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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[165]

No. 10.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Was will das werden?
Roman von Friedrich Spielhagen.
(Fortsetzung.)


Zwei Herren, an denen wir auf dem Hof vorübergefahren sein mußten, ohne sie zu sehen, kamen jetzt eilends heran: die beiden Brüder Vogtriz: Schlagododro’s Vater und der Major. Ich würde sie freilich nie für Brüder gehalten haben, so völlig unähnlich waren sie einander: Herr von Vogtriz, Schlagododros echter Vater von hohem, schier riesenhaftem Wuchs, quadratischen Schultern und mächtigen Gliedern, die er wie der Sohn schlenkerte, von diesem auf den ersten Blick nur unterschieden durch einen gewaltigen blondröthlichen Bart, der sich unten zu einem breiten Keil abstumpfte, und gegen den Schlagododro nur einen gelblich-weißlichen Flaum ins Feld fuhren konnte, welcher seine Oberlippe seit einiger Zeit zierte, und den er euphemististh seinen Schnurrbart nannte, wofür ihm dann glücklicher Weise gänzlich die Krähenfüße fehlten, die die Augen seines Vaters an den äußeren Ecken reichlich umgaben. Dagegen der Major, wie ich ihn zu schildern versucht habe, nur um ein Weniges minder hoch als sein riesenhafter Bruder, aber mit seiner schlanken Gestalt viel kleiner erscheinend, von schönster Haltung und anmuthigster Bewegung, dunkel von Haar und Bart und Augen, und mir jetzt im Civil (das durchaus nicht „räubermäßig“ war) fast noch sympathischer, als in der exklusiven Uniform.

Die Begrüßung zwischen Vater und Sohn war sehr herzlich, was mich denn sofort günstig für den Vater stimmte, ein erfreulicher Eindruck, der noch verstärkt wurde, als er mich, bevor Schlagododro Zeit hatte, mich vorzustellen, bei der Hand ergriff und dieselbe in einer Weise schüttelte, auf welche ich zu meinem Glück durch Schlagododro’s identische Begrüßungen vorbereitet war. Dabei hieß er mich mit ein paar herzlichen Worten (die er à la Schlagododro hervorsprudelte) willkommen: er habe schon viel Gutes über mich von Ulrich gehört. – „Auch von mir,“ sagte der Major lächelnd und mir ebenfalls die Hand reichend, wobei er mir wieder mit demselben wohlwollenden, aber seltsam prüfenden Blick auf Stirn und Augen sah, wie neulich Abends bei Werins.

„Und nun macht, Ihr jungen Herren, daß Ihr hinein kommt!“ rief Herr von Vogtriz, „und laßt Euch ein Butterbrot und ein Glas Wein geben, daß Ihr mir nicht bis zum Abendessen verhungert. Und hernach kommt in den Garten, wo, glaube ich, die ganze Gesellschaft ist.“

„Habt Ihr denn Gesellschaft, Papa?“ fragte Schlagododro.

„Außer uns, zu denen ich natürlich auch die jungen Damen rechne, nur noch ein paar Herren: den Oberförster und Axel Blewitz und den Kammerherrn.“

„Herrn von Trechow?“

„Nun natürlich. Glaubte, die Mama habe es Dir geschrieben. Bleibt ein paar Wochen hier. Freut sich sehr auf Dich – der arme Kerl! Aber nun, marsch!“

Josef Kainz als „Don Carlos“.
Nach einer Photographie von J. C. Schaarwächter in Berlin.

[166] Er trieb uns in den Flur, wo ein Diener bereits mit unseren Sachen auf uns wartete, um uns eine breite vornehme Treppe hinauf über einen oberen stattlichen, mit großen dunklen Bildern ausgeschmückten Flur durch einen schmalen Korridor in einen Seitenflügel, wie mir schien, zu führen, wo er uns ein schönes, luftiges Gemach öffnete, vor dessen offenen Fenstern hohe Bäume ragten und an das ein zweites kleineres stieß, in welchem unsere Betten standen.

„Ob der junge Herr sonst noch etwas befehle?“

„Ich denke, wir sind hier zwei,“ sagte Schlagododro streng.

„Die jungen Herren,“ verbesserte sich der Diener.

„Sie können in Zukunft auch die ,jungen‘ weglassen,“ sagte Schlagododro. „Merken Sie sich das.“

Der Mann verbeugte sich und verließ das Zimmer, da die „Herren“, wie sich herausstellte, sonst nichts zu befehlen hatten.

„Es ist ein neuer,“ sagte Schlagododro, sich den Rock ausziehend; „man braucht es mit den alten nicht so genau zu nehmen; aber die neuen Kerls maß man gleich von vornherein Mores lehren; hernach ist es zu spät.“

Ich lachte, aber innerlich war mir gar nicht zum Lachen. Durfte man so mit jemand umgehen, der ein Mensch war wie wir? Und war dies mein Freund Schlagododro, der Republikaner, den die Seinen wegen seiner Freidenkerei „auf dem Strich“ hatten: wie mochten dann die Andern sein? wie mochten dann die Andern denken?

Schlagododro hatte glücklicherweise keine Ahnung von meinen geheimen Skrupeln. Während wir uns wuschen und unsere verstaubten Kleider wechselten, pfiff er behaglich oder sang: „Freiheit, die ich meine“ – in möglichst falschen Tönen, um sich plötzlich mit seinem ärgerlich hervorgestoßenen Lieblingswort: den Kerl schlage ich aber doch noch einmal todt! zu unterbrechen. Ich glaubte, die Drohung gelte dem „Neuen“, erfuhr aber, daß Axel von Blewitz gemeint sei, den Schlagododro, der eben am Fenster stand, durch den Garten hatte gehen sehen. Der Kerl, der übrigens eine Art Vetter von ihm sei, sein Gut ganz in der Nachbarschaft habe, auch oft in die Stadt komme, mache neuerdings Ellinor auf eine schauderhafte Weise den Hof und sei dabei ein solcher Esel und kompleter Narr, daß er, wenn je ein Mensch, todtgeschlagen zu werden verdiene. Dagegen glaube er mich auf den Kammerherrn aufmerksam machen zu müssen, früher ebenfalls in der Nachbarschaft begütert, bis er den letzten Heller verspielt und sonst verthan, um dann an einem kleinen mitteldeutschen Hofe Theaterintendant und Kammerherr zu werden, bis er später eine unerwartete Erbschaft machte, von der er jetzt behaglich in Berlin lebe und von Zeit zu Zeit – wie eben jetzt – seine alten Freunde und Nachbarn auf der Insel besuche. Ein famoser alter Bursche, ebenso amüsant, wie der Kerl von Blewitz langweilig, nur ein bischen schlecht auf den Füßen, so daß er ohne seinen Kammerdiener – Weißfisch – übrigens auch ein Original – nicht wohl von der Stelle könne. Es sei nun aber die höchste Zeit, daß auch wir von der Stelle kämen!

Ich war bereit, was den äußeren Menschen betrifft. Innerlich war ich es keineswegs. Es kam mir wie eine grenzenlose Thorheit vor, daß ich diese Einladung angenommen hatte, und selbst der Trost, daß ich Maria nun wieder sehen sollte, wollte nicht recht verfangen. Was hatten wir beide hier zu thun?

„Nun?“ sagte Schlagododro, bereits in der Thür.

„Ich komme,“ erwiderte ich.

Bei mir aber sagte ich: Und morgen gehe ich wieder.


2.

Von einem Diener (nicht dem „Neuen“, sondern einem älteren Manne, der uns mit einer Tablette voll allerhand Dessertgeschirr entgegen kam und von Schlagododro „Braun“ und „Du“ genannt wurde) hatten wir erfahren, daß die Herrschaften auf dem „Freiblick“ seien. Der Freiblick, belehrte mich Schlagododro, war ein Platz im Park, so geheißen, weil man von demselben, da er hart am Ufer liege, vielmehr einen etwas erhöhten Vorsprung des Ufers bilde, einen freien Blick die Bucht hinab und auf die gegenüberliegende Küste habe. Schade, daß die Sonne schon unter sei und wir nur noch einen Rest von dem Abendlicht auf dem Wasser bekommen würden!

Ein Rest von dem Abendlicht dämmerte aber auch noch röthlich in den hohen Parkbäumen, unter denen wir jetzt rasch dahinschritten, immer in der Nähe des Schlosses, das mir schier endlos in seiner Ausdehnung vorkam, ebenso wie der Park sich endlos nach der anderen Seite und vor uns zu strecken schien.

„Es ist nicht so schlimm,“ sagte Schlagododro, „und bis zum ,Freiblick‘ sind es von der Seitenthür, aus der wir gekommen sind, nur genau dreihundert Schritt. Aber wir können hier ein Ende abschneiden.“

Er klinkte ein Pförtchen in einem Drahtgatter auf zu einem Gemüse- und Obstgarten an der langen fensterlosen Rückwand eines Gebäudes, welches allerdings noch mit dem Schlosse zusammenhing, aber bereits zu Wirthschaftszwecken diente. Während mir der Freund das demonstririe, bemerkte ich, dessen verwunderte Blicke umherwanderten, durch das dichte Blätterwerk an Stangen aufwärts rankender Himbeerstauden helle Frauenkleider, auf die ich Schlagododro aufmerksam machte.

Es war nicht eben laut gewesen, aber die Mädchen mußten es doch gehört haben, denn das eine der hellen Kleider flatterte tiefer in die Büsche, hinter denen es verschwand, während das andere, welches das erste vergeblich zu halten versucht zu haben schien, deutlicher durch die Blätter schimmerte und jetzt heraustrat. Es war Maria, und ich athmete erleichtert bei ihrem Anblick auf, wie ein verzagender Schwimmer, wenn er plötzlich Boden unter den Füßen fühlt. Ich ging ihr lebhaft entgegen und murmelte, ihr die Hand pressend, nur ein dumpfes: Gott sei Dank! so leidenschaftlich, daß sie mich verwundert fragte: „Was haben Sie?“

Ich konnte ihr glücklichrweise die Antwort schuldig bleiben, Schlagododro war nun auch herangekommen; ich mußte die Beiden, die sich einander nie gesehen hatten, vorstellen. Der Himmel weiß, wie ungeschickt ich das angefangen haben mochte, denn Schlagododro verbiß sich nur mühsam das Lachen, und selbst in Maria’s Oberlippe zuckte es. So stand ich ärgerlich und beschämt dabei, während sie mit einer Gewandtheit, um die ich sie beneidete, allerhand höfliche Redensarten austauschten, die mir sehr banal und gerade dieser Beiden unwürdig vorkamen. Hatte ich mir doch die Begegnung so ganz anders gedacht; so viel gehaltener auf Maria’s, so viel enthusiastischer auf Schlagododro’s Seite! Denn daß er von Maria einen sehr bedeutenden Eindruck auf der Stelle erhalten und denselben kundgeben müsse, stand bei mir fest als Aequivalent der Verzückung, in die ich nach seiner Voraussetzung gerathen würde, sobald ich Ellinor erblickte. Ich schwor es mir jetzt in meiner gekränkten Seele zu, ich würde nicht in Verzückung gerathen, und wenn sie, die sich da noch immer zwischen den Büschen versteckt hielt, tausendmal schöner als schön sei.

„Ellinor!“ rief Maria,

„Sie wird fort sein,“ sagte Schlagododro.

„Bewahre,“ sagte Maria, – „Ellinor!“

„Hier bin ich!“ rief eine Stimme nach einer kleinen Pause zurück.

Etwas Sonderbares geschah in meiner Seele, das mir noch heute wie ein schauerlich schönes Wunder erscheint.

