Die Königin, im ersten Augenblick sprachlos vor Staunen und Entrüstung, blieb wie gebannt unter der offenen Thür des Stalles stehen und mußte der Erzählang Emmi’s horchen, wie auch der ganze kleine Hofstaat, der sich neugierig leise – leise näher drängte, kein Wort davon verlor. Da wurde es Marie Antoinette weich um das Herz; sie sah, daß das junge Mädchen keine Schuld traf und den Grafen d'Adhémar wohl auch nicht, ihr Zürnen wandelte sich rasch in innige Theilnahme mit dem armen Kinde, dessen Herzensweh ihren Augen Thränen entlockte. Da war die Erzählung Emmi’s zu Ende, die Königin trat vor und Graf d'Adhémar schaute auf.

Der Schreck, den er empfand, war ein ganz gewaltiger, doch rasch faßte sich der geistvolle Höfling, dem jetzt die theatralische Routine zu Statten kam. Mit einem Blick überschaute er die ganze Situation, und die theilnahmvolle Miene, die thränennassen Augen der Königin sagten ihm sofort, daß er sich mit Vortheil aus der bedenklichen Affaire ziehen könne. – Noch bevor Marie Antoinette ein Wort geredet, hatte Graf d'Adhémar sich schon erhoben, Emmi bei der Hand genommen und der Königin entgegen geführt. Ein kräftiger, vielsagender Druck, und das junge Mädchen sank vor ihrer hohen Beschützerin nieder, umfaßte weinend deren Kniee, und während sie schamvoll verlegen und bittend zu ihr aufschaute, sprach Graf d'Adhémar mit der vollendeten Kunst eines Schauspielers, der die Herzen zu ergreifen versteht:

„Der Kummer Emmi’s rührte mich, ich suchte ihr Vertrauen zu gewinnen, um ihr helfen zu können, und wie an dem Herzen eines Vaters hat das gute Kind sich ausgeweint, mir nicht allein ihre Liebe zu ihrem armen Jakob gestanden, sondern auch daß sie sterben würde, müßte sie länger fern von ihm sein. Ich hoffe, daß unsere angebetete gütige Königin,“ also fuhr er mit einem schelmischen Seitenblick auf seinen geschlagenen jüngeren Nebenbuhler fort, „Mitleid mit dem Heim- und Herzensweh ihrer getreuen Dienerin haben und der guten Emmi ihren ‚pauvre Jacques‘ zurückgeben wird.“

„Ich danke Ihnen, mein lieber Graf,“ entgegnete Marie Antoinette, mit huldvollem Lächeln Graf d'Adhémar zunickend, und das Mädchen vom Boden empor ziehend, „daß wir durch Ihre freundliche und geschickte Fürsorge endlich die wirkliche Ursache des Kummers unserer armen Emmi kennen gelernt haben, und Sie wie das gute Kind dürfen versichert sein, daß ich Alles aufbieten werde, die nun glücklich entdeckte Herzenswunde zu heilen.“ Sodann sich zu dem Mädchen wendend, fuhr sie fort: „Tröste Dich, Emmi, und vertraue den Worten Deiner Herrin! Sei wieder fröhlich und singe wie früher. Ist Dein ‚armer Jakob‘ Dir ebenso zugethan geblieben, wie Du ihm, dann soll der Lohn Eurer treuen Liebe nicht ausbleiben. Deine Königin verspricht es Dir.“

Wiederum wollte Emmi, diesmal in dankbarer Rührung, das Herz voll hoffender Freude, der gütigen Königin zu Füßen fallen, doch diese entzog sich solchem Dank, indem sie mit einem freundlichen Lächeln von dem Mädchen Abschied nahm und, von ihrer Umgebung gefolgt, den Rückweg nach dem Schlößchen antrat.

„Diese glückliche Wendung ihres Schicksals hat meine kleine Schutzbefohlene im Grunde wohl nur Ihnen, Monseigneur, zu verdanken,“ sagte Graf d'Adhémar im Dahinschreiten zum Grafen Artois, indem er sich mit einer leichten Verbeugung und mit einem schelmischen Lächeln dem jungen Prinzen näherte.

„Dafür wird Ihnen die gewiß noch weit angenehmere Aufgabe werden, jenen ‚Pauvre Jacques‘ in die Arme Ihrer Schutzbefohlenen legen und das junge Paar in das Brautgemach – ihres Stalles geteiten zu dürfen. Viel Vergnügen, Herr Graf!“ entgegnete Graf Artois mit beißendem Spott in Ton und Blick, außer Stande, seinen Aerger über die verfehlte Rache zu verbergen. Dann eilte er rasch weiter, um in die Nähe der Königin zu gelangen. Marie Antoinette kehrte nicht nach dem Musikpavillon zurück; es war spät geworden und die Stunde des Soupers gekommen. So zog sie denn mit ihrer kleinen Gesellschaft nach dem Schlößchen, wo die Abendtafel bereits ihrer Gäste harrte. Das Souper verlief in belebter Stimmung; die kleine Emmi, ihr armer Jakob und das Herzensweh der hübschen Schweizerin lieferten den Stoff der Gespräche. „Pauvre Jacques“ klang es allwärts mit gefühlvollstem Ausdruck, doch auch hie und da mit einer leichten Ironie. Nur eine der Damen machte eine Ausnahme, sie allein blieb bei dieser allgemeinen lebendigen Unterhaltung stumm oder doch auffallend wortkarg und schien mit ganz anderen Gedanken beschäftigt zu sein. Es war die Marquise von Travanet. Als die Königin dies endlich bemerkte, wendete sie sich erstaunt an die sonst so lebhafte und zugleich sehr gefühlvolle Dame mit der Frage, ob denn das Schicksal des armen Kindes der Schweizerberge nicht auch ihr Herz gerührt habe. Die Marquise lächelte und erwiederte, es sei dies in einem solchen Grade der Fall gewesen, daß sie bereits das Herzweh Emmi’s, sogar deren eigene Worte in Verse gebracht, auch schon die passende Melodie dafür gefunden habe. Wenn Ihre Majestät es gestatteten, meinte sie schließlich, so würde sie sich glücklich schätzen, dies soeben entstandene Liedchen vom „Pauvre Jacques“ vortragen zu dürfen.

Marie Antoinette war sehr erfreut über diese Mittheilung der poetisch und musikalisch begabten Marquise und bat sogleich [641] dringend um den Vortrag des Liedes. Sie hob die Tafel auf und schritt mit der Marquise in den kleinen Musiksalon, der sich rasch mit der übrigen Gesellschaft füllte. Die Marquise von Travanet setzte sich an das Clavecin der Königin (heute noch in „Petit Trianon“ befindlich!) und unter lautloser Stille, bei gespannter Erwartung ihrer gefühlvollen Zuhörerschaft, sang sie das von ihr gedichtete und komponirte – im Grunde improvisirte Lied vom „Armen Jakob“.

Das kleine Lied mit seiner hübschen Melodie erfreute und rührte die Königin und deren Hofstaat so sehr, daß seine Urheberin es mehrmals wiederholen mußte, und als die Gesellschaft endlich aufbrach, hörte man von allen Seiten, mehr oder minder gefühlvoll die rührende Weise des Refrains:

„Pauvre Jacques, quand j’étais près de toi
Je ne sentais pas ma misère;
Mais à présent que tu vis loin de moi,
Je manque de tout sur la terre!“


(„Armer Jakob, als ich in Deiner Näh’,
Fremd war mir des Kummers Beschwerde.
Nun Du mir ferne und ich Dich nimmer seh’,
Fehlt mir Alles – Alles auf der Erde!“)

Die Damen des Hofes brachten das Lied nach Versailles, von dort wanderte es nach Paris, von wo aus „Pauvre Jacques“</t> sich rasch durch ganz Frankreich verbreitete und eine Lieblingsromanze der damals, vor 1789, mehr empfindsamen als revolutionären Bewohner des schönen Landes wurde.

Am Schluß unserer kleinen Erzählung geben wir das Lied der Marquise von Travanet mit seiner Melodie, die in ihrer eigenartigen Färbung jene Zeit der Empfindsamkeit, in welche die glücklichen Tage Marie Antoinette’s fallen, treffend charaktertsirt.




Der glückliche Jakob und ein deutsches Lied.