Es war um uns, die wir nach Maria’s zweitem Rufen lauschend dastanden, eine völlige Stille gewesen – kein leisester Vogellaut in den Bäumen, kein heimlichstes Lispeln in den regungslosen Büschen, – und als nun die Antwort kam, da – ich kann es nicht anders ausdrücken – war es mir, als hätte die Stille selbst – das athemlose Schweigen ringsumher – gesprochen. So voll und weich und geheimnißvoll war der Klang: hier bin ich! – ich, das Geheimniß, das für Dich über diesem Orte, über dieser Stunde ruht!

Und während ich, von solchen Schauern durchbebt, mit weitgeöffneten Augen auf die Büsche starrte, thaten sie sich auseinander, und ein Mädchen trat heraus und kam leichten Schrittes auf uns zu. Wenn sie, statt zu schreiten, auf dem Hauch, der plötzlich über meine brennenden Wangen strich, herangeschwebt wäre – ich würde es zweifellos nur in der Ordnung gefunden haben. Ja, das war sie, die mir Schlagododro geschildert hatte: mit dem Haar, welches röthlich, wie der Abendschein, in herrlichen Locken nach allen Seiten den reizenden Kopf umgab und doch wieder wegstrebte, als zausten an jedem einzelnen unsichtbare Elfenhändchen; mit den braunen, von den langen dunklen Wimpern überschleierten Sammetaugen und dem süßreizenden Lächeln um die köstlich geschwungenen Purpurlippen. Und doch war sie es wieder nicht – [167] etwas, das nicht hatte geschildert werden können und sich auch nicht schildern und nicht fassen ließ.

Da war es denn ein Glück für den Fassungslosen, daß, als eben Schlagododro meinen Namen genannt und ich irgend einen kläglichen Unsinn zur Erwiderung auf die anmuthige Neigung von Ellinor’s schönem Haupt gestammelt hatte, etwas geschah, das die Aufmerksamkeit völlig von mir ablenkte. Ein überschlanker junger Mann mit einem runden Hütchen auf dem blonden Kopf, einem dunkleren Jaquet und sehr hellen Inexpressiblen war, ich weiß nicht woher, plötzlich jenseit des Drahtgatters aufgetaucht, welches den Platz umfriedigte, und über das er sich jetzt zu schwingen versuchte, indem er sich mit der linken Hand auf einen der Holzpfähle des Gatters stützte. Er machte zwei vergebliche Ansätze; beim dritten kam er wohl herüber, aber nicht so elegant, wie es wohl seine Absicht war. Sein linker Fuß war gegen den obersten Draht geschlagen, oder er war, schon diesseits, beim Aufsprung auf ein Hinderniß gestoßen – er taumelte vornüber, versuchte sich, krampfhaft mit den Armen in die Lüfte fuchtelnd, zu halten, verlor immer mehr das Gleichgewicht und fiel der Länge lang in den Weg, auf dem wir standen, unmittelbar vor den jungen Damen, die erschrocken zurückprallten, während Schlagododro und ich hinzusprangen, ihm aufzuhelfen. Doch bedurfte er dessen nicht. Schon stand er wieder auf seinen Beinen – die, wie ich jetzt bemerkte, von beträchtlicher Länge waren – und begann, sich mit einem seidenen Taschentuche, das er aus der Brusttasche seines Jaquets gerissen, abzustäuben, indem er dabei wüthende Blicke auf uns warf, als ob wir an dem kleinen Malheur schuld wären.

„Ich kann wirklich nichts dafür,“ sagte Schlagododro, der sich ein für allemal eine Impertinenz nicht gefallen ließ, am wenigsten von jemand, den er noch vor zehn Minuten todtschlagen zu wollen erklärt hatte. „Ein andermal kommen Sie hübsch durch die Pforte, sie war nur zwanzig Schritte davon.“

„Danke Ihnen verbindlichst,“ sagte der junge Mann in ärgerlich schnarrendem Ton; „kam übrigens nur, um den Damen mitzutheilen, daß sie vermißt werden.“

Er hatte sich zu den Mädchen gewandt, die jetzt Arm in Arm standen und nach irgend etwas in den höchsten Wipfeln der Parkbäume zu sehen schienen, das sie sehr interessiren und sehr komisch sein mußte, denn Ellinor drückte sich das Taschentuch vor den Mund, und Maria’s Oberlippe zuckte, als sie, ohne die Augen von dem betreffenden Etwas abzuwenden, mit feierlichem Ernst sagte:

„Wir waren im Begriff zurückzukehren.“

„Inzwischen erlauben Sie mir, lieber Blewitz, Ihnen meinen lieben Freund Lothar Lorenz vorzustellen,“ sagte Schlagododro.

„Sehr erfreut!“ schnarrte der junge Mann, ohne die Augen von seinem kleinen runden Hut zu erheben, an dem er noch immer stäubte. Ich war der Meinung, daß Schlagododro’s Drohung völlig gerechtfertigt sei und daß, wenn es zur Ausführung einer Hilfe bedürfe (was übrigens entschieden nicht der Fall war), ich ihm dieselbe mit ganz besonderer Freude gewähren würde.

„Und nun können wir ja wohl gehen,“ sagte Schlagododro.

Wir gingen, die beiden Mädchen voran, Arm in Arm, eifrig leise sprechend, wir drei hinterher, ohne ein Wort zu wechseln. Das Schweigen drückte mich nicht. Ich dachte nicht mehr an das komische Intermezzo von vorhin, ich sah meine Begleiter zur Rechten und Linken nicht deutlicher, als ob sie Schemen gewesen wären – ich war in den Anblick des jungen Mädchens, das da wenige Schritte vor mir ging, völlig versunken, als wäre es ein magischer Stern, dem ich nur immer so zu folgen hätte, nur immer folgen möchte, es sei auch wohin es sei.

Für diesmal war es nach dem „Freiblick“, zu dem wir plötzlich gelangten, ohne daß ich zu sagen gewußt hätte, wie wir dahin gekommen: ein mäßig großer, altanartiger, von hohen Bäumen überschatteter Platz, dessen Seite nach dem Meere zu von einer Steinbalustrade geschützt war. Die Gesellschaft hatte eben aufbrechen wollen, blieb nun aber unserthalben. Schlagododro begrüßte der Reihe nach seine Mutter und die Gäste, und ich begriff jetzt, wie er, der sich von frühster Jugend auf in einem so großen Kreise bewegt hatte, zu seiner Sicherheit und Unbefangenheit gekommen war. Während er sich mit den Herren unterhielt, hatte mich seine Mama in Beschlag genommen, eine mäßig korpulente Dame, deren noch immer schönes weißes, runzelloses Gesicht einen wohlwollenden, aber etwas indolenten Ausdruck zeigte und von der Schlagododro seine Redseligkeit zu haben schien, nur daß seine Rede stets wie ein Bach vom Gebirge daher gerauscht kam, und die der Mama so glatt und ebenmäßig war wie ihr Gesicht oder die Spiegelfläche des Wassers, welches sich vor uns nach dem im letzten Abendgold verklärten Westen breitete. Ich hatte ein langes Examen zu bestehen, welches für mich, da es sich wesentlich um meine Familienverhältnisse, um meine Bildung im Allgemeinen und die religiöse im Speciellen handelte, ziemlich peinlich gewesen wäre, nur daß die Dame eine Antwort auf eine Frage selten abzuwarten pflegte, sondern, als hätte sie eine solche erhalten, in immer demselben ebenmäßigen Tone weiter sprach. Indessen schien der Ausfall der Prüfung kein mir ungünstiger gewesen zu sein, wenigstens hörte ich, als Schlagododro zu meiner Befreiung kam, wie die Dame zu einer andern langen, dürren, blonden, die fortwährend höflich lächelnd, aber ohne ein Wort hineinzusprechen, dabei gestanden hatte (Fräulein Drechsler, Ellinor’s Gouvernante, vermuthete ich), sagte: „Ein angenehmer junger Mann, aber die Aehnlichkeit finde ich nicht so sehr erstaunlich.“ Schlagododro hatte mich aber geholt, um mich mit den anderen Gästen bekannt zu machen: dem Oberförster von Candlin, einem ernst, fast melancholisch blickenden Herrn mit einem langen grauen Schnurrbart, in grünem, bis oben zugeknöpften Uniformrocke, und nun einem andern, der in einem dicht an die Balustrade herangeschobenen Krankenwägelchen saß, und von dem ich bis jetzt nur den langen, schmalen, gekrümmten Rücken und den breiten Schlapphut gesehen hatte. Jetzt, als Schlagododro mit mir zu ihm trat, hob er den Kopf, und ich blickte in ein bartloses, verwüstetes, in tausend Falten und Fältchen zerknittertes Gesicht, welches mir im ersten Moment uralt erschien, bis ich ihm in die Augen sehen konnte, die gar nicht alt waren, sondern einen sehr lebhaften, aber kalten stechenden Blick hatten, der jetzt in einer für mich unbehaglich prüfenden Weise starr auf mich gerichtet war. Er mochte merken, wie mich das genirte, denn er strich sich mit einer langfingerigen, durchsichtig weißen Hand über das zerknitterte Gesicht, das darauf plötzlich um zwanzig Jahre jünger erschien, gerade als ob er eine Maske abgenommen hätte.

„Nun,“ sagte er lächelnd, „da hätten wir also den klugen Pylades zu unserm Tollkopf von Orest. Mit Euch Beiden wollte ich schon Ehre einlegen, und Fräulein von Werin ist die geborene Iphigenie. Den Thoas übernehme ich: Thoas im Rollwagen, das ist eine feine Nüance, die durchschlagen muß. Was meinen Sie, Weißfisch?“

Die letzten Worte waren an einen Mann gerichtet, der, ich weiß nicht woher – vielleicht hinter dem dicken Stamm der nächsten Platane hervor – an den Wagen zu seinem Herrn getreten war. Ich schloß aber auf das dienerliche Verhältniß des Mannes aus dem Ton, in welchem ihn der Kammerherr angesprochen, nicht aus seiner Haltung, Miene oder Kleidung, wonach ich ihn wohl für ein Mitglied der Gesellschaft hätte halten müssen. Auch er war bartlos, wie sein Herr, und seine Augen, obgleich sie sehr hell und die jenes sehr dunkel waren, hatten denselben stechenden Blick, der eben jetzt, gerade wie vorhin der des Kammerherrn, prüfend auf mich gerichtet blieb, auch, als er auf die Frage jenes mit respektvollem Ernst sagte:

„Gewiß, Herr Kammerherr, das würde von einer zweifellos großen Wirkung sein. Man würde auch dann besser begreifen, weßhalb Arkas vergeblich für den König plaidirt.“

„Werden Sie nicht impertinent, Weißfisch!“ sagte der Kammerherr, mit dem langen Zeigefinger drohend.

„Ich spreche nur von der Bühnenwirkung,“ erwiderte der Mann, sich höflich verbeugend; „im Leben kann sich die Sache ja ganz anders verhalten.“

„Na,“ sagte der Kammerherr, „dann schieben Sie mich nur wieder ins Haus, damit ich mich nicht hier zum letzten Male im Leben erkälte! Die Andern sind schon voraus; vielleicht leisten mir die jungen Herren Gesellschaft.“

Weißfisch hatte sich hinter das Wägelchen gestellt, das er nun mit dem lahmen Herrn vor sich herschob, während wir diesem, wie er gewünscht, zur Seite blieben. Doch wurde die Unterhaltung wesentlich oder völlig von dem Herrn und Diener geführt, wobei es sich denn ausschließlich um theatralische Dinge handelte, speciell um eine Aufführung der „Iphigenie“ an jener kleinen Hofbühne zur Zeit der Intendanz des Kammerherrn. Es war viel von einer Schauspielerin die Rede, die, eigentlich Sängerin, auf [168] den Wunsch des Fürsten einmal die Titelrolle des Stückes übernommen und nach der Aussage des Kammerherrn ganz wunderbar gespielt hatte, während Weißfisch nicht dieser Ansicht war. Die Dame habe nicht die Iphigenie, sondern sich selbst gespielt, was keine große Kunst und überhaupt keine Kunst sei, zumal bei der Schönheit der Dame und der großen Gunst, in welcher sie bei Hofe und beim Publikum gestanden. Wie könne man Goethe’sche Verse sprechen, wenn man „englisch lisple“? Damit könne man eine leidliche Sängerin sein, wie die Dame es ja in der That gewesen, aber leidliche Sängerin und unleidliche Schauspielerin – das sei doch, wie der Kammerherr wisse, eine landläufige Erfahrung.