Während „Pauvre Jacques“ in Trianon mit Vorliebe gesungen wurde und von Versailles und Paris seine Wanderung durch Frankreich antrat, arbeitete Marie Antoinette eifrigst an der Erfüllung ihres der armen Emmi gegebenen Versprechens. Der bereits zweimal für die Königin thätig gewesene französische Agent in der Schweiz erhielt nun den weiteren Auftrag, den bewußten „armen Jakob“ aus seinem Freiburger Dörfchen ebenfalls und so rasch wie möglich nach Versailles und Trianon zu expediren. Doch Enttäuschung und Schrecken! Der Agent berichtete umgehend Ihrer Majestät der Königin, daß besagter Jakob sich nicht mehr daheim aufhalte, sondern aus seinem Dorfe spurlos verschwunden sei. Doch glaube man, und wohl nicht mit Unrecht, daß selbiger sich heimlich nach Paris gewendet und dazu den Weg eingeschlagen habe, den kurze Zeit vorher zwei Kühe und dann eine junge Hirtin genommen hätten.

Diese unerwartete Nachricht verursachte dem guten Herzen der Königin rechten Kummer, denn wenn sie auch wohl hoffen durfte, daß der ersehnte Jakob eines Tages anlangen könne, so stand dies doch nicht ganz außer Zweifel. Der Weg von Freiburg nach Paris war ein sehr weiter und mußte für einen Fußwanderer lange – lange Zeit in Anspruch nehmen. Und dann, welchen Gefahren konnte ein solcher unterwegs ausgesetzt sein und dies erst recht in dem großen Paris, wo die Spuren, welchen Jakob gefolgt, sich verlieren mußten. Denn wer wußte dort etwas von dem versteckten Winkel der königlichen Meierei in Versailles, wo die arme Emmi sich in ihrem Heim- und Herzensweh verzehrte? Doch Marie Antoinette rechnete ohne die Liebe, von der ein anderes, doch deutsches Volksliedchen singt:

„Die Liebe hat Flügel
Und Zaubergewalt,
Sie fliegt über Hügel
Und Berge und Wald.
Ueber Ströme und See’n,
Ueber Abgrund und Steg,
Ueber Felsen und Höh’n
Findet Liebe den Weg!“ –

Die Königin sollte die Wahrheit dieser Worte erproben.

Wochen vergingen; Marie Antoinette mußte mit dem König und dem ganzen Hofe nach Marly. Als sie wiederum in ihrem Paradiese, dem kleinen Schlößchen von Trianon, zu längerem Aufenthalt einziehen durfte und ihren ersten Morgenspaziergang nach der Meierei machte, um nach ihrer Emmi zu schauen, war sie nicht wenig und auf das Freudigste überrascht, schon aus der Ferne die lange entbehrte Stimme des Mädchens zu hören, die heute noch weit lustiger sang und jodelte als dies in jener ersten glücklichen Zeit ihres Einzugs in Trianon der Fall gewesen war. Doch – neue Ueberraschung! – jetzt setzte auch eine zweite, eine männliche Stimme ein, und nun erklang der Gesang so hell und jubelnd, wie er nur der Brust und dem Herzen zweier Glücklichen zu entströmen vermag. Die Königin beflügelte ihren Schritt, und als sie unerwartet die Milchkammer betrat, da warfen sich in der That zwei wahrhaft Glückliche mit hellem Freudenruf und Thränen der Dankbarkeit ihr zu Füßen. Der arme, doch auch recht kluge Jakob hatte – von seiner Liebe geleitet – ganz allein den Weg nach Trianon und zu seiner Emmi gefunden, und würde die Marquise von Travanet jetzt ein Lied auf das Paar gedichtet und gesungen haben, so hätte es nur „der glückliche Jakob“ heißen können.

Marie Antoinette vermählte das junge Paar, stattete es reichlich aus und wies ihm die größere Meierei als Wohnstätte an. Die Hochzeit wurde in ein ländliches Fest umgewandelt und als solches von der Königin und ihrem intimen Hofstaat gefeiert. Die beiden ehemaligen Rivalen und Bewerber um die Gunst der hübschen jungen Braut, Graf Artois und Graf d’Adhémar, [642] fehlten dabei nicht und schienen den fröhlichsten Antheil an der ländlichen Maskerade zu nehmen, denn Hochzeit und Fest fanden mit der früher angedeuteten Vertheilung der Rollen und entsprechender Kostümirung statt, wie dies von nun an oft der Fall war, wodurch das hübsche Phantasie-Dörfchen der Königin erst seine volle Bedeutung und auch das rechte Leben erhielt.

Nur wenige Jahre erfreute sich das junge Paar in ungetrübter Heiterkeit der Idylle Trianons, die Zeiten wurden nur zu bald ernster und die ländlichen Maskeraden in dem Dörfchen fanden ein schnelles Ende. Da entließ die Königin fürsorglich und reichbeschenkt ihre Schützlinge, die in ihre heimischen Schweizerberge zurückkehrten, um dort wohl im Alter in der Erinnerung noch einmal das schöne Märchen ihrer Jugend, ihr Liebesleid und die glücklichen Tage von „Petit Trianon“ zu durchleben.




Weitere Schicksale des Liedes der Marquise und des Dörfchens der Königin, „Die Schweizerfamilie“ – als Epilog.

Das Lied „Pauvre Jacques“ wurde noch manches Jahr von dem französischen Volke mit Vorliebe gesungen, doch verstummte es endlich und vollständig vor den wüsten Gesängen der Schreckenszeit und den heroischen Klängen der „Marseillaise“. Erst nachdem wiederum Ruhe in Paris und Frankreich eingekehrt war, die blutigen Wogen der Revolution von starker Hand eingedämmt worden waren, erinnerte man sich auch wieder des Liedes der Marquise und des Vorfalls in „Petit Trianon“, durch den es hervorgerufen worden war. Beide, das Lied und das Schicksal der jungen Schweizerin, wurden 1807 in einem „Vaudeville“ unter dem Titel „Pauvre Jacques“ auf eine der Pariser Bühnen gebracht. Das Stück gefiel, wurde oftmals aufgeführt und wanderte dann wie so manches andere französische Bühnenwerk, nach Wien, um dort umgeformt wieder als „deutsche Oper“ ins Leben zu treten. Es war der fruchtbare Wiener Dichter I. F. Castelli, welcher die Umarbeitung von „Pauvre Jacques“ unternahm und nach diesem Vaudeville den Text der „Schweizerfamilie, lyrische Oper in drey Aufzügen“ dichtete, „frey nach dem Französischen“. Josef Weigl, der damalige „Operndirettor und Kapellmeister der k. k. Hoftheater“, setzte das Buch in Musik, und am 14. December 1809 wurde „Die Schweizerfamilie“ in Wien zum ersten Male aufgeführt, eine Oper, die mit größtem Glücke die Runde über alle deutschen Bühnen machte, das damalige Opernpublikum in Entzücken versetzte – besonders nachdem die Schröder-Devrient die Emmeline mit unerreichter Meisterschaft und größter Wirkung dargestellt hatte. Die aus einem französischen Vaudeville entstandene deutsche „Schweizerfamilie“ wanderte von Wien nach Paris. 1812 wurde sie auf Veranlassung der Kaiserin Marie Luise ins Französische zurückübersetzt und als „Vallée suisse“ in der „Opéra-comique“ zur Aufführung gebracht. 1827 erschien sie unter ihrem rechten Titel „La famille suisse“ auf der Bühne des Odeontheaters, wo drei Jahre später, 1830, eine deutsche Operngesellschaft, mit der Schröder-Devrient an der Spitze, die echte deutsche „Schweizerfamilie“ den Parisern und zwar mit größtem Erfolge vorführte.

Der Stoff wurde noch mehrfach für die Bühne benutzt. 1829 gelangte eine Oper „Emmeline“ von Herold in Paris zur Aufführung, die ihn, nach England verlegt und vielfach verändert, ihrem Publikum vorführte, und 1858 wurde in den Salons Rossini’s zu Passy-Paris eine Operette für zwei Personen gesungen und gespielt (Musik von Weckerlin), in der Emmi und ihr Jakob unter Anderm auch das Lied vom „Pauvre Jacques“ vorzutragen hatten.