„Das Ende vom Liede ist, daß Sie Miß Howard mit Ihrem Hasse beehrten und, wie ich merke, noch beehren, wozu Sie ja auch Ihre gegründete Ursache haben,“ sagte der Kammerherr.

„Der Herr Kammerherr sind sicher, daß dabei keine Personenverwechselung stattfindet?“ gab Weißfisch zurück.

„Sie werden schon wieder impertinent,“ sagte der Kammerherr.

Ich mußte darin dem Kammerherrn Recht geben, wenn er mir auch in dem Streite selbst den Kürzeren gezogen zu haben schien. Ich hatte mit großer Aufmerksamkeit zugehört und mich im Stillen über das sonderbare Verhältniß zwischen Herrn und Diener höchlichst verwundert. Schon daß ein Diener über dergleichen Dinge so reden konnte, war mir erstaunlich, auch dann noch, als Schlagododro einen Augenblick wahrgenommen hatte, um mir zuzuflüstern, daß der Mann viele Jahre Theaterfriseur und zuletzt die rechte Hand des Intendanten gewesen sei. Wie kam der Friseur zu dem, was mir wenigstens als das feinste Kunstverständniß erschien? Wie aber kam er vor Allem dazu, in diesem Tone mit seinem Herrn sprechen zu dürfen, nachdem ich vorhin gehört, mit weicher Strenge der gutmüthige Schlagododro einen Mangel an Respekt, oder was er dafür zu halten beliebte, an seinem Diener zurückgewiesen? Und des Kammerherrn Gutmüthigkeit traute ich nicht allzu weit. Hatten Herr und Diener zu viel zusammen durchgemacht, was den Standesunterschied zwischen Beiden verwischt hatte? Machte es dem Kammerherrn einfach Spaß, seinen Witz an dem Manne zu üben, auf die Gefahr hin, daß die Sache, wie eben, die umgekehrte Wendung nahm, so daß Herr Weißfisch außer seiner Kammerdienerrolle auch noch die des Haus- und Hofnarren bei dem gnädigen Herrn spielte?

Dieser Erklärung gab ich zuletzt den Vorzug, und noch derselbe Abend sollte mir den Beweis liefern, daß der Mann zum Haus- und Hofnarren im Sinne der guten alten Zeiten, von denen der Narr im „Lear“ ein Wörtchen zu sagen weiß, mindestens ein ausgiebiges Talent besaß, um welches ihn meiner Meinung nach der größte Bühnenkünstler beneiden mußte.

Das Talent nämlich, jeden beliebigen bedeutenden Schauspieler – und er schien sie alle gesehen zu haben – in Haltung, Miene, Stimme, Vortragsweise nachzuahmen bis zur positiven Täuschung, wie der Herr Kammerherr und Herr von Vogtriz, der häufig nach Berlin kam und ebenfalls ein großer Theaterfreund war, versicherten.

Er hatte aber seine Künste nach der Abendtafel zu produciren, während die Gesellschaft, wie bei einem wirklichen Schauspiel, auf rangirten Stühlen das Parkett bildete. Trotzdem die Vorstellung über eine halbe Stunde währte, schien das Programm des Mannes auch nicht annähernd erschöpft zu sein; und dabei sei er, wie der Kammerherr, nachdem er endlich wieder abgetreten, behauptete, auf der Bühne völlig unbrauchbar, wie durch wiederholte Versuche auf dem fürstlichen Theater, für die sich Se. Hoheit selbst aufs Lebhafteste interessirt, unumstößlich festgestellt sei. Auch nicht die kleinste, unbedeutendste Rolle sei er auf der Bühne durchzuführen im Stande, nicht einmal im Fach der Intrigue, in welchem er doch im wirklichen Leben excellire.

Die Leistung des Herrn Weißfisch war die letzte Nummer im Programm dieses Abends gewesen. Gleich darauf löste sich die Gesellschaft auf; der Oberförster und Herr von Blewitz verabschiedeten sich; die Hausgenossen zogen sich in die Schlafgemächer zurück. Schlagododro war todtmüde und schlief sofort ein; ich lag noch lange wach im Bett. Die fremde Umgebung, das viele Sonderbare, das ich im Laufe des Abends beobachtet hatte, die neuen Gesichter – das Alles wirrte in buntem Durcheinander vor meinem inneren Auge. Zwar wollte ein Gesicht sich immer vor die anderen drängen und wollte eine Stimme aus den übrigen hervorklingen; aber ich duldete es nicht. Ich war um Maria’s willen gekommen, und Maria sollte den ersten Platz in meinem Herzen behalten. Mochten sie Alle, wie sie es ja augenscheinlich thaten, vor der schönen Ellinor anbeten – ich würde mich schämen, nichts Besseres zu sein, als einer jener Romanhelden, deren unentrinnbares Schicksal es ist, Demokraten und Freiheitsschwärmer, wie sie sind, sich in die erste schöne Aristokratentochter, die ihnen über den Weg läuft, zu verlieben. Nimmermehr! Und sollte ich wirklich das Unglück haben, mich in das wunderbare Mädchen zu verlieben – wer kann für Unglück stehen, und gerade diese Sorte pflegte ja bei mir besonders schnell zu schreiten! – nun wohl, so mochte mein gequältes Herz brechen, aber meine stolzen Kniee würden sich niemals beugen – niemals, niemals!

Und mit diesem tugendhaften Vorsatze schlief ich ein.


3.

Am nächsten Morgen in der Frühe – eine schwache Helle dämmerte erst durch die heruntergelassenen Vorhänge – wurde ich aus einem wunderlichem Traum, in welchem ich vergeblich nach Ellinor suchte, die bald hier, bald da aus dichtem Gebüsch: hier bin ich! rief und, wie eifrig ich durch das Gezweig drang, nur immer ein verflatterndes helles Gewand blieb, auf eine schauerliche Weise geweckt. Stöhnende, wimmernde Klagelaute, die ich bereits im Traum vernommen – da war es aber mein eigenes Weinen um die Unerreichbare gewesen – kamen jetzt deutlich an mein waches Ohr, schwiegen dann eine kurze Zeit, um sich von neuem herzzerreißender als zuvor vernehmen zu lassen. Ich weckte Schlagododro.

„Was giebt’s?“ fragte er, sein Löwenhaupt vom Kissen aufrichtend.

„Hör doch! es muß jemand schwer krank sein – ganz in der Nähe!“

Schlagododro horchte mit schlaftrunkenen rollenden Augen.

„Es ist der Kammerherr,“ sagten er gleichmüthig: „er logirt unter uns; er wird gleich anfangen zu singen.“

Das Löwenhaupt sank in die Kissen zurück, und ruhig tiefe Athemzüge sagten mir, daß der liebe Kerl bereits wieder schlief.

Ich aber konnte nicht sobald wieder einschlafen, sondern saß, den Ellbogen aufgestemmt, im Bett, den grausigen Tönen lauschend, die noch immer, jetzt aber seltner und leiser, von unten heraufdrangen, voll Mitleid mit dem Manne, dem die Lebenslust aus den dunklen Augen sprühte, der gestern Abend die ganze Tischgesellschaft mit seiner muntern Laune und seinen drolligen Geschichten in Athem und Lachen erhalten hatte, und nun, ein Raub gewiß gräßlicher Schmerzen, so hilflos dalag. Sollte ich aufstehen und versuchen, zu ihm zu gelangen – was ja doch am Ende nicht schwer halten konnte – und ihm meine Hilfe anbieten? Aber sein Faktotum Weißfisch war ja sicher in seiner Nähe, und es konnte kein außergewöhnlicher Zustand sein, sonst hätte Schlagododro doch nicht so ruhig davon sprechen können. Was mochte er mit dem Singen gemeint haben?

Ich hatte es kaum gedacht, als jetzt wirklich unter mir eine gebrochene Stimme zu singen anhob. Das war aber noch unheimlicher als das Stöhnen und Aechzen. Ich hatte nie Musik getrieben, aber ich hatte, wohl als Erbtheil meiner Mutter, ein leises, feines Ohr, und die Stimme, die da unten sang, meinte ich, mußte einst sehr schön gewesen sein, und, wie sie jetzt auch zitterten und wie sie zweifellos aus einer von Klagelauten erschöpften Brust kamen – die Töne waren immer rein und vornehm, wie die Trümmer eines gebrochenen griechischen Tempels noch immer von Marmor sind. Und wenn das Schauerliche dieses Singens in der Morgenfrühe nach einer Nacht voll Qualen noch vermehrt werden konnte, so war es durch die Lieder selbst: „Treibt der Champagner“ – und: „Ueberm Garten durch die Lüfte“ –

Großer Gott! gestern Abend hatte ich gesehen, wie er den perlenden Wein, von dem ihm Herr von Vogtriz ein Glas aufnöthigen wollte: nur ein Glas, lieber Freund! – standhaft zurückwies, um bei seinem Selterwasser zu bleiben. Und da draußen in dem Park, durch dessen majestätische Wipfel die hellen balsamischen Morgenlüfte strichen, waren jetzt die Vögel wach geworden und begrüßten zwitschernd die aufgehende Sonne, und – „Mir ist, als sollt’ ich weinen!“ – ich konnte es nicht länger ertragen, vergrub meinen Kopf in die Kissen und weinte still und

[169]

Zum Karneval.
Nach dem Oelgemälde von W. Gay.

[170] leidenschaftlich. Weinte um was? Ganz gewiß um den unglücklichen Mann, aber: – „und mir ist, als könnt’s nicht sein!“ Nein: es konnte nimmer sein – nimmer! nimmer würde ich sagen können: „sie ist meine! sie ist mein!“

Ich war in jenem glücklichen Alter, in welchem man sich noch in den Schlaf zu weinen vermag. Das hatte ich denn gethan, wie ich zu meimer Beschämung bemerkte, als ich, nun wieder erwachend, Schlagododro bereits angezogen vor meinem Bette sah.

„Du armer Kerl!“ rief er. „Das war wohl eine schlechte Nacht für Dich! Ich hätte auch wohl früher daran denken können; aber wir prosaische Kerls vergessen ja immer, wie zart besaitet so eine Dichterseele ist. Uebrigens habe ich schon das Nöthige angeordnet: wir quartieren noch heute um. Keinen Widerspruch! Es ist Platz genug in dem alten Kasten. Und nun mache, daß Du in die Kleider kommst!“

Ich hatte Schlagododro bereits gestern Abend gebeten, mich heute Morgen in Haus und Hof herumzuführen; wir hatten jetzt die beste Zeit dazu. Herr von Vogtriz war mit dem Major und Ellinor ausgeritten; Frau von Vogtriz machte mit Maria und Fräulein Drechsler ihre Morgenpromenade; wir konnten unbehelligt durch alle Zimmer und Säle schweifen. Hatte mir gestern die äußere Ausdehnung des Schlosses mächtig imponirt, so wuchs heute mein Erstaunen über die Fülle der Räume, welche die dicken Mauern einschlossen. Wahrlich: es war Platz genug in dem alten Kasten. Hunderte von Menschen hätten in demselben mit größter Bequemlichkeit wohnen können! Auch stand der bei weitem größte Theil unbenutzt, oft nur dürftig mit ausgedienten Möbeln versehen; nicht wenige Gemächer waren völlig leer. Aber auch nur der bewohnte oder doch benutzte und völlig möblirte Theil – welcher Raumluxus und welche Pracht der Ausstattung! Da waren Säle mit breiten Spiegeln bis an die Stuckdecke und niedrigen Divans, die rings um die Wände liefen; da waren Zimmer, deren Plafonds große, farbenprächtige Bilder schmückten, mit nur roth-, andere mit nur blau-, andere mit nur gelbseidenen Möbeln. Wieder andere, in denen jedes Möbel aus dunklem Eichenholz, reich geschnitzt und, wie mir Schlagododro sagte, keines unter dreihundert Jahre alt; wieder andere mit Schränken, Kommoden, Tischen, sämmtlich in hellerem Holz mit kunstvoller Täfelung und großen blinkenden Messingbeschlägen.

Und wie wir so von Raum zu Raum wanderten, deren Zahl geradezu endlos schien, mußte ich an das kleine Häuschen in der Hafengasse denken mit seinen drei oder vier Zimmerchen, der engen knarrenden Treppe, dem dunklen Hof und dem Kämmerchen neben des Vaters Werkstatt, das kein anderes Licht hatte, als welches durch die Fensterluke in der schrägen Decke fiel. Ich würde mir selbst bitter Unrecht thun, wollte ich sagen, daß es Neid gewesen wäre, das peinliche Gefühl, welches mich, wie ich so dieser Vegleichung nachdachte, in immer stärkerem Grade überkam. Dazu war ich des bedürfnißlosen, neidlosen Vaters zu treuer Schüler. Es war gewiß nur, daß sich mir der ungeheure Gegensatz der Verhältnisse und Bedingungen, unter denen die verschiedenen Klassen leben, aufdrängte, und wahrscheinlich ging mein Denken noch nicht einmal so weit. Vielleicht war es nur die krasse Differenz zwischen Schlagododro’s und meinen Glücksumständen, und wie es möglich sein sollte, daß wir, trotz dieser Differenz, auf die Dauer Freundschaft halten sollten.

Hatte meine Miene gezeigt, was in mir vorging, diktirte es Schlagododro das eigne brave Herz, er kam plötzlich auf seine engeren Familienverhältnisse zu sprechen, die keinesweges so glänzend seien, als es wohl den Anschein habe. Einmal kämen Nonnendorf und die beiden anderen Güter Semmlitz und Brandshagen nicht vom Vater, der, wie seine Brüder, von Haus aus nur ein sehr bescheidenes Vermögen habe – vielmehr gehabt habe, denn es sei längst verbraucht – sondern von der Mutter, einer geborenen Gräfin Gransewitz, die dem Vater außer diesen noch zwei Güter mitbrachte, welche man bereits habe aufgeben müssen. Um den allerdings noch sehr stattlichen Rest zu retten oder zu sichern, habe die Familie der Mutter auf Errichtung eines Majorats gedrungen, das dann auch, nach einigem Sträuben von Seiten des Vaters, vor vier Jahren hergestellt worden, und dessen Inhaber derzeitig – nach den getroffenen Familienarrangements – der Vater sei. Nach ihm werde dasselbe auf Astolf, als den älteren Bruder, übergehen, während für ihn – Schlagododro – nichts bleibe, als was der Vater während seiner Majoratsschaft etwa „auf die hohe Kante“ lege.

„Na,“ sagte Schlagododro „und die schöne Kunst versteht der Papa, glaube ich, nicht besser als mein Großonkel hier, der Onkel aus Amerika, weißt Du, der niemals kommen wird, sintemalen er bereits vor fünfunddreißig Jahren oder so die lange Reihe seiner Thorheiten damit schloß, daß er sich, als er eben die Millionärin geheirathet hatte, hinlegte und starb.“

Wir standen in einem großen schönen Salon, der selten benutzt zu werden schien – es war eine abgestandene Luft in dem Raume mit den geschlossenen Fenstern und den herabgelassenen hellen Vorhängen – vor einem der Portraits, deren viele an den Wänden hingen. Mir schien es eine besonders schöne Arbeit, und stellte einen jungen Menschen von etwa zwanzig Jahren dar in der Tracht eines Jägers mit Flinte und Jagdtasche, neben ihm ein weißer Hühnerhund, der, die Mütze seines Herrn im Maul, sitzend, zu diesem aufblinzelte. Der Herr mochte sie ihm eben gegeben haben, um sich die braunen Locken aus der nassen Stirn zu streichen, und blickte nun so mit den großen dunkelblauen Augen erwartungs- oder sehnsuchtsvoll in die Ferne.

„Was sagst Du dazu?“ fragte Schlagododro.

„Wozu?“ erwiderte ich. „Dazu, daß der Herr zu so unpassender Zeit starb?“

„Nein, zu dem Bilde!“ sagte Schlagododro lachend; „zu ihm selbst! Gefällt Dir der Mann?“

„Sehr!“

„Nicht wahr, er ist schön?“

„Sehr schön.“

„Natürlich!“

„Wieso: natürlich?“

„Ich meinte nur so,“ erwiderte Schlagododro trocken; „aber findest Du keine Aehnlichkeit?“

Ich betrachtete das Bild genauer. Es hatte etwas, das mich an meine Mutter erinnerte, nicht, wie sie jetzt war, sondern, wie sie das Medaillonbild darstellte. Aber das meinte Schlagododro gewiß nicht: er hatte meine Mutter nur einmal und auch das nur flüchtig und im Halbdunkel auf der Treppe gesehen. Unzweifelhaft sollte es eine Vogtriz’sche Familienähnlichkeit sein. Und plötzlich kam mir die Erinnerung an Ernst von Vogtriz, den Sohn des Majors, der damals starb, als er in Ober- und ich in Unterquinta saß. Ja freilich, das waren die weichen braunen Locken und die großen glänzenden blauen Augen, die ich wohl im Gedächtniß behalten, wenn ich auch sonst das Gesicht des Knaben vergessen hatte. Ich sagte es Schlagododro.

„Richtig,“ rief er. „und sonst findest Du keine Aehnlichkeit? Besinne Dich doch: natürlich mit einem ebenfalls sehr schönen jungen Herrn.“

„Deinem Bruder?“

„Keine Spur! Mit Dir selber, Du Narr.“

„Mit mir?“ rief ich erstaunt.

Schlagododro, der während dieses Examens seinen Ernst, wie es schien, nur mit Mühe behauptet hatte, brach in ein tolles Gelächter aus.

„Aber diese Ähnlichkeit ist ja seit gestern das Gespräch der ganzen Familie,“ rief er. „Onkel Egbert hat sie entdeckt; will sie schon vor fünf Jahren entdeckt haben, als er Dich zum ersten Mal gesehen hat; das heißt damals solltest Du dem armen kleinen Vetter ähnlich sein, der eben gestorben war, und nun neuerdings dem Großonkel Jägersmann. Thu’ doch nur nicht so erstaunt! als ob Du nicht schon längst wüßtest, daß Du ein bildhübscher Junge bist!“

„Auf Ehre!“ rief ich, während ich fühlte, daß mir eine brennende Röthe im Gesicht aufschlug. „Erstens finde ich keine Spur von Aehnlichkeit mit mir, und zweitens –“

„Bist Du häßlich wie die Nacht!“ rief Schlagododro, mir herzlich den Arm um die Schulter legend. „Frage nur die Mädchen, sie werden es Dir bestätigen! Und nun komm, Du Nachtvogel, und laß uns frühstücken! Ich falle fast um vor Hunger.“

Ein respektvolles Räuspern machte uns Beide umblicken. Hinter uns stand Weißfisch und verbeugte sich; ich hatte das Gefühl, daß er schon länger dagestanden habe.

„Nun?“ sagte Schlagododro, der dasselbe denken mochte, ärgerlich.

„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte Weißfisch; „ich habe die Herren überall gesucht. Der Herr Kammerherr läßt den Herrn Lorenz (hier verbeugte er sich wieder vor mir) um die Ehre seines Besuches bitten.“

„Mich nicht?“ fragte Schlagododro.

[171] Der Herr Kammerherr würde sich gewiß sehr freuen,“ erwiderte Weißfisch mit dem leisesten Ansatz eines Lächelns; „mein diesmaliger Auftrag lautet indessen nur an den Herrn Lorenz.“

„Schön,“ sagte Schlagododro, „Herr Lorenz wird sich nach dem Frühstück die Ehre geben.“

„Ich erlaube mir die Mittheilung,“ sagte Weißfisch, „daß die ausgerittenen Herrschaften noch immer nicht zurück sind und die gnädige Frau das Frühstück um eine halbe Stunde hinauszuschieben befohlen haben. Diese halbe Stunde würde gerade ausreichen. Der Herr Kammerherr frühstücken bekanntermaßen allein und würde nach einer besonders schlechten Nacht für ein kleines Plauderstündchen sehr dankbar sein.“

„Meinetwegen,“ sagte Schlagododro.

(Fortsetzung folgt.)

Karnevals Lust und Leid.

In Briefen aus der Karnevalsaison mitgetheilt von Paul von Schönthan.
I.0 „Lust.“

Verehrter Freund! Die Erfüllung Ihrer brieflich ausgesprochenen Bitte, Ihren Neffen, der den ersten Winter in Berlin verbringt, um sich zum Bauführer-Examen vorzubereiten, einigermaßen zu überwachen und Ihnen von Zeit zu Zeit über dessen Lebensweise vertrauliche Mittheilungen zu machen, betrachte ich als eine heilige Freundespflicht, und ich hätte nicht so lange geschwiegen, wenn nicht der Anbruch des Karnevals, der Ihren Neffen nach verschiedenen außerhalb seiner Berufsstudien liegenden Richtungen in Anspruch nimmt, meine Beobachtungen wesentlich erschwert hätte. Als Ihr Neffe vor ungefähr zwei Monaten in Berlin ankam, bedurfte es nur der Versprechung, daß ich mit ihm die eine oder die andere Sehenswürdigkeit Berlins betrachten werde, und pünktlich auf die Minute stellte sich mein junger Baukünstler bei mir ein; – jetzt ist es anders – seit drei Wochen haben wir verabredet, die Einrichtungen der Reichsdruckerei gemeinschaftlich beaugenscheinigen zu wollen, aber er kommt nicht und findet bald diese, bald jene Entschuldigung. – Ich habe endlich den Entschluß gefaßt, ihn in seiner Wohnung aufzusuchen. Es war Mittags – er war nicht da. „Zu dieser Zeit macht er Besuche, Sie müssen recht früh kommen,“ sagte man mir. Ich erschien des Morgens um acht Uhr. „Ich werde sehen, ob er schon zu Hause ist,“ meinte seine Wirthin. Auf diese Antwort war ich nicht vorbereitet. „Er schläft noch,“ sagte sie zurückkommend, „er ist wohl erst wieder gegen Morgen nach Hause gekommen, und da darf ich ihn vor Nachmittag drei Uhr nicht wecken.“ Ich theilte der Frau mit, daß ich in seinem Zimmer eine schriftliche Nachricht hinterlassen wolle, und trat leise ein. Er lag im Bette – aber denken Sie sich meinen Schrecken, er trug einen langen wallenden Vollbart, der ihm doch unmöglich in den paar Wochen gewachsen sein konnte, seit ich ihn nicht gesehen. Auf dem Tische lag eine Mönchskutte, das erklärte die Ueberraschung; vermuthlich war er in einem Zustande nach Hause zurückgekehrt, in welchem er an den Umhängebart nicht mehr dachte.

Uebrigens erfüllt es mich mit einer gewissen Genugthuung, daß er ungeachtet seines heiteren Lebenswandels den eingewurzelten Ernst für die Aufgaben seines Berufes nicht eingebüßt hat, wofür mir die Thatsache bürgt, daß er plötzlich mit dem ungeheuchelten Ausdrucke fachmännischer Befriedigung im Traume „Brillant gebaut!“ ausrief.