*      *      *

Marie Antoinette verbrachte noch glückliche Tage in ihrem kleinen Paradiese von „Petit Trianon“, doch endlich nahte der für sie und die Ihrigen so verhängnißvolle 6. Oktober 1789 heran. Am Tage vorher befand sich der noch immer sorglose König auf der Hirschjagd im Walde von Meudon, und die Königin, das ihr und den Ihrigen drohende Unheil ahnend, flüchtete Trost und Ruhe suchend nach ihrem geliebten Trianon. Marie Antoinette befand sich mutterseelenallein in dem Schlößchen, in dem weiten Garten. Durch alle Gemächer schritt sie, die so frohe und schöne Tage gesehen hatten! Alle ihre Lieblingsplätzchen im Garten und Park, die Häuschen ihres Dörfchens besuchte sie. Doch heute lächelte die arme Königin nicht wie früher; sie weinte, ließ den Thränen ungehindert ihren Lauf; es war, als ob sie Abschied nehmen wollte von all den lieben Orten, denen sie das einzige Glück ihres schwergeprüften Lebens verdankte – von all den stillen Freuden, die sie hier genossen hatte! O, es müssen bittere Stunden gewesen sein, die Marie Antoinette an diesem 5. Oktober in der Einsamkeit von Trianon zubrachte, und doch ahnte sie noch nicht, wie schrecklich sich ihr Schicksal binnen Kurzem wenden sollte. Gegen Abend saß sie lange – lange in der Grotte und ließ wohl noch einmal all die heiteren Bilder und Scenen einer unschuldigen Freude, die sie hier geschaut und erlebt hatte, an ihrem inneren Auge vorüberziehen. Da wurde sie plötzlich gewaltsam aus ihren schmerzlichen – und doch so süßen Träumen geweckt. Man überbrachte ihr ein Briefchen des Marquis von Saint Priest aus Versailles, der die Königin beschwor, sofort nach dem Schlosse zurückzukehren, da „Paris im Anzuge gegen Versailles“ sei.

Marie Antoinette schüttelte gewaltsam die Gedanken, welche sie bis jetzt übermächtig beherrscht hatten, von sich ab, erhob sich energisch und kehrte nach Versailles zurück.

Ihr Ahnen sollte in Erfüllung gehen. – In der Nacht mußte sie, nur mit einem Hemde bekleidet, aus ihrem Schlafgemach vor den Mördern fliehen, die ihr den Untergang geschworen hatten, und am andern Tage, dem verhängnißvollen 6. Oktober 1789, fuhr sie mit Ludwig XVI., ihren beiden Kindern und Madame Elisabeth, von Horden betrunkener blutgieriger Weiber, dem Pöbel und Abschaum der Pariser Bevölkerung begleitet, verhöhnt und geschmäht, nach Paris und den Tuilerien zu. Es war der Anfang vom Ende. Arme Königin!



[643]
Pauvre Jacques. – Armer Jakob.
Lied der Marquise von Travanet, entstanden in der Zeit von 1775 bis 1780.

[644]

Zigeunerin.
Originalzeichnung von De Geetere.

[645]

Hausfrau und Fleischer.

Von Dr. Schmidt-Mülheim in Berlin.

Ueber jeden Zweifel erhaben ist der deutschen Hausfrau sanftes und friedfertiges Gemüth, und sie würde auch mit dem Fleischer in schönster Eintracht leben, verschaffte ihr dieser unverbesserliche Sünder nicht eine ganze Reihe von Unglückstagen dadurch, daß er statt des versprochenen saftigen Ochsenfleisches trockenes und ledernes Kuhfleisch liefert, welches bei Tische, wo Alles behagliche Sammlung und Stärkung erwartet, zur Quelle der allgemeinsten Unzufriedenheit wird. Denn das ist bei dir, verehrte Leserin, ein feststehender Grundsatz – und Henriette Davidis und andere höchst achtbare Kolleginnen von der Feder lehren es ja nicht besser – daß nur alte Kühe zähes Fleisch aufweisen, ergo: der Metzger wird verbrannt. Offenbart sich nicht auch die schwarze Seele dieses Unmenschen zur Genüge durch die höchst überflüssigen Knochenbeilagen, die er ungeachtet deines unveränderlichen Widerspruches in verstocktester Bosheit nicht aufhört wieder und immer wieder zu liefern? Und giebt er dir nicht endlich auch durch die vielen „schlechten Stücke“, welche er gerade dir zukommen läßt, den unwiderleglichsten Beweis, daß er dein angeborener Feind ist?

Und doch ist es in der Mehrzahl der Fälle völlig ungerechtfertigt, beim Vorkommen einer verunglückten Fleischschüssel die Schale des Zornes über den Fleischer und die betagte bessere Hälfte des Ochsengeschlechtes, welche alles Unheil verschuldet haben soll, zu ergießen. Der ganze häusliche Jammer wird meistens nur durch eine ungenügende Waarenkenntniß, die man bei der sonst so trefflichen deutschen Hausfrau hin und wieder wohl noch antrifft, heraufbeschworen; der Metzger und die alte Kuh sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle schuldlos wie die neugeborenen Lämmer.

Sollen nun deine Fleischgerichte, verehrte Leserin, sich stets mit den vielgepriesenen Fleischtöpfen Aegyptens messen können, sollen sie namhaft beitragen, jenes Gefühl behaglicher Zufriedenheit hervorzurufen, das dem Familienleben jenen idealen Schimmer verleiht, so beseitige zunächst das Vorurtheil, das dich die schönere Hälfte der Gattung bos für die minder bessere zu halten heißt. Merke dir, daß in Wirklichkeit auch das Rindvieh – und warum sollte wohl gerade dieses eine Ausnahme zu machen sich erdreisten? – die allgemeine Regel anerkennt, die da lautet, daß überall in der Welt die Geschlechtsgenossinnen Eva’s, mögen sie nun auf Erden wandeln oder in den Lüften schweben oder endlich sich in den kristallenen Fluthen baden, die besseren unter den Geschöpfen sind, daß namentlich auch bei allen eßbaren Thieren das Fleisch wirklich guter weiblicher Thiere demjenigen männlicher vorzuziehen ist.

Die chemische Analyse ergiebt, daß das Kuhfleisch den gleichen Nährstoffgehalt besitzt wie das Ochsenfleisch, da aber die Zunge des Kenners weit mehr den Werth des Fleisches bestimmt als die nüchterne Wage des Nahrungsmittelchemikers, so sei betont, daß gutes Kuhfleisch ungleich schmackhafter und feiner als gleiches Ochsenfleisch ist.

Woher stammt denn nun das Vorurtheil gegen die Kühe? Sehr einfach, es werden eben weit mehr schlechte Kühe als schlechte Ochsen zur Schlachtbank geführt. Den Ochsen schlachtet man ziemlich allgemein auf der Höhe seiner Körperentwickelung, nachdem er zuvor Monate hindurch sehr sorgfältig gemästet wurde, die Kuh hingegen nutzt man vielfach bis zum Aeußersten aus und legt auf ihre Mastung nicht die halbe Sorgfalt. Der Ochse würde unter gleichen Verhältnissen noch weit schlechteres Fleisch als seine Gefährtin geben.

In einigen Gegenden, besonders in Süddeutschland, pflegt man wohl das Ochsenfleisch als eine ganz eigenartige Waare zu verkaufen; es giebt besondere Ochsenmetzger, die, von den Vorurtheilen in der menschlichen Gesellschaft Nutzen ziehend, ihr Fleisch zu erhöhten Preisen an den Mann, resp. an die Frau bringen. Daß hierbei zahllose Unredlichkeiten unterlaufen, beweist eine Klage gegen eine größere Anzahl von Ochsenmetzgern, welche im vergangenen Jahre zu Mainz Kuhfleisch für Ochsenfleisch verkauft hatten. Ist erst die Erkenntniß in weitere Kreise gedrungen, daß gutes Kuhfleisch mindestens eben so wohlschmeckend und nahrhaft ist wie gutes Ochsenfleisch, und verwenden die Landwirthe allgemein auf die Mastung der Kühe die gehörige Sorgfalt, dann dürfte der Ochsenmetzger als Specialität bald von der Bildfläche verschwinden.

Einen Kapitalfehler begeht die deutsche Hausfrau nun dadurch, daß sie viel zu hohen Werth auf frisches Fleisch legt. So richtig es sein mag, daß Kaffee und Kuchen möglichst frisch am besten munden, so wenig trifft das für das Fleisch zu. Es ist gewiß, daß durch die Verwendung zu frischen Fleisches am meisten in der Küche gesündigt und sehr viel „eheliches Unglück“ herbeigeführt wird. Das Fleisch erhält seinen hohen Werth für die Tafel keineswegs allein durch seine Abstammung von guten Thieren, sondern ganz wesentlich erst durch einen Reifungsproceß, den es nach dem Abschlachten durchmacht. Das Fleisch darf immer erst längere Zeit nach dem Tode[1] zubereitet werden, früher verzehrt, zeigt es sich widerlich fade, trocken und zähe wie Sohlleder. Man braucht bloß die Theilnehmer am letzten französischen Feldzuge zu fragen, wie unschmackhaft das noch warm und dampfend vertheilte Fleisch der eben geschlachteten Thiere nach der Zubereitung war und wie sehr die Ernährung der Truppen durch diesen Uebelstand litt.

Das Fleisch erhält also erst durch einen Reifungsproceß nach dem Tode seine Weihe für die Küche, es erfährt erst eine Art innerer Zersetzung, durch welche sein Geschmackswerth außerordentlich vermehrt wird. Dieser Reifungsproceß wird eingeleitet durch jenen eigenthümlichen Zustand der Muskeln, welchen man als Todtenstarre bezeichnet. Letztere zeigt sich einige Stunden nach dem Tode und macht sich dadurch bemerkbar, daß die Muskeln sich zusammenziehen und dabei so starr werden, daß die Glieder sich nicht mehr verschieben lassen. Hierbei nimmt der Muskel eine sauere Reaktion an. Man dürfte nicht fehlgehen, wenn man die erwähnte Geschmacksverbesserung des Fleisches wesentlich dem Auftreten freier Säure (Milchsäure) im Muskel zuschreibt und wenn man annimmt, daß durch die anhaltende Einwirkung dieser Säure die Bindesubstanzen des Fleisches außerordentlich an Widerstandsfähigkeit einbüßen. eine Annahme, für deren Berechtigung die allbekannte Thatsache spricht, daß man – wie jede kluge Hausfrau weiß – im Stande ist, das trockene und zähe Fleisch alter Thiere durch Einlegen in Essig noch mürbe und wohlschmeckend zu machen.

Je älter das Fleisch, desto mürber und schmackhafter ist es. Die Küche der Frau Kronprinzessin des Deutschen Reiches ist berühmt wegen ihrer vorzüglichen Fleischgerichte, das wird nicht zum wenigsten dadurch bedingt, daß die hohe Frau es verstanden hat, gewisse Mängel des deutschen Küchenpersonals erfolgreich zu bekämpfen, so duldet sie z. B. in ihrem Hause kein Roastbeef, das nicht durch mindestens vierzehntägiges Hängenlassen des frischen Fleisches die nöthige Küchenreife erlangt hat.

Nun wird die Haltbarkeit des Fleisches durch die Fäulniß außerordentlich beeinträchtigt, und diese macht das Fleisch zu einem völlig ungeeigneten Nahrungsmittel. Es erwächst deßhalb die Aufgabe, das Fleisch möglichst lange aufzubewahren, ohne daß es auch nur eine Spur von Fäulnißerscheinungen zeigt. Hierzu sind kostspielige Kühlapparate, Konservesalze, Salicyl und andere auf yl oder ol endigende moderne Waffen für die Bakterienjagd durchaus nicht erforderlich, es genügt vollkommen: 1. ein schattiger, allerdings möglichst kühler Raum, 2. ein mäßig starker Strom reiner und trockener Luft, einige Fleischerhaken zum Aufhängen des Fleisches. Zum Fenster hinaus mit allen Schüsseln und Töpfen, die ein bejammernswerther Unverstand zum Aufbewahren frischen Fleisches benutzt! Das Fleisch darf nur hängend aufbewahrt werden und zwar so, daß seine ganze Oberfläche der Einwirkung einer mäßig bewegten, reinen, trocknen und kühlen Luft ausgesetzt ist. Bei solcher Aufbewahrung trocknet die ganze Oberfläche des Fleisches gelinde an, und Fäulnißbakterien können jetzt nicht mehr gedeihen, weil eine für die Entwickelung von Bakterien unentbehrliche Bedingung, eine genügende Menge Feuchtigkeit, fehlt. Da, wo das Fleisch aufliegt, bleibt es feucht, [646] und jede Hausfrau sollte wissen, daß von solchen Stellen aus die Fäulniß ihren Anfang nimmt.

Wie die klugen Jungfrauen bereits bei Zeiten ihre Lampen mit Oel füllten, so sollten die deutschen Hausfrauen, denen der häusliche Friede am Herzen liegt, niemals ihr Fleisch erst unmittelbar vor der Bereitung des Mahles kaufen, sondern sie sollten sich ihren Bedarf auf längere Zeit sichern und ihn in der angegebenen Weise behandeln; die bewußte alte Kuh wird dann bald in völlige Vergessenheit gerathen, da selbst das Fleisch wohlbetagter Milchspenderinnen einer so liebevollen Behandlung gegenüber seinen zähen Charakter nicht aufrecht erhalten kann, sondern mürbe und weich wird.

Und nunmehr, verehrte Leserin, Einiges über den Fleischeinkauf selbst. Handelt es sich darum, deinen Bedarf an einem so gewöhnlichen Artikel, wie die Kartoffel, zu decken: du wirst beim Einkaufe die ganze Summe deines Scharfsinnes aufbieten, um ja sicher zu sein, daß das genannte Gewächs auch von tadelloser Beschaffenheit ist; verwendest du aber eine gleiche Sorgfalt auch auf das Erstehen des wichtigsten und theuersten Nahrungsmittels? Gewiß nicht! Nur wenige Frauen können es mit den konventionellen Begriffen von deutscher Hausfrauenpflicht in Einklang bringen, selbst in den Laden zu gehen, um das Fleisch nach eigener Wahl zu kaufen, fast allerwärts überläßt man die Sorge für das Fleisch den Dienstboten oder man begeht den kaum geringeren Unfug, sich das Fleisch auf vorherige Bestellung vom Metzger ins Haus bringen zu lassen. Es entzieht sich so völlig der Kenntniß der Hausfrau, wie das Fleisch vom Stück ausgeschnitten wird, und doch kann man nur durch eine solche zu der Fähigkeit gelangen, ein Stück Fleisch seinem wahren Werthe nach zu beurtheilen.

Also fort mit dem falschen Schamgefühl, das dich, deutsche Hausfrau, vom Fleischerladen fern hält, selbst hin zum Fleischer, der keineswegs ein abgefeimter Bösewicht, sondern ein Mann ist, der die Ehre deines allerhöchsten Besuches sehr wohl zu schätzen weiß, und dem nichts erwünschter ist, als mit dir persönlich in Verkehr zu treten, da er trotz seiner robusten Körperkonstitution im beständigen Umgange mit deinem störrischen und verbohrten Küchengesinde schließlich doch merkt, daß er Nerven hat. Selbst hin zum Fleischer, deutsche Hausfrau, du könntest es sonst erleben, daß dein Herr und Gebieter trotz seiner scheinbaren Sanftmuth sich eines Tages offen gegen die bestehende Hausordnung auflehnt, daß er mit kühnem Heldensinne ein Verhältniß zerstört, das offenbar nur dazu da ist, ihm täglich neue Tantalusqualen aufzuerlegen, und daß er – nach dem Vorbilde seiner praktischeren Leidensgefährten in Amerika und auch in England – den Einkauf des Fleisches selbst in die Hand nimmt.

Es sind in Deutschland vielfach Stimmen laut geworden, welche darauf hinweisen, daß der Werth eines Stückes Fleisch in hohem Grade abhängig sei von der Körperstelle, der es entstamme, und man hat eine strenge Klassifikation des Fleisches nach Körperregionen gefordert, wähnend, daß durch eine solche aller Qual mit einem Schlage ein Ende bereitet werde. Man hat hierbei mit besonderer Vorliebe auf die Beispiele in England und Frankreich hingewiesen, wo hin und wieder eine Eintheilung des Fleisches nach Körperregionen vorgenommen wird.