In diskreter Weise suchte ich über die Lebensweise meines Schützlings Näheres zu erfahren, und die ehrliche Frau machte mir kein Hehl daraus, daß ihn die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die öffentlichen Vergnügungen des Karnevals so vielfach beschäftigen, daß er zu einer Tageseintheilung seine Zuflucht nehmen mußte, die mir vollständig erklärlich macht, daß er für die Reichsdruckerei und das Postmuseum – Sehenswürdigkeiten, die eben nur von zehn bis zwei Uhr geöffnet sind, keine Zeit übrig hat – er schläft nämlich bei Tage, er frühstückt seit einigen Wochen am späten Nachmittage, ißt um Mitternacht Mittagsbrot und nimmt seine letzte Mahlzeit bei grauendem Morgen im „Café Bauer“ ein. –

Soeben bin ich durch den Besuch Ihres Neffen in meinem Briefe unterbrochen worden, er ist in Folge meiner zurückgelassenen Karte bei mir erschienen. – Das großstädtische Karnevalsleben scheint in der That sein ganzes Denken auszufüllen, in einer kurzen halben Stunde erzählte er mir, daß er bei Professor Müller gestern den Kotillon kommandirt und mit einigen neuen Figuren, die er sich ausgedacht, immensen Erfolg gehabt habe; er drängte mir zwei Billets zum Maskenballe im „Wintergarten“ auf, die ich mit dem Hinweis auf die Zurückhaltung, die mir meine Stellung als Kammergerichtsrath und mein hohes Alter auferlegen, ablehnte, und als er einmal das Taschentuch hervorzog, streute er dabei Knallbonbons aus. Beim Abschiede bat er mich nach einer Einleitung, die mir das Ernsteste ankündigte, ihm zu rathen, ob er zu dem Kostümfeste bei X-s als Pole oder als spanischer Grande erscheinen soll. Ich hielt den Zeitpunkt nicht für geeignet, um Ihrem lebenslustigen Neffen ernstere Gesprächsthemata nahezulegen. – Wollen wir hoffen, daß er über das ihm bevorstehende Examen mit der Leichtigkeit und Eleganz hinwegtänzelt, die ihn in anderem Sinne zum Liebling der hiesigen Gesellschaftskreise gemacht zu haben scheint.
Ihr alter Kollege N. N. 

*  *  *

Liebe einzige Kläre! Dies nur in fliegender Eile. Ich kann leider Eure Einladung zum Thee nicht annehmen, wir sind ja morgen Mittwoch bei Geheimrath W. und am Freitag ist Juristenball. Auf ersterem Balle erscheint man ohne Larve, es ist bloß ein bal travesti; ich gehe als Schneeflocke, ganz weiß, mit Puderquasten im Haar, auf den Achseln, den Schuhen, und wo sich’s sonst gut macht. Es sieht furchtbar chic aus. Der Doktor, der Dir neulich auf dem –schen Jour fixe vorgestellt wurde, wird auch da sein – ich finde ihn sehr nett, er ist für mich das Ideal der Männlichkeit, und als Arzt soll er sehr gesucht sein – er geht jeden Tag von elf bis ein Uhr an unserem Hause vorüber – ich habe mich zuerst nicht mehr ans Fenster getraut – jetzt geht’s. Ich beschwöre Dich, verbrenne diese Zeilen.
Deine Freundin Eva. 

P. S.0 Kannst Du mir unauffällig „Heine’s Buch der Lieder“ oder etwas von Byron schicken, so wäre es mir lieb, aber es hat höchste Eile. Damit Mama nichts merkt, mußt Du die Bücher einwickeln und sagen lassen, „eine schöne Empfehlung und hier wäre die englische Grammatik.“ Aber zusiegeln!

*  *  *

Liebste Anna! Gestern haben wir den Entschluß gefaßt, am 16. d. M. einen kleinen Ball zu veranstalten, meine Töchter sind, wie Du Dir denken kannst, Feuer und Flamme für dieses Projekt, und mein Mann hat wenigstens nichts dagegen. Du bist die Erste, die die Neuigkeit erfährt, damit Minchen und Tinchen Zeit haben, ihre Toilette besonders gewählt vorzubereiten, denn daß Ihr nicht fehlen dürft, ist selbstverständlich.

Gleichzeitig wollte ich Dich bitten, mich wissen zu lassen, ob Du so nett sein möchtest, mir für diesen Tag ein Hausmädchen – ihr habt doch noch die Marie aus Insterburg? – zum Serviren für die paar Stunden zu überlassen? Vielleicht bist Du so freundlich, Emil, Deinen reizenden Jungen, herüberzuschicken und mir Bescheid zu sagen – es wäre allerliebst, wenn Dein Söhnchen bei der Gelegenheit uns mit seiner bewunderungswürdigen Handschrift beispringen würde, mein Alex schreibt so schlecht, daß ich ihm die Einladungen gar nicht anvertrauen kann, er macht mehr Kleckse als Buchstaben. Läßt Du Emil durch Dein Mädchen begleiten, so könntest Du der Letzteren vielleicht den Samovar mitgeben, den Du mir schon neulich leihen wolltest – ich wüßte nicht, wie ich sonst den Thee serviren lassen sollte. Ich freue mich schon heute bei dem Gedanken, wie sich Deine Mädchen amüsiren werden, die lieben Geschöpfe, ich lege nämlich das Hauptgewicht auf Tänzer, o, sie sollen nicht sitzen bleiben, die reizenden Mädchen – dabei fällt mir ein, daß es uns mit den Stühlen recht knapp geht, und da man sich solcher Dinge wegen nur an die vertrautesten Bekannten wenden kann, frage ich Dich, meine älteste und liebste Freundin, ob Ihr an diesem Abend etwa ein Dutzend Stühle entbehren könnt? Sollte der Ausziehtisch, den mir Walters borgen, sich als zu klein erweisen, kann ich ja dieserwegen noch immer Deine Güte in Anspruch nehmen. „Entweder – oder“ sage ich mir, und es soll fein werden; wirst Du mir glauben, daß ich gestern die ganze Stadt ablief, um einen Hermes von Praxiteles, wie er bei Euch beim Salonfenster steht, zu bekommen? – aber umsonst; und gerade der fehlt unserem Salon, und es ist mir peinlich, daß dieser Mangel just bei unserem Ballfest bemerkbar werden soll. Agnes meinte gestern, wie pompös sich Eure beiden japanischen Lampen in unserem Salon ausnehmen würden, aber ich möchte um Alles in der Welt nicht so unbescheiden erscheinen, selbst wenn es gälte, Deinen Lampen einen Triumph zu bereiten – jedenfalls wäre demjenigen, dem Du sie zum Transport anvertraust, größte Sorgfalt anzuempfehlen, auch ist auf die hübschen seidenen Schirme zu achten, und die dazu passende Stutzuhr müßte aufrecht getragen werden – doch nun zu dem hauptsächlichen Theil meines Briefes. Mein Mann raucht, wie Du weißt, gar nicht, er hat keinen Cigarrenverstand und weiß kaum, bei welchem Ende sie angezündet werden; würde Dein liebenswürdiger Gatte, der eine Autorität darin ist, die Freundschaft für unser Haus so weit treiben, ein Kistchen Cigarren – nicht zu theuer – für uns zu jenem Abend zu besorgen – es kann eine ziemlich gewöhnliche Sorte sein, da wir die rothen Papierringe, die wir noch vom letzten Mal haben, selber daraufstecken. Wenn Du mir sagen läßt, ob ich auf den Hermes von Praxiteles und auf die Marie von Insterburg rechnen darf, könntest Du vielleicht gleich beifügen, ob Dein lieber Gatte sich uns durch diesen Liebesdienst verpflichten will! Doch nun Adieu, ich habe mir die Zeit rein abgestohlen, um mit meiner treuesten Freundin wieder ein wenig zu plaudern. Ach, was muß noch alles im Haus, in Küche und Keller geschehen! Wir haben alle Hände voll zu thun und wissen kaum, wo zuerst anfangen – wir könnten noch ein halbes Dutzend Hände brauchen. – Warum lassen sich Deine lieben Kinder gar nicht bei uns blicken?
In herzlicher Umarmung 
Deine P—. 

*  *  *

Liebe Freundin! Triumph! ich halte das Billet zum Subskriptionsball in den vor heimlicher Erregung zitternden Händen – Karl’s Widerstand ist gebrochen, nicht durch Bitten, nicht durch Thränen, sondern durch einen Akt der Resignation, der mich keine Minute Bedenken gekostet hat. Karl rechnet, wie Du weißt, vor allen Dingen, und pekuniäre Rücksichten waren bisher das Haupthinderniß. Durch meine feierliche Verzichtleistung:

1) auf die Wiederaufnahme meines Jour fixe,
2) auf die Badereise nach Gastein

[172] hat er sich herabgelassen, nachzugeben und mir die erforderlichen Summen für Schmuck und Toilette zu bewilligen. Es ist mein erster großer Ball, meine Freundin, weißt Du, was das bedeutet: die erste Schlacht eines Generals – ich werde übermorgen in der Zeitung stehen, es kann nicht fehlen, ich werde Aufsehen erregen. Herr Bohlke, der Schneider, der mir die Toilette geliefert hat, ist ein Genie, das Kled ist ein aus Spitzen und Duft gewobener Traum – Bohlke, den ich Dir aufs Angelegentlichste für solche Zwecke empfehle, hat damit ein Kunstwerk geschaffen, welches unmöglich übertroffen werden kann. Ich trete mit voller Sicherheit auf – ich habe noch nie einen Subskriptionsball gesehen – alle unsere Bekannten sind da – o, es ist zu schön: man setzt sich schon um sechs Uhr in den Wagen, denn die Auffahrt dauert stundenlang, und während der ganzen Zeit läßt man sich von den Spaziergängern, die neugierig in die Wagen blicken, bewundern – das würde mir schon genügen, Dir doch auch? – Wenn Du abkommen kannst, und wenn Du Deine Freundin im vollen Glanze ihrer subskriptionsballmäßigen Schönheit bewundern willst, so müßtest Du spätestens ein halb sechs Uhr bei mir sein. Ich schließe, die letzte Anprobe harrt meiner, eine selige Vorempfindung.
Tausend Küsse 
Aurelie. 

Soeben wird ein wunderbarer Fächer aus weißem goldgestickten Atlas mit Federnfranzen – so wie der von Erna, nur viel schöner, abgegeben ich vermuthe eine Galanterie meines Schwagers – er ist zu nett!


II.0 „Leid.“

Werther Freund! Ihr Neffe, unser fideler Bauführer in spe, hat mich soeben verlassen; auf seinem Gemüth lastet der schwere Druck einer reuevollen, selbstbeschaulichen Aschermittwochs-Stimmung. Nach seiner Darlegung belaufen sich die Schulden, zu denen er durch die außergewöhnlichen Ausgaben, die mit dem Karnevalsvergnügen verknüpft waren, gedrängt wurde, auf 300 Mark 50 Pfennig; unter den Kreditoren Ihres Neffen fungiren:

1) Dessen Wirthin, die mit entgegenkommender, wenn auch nicht zu billigender Bereitwilligkeit den Erlag der Miethe pro Februar im Betrag von 45 Mark postnumerando in Vorschlag brachte.

2) Die Hoflieferanten Müller’s Söhne mit 22 Mark für gelieferte Ballhandschuhe und dito Kravatten, laut beiliegender Nota.

3) Der Schuhmacher Lehmann mit 38 Mark für 2 Paar Lackstiefletten – Rechnung noch ausständig.

4) Die Buchhandlung E. T. Schulze mit 5 Mark für die Litteraturwerke: „Die Kunst, den Kontretanz zu kommandiren“ – 2) „Der angenehme Gesellschafter“ – 3) „Knallerbsen, oder du sollst und mußt lachen“.