Vielleicht kühlt es unsere Gelüste nach fremden Bräuchen einigermaßen ab, wenn wir hören, wie ein so wohlerfahrener Mann wie Vilain, der Oberthierarzt bei der städtischen Fleischbeschau in Paris, sich über den Werth solcher Eintheilungen äußert:

„Gewisse Städte haben noch Marktordnungen, welche einen Verkauf des Fleisches nach Qualitäten regeln; aber diese Eintheilung ist willkürlich und kann keinen rechten Nutzen bringen, da der Fleischer sich bemüht, Alles als Fleisch erster Qualität zu verkaufen. Thatsächlich verzehren die Bewohner dieser Städte fast alles Fleisch unter der pomphaften Bezeichnung: Fleisch erster Qualität.“

In der Heimath der deutschen Gründlichkeit hat man es nicht für überflüssig gehalten, mit der chemischen Wage in der Hand nachzuspähen, ob nicht der Eintheilung nach Körperregionen doch ein weiser Kern innewohne, es ist das indessen, wie vorherzusagen war, eine reine Sisyphusarbeit gewesen, Differenzen im Nährstoffgehalt, die bestimmend auf den Marktverkehr einwirken, vermochte auch die beste chemische Spürnase in den Fleischproben, die den verschiedensten Körperstellen entnommen waren, nicht aufzudecken.

Merke dir nun, geneigte Leserin: von einem brauchbaren Familiengliede der Species Hausrind ist alles Fleisch gut und wohlschmeckend, mit Ausnahme der reichlich mit Sehnen und Sehnenhäuten versehenen Theile an den unteren Abschnitten der Gliedmaßen und dem Kopfe, dem sich dann noch gewisse Stücke vom Halse und die unteren Bauchwandungen zugesellen. Einen ganz hervorragend zarten Charakter zeigt das Lendenfleisch oder – um mich eines in Deutschland besser bekannten Ausdruckes zu bedienen – das Filet; es liegt unterhalb der Wirbelsäule in der Lendengegend, doch merke dir, daß es bei allen seinen sonstigen Vorzügen seinen ganzen Heiligenschein erst durch eine kunstgerechte Würzung und Zubereitung erhält und daß es ohne eine solche unangenehm weich und fade von Geschmack ist. Körperabschnitte mit einer recht dicken Muskulatur – sie sind oben am Rücken (hier wächst das Roastbeef) und in der Beckengegend zu suchen – liefern ein besonders geschätztes Fleisch. Abgesehen von den oben genannten Ausnahmen richtet sich der Werth eines Stückes Fleisch weniger nach der Stelle seiner Abstammung, als nach der Dicke seiner Muskulatur und seinem Gehalte an Fett, Knochen und Sehnen. Das Fleisch ist ganz allgemein um so werthvoller, je dicker und massiger die rothe Fleischmasse selbst, je geringer deren Gehalt an Sehnen und Sehnenhäuten, je schöner die Fleischmasse auf dem Querschnitte marmorirt und je zarter sie mit Fett durchwachsen erscheint, je weniger Talg zwischen den einzelnen Muskeln abgelagert ist (es giebt Fleisch, welches sich besser für die Talgschmelze als für die Küche eignet) und je geringer sich der Knochengehalt erweist. Das Mengenverhältniß zwischen eigentlichem Fleisch, Knochen und Fett muß also bestimmend auf den Marktpreis des Fleisches einwirken.

Die vielgeschmähten Knochen verachte nicht grundsätzlich, sie sind ein nothwendiges Uebel, und du mußt sie – um mich des geflügelten Wortes eines Berliner Fleischers zu bedienen – so lange willig hinnehmen, bis es den Fortschritten des Darwinismus gelungen sein wird, ein Rindvieh zu züchten, das statt auf Knochen auf Bratwürsten läuft. Finde im Uebrigen einigen Trost in dem zutreffenden alten Sprichwort: „Je näher dem Knochen, desto süßer das Fleisch“, tröste dich aber vor allen Dingen auch damit, daß knochenreiches Fleisch weit billiger im Preise ist als knochenarmes.

Und nunmehr, geehrte Leserin, lebe für heute wohl! Empfange den Dank dafür, daß du mich in Geduld und Sanftmuth hast ausreden lassen; bin ich dir nicht zu langweilig erschienen, so gestatte mir demnächst auf kurze Zeit Eintritt in dein chemisches Hauslaboratorium, damit wir, wenn wir hier unter vier Augen sind, ein recht wichtiges Kapitel, „die Küchenphysiologie des Fleisches“, erfolgreich besprechen können. Also, verehrte Leserin, auf Wiedersehen in der Küche!




Blätter und Blüthen.

Ein Brief von Ottilie Wildermuth. Der verstorbenen Schriftstellerin Ottilie Wildermuth ist in Tübingen, wo sie lange Jahre lebte und wirkte, ein Denkmal errichtet worden, und zwar am Neckar, im schönsten Promenadentheil. Das reich und geschmackvoll ausgehauene Denkmal hat einen achteckigen Sockel, der auf einer starken Sandsteinunterlage steht. Eine Inschrift unter dem kräftigen Gesims trägt die einfachen Worte: „Ottilie Wildermuth gewidmet von deutschen Frauen“. In halber Höhe des Aufbaus ist die überraschend ähnliche Büste der Dichterin in Hautrelief in Bronzeguß eingelassen. Die Eröffnungsfeier fand am 10. August unter Reden und Gesängen statt; Karl Gerok feierte die entschlafene durch ein Gedicht voll echter Empfindung; die Verehrung, welche ihr von Alt und Jung gezollt wird, zeigte sich bei dieser Feier im schönsten Licht.

Die Töchter der Schriftstellerin, Agnes Willms und Adelheid Wildermuth, wollen ihr aber auch noch ein litterarisches Denkmal setzen und die Biographie derselben größtentheils auf Grund ihrer eigenen Aufzeichnungen und Briefe herausgeben. Wir sind in der Lage, unsern Lesern einen dieser Briefe, welcher über die vielbesprochene Frage der Frauenschriftstellerei handelt, mitzutheilen. Er ist an Robert Prutz gerichtet und lautet:

 „Verehrter Herr!
Obgleich wir in einer Universitätsstadt, also an einer Quelle geistigen Lebens wohnen, genießen wir doch den Nachtheil – oder Vortheil? alle litterarischen Neuigkeiten erst zu Gesicht zu bekommen, wenn die Zeit, in der sie entstanden sind, gehörig ausgegohren hat.

[647] So erhalten wir nun heute am 26. November die Nummer des ‚Deutschen Museums‘ vom 1. September 1859, darin u. A. Ihre ‚Litteratur der Frauen‘. Lassen Sie sich nicht bange sein vor einem Aus- und Anfall, etwa über die sehr ungalant lautende Phrase ‚Frauen und Juden begegnet man auf jedem Schritt – ich will die in Frieden ruhen lassen‘; es ist nur Eine Stelle in jenem Aufsatz, die mir unwiderstehliche Lust erregt, Ihnen zu schreiben, obgleich ich annehmen muß, daß Sie gewiß weder Zeit noch Lust zu überflüssiger Korrespondenz haben, so wenig wie ich selbst.

Was ich Ihnen gern schreiben möchte, soll weder ein Angriff noch kann es eigentlich eine Widerlegung sein; es soll nur zur Bereicherung Ihrer Erfahrungen dienen, da Sie doch vielleicht noch mehr in den Fall kommen, von schriftstellernden Frauen zu sprechen, und – vielleicht auch zur Ehrenrettung manch wackern Mannes, der so unglücklich oder ungeschickt war, eine Schriftstellerin zur Frau zu haben.

Die Eine Stelle nämlich heißt: ‚eine glückliche Frau wird nicht leicht schreiben –‘ Nun kann es mir, die ich einen sehr unlogischen, keineswegs philosophisch gebildeten Kopf habe, gewiß nicht einfallen, vorher die Frage erörtern zu wollen: was ist Glück? Ist ganzes volles Glück, ein gehobener Zustand der innigsten Befriedigung überhaupt ein dauernder? – Ich kann Ihnen nur die einfache Versicherung geben, daß, was mir zu vollem, dauerndem, innigem Glücke fehlt, nur die Schuld meiner eignen Unvollkommenheit, nicht die meiner Verhältnisse, am allerwenigsten meiner ehelichen ist. Ich habe eine heitere und glückliche Jugend verlebt, habe aus freier Wahl mich einem Manne anvertraut, in dem ich den rechten Mann gefunden, wie ihn am Ende jedes rechte Mädchen will, bei dem die vier Grundzüge, die ich mir als Mädchen schon als unerläßliche Bedingungen bei einem Zukünftigen gedacht hatte, verwirklicht waren, nämlich: viel Verstand, wahre Herzensgüte, ein reines Jugendleben und ein männlich fester Charakter.

Eine unglückliche Frau bin ich also nicht, – begreife auch nicht, wie eine solche schreiben kann; ich muß schon gut aufgelegt sein, um schreiben zu können, und schreibe am liebsten im Sonnenschein oder nachdem ich schöne Musik gehört. Eine unbeschäftigte bin ich auch nicht; ich habe drei Kinder, viel Besuche und ein einziges Dienstmädchen; warum habe ich denn geschrieben?

Aus Armuth nicht, wenn wir auch den ungehofften Zuschuß meiner litterarischen Einnahme dankbar als eine willkommene Gottesgabe hinnehmen.

Aus Ehrgeiz auch nicht. Soweit ich mich selbst kenne, gehört der nicht zu meinen Fehlern. Obgleich ich so ein Bißchen gedichtet und geträumt habe, so lang ich denken kann, dachte ich doch nie an die Möglichkeit, etwas drucken zu lassen; eine Schriftstellerin kam mir als ein nicht beneidenswerthes Ausnahmsgeschöpf vor. Da ich nun schon im Plaudern bin, will ich Ihnen erzählen, wie ich das erste Mal dazu kam, das heißt zum Schreiben.

Ich war drei Jahre verheirathet und hatte ein liebes, kleines Kind und zu thun genug, als ich mit meinem Mann in einem Journal irgend welche Genrebilder las: ‚hör’, so könnte eigentlich Jedermann Geschichten schreiben,‘ meinte ich. ‚Ei, so schreib’ Du eben auch,‘ sagte mein Mann scherzend. Ich versuchte so ein kleines Genrebild aus meiner Erinnerung und las es meinem Mann und Bruder vor. ‚Gieb mir’s einmal,‘ sagte mein Bruder, ‚ich versuch’s und schicke es an das Morgenblatt.‘ ‚O geh, wer wird das drucken?‘ meinte ich, ließ es aber geschehen. Nach kurzer Zeit kam eine freundliche Aufforderung von der Redaktion um mehrere. Erst nach zwei Jahren, als ich noch mehr Jugend- und Familienerinnerungen geschrieben, willigte ich auf meines Bruders Bitte ein, daß er der Redaktion meinen Namen nenne.

Mein Mann hatte eine Freude an meinen Versuchen und an der freundlichen Aufnahme, die sie fanden; ich wurde wieder und von verschiedenen Seiten aufgefordert, und so kam ich allmählich weiter und weiter auf dieser Bahn.

Nur sehr schwer kam ich dazu, dem Schreiben einen Platz in der Reihe regelmäßiger Beschäftigungen einzuräumen; jetzt nehme ich mir die Morgenzeit, wenn die Kinder in die Schule befördert sind und die Küche beschickt ist; der Nachmittag gehört der Nadel, dem Flickkorb, meinen guten Freunden, allem Möglichen, der Abend ausschließlich Mann und Kindern.

Daß ich ganz fehlgegriffen, indem ich der Feder neben Nadel und Kochlöffel eine Stelle in meiner Zeit einräumte, glaube ich nicht; ich habe bis aus den weitesten Fernen von den verschiedensten Personen, von Männern und Frauen, von Kranken, von Einsamen, von Verkümmerten, so herzliche Zuschriften erhalten, daß ich wohl ohne Ueberhebung glauben darf, es sei mir gelungen, da und dort die rechten Saiten anzuschlagen.

Ob ich verstehen werde zur rechten Zeit aufzuhören? Das ist wieder eine Frage; aufhören ist schwer, wenn man allseitig gedrängt wird; das Maß meiner natürlichen Begabung aber ist ein bescheidenes. Mein ganzer Lebens- und Bildungsgang ist so überaus einfach, daß der Kreis, in dem ich mich mit voller Freiheit bewegen kann, nothwendig ein beschränkter sein muß; – mag sein, daß mich die Kritik nicht unsanft mahnen wird, wenn meine Stunde vorüber ist. Mag sein; ich habe kein Recht zu klagen, es ist mir bis jetzt so gut gegangen! Bekomme ich später auch eine bittere Pille, so wird sie mir wohl gesund sein; ich danke Gott, der meinem Leben einen andern Mittelpunkt gab als diesen flüchtigen Erfolg.

Das ist eine lange Epistel geworden, um die einfache Thatsache auszusprechen, daß auch eine glückliche, zufriedene Frau dazu kommen kann, Bücher zu schreiben!

Es ist vielleicht recht unklug, daß ich so dem Zuge gefolgt bin, der mich antrieb Ihnen zu schreiben; doch, Sie mögen es nun ansehen, wie Sie wollen: ich vertraue der Ehre des Mannes und Schriftstellers, daß Sie meine Worte als ein Wort im Vertrauen ansehen und behandeln.

Den Dank für eine freundliche Beurtheilung, die mir, ich glaube in der Allgemeinen Zeitung, zu Augen kam, kann ich nun erst am Schlusse sagen.

In aufrichtiger Hochachtung

Ottilie Wildermuth.“

Das Oktoberfest in München. (Mit Illustration S. 632 und 633.) Wer ein echtes, unverfälschtes Volksfest sehen und mitgenießen will, der muß am 1. Oktobersonntag nach München kommen. Schon am Vorabend strömen, von keuchenden Extrazügen gebracht, Tausende von ländlichen Gästen vom Bahnhof her und am Festsonntag selbst wandern sie, verstärkt durch die ganze mobile Bevölkerung der Großstadt, der Festwiese vor der Bavaria zu. Alle dahin führenden Straßen sind dicht gefüllt; nur im Schritt geht es vorwärts, mühsam kämpfen sich die Wagen durch. Und das Ziel dieser Völkerwanderung? Eine Viehausstellung, auf die der Ehrgeiz des ganzen Landes gerichtet ist, Vertheilung der Preise durch den König, jetzt Prinzregenten und dann das Pferderennen entlang der durch Mastbäume mit blau-weißen Flaggen bezeichneten Bahn. Den Kranz über das Ganze hält Frau Bavaria von der hochgelegenen Ruhmeshalle her; der Steilrand zu ihren Füßen bietet herrliche Sitzterrassen, die am Morgen schon von geduldig Harrenden eingenommen werden; außerdem sind Tribünen um das Königszelt her errichtet. Was aber, wenn um 2 Uhr der sehnlich erwartete Kanonenschuß fällt und das Rennen beginnt, die Tausende auf der Wiese hinter Kopf und Rücken ihrer Vordermänner zu sehen bekommen, das sind höchstens ein paar vorüberfliegende Jockeymützen und Pferdeköpfe. Aber das schadet nicht, man schreit aus Leibeskräften mit und wunderschön ist’s eben doch! Wenn dann das Rennen vorüber ist und die Sieger, durch gnädige Ansprachen der höchsten Herrschaften beglückt, abziehen, dann löst sich langsam die dichte Menschenmasse und ergießt sich über die weite Wiesenfläche hin in die zahllosen Bierwirthschaften und Schaubuden aller Art, welche dem zweiten, nicht officiellen Theil des Festes eine so große Anziehung verleihen. Hier locken dann die ganze Festwoche über die schauerlichen Mysterien von „Schichtl’s Geistertheater“; dort winden sich gemalte Neger im Todeskampfe gegen Riesenschlangen und Tiger; ein fliegender Seehund producirt sich neben dem fliegenden Photographen, der eine Gruppe argloser Landleute um die andere hinter seinen Vorhang schleppt; es schreit, klingelt, brüllt und klappert überall; dazwischen locken die schönsten Walzerklänge von dem tannengeschmückten Podium, wo die Soldaten und Bauernburschen ehrbar und fröhlich ihre Mädel unter den Kranzgewinden drehen. Höchst selten ist ein Exceß, ein rohes Wort – die Atmosphäre harmloser Gemüthlichkeit, welche München überhaupt eigen ist, lagert auch über dem Oktoberfest mit seinem vielen guten Bier, seinen Wurstküchen, Schmalzkuchelbuden und Fischbratereien, wo alle Stände friedlich verkehren, die elegante Equipage neben dem Bauernfuhrwerk, der Officier, Student und Künstler neben dem Handwerksgesellen und Packträger. Wenn noch vollends der Himmel ein Einsehen hat und gleichfalls blau-weiß dekorirt, dann kann es keinen vergnüglicheren Sitz in der milden Oktobersonne geben, als diese menschenerfüllte, bunte Wiese mit dem Ausblick auf die ferne Alpenkette und rückwärts nach den alten Frauenthürmen.