5) Das Maskenverleihinstitut Jacob Lehmann mit 32 Mark für ein entliehenes Mönchsgewand und einen spanischen Grande; da letzterer in mangelhaftem Zustande zurückgeliefert wurde, ist eine Zusatzrechnung im Betrage von 6 Mark erfolgt.

6) Der Hutmacher Mayer mit 22 Mark 50 Pfennig für einen Klaquehut und diverse Reparaturen.

7) Endlich meine Wenigkeit mit 130 Mark bar Darlehn, zu denen ich mich in Folge Ihrer seinerzeitigen Weisung, ihm in dringenden Fällen finanziell auszuhelfen, verpflichtet sah.

Ich kann nicht umhin, nach diesen Mittheilungen der Ueberzeugung Ausdruck zu verleihen, daß in dem Gemüth ihres Neffen seit dem 10. März eine erfreuliche Wandlung sich vollzogen hat, daß er mit einem Eifer, der keiner besseren Sache würdig wäre, seinen Berufsstudien obliegt, und daß ich Ihnen unmaßgeblicher Weise nahelegen möchte, die reuige Stimmung, zu der er sich eben sammelt, nicht durch harte Vorwürfe steigern zu wollen. Ich bin überzeugt, daß ihn sein moralisches Bewußtsein im Laufe der angebrochenen Fastenzeit von selbst auf den rechten Weg leiten wird.
Ihr alter Kollege N. N. 

*  *  *

Liebe Kläre! Ich sitze mit einem Schnupfen, der meine Nase in einen durchaus nicht verehrungswürdigen Zustand verwandelt hat, zu Hause, und da Du in Folge Deines beim Tanzen „verknaxten“ Fußes nicht zu uns herüber kommen kannst, theile ich Dir auf diesem Wege mit, daß ich von diesem Karneval gerade genug habe und mit einer wahren Sehnsucht nach einer gründlichen Veränderung schmachte – ich möchte weit fort, hinaus in die weite Welt – fort von den Menschen! Wie sagt doch Heine in seinem „Buch der Lieder“, das ich Dir hiermit dankend zurückstelle, so schön:

„Jene Flammen sind erloschen,
Und mein Herz ist kalt und trübe“ ...

Der Stearinfleck auf dem Deckel muß schon bei Euch daraufgekommen sein, auch die Eselsohren bei den schönsten Gedichten rühren nicht von mir her. – Deine Anspielung auf den Arzt, die Dir neulich entfuhr, hat mir sehr weh gethan, und wenn Du mir einen Freundschaftsdienst erweisen willst, so erwähnst Du seiner nicht mehr, weder mündlich noch schriftlich. Ich weiß nicht, welches Interesse Papa an ihm nahm, kurz, er kultivirte seinen Umgang und er wäre beinahe in seinen Netzen hängen geblieben. Dieser saubere Herr Doktor hat meinem lieben Papa das Geständniß abzuschmeicheln gewußt, daß er zeitweise an der Leber leidet, und da er dafür Specialist zu sein vorgiebt, hat er Alles drangesetzt, um Papa in die Kur zu bekommen, denke Dir! Der Erbärmliche hatte es also nicht auf mein Herz, sondern auf Papas Leber abgesehen. Du kannst Dir die Empfindung vorstellen, welche diese Entdeckung in mir hervorrief, und der Ehrlose wagte es, mir etwas auf meinen kostbaren Autographenfächer zu schreiben, auf welchem sich schon der Rechnungsrath Miesebach und Dein Schwager Wilhelm verewigt haben. Es ist ein Glück, daß es lateinisch ist, ich wage es auch gar nicht, Jemanden zu fragen, was es heißt, es ist am Ende ein Recept. Ein solches Individuum (verzeih’ den häßlichen Ausdruck) ist zu Allem fähig.

Ich kann heute nicht mehr weiter schreiben, ich fürchte, die Erregung würde mich meinen Stolz vergessen lassen, und meine beleidigte Mädchenehre könnte sich hinreißen lassen, härter zu urtheilen, als er’s vielleicht verdient.
Deine unglückliche 
Eva. 

P. S.0 Mama läßt durch mich fragen, ob Ihr das gute Recept zu Bechamelle-Kartoffeln noch habt?

*  *  *

Liebe Anna! Es ist mir sehr peinlich, auf Deine erregten Zeilen in einem Tone antworten zu müssen, der Deiner Herausforderung angemessen, aber außerhalb der Art liegt, in der wir bisher verkehrt haben. Ich will unerwogen lassen, ob Deine Töchter, die im Laufe des Karnevals in unserem Hause manche Abende verbracht haben, die wir ihnen so angenehm wie möglich zu machen suchten – berechtigt waren, sich meiner bescheidenen Leopoldine und der schüchternen Agnes gegenüber in den Vordergrund zu drängen; die abfällige Art, wie Minchen die Toilette meiner beiden Mädchen beurtheilt hat, zeugt jedenfalls von einer nichts weniger als wohlwollenden Gesinnung für unser Haus. Ihre Aeußerungen, welche Euer Hausmädchen Marie meiner Köchin Anna hinterbracht hat, sind mindestens lieblos, und ich weise die Zumuthung, als hätten, wie sich Euer Mädchen ausdrückte, Leopoldine Roth und Agnes Weiß aufgelegt gehabt, mit mütterlicher Entschiedenheit zurück. Soweit sind wir noch nicht! – –

Was den Samovar betrifft, so genügt Dir vielleicht die mit seinem Ehrenworte bekräftigte Versicherung meines Mannes, daß derselbe schon beim ersten Aufsetzen merklich leckte und uns in eine Verlegenheit brachte, aus der uns nur die Entschlossenheit unseres Vetters Emil, der das Loch geschickt zu verstopfen wußte, befreien konnte. Ein Anderes ist es mit Eurer Hermesbüste, die durch das Verschulden des etwas kurzsichtigen Doktor Wenzel beim Tanzen leider umgestoßen wurde. Die Büste soll in tadellosem Zustande wieder in Euren Besitz gelangen, mein Alex kittet schon den ganzen Vormittag daran, und es wird dem fleißigen Knaben wohl gelingen, die Spuren des Unfalls möglichst zu verbergen.

Mein Mann ersucht Dich ferner, die Nota für die in Folge meiner Bitte von Deinem Gatten besorgten Cigarren uns sogleich zukommen zu lassen; vielleicht hat der betreffende Händler aber für das Kistchen, das bis auf drei nur oben ein wenig angebrannte Zigarren ganz unberührt ist, Verwendung. in diesem Falle wird ein Wort von Dir genügen, um Euch wieder in den Besitz des Kistchens zu bringen.

Es thut mir weh, daß der Reigen unserer sonst gelungenen diesjährigen Karnevalsveranstaltungen mit einem Mißton geschlossen hat, für den Du mich und die Meinen bei ruhiger Beurtheilung aber unmöglich verantwortlich machen kannst.
Mit Gruß Deine Freundin 
Pauline Karg. 

*  *  *

Werthe Freundin! 0 Seit ich nothgedrungenermaßen in Folge meiner freiwilligen Verzichtleistung meinen Jour fixe aufgegeben habe, und seit mit dem Erlöschen des Faschings auch die gesellschaftlichen Vergnügungen ein Ende genommen haben, lebe ich ein ziemlich trübseliges, von Grillen und Reuegedanken verfolgtes Leben. Es ist wahr, der Subskriptionsball, die Erfüllung eines Wunschtraumes, der mich seit meinen Backfischjahren von Karneval zu Karneval verfolgt hat, steht in dem Buche meiner Lebenserinnerungen mit flammenden Zügen eingetragen, aber – es ruht wohl auf dem Grunde jedes Freudenbechers ein trüber Bodensatz?

Ich möchte Dich zunächst vor dem Schneider Bohlke warnen, der seine Sache versteht, aber Rechnungen zu machen weiß, die einfach unverschämt sind; – ich wage es gar nicht, es Jemandem zu sagen, was er mir für das Kleid angerechnet hat. Dafür kann ich eine ganze Familie anziehen! Karl darf die Wahrheit nicht erfahren, er ist ohnehin nicht gut auf den Subskriptionsball zu sprechen, da er sich im Wagen während der anderthalbstündigen Auffahrt einen fürchterlichen Schnupfen geholt hat, der fast dauerhafter ist als meine poetischen Erinnerungen an diesen Abend.

Am meisten bedrückt mich meine finanzielle Lage, die ich durch gewisse, wie ich mir einrede, harmlose Kniffe unablässig zu bessern bestrebt bin, denn wenn ich mich auch darein finde, meinen Jour fixe aufzugeben, so ist doch der Gedanke, daß wir, anstatt nach dem schönen und so theuren Gastein, nach dem billigeren K. reisen sollen, schrecklich. Ich spare hauptsächlich beim Essen; Du bist doch auch praktisch, weißt Du keine billig herzustellenden Gerichte, die nach etwas aussehen? Da ich die Cigarren aus der Wirthschaftskasse zu bestreiten habe, bin ich auf den Einfall gekommen, täglich, ohne daß Karl etwas davon merkt, ein paar Cigarren aus seiner Kiste herauszueskamotiren; wenn ich hundert habe, lege ich sie in ein altes Kistchen und schreibe sie ihm auf die Rechnung. Man hilft sich eben, wie man kann.

Die Sache mit dem Fächer, dessen Herkunft ich nicht errieth, hat sich auch aufgeklärt – leider habe ich mich geirrt, wenn ich meinem Schwager eine solche Galanterie zumuthete – der schöne Fächer ist „falsch abgegeben worden“, er gehört der Frau Professor, die drei Treppen wohnt. Da ich ihn als mir gehörig angesehen, habe ich das Vergnügen, ihn zu bezahlen. Natürlich mußte sie sich meinen Fächer in dem theuersten Laden kaufen. Erwähne Karl gegenüber nichts davon, er kennt den Zusammenhang nicht, ich habe seit diesem Karneval nichts als Geheimnisse vor ihm, aber ich will die Fastenzeit benutzen, Buße zu thun. Mit der körperlichen Kasteiung haben wir angefangen. Weißt Du, daß mein Taillenumfang seither um drei Centimeter abgenommen hat?

Adieu, ich muß nach der Küche, ich habe ein neues billigeres Mädchen, das vom Kochen nichts versteht, das heißt noch weniger als Deine in Arbeit und Entbehrungen die Ruhe des Gewissens suchende Aurelie. 


[173]
Hoheit Karneval der Unsterbliche.
Eine Faschings-Huldigung von Richard Schmidt-Cabanis.

Herein nur, herein allinsgesammt,
0 Ihr preislichen Herren und Damen,
Geprüft vom Faschings-Marschallamt
0 Auf närrischen Rang und Namen!
Des Prunksaals Pforten erschlossen sich weit –
Willkommen, die Seiner Heiterkeit
0 Zu huldigen heute kamen!

Der Jokusstab im Wappenschild
0 Schafft Einlaß Euch ohne Phrase;
Als ältesten Adels Stammbaum gilt
0 Die längste Pappennase;
Als köstlichster Schmuck der Groß-Cordon
Vom hohen Orden des Cotillon
0 Am Band – mit dem Römerglase. –

Eröffnet hat Hoheit Karneval
0 Den Reigen seiner Audienzen,
Entboten sind die Getreuen all
0 Aus seiner Erblande Grenzen:
Der Truchseß Witz, der Kanzler Humor,
Das diplomatische Narren-Korps –
0 Die tollsten der tollen Exc’llenzen

Im Schellen-Ornat der Herrscher sitzt
0 Auf ragendem Bütten-Throne;
An Scepters statt die Pritsche blitzt,
0 Es funkelt die Kappe als Krone.
Und um ihn reih’n sich – nach Pflicht und Gesetz –
Abdera’s Vertreter und Schöppenstedt’s,
0 Des Parlamentes Barone.