Im höchsten Norden. Welche Heldenthaten die muthigen Entdecker der Polarwelt vollbracht, welche Märtyrerstationen sie durchgemacht, davon giebt wiederum der Bericht des Lieutenants A. W. Greely über die Lady-Franklin-Bai-Expedition in den Jahren 1881 bis 1884 Auskunft (Jena, Costenoble). Die Aufgabe dieser Expedition war, eine der einjährigen Beobachtungsstationen zu beziehen, welche die Vereinigten Staaten an der Ostküste von Grinnell-Land, westlich vom äußersten Norden Grönlands, errichtet hatten. Die Greely’sche Expedition setzte ihre wissenschaftlichen Arbeiten fort über die festgesetzte Zeit, unerschrocken dem Tode durch Frost, Hunger und Skorbut trotzend. Einen nach dem Andern verscharrten sie im Polarschnee; die Ueberlebenden fuhren fort in der Führung der Tagebücher, in den Forschungen und Aufzeichnungen, die sie noch mit erlahmender Hand machten. Nur sieben waren zuletzt übrig geblieben – und den Kräftigsten war die Kraft geschwunden, durch Erlegung eines Seehundes oder gar eines Eisbären den Kameraden und sich selbst das Leben zu fristen. Flechten, gewärmtes Robbenfell, der Rest der schmutzigen ölgetränkten Decken der Schlafsäcke war zuletzt die einzige Nahrung. Vorher waren Diebstähle begangen worden aus Hunger und Verzweiflung; selbst der Arzt der Expedition hatte sich eines solchen Vergehens schuldig gemacht; doch konnte Greely ihn zunächst nicht zur Rechenschaft ziehen, da er für die Andern unentbehrlich war. Dagegen ließ er einen der Matrosen, der in die letzten Provisionskisten Einbrüche gemacht hatte, ohne Wissen desselben kriegsrechtlich verurtheilen und aus dem Hinterhalt niederschießen, da dieser im offenen Kampf seinen Kameraden überlegen gewesen wäre, denn der Dieb war kräftiger und besser genährt als sie.

Am 22. Juni waren Alle aufs Tiefste erschöpft; zum Theil gelähmt und schrecklich an Rheumatismus leidend. Etwas Wasser nebst einigen Quadratzoll eingeweichter Robbenhaut war Alles, was in 42 Stunden über ihre Lippen gekommen war. „Ich versuchte,“ schreibt Greely, „mit wenig Erfolg in meinem Gebetbuch oder sonst etwas zu lesen, aber der Wind war zu stark und die Erschöpfung zu groß. Gegen Mitternacht am 22. Juni hörte ich die Dampfpfeife der ‚Thetis‘, durch welche Kapitän Schley seine Bote zurückrief. Meine Ohren konnten mich nicht täuschen, aber ich konnte kaum glauben, daß sich ein Schiff bei solchem Sturm an diese Küste wagen würde. Ich bat mit schwacher Stimme Brainard und Long nachzusehen, wenn sie Kraft dazu hätten, sie waren wie immer bereit, ihr Bestes zu thun. Brainard war 50 Schritte weit nach dem Hügel gegangen und brachte die entmuthigende Nachricht zurück, es sei nichts zu sehen; Long wollte die Nothflagge, welche der Sturm umgeweht hatte, wieder aufrichten. Es entspann sich nun eine Diskussion über das Pfeifen. Biederbeck meinte, das Schiff liege im Paynohafen, aber mir hatte es von der Küste her getönt. Wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, als sich plötzlich seltsame Stimmen hören ließen, welche meinen Namen riefen, und in einem Rausche des Entzückens überzeugten wir uns, daß unser Vaterland uns nicht im Stich gelassen hatte, daß der lange Todeskampf vorüber und der Rest der Lady-Franklin-Expedition gerettet sei.“

[648] Falsche Briefmarken. Was nicht gefälscht wird in der Welt! Beinahe Alles, was der Mensch braucht und wofür er Geld zahlen muß. Um das Unwesen der Fälscher zu bekämpfen, ist tagtäglich die Polizei auf den Beinen; Institute, Laboratorien etc. wurden zu diesem Zwecke ins Leben gerufen; dicke Werke sind über dieses Thema erschienen, und es fehlt sogar nicht ein „Illustrirtes Lexikon der Verfälschungen“ (Leipzig, J. J. Weber). Es ist ein umfangreiches Buch, in welchem wir mit wachsendem Interesse blättern; ein Buch, welches namentlich dem Kaufmann gute Dienste leisten kann, indem es seine Kenntnisse in der Waarenkunde erweitert und all die feinen Schliche aufdeckt, welche die Fälscher zu benutzen wissen. Aber auch andere Stände und selbst Laien finden in dem trefflich von Dr. Otto Dammer redigirten Werke eine seltene Fülle von Belehrung; denn auch sie müssen vor Fälschern auf der Hut sein. Da haben wir z. B. eine weit verbreitete Klasse von Menschen, welche der Liebhaberei des Briefmarkensammelns verfallen sind. Die Philatelisten, wie sie sich nennen, sind in letzter Zeit gleichfalls eine Ausbeute raffinirter Fälscher geworden; denn es ist viel lukrativer und weniger gefährlich, gerade diese anstatt die Behörden zu hintergehen. Der Staat hat es in Erfahrung gebracht, daß ihm durch die Fälschung von Briefmarken ein wesentlicher Schaden nicht zugefügt wird, und alle die früheren Vorsichtsmaßregeln gegen Fälschungen, wie besonders mit Seidenfäden durchzogenes oder mit Wasserzeichen versehenes Papier für Postwerthzeichen, werden größtentheils nicht mehr gebraucht. Nur durch Anbringung eines „Münzzeichens“ wird nach wie vor ein sicherer Schutz erstrebt. Dasselbe besteht in einem möglichst wenig in die Augen fallenden Fehler der Zeichnung, welchen der Fälscher leicht übersieht, der Eingeweihte aber sofort erkennt. Diese Münzzeichen werden aus nahe liegenden Gründen außerordentlich geheim gehalten und gelangen nur selten zur Kenntniß eines Privatmannes.

Die Briefmarkenfälscher suchen jedoch in der Regel werthvollere Objekte zu fälschen, als die in Kours befindlichen Postwerthzeichen, und solche sind eben durch die Philatelie geschaffen worden. Seltene Briefmarken werden augenblicklich mit 100 Mark und mehr für das Stück bezahlt; ja es sind sogar Fälle vorgekommen, wo für eine einzige Briefmarke 1000 Mark gezahlt wurden. Solche einfache Papierstückchen zu fälschen, erscheint schon Manchem der Mühe werth, und es ist gerade in Folge der Seltenheit der Originale ungemein schwierig, die Falsifikate als solche zu erkennen. Einzelne Vereine von Briefmarkensammlern haben darum besonders kundige Mitglieder zu Markenprüfungskommissären ernannt oder gar eine aus mehreren Mitgliedern bestehende Kommission zu diesem Zwecke gewählt.

Eine Abart der Fälschung von Postwerthzeichen sind die sogenannten Neudrucke alter seltener und nicht mehr in Kours befindlicher Marken. Personen in hervorragender Staatsstellung, welche unter die Philatelisten gegangen sind, ist es manchmal gelungen, von der betreffenden Behörde eine Anzahl Neudrucke alter seltener Marken zu erlangen. Vielfach haben auch die Behörden von den alten Originalplatten zum Besten des Aerars oder milder Stiftungen Neuabzüge veranstaltet oder auch die Platten an Privatleute verkauft, welche nach Herzenslust darauf losdrucken. Ueber den Werth der Neudrucke streiten noch die sachverständigen Sammler. Jedenfalls ist derselbe geringer als der alter Originale, und solche Neudrucke als alte seltene Marken zu verkaufen, ist zum Mindesten Täuschung und Uebervortheilung des Publikums. *

Eheschließungen auf Helgoland. Das britische Eiland in den deutschen Meeren gilt für eine Freistatt verfolgter Liebe: viele glauben, daß sich Ehebündnisse dort so leicht schließen lassen, wie bei dem Schmied von Gretna-Green, der an der schottischen Grenze die liebenden Paare zusammengiebt; sie glauben, daß der Eltern Mißvergnügen und Widerspruch, ja selbst des Vaters Fluch dort keine Rolle spiele. Ehe indeß eine abenteuerlustige Liebe sich in die Nordsee wagt, in der Hoffnung, auf jener Felseninsel werde ein bestrittenes Glück ihr gesichert werden, möge das junge Liebespaar sich doch mit den näheren Mittheilungen über die dort ihm winkenden Aussichten vertraut machen, Mittheilungen, wie sie jüngst die Zeitungen brachten. Es ist wahr, es finden in Helgoland zahlreiche Trauungen auswärtiger Paare statt: im vorigen Jahre belief sich die Zahl auf 40, und bis Ende Juli dieses Jahres waren wiederum 20 getraut. So formlos sind indeß diese Trauungen keineswegs, wie diejenigen bei dem schottischen Schmied: es bedarf der Geburtsurkunden, der väterlichen Einwilligung bei solchen, die unter väterlicher Gewalt stehen; nur dürfen diese Urkunden, wenn sie fehlen, durch eine eidesstattliche Versicherung ergänzt werden. Die Haupterleichterung aber besteht in dem nur einmaligen Aufgebot, so daß, wenn dasselbe am Sonntag stattgefunden, schon Tags darauf die Trauung erfolgen kann. Es gelten hierbei nicht englische Rechtsvorschriften, sondern das friesische Gewohnheitsrecht. Die Kosten belaufen sich auf 200 Mark, der deutsche Geistliche erhält die Hälfte.