Des Kriegsheers Generalissimus
0 Ragt Don Quixote im Bügel,
’s führt Harlekin als Syndikus
0 Des Staates Insignien und Siegel;
Auch schlägt man heut’ zum Ritter des Reichs
Als Lohn manch kecklichen Schwabenstreichs
0 Den Schalksknecht Eulenspiegel!

Doch was nicht zählt zur närrischen Zunft,
0 Der Kukuk hol’s und sein Küster!
’s wird außer Landes die trockne Vernunft
0 Gewiesen vom Stultus-Minister;
Die Griesgram-Sippe trifft Bann und Acht
Und cum infamia wird ausgelacht
0 Der Schulweisheit Philister!

So kleide denn, luftiger Faschingstraum,
0 Das All uns in Rosenschimmer,
Entsteig’ des Champagners perlendem Schaum.
0 Du buntes Märchengeflimmer!
Das Heut noch ist unser, drum lebe das Heut!
Schon morgen, ach, ist all die Herrlichkeit
0 Nur Scherben und Fetzen und Trümmer!

Doch ob auch verwehe die Zauberpracht
0 Der Morgenwind, der scharfe,
Ob all zersprungen auch über Nacht
0 Die Saiten der goldenen Harfe:
Fürst Karneval herrscht frei und froh
Mit Grazie weiter – inkognito –
0 Der wechselt nur seine Larve;

Der achtet, ein unsterblicher Held,
0 Des Aschermittwochs wenig,
Es bleibt ihm sein Reich – die weite Welt.
0 Die Menschheit ihm unterthänig:
Er nennt nur morgen „Herr Zeitgeist“ sich
(Du schöne Maske, wir kennen dich!),
0 Der heute heißt: Narrenkönig!


Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Du mußt mir helfen,“ rief Lotte mir freudestrahlend entgegen; „denke Dir, die Herzogin will mich sehen – endlich! Ach, Tone, es war ein demüthigendes Bewußtsein, daß man keinerlei Notiz von mir nahm, daß man mich nicht kennen zu lernen wünschte! Und nun, wie liebenswürdig: die Herzogin kommt ganz inkognito nach – es soll aussehen wie eine zufällige Begegnung – nach Schloß Grunen: dort sollen wir uns treffen, und Du mußt mich begleiten. Sieh’ doch selbst, was die Fürstin schreibt“ – sie hielt mir einen zierlichen Brief unter die Augen. „Sie will Die sehen, die ihren Lieblingssohn in Fesseln schlug. O, sie soll ganz reizend sein! Tone, um Gotteswillen, was mache ich für Toilette?“ Und sie zog mich erregt in das Schlafzimmer und hieß Anita einige Kartons aus der Ankleidestube bringen. Sie zitterte und lächelte und war wie ein glückliches Kind.

„Ich freue mich, Lotte,“ sagte ich, „es wird Dir wohlthun. Hast Du gute Nachrichten von Deinem Manne?“

„O, prächtige! Er liegt in einem schönen Schlosse bei St. Nicolas und amüsirt sich herrlich, und er hat mir in Nancy einen ganzen Karton voll Seidenstoffe gekauft, lauter weiße Seide; er sagt, ich dürfe nur noch Weiß tragen.“ Und sie nahm Anita fast hastig die duftige weiße Mullrobe mit echten Kanten geschmückt aus der Hand. „Das, Tone? Geht das? – Natürlich nur, wenn wir schönes Wetter haben morgen. – Anita, holen Sie den Hut mit den weißen Straußfedern. Nicht wahr, Du kommst mit, Tone?“

Ich konnte es nicht abschlagen in ihrer Seligkeit: war mir doch auch ein Stein vom Herzen, daß man endlich Notiz von ihr nahm. „Wann soll das Rendezvous sein?“

„Um zwei Uhr morgen Nachmittag; wir fahren um Zwölf hier weg – sei pünktlich, Tone.“

Ich versprach es, lobte die Toilette, und als, in das gelbe Zimmer zurückgekehrt, die junge Frau hastig zu dem Schreibtische [174] eilte, fragte ich: „Du willst es dem Prinzen mittheilen? Ich störe wohl, Lotte? Dann also auf Wiedersehen morgen.“

Ich erzählte Frau Roden, daß die Herzogin Lotte sehen wolle und sehr gnädig geschrieben habe.

„Es ist ganz gut, Tonchen,“ sagte sie und schüttete Bohnen aus dem Korbe in eine Schüssel. „Ja, ihre Durchlaucht, das glaube ich wohl, sie hat einen Narren an dem Jungen gefressen; aber der Herzog wird dem Sohne diese Heirath nie verzeihen; er ist so wie so gar nicht nach seinem Gusto eingeschlagen.“

„Warum hat er’s zugegeben?“ rief ich.

„Kindchen, wer hätte sich nicht einmal überrumpeln lassen!“

Und der Tag ging hin; Abends kramte ich Lotte zu Liebe noch ein wenig für meinen Anzug zurecht. Die alte Frau, die herauf gekommen war, saß in dem Sofa und studirte die Zeitungen. „Wer weiß, wie es jetzt da draußen aussieht?“ meinte sie.

Ach, wenn wir dorthin hätten blicken können, auf das blutigste Schlachtfeld des ganzen Krieges!

Strahlend heiter war die Sonne am andern Morgen aufgegangen. Frau Roden trippelte von ihrer Kaffeetasse ans Fenster, um nach dem Briefboten zu schauen; aber der machte heute nur eine bedauernde abwehrende Bewegung und ging vorüber.

„Ei, das ist garstig, Tonchen!“

„Vielleicht Mittag,“ trostete ich.

„Vielleicht!“ seufzte sie.

Und dann ward es zehn Uhr; ich saß am Schreibtisch der Frau Amtsräthin und half ihr das Rechnungsbuch durchsehen – da auf einmal schlug die große Glocke der Marienkirche an und alle anderen stimmten ein, daß die Luft voll Klang und Jubel war. „Eine neue Siegesnachricht!“ rief ich und stürzte zum Fenster, und nun liefen auch schon die Menschen nach der Schloßgartenmauer, wo eben ein riesiges Plakat angeklebt wurde. Aber die Leute waren so still, so gar nicht wie sonst; fast bestürzt schauten sie einander an.

„Tonchen, ich muß hinaus!“ rief die alte Frau und nach ein paar Augenblicken lief sie wie ein junges Mädchen unter den Kastanien dahin. Ich weiß nicht, warum es mir wie lähmend in die Glieder fuhr, und wie starr ich in das blasse Gesicht der Zurückkehrenden gesehen haben mag, als sie ans Fenster kam und mir herauf sagte:

„Eine große Schlacht gewonnen bei Gravelotte, aber unser Erbprinz ist gefallen!“

Der Erbprinz todt! Das war mehr als Trauer, was mich packte; es war die Ahnung kommenden Unheils.

Und derweil stand Lotte vor dem großen Spiegel ihres Ankleidezimmers, im weißen spitzenbesetzten Kleide, lächelnd, strahlend, selig, und wußte nicht, daß soeben ihr Glück zu wanken begann. Sie hatten im Schloß noch keine Ahnung, als ich athemlos die Treppe hinaus kam. Lotte probirte eben das Hütchen auf, dessen weiße Feder sich so leuchtend von dem dunklen Haar abhob.

„Guten Morgen, Lotte!“ sagte ich, so ruhig es mir möglich war. Aber ehe sie noch antworten konnte, stand Anita im Zimmer, leichenblaß, an allen Gliedern zitternd, ein Bild des Entsetzens.

Lotte sah sie und schrie auf: „Um Gotteswillen – er ist todt, Tone! Erbarme Dich!“ So gellend und markerschütternd klang es, ich werde es nie vergessen.

„Nein, Lotte, Dein Mann nicht – der Erbprinz ist es, er fiel bei St. Privat.“

„Der Erbprinz ist gefallen? der Erbprinz?“ stammelte sie, „der Erbprinz? – Ach Gott, ich danke Dir!“ und sie brach in Thränen aus.

Anita stand noch immer keines Wortes mächtig; wir überhörten das leise Räuspern hinter der Portiere, die Schritte auf dem Teppich, erst als jemand flüsternd sagte: „Eine Depesche für Frau Gräfin,“ erblickten wir den Aelteren der beiden Lakaien, der wie mitleidig auf die weinende junge Frau schaute.

Sie nahm das Papier, öffnete und las:

 „Grunen unmöglich.
 von Oerzen.“

Das war der kurze, vielsagende Inhalt –. „Unmöglich!“ hörte ich Anita wiederholen.

Und draußen läuteten die Glocken weiter, und Stimmen und Tritte vieler Menschen schallten herauf. Als ich an das Fenster trat, standen die Leute Kopf an Kopf und sahen empor, als müßten sie hier die Bestätigung der Todesbotschaft erfahren. Und gleichsam zur Antwort sank eben die Flagge auf dem thurmartig vorgeschobenen Ausbau des Schlosses herunter, bis auf halb Mast –. Sie zeigten nach dem Thurme, sie blickten wieder nach den Fenstern. sie standen in stummen Scharen, und immer neue kamen hinzu.

Und hier innen saß Lotte und weinte den Schreck hinweg und dankte Gott inbrünstig, daß Er den Geliebten beschützte.

„Ist kein Trauergottesdienst?“ fragte sie dann. Anita wurde auf Kundschaft gesandt. Mit fast heiserer Stimme meldete sie, die Leute strömten schon zur Kirche.

„Komm, Tone!“ sagte Lotte. Mitten durch das Gewühl schoben wir uns und gelangten in das kühle von Menschen überfüllte Gotteshaus. Der Küster, der uns erblickte, wollte die fürstliche Empore aufschließen, aber er konnte vor Aufregung den Schlüssel nicht finden, und schon setzte die Orgel ein. „Gehen wir in den Rodenschen Kirchstuhl,“ flüsterte ich, „in dem Gedränge können wir nicht bleiben.“

Sie folgte mir, noch in dem leichten Sommerkleide, mit dem sie sich für die Fürstin geschmückt hatte; ihr Antlitz war blaß und ein wunderbarer Ausdruck von Angst, Schmerz und Glück darin. Als ich eintrat, erblickte ich im Schatten des Pfeilers Frau Roden: sie saß im Hauskleide und ihrem schlichten Häubchen, nur ein Tuch über die Schultern, die Hände um das Gesangbuch gefaltet, und da stand Lotte vor ihren Augen! Ich hatte an dies Begegnen nicht gedacht; aber die alte Dame sah die schöne Frau nicht an, und als Lotte sich auf die gegenüberliegende Bank setzte, winkte sie mich neben sich.