Ehepaare, die nach Helgoland eilen, weil sie glauben, dort den väterlichen Konsens entbehren zu können, werden sich jedenfalls getäuscht sehen: nur glücklich Liebende, deren Ungeduld ein dreimaliges Aufgebot nicht erträgt, kommen hier auf ihre Kosten, vor Allen aber Diejenigen, welche dem Hochzeitsjubel in der Heimath entgehen und sich vermählen wollen im Angesicht des großen Oceans, der erhabenen Natur. Läuft doch zu Hause oft viel Klatsch und Medisance mit unter und man fürchtet auch enttäuschten oder boshaften Gesichtern zu begegnen, zurückgewiesenen Verehrern und Geliebten, die sich trügerischer Hoffnung hingaben. Wer aber glaubt, begründete Ansprüche zu haben, der mag sich beeilen, sie geltend zu machen; denn er hat möglicherweise dazu nur eine eintägige Frist, und bei einer heimlichen Reise des Bräutigams und der Braut nach dem Meereseiland kommt er sicher zu spät. Er mag sich trösten: der Trauschein ist zwar unanfechtbar, aber das böse Gewissen wird durch des Priesters Segen nicht in Ruhe gewiegt werden.

Ein Bonmot der Charlotte Wolter. Die gefeierte Wiener Tragödin gebot über einen schlagfertigen Witz. Eines Tages hatte sie sich in der Kanzlei des Burgtheaterdiretktors, des geistreichen Dingelstedt, anmelden lassen, um mit ihm irgend ein Hühnchen zu pflücken. Der Direktor war kein Freund von solchen Auseinandersetzungen und suchte sie wenigstens so lange wie möglich hinauszuschieben: er ließ sich daher verleugnen; er war auch diesmal nicht da. Die Wolter besuchte eine Freundin, die in demselben Hause, in welchem damals die Direktionskanzlei untergebracht war, einen Stock höher wohnte. Ein militärisches Leichenbegängniß zog vorüber; die Musik lockte die beiden Damen ans Fenster, und siehe, da öffnet sich auch das Fenster der Direktionskanzlei und Dingelstedt’s Kopf streckt sich aus demselben heraus. Charlotte Wolter läßt sich von ihrer Freundin sogleich ein Blättchen Papier geben, schreibt einige Zeilen darauf und schickt es herunter in die Kanzlei; Dingelstedt entfaltet das Briefchen und liest: „Lieber Hofrath! Ich habe Sie stets für einen ganz einzigen Direktor gehalten. Heute thu’ ich’s mehr als je; denn selbst wenn Sie gar nicht in der Kanzlei sind, Ihr Kopf ist doch immer da – ich hab’s soeben gesehen. Ihre Sie bewundernde Charlotte Wolter.“

Eine allgemeine Romanbibliothek. Das Bedürfniß der Unterhaltung durch Romanlektüre ist ein allgemeines. In den Leihbibliotheken wird dasselbe oft blindlings und ohne Wahl befriedigt: deßhalb sind jene Romanbibliotheken zu empfehlen, in denen Verleger und Herausgeber die Auswahl übernehmen. Sind dies Männer von Geschmack und Urtheil, so hat das Lesepublikum von Hause aus eine Bürgschaft, daß ihm nur Treffliches geboten wird. Das gilt von „Engelhorn’s Allgemeiner Romanbibliothek“, die in Stuttgart erscheint, von welcher soeben der erste Band des vierten Jahrgangs erschienen ist und welche eine Auswahl der besten modernen Romane aller Völker giebt. Die ausländischen Schriftsteller sind in guten Uebersetzungen vertreten; wir finden die Franzosen Daudet, Ohnet, Theuriet, Feuillet, Malot, Gréville u. s. w., die Engländer Aïdé, M. E. Braddon u. A., aber auch an namhaften deutschen Autoren fehlt es nicht; wir erwähnen nur zwei Schriftsteller von solchem Ruf wie Adolf Wilbrandt und Hans Hopfen. Der eben erschienene zweibändige Roman „Eine neue Judith“ von H. Rider Haggard, übersetzt von Natalie Rümelin, welcher den vierten Jahrgang eröffnet, gilt für das beste Werk des englischen Schriftstellers; er giebt in glühendem Kolorit ein anziehendes und spannendes Bild südafrikanischen Lebens.

Schach.
Von Dr. A. Bayersdorfer in München.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt.
Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 596.
Weiß: Schwarz: Weiß: Schwarz:
1. K d 3 – c 2 e 3 – d 2 : (e 2) 1. S f 7 – d 6
2. D f 1 – e 2 (:) † beliebig. 2. d 2 – d 4 † K e 5 – d 5 :
3. D resp. S setzt matt. 3. S c 8 – e 7 : matt.

Auf sonstige Züge folgt 2. d 2 – d 4 † K e 5 – d 5 : 3. D f 1 – b 5 matt, event. auch 2. D f 3 etc.


Kleiner Briefkasten.

A. T. in S. Die königlich ungarische Regierung hat in diesem Jahre zum ersten Male den Eintagsfliegenfang oder die Weißwurmernte im großartigen Maßstabe betreiben lassen, und zwar einerseits, um den werthvollen Futterstoff genügend auszubeuten und für den weitesten Verbrauch zugänglich zu machen, und andererseits, um der ärmeren Bevölkerung, insbesondere in der Theißgegend, einen guten Erwerb zu schaffen. Herr Regierungsrath Dr. G. von Hayek in Wien, Marokkanergasse 3, hat die Leitung übernommen, und zum Bezug einer größeren Masse oder einer Niederlage wolle man sich an ihn wenden. Wünschen Sie dagegen nur für den eigenen Bedarf etwas von diesem Vogelfutter zu beziehen, so können Sie dasselbe von den großen Sämereien- und Vogelfutterhandlungen Karl Kappelle in Hannover, Apotheker M. Kruel, Otterberg, Rh., Vogelhändler G. Märcker, Berlin, Vogelhandlung G. Voß, Köln, Zoologische Handlung Ed. Pfannenschmid, Emden, Ostfr., in jeder beliebigen Sendung kaufen. Dr. K. Ruß.


Inhalt: Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 629. – Von der Camorra. Von Isolde Kurz. (Schluß.) S. 635. – Das Milchmädchen von Trianon. Eine Lieder-Erzählung von Ernst Pasqué. S. 637. Mit Illustrationen S. 629, 637, 638, 639, 640, 641, 612 und mit dem Lied der Marquise von Travanet (Pauvre Jacques) S. 643. – Zigeunerin. Illustration. S. 644. – Hausfrau und Fleischer. Von Dr. Schmidt-Mülheim in Berlin. S. 645. – Blätter und Blüthen: Ein Brief von Ottilie Wildermuth. S. 646. – Das Oktoberfest in München. S. 647. Mit Illustration S. 632 und 633. – Im höchsten Norden. S. 647. – Falsche Briefmarken. S. 648. – Eheschließungen auf Helgoland. S. 648. – Ein Bonmot der Charlotte Wolter. S. 648. – Eine allgemeine Romanbibliothek. S. 648. – Schach. S. 648. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 596. S. 648. – Kleiner Briefkasten. S. 648.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Auch Suppenfleisch sollte man nicht zu frisch benutzen, wiewohl es richtig ist, daß die Suppe bei der Verwendung gar zu alten Fleisches unangenehm dunkel gefärbt und weniger schmackhaft ist.