„Tone,“ klang es in namenloser Angst, „er war dabei, gestern – sein Regiment war mit! Und der König von Preußen sagt in der Depesche selbst: ‚Ich wage nicht nach den Verlusten zu fragen.‘ – Wenn mir Gott das gethan hätte!“ Und sie hielt meine Hand in ihrer zitternden Rechten und vermochte nicht mit einzustimmen in das Lied, das jetzt von der Orgel herabbrauste und in das Hunderte von Menschenstimmen einfielen:

 „Was Gott thut, das ist wohl gethan!“

Mir aber ward plötzlich, als sei alles Licht, alle Farbe geschwunden um mich her; ein grauer gespenstiger Schleier wogte vor meinen Augen, ich hörte nur das Eine: „Tone, er war dabei!“ – Barmherziger Gott, Du mußtest ihn beschützen! schrie es in mir. Und dann scholl des Predigers Stimme herauf:

„Die Edelsten in Israel sind auf Deiner Höhe erschlagen! Wie sind die Helden gefallen und die Streitbaren umgekommen!“

„Herr, Du hast Schweres gefordert, die Hoffnung des Landes hast Du uns genommen, den Edelsten aus unserer Mitte. Im Fürstenschlosse der Residenz weinen greise Eltern, trauert unsere geliebte Erbprinzessin, die erst vor Jahresfrist ihre Hand in die des Gatten legte, der nun gestern den Heldentod gestorben an der Spitze seiner Schar. Und doch hat unser Herzog gesagt, und wir dürfen es getrost mit ihm sprechen: ‚Heil ihm und Allen, die dort liegen auf der blutigen Walstatt, sie starben nicht umsonst, sie fielen für das Vaterland!‘ – Noch wissen wir nicht, die wir hier versammelt sind, wer von uns dort draußen auf dem Schlachtfelde einen Sohn liegen hat, einen Bruder, einen Gatten, denn heiß war der Kampf, und viele – viele sind’s der Todten. Doch wen es auch treffen möge, er sehe hin auf unser Fürstenhaus, dessen Mitglieder in Demuth und Ergebung ihre Kniee beugen, und spreche wie sie: Herr, Dein Wille geschehe!“

Herr, Dein Wille geschehe! – Ach, wie Wenige vermochten wohl demüthig und fromm dies nachzusprechen! Die alte Frau saß schier unheimlich still da. Sie hat mir später gesagt: „Ich ging in die Kirche und konnte doch nicht beten.“ – Und mir, mir ging es ebenso.

Als wir hinaustraten auf den von Menschen wimmelnden Kirchplatz, hatte sich der Himmel bezogen, und fernes dumpfes Murren ließ sich hören. Ich führte Frau Roden am Arm; Lotte, von Anita gefolgt, eilte voran, es war ihr wohl peinlich neben uns zu gehen. Ich sah der schönen Frau nach, wie sie durch die Menge ging, die ihr ehrerbietig auswich; manch einer zog den Hut, aber sie blickte nicht rechts noch links.

Da hörte ich eine Stimme aus dem Menschenstrom: „Wenn die Erbprinzessin einen Sohn haben wird, nun, dann bleibt’s beim Alten, sonst haben wir den Otto.“

„Daß Gott erbarm!“ murmelte es dicht neben mir, „da wollen wir beten, daß es ein Prinz ist.“

[175] Ich sah fragend auf Frau Roden. „Die arme Erbprinzessin!“ sagte diese.

„Und wenn es ein Mädchen?“ forschte ich und das Herz stockte mir.

„Dann wird Prinz Otto Thronerbe.“

Um Gotteswillen – und Lotte? Mir war es, als müßte ich ihr nachstürzen, ihr sagen: „mache Dich bereit, nimm Abschied von Deinem Glück!“ Aber noch war nicht Alles verloren, noch war das fürstliche Kind nicht geboren – sie durfte noch hoffen. – Und auch wir. Noch war ja keine Schreckenskunde in das alte Herrenhaus gelangt, noch stand die Hoffnung neben uns, die milde Trösterin.

In der Wohnstube auf der Domaine ward es dunkel, das Gewitter kam herauf. Gegen ihre Gewohnheit saß Frau Roden ruhig in ihrem Lehnstuhl und sah starr in die rauschenden wogenden Kastanienzweige vor dem Fenster. Zuweilen stöhnte sie leise auf. „Ein Zeichen nur, daß er lebt!“ murmelte sie. Aber es kam keines. Angstvoll hockte ich ihr zu Füßen auf der Estrade; still war es im Hause, still in den Straßen, nur der Regen rauschte hernieder, einförmig und trübselig. Die Nacht brach an; umsonst ward das Abendessen aufgetragen.

Wir gingen zu Bette und standen übernächtig wieder auf, während der langen bangen Nacht unaufhörlich die Frage wiederholend: lebt er? Und ich antwortete mir: „Er ist todt, er ist todt; er hat den Tod gesucht, weil er ohne Lotte nicht leben will!“ – der Gedanke verfolgte mich mit furchtbarer Gewalt und ward endlich in meinem Herzen zur Gewißheit.

Am andern Morgen erschienen die Extrablätter mit den Details des Kampfes, und ich erschrak über die Zahl der Gefallenen. Die Garde hatte am meisten gelitten.

„Herr Gott, gieb mir Kraft,“ sagte die bleiche Frau, und die Hände vermochten das Blatt nicht mehr zu halten.

Gegen Abend kam ein Telegraphenbote in das Haus. Es war ein schrecklicher Moment, als die alte Dame die Depesche in Empfang nahm: „Geben Sie mir einen Stuhl, Tone – so – und Licht –.“ Und dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und löste zögernd die Oblate.

„Tone!“ sagte sie nochmal.

Da konnte ich nicht anders, ich knieete vor ihr nieder und barg den Kopf in ihren Schoß. Ich hörte das Knistern des Papiers und den Seufzer, der ihre Brust hob.

„Verwundet am Arm. Nicht Angst haben, bald Nachricht. Neben mir fiel Hans von Werthern."

Sie hatte es tonlos vorgelesen. Ich hob den Kopf, und wir schauten uns in die Augen. „Hans!“ schluchzte ich. Es war eine Todesnachricht, die ich gehört! Der Bruder, der einzige war es, und dennoch kam es wie süßer Friede über mich; ich konnte weinen, mit Ehren um ihn weinen. Mein erster Gedanke galt der alten Frau, die draußen auf dem Friedhof lag. Ach Großmutter, Art läßt nicht von Art. Er kam aus Amerika – um hier zu sterben fürs Vaterland! Er hat Alles, Alles gut gemacht!

Frau Roden war wie umgewandelt. „Mein Junge muß her!“ Damit stand sie auf, zog sich an und streichelte mich: „Tonchen, ich fühle mit Ihnen! Ja, gehen Sie nur zur Gräfin, ich gehe auch; der Müller muß hin, er muß den Jungen holen, wenn er –“ sie verschluckte ihre Thränen – „noch zu holen ist.“

Sie begleitete mich hinaus, und während sie nach der Verwalterwohnung schritt, eilte ich zu Lotte. Sie saß am Tisch, vor sich das Bild des Prinzen.

„Lotte,“ fragte ich, nicht wissend wie ich es anfangen sollte, ihr die Nachricht vom Tode des Bruders, an dem sie mit leidenschaftlicher Liebe hing, so schonend wie möglich mitzutheilen, und setzte mich neben sie auf die Chaise longue, „hattest Du Briefe?“

„Nein,“ erwiderte sie. „Ach doch,“ setzte sie dann in einem Tone hinzu, mit dem man von etwas Nebensächlichem spricht, „einen Brief von Hans; er ist herübergekommen, um den Feldzug mitzumachen. Wäre er lieber dort geblieben; es ist so schrecklich peinlich, er könnte mir doch Unannehmlichkeiten bereiten. Wenn er nur Otto nicht in den Weg laufen möchte, um etwa seine Vermittelung zu suchen für persönliche Angelegenheiten.“

Ich sah zu Boden, und die Thränen liefen mir über das Gesicht. Den ungeliebten Bräutigam hatte sie um Unterstützung für ihn gebeten; Fritz Roden sollte es sich zur Ehre schätzen, dem leichtsinnigen Schwager Geld über Geld zu geben –. Der Gedanke, der Bruder könne sich dem Prinzen nähern, machte sie tief verstimmt. Auch die schwesterliche Liebe hatte sie als unnützen Ballast über Bord geworfen, als sie in das fürstliche Schloß zog.

„Warum weinst Du?“ fragte sie ungeduldig.

Da legte ich ihr die Depesche auf den Tisch und ging ins Nebenzimmer. Sie hätte mich doch nicht ansehen können in diesem Augenblick.

Nach einer Weile folgte sie mir und fiel mir leidenschaftlich schluchzend um den Hals. Und wir saßen in dem dunklen Zimmer, Hand in Hand und weinten um unseren Hans. Ich wußte, sie gäbe viel, viel in diesem Augenblick, hätte sie die letzten Worte über ihn nicht gesprochen. – Nun schwiegen wir Beide; was war auch noch zu sagen?

Als ich spät herüber kam, fand ich das Haus noch lebendig: Frau Roden packte eben in eine Reisetasche Wein, Liköre und alle möglichen Eßwaaren; ein Koffer stand schon fertig. „Darin ist Wäsche und Leinwand, Tonchen,“ sagte sie, „um elf Uhr in dieser Nacht fährt Müller ab.“

Um halb elf Uhr kam er, in Ueberrock und Hut, einen mächtigen Spazierstock in der Hand und einen Mantel über dem Arm. Er war ein stiller ernster Mensch von ungefähr fünfzig Jahren; in derselben gelassenen Weise, wie er seinen täglichen Geschäften nachging, setzte er sich an den Tisch, um eine Reisestärkung zu nehmen, zu der ihn die alte verweinte Herrin nöthigte.

„Müller,“ sagte sie, „ich denke, Sie werden sich wohl durchfinden, Deutsche giebt’s da überall; fragen Sie nur immer, wo Sie hinkommen, ob ein Lazareth in dem Orte, und dann suchen Sie, suchen Sie nur unverdrossen, Sie werden ihn ja doch erkennen, und wenn er noch so jammervoll aussehen sollte, nicht wahr, Müller?“

„Ja, Frau Amtsräthin,“ erwiderte er, „ich werde ihn schon kennen.“

„Und geben Sie alle Tage Nachricht; die Feldpostkarten stecken da in der Koffertasche, und Tinte und Feder: und schonen Sie nur das Geld nicht an unrechter Stelle, ich weiß Ihre Sparsamkeit sonst sehr zu schätzen, aber hierbei nicht.“

„Ja, Frau Amtsräthin.“

„Müller, ob Sie ihn wohl finden?“

„Ich denke doch!“

„Ach, es mag bunt dort aussehen – lieber Gott!“

„Nun, das schon, Frau Amtsräthin!“

„Müller, und wenn er sehr, sehr krank ist, dann telegraphiren Sie mir, dann komme ich; ich werde mich schon durchfinden. Sehen muß ich ihn noch einmal, und wenn er mich auch nicht mehr kennt –. Und, Müller, wenn das Allerschlimmste, – wenn sie ihn schon begraben hätten – den Fleck doch wenigstens, wo mein Letzter liegt –.“

Sie weinte leise in ihr Tuch, und Müller aß weiter, aber in seinen grauen Augen flimmerte es ebenfalls feucht. „Na, Frau Amtsräthin,“ sagte er nach einer Pause, „so schlimm wird’s ja nicht gleich sein, und da hilft nun das Weinen nichts, da heißt’s: den Kopf oben. – Das ist der Krieg: Sie weinen nicht allein, Frau Amtsräthin.“

„Ja, Müller, es hilft nichts, Sie haben Recht; und ich bin ja auch keine schlechte Patriotin, ich will ja gern Alles für das Vaterland hingeben, und ich bin ja so stolz, daß wir gesiegt haben. Wenn ich aber daran denke, was es für mich heißt, mein letzter Junge ist hin, er kommt nicht wieder, er tritt niemals mehr über die Schwelle dort und sagt nie wieder ‚Mutter‘ zu mir – in den Augenblicken, da denke ich nicht an Ruhm und Ehre, da denke ich nur, daß mir alten Frau die letzte Stütze unter den Armen weggezogen ist, daß kein Sonnenstrahl meine alten Augen wieder treffen wird –. Ach, Müller, und da fragen Sie einmal alle die Mütter, die seit gestern da draußen ein Kind, einen blühenden Jungen, kalt und starr liegen wissen, ob eine von ihnen sich hinstellt wie eine Heldenmutter und Gott für die Ehre dankt, daß ihr Kind den Tod fürs Vaterland sterben durfte? Nein, sie sind Alle in die Kniee gebrochen und haben Alle nur das Eine empfunden, Schmerz, heißen Schmerz. Von den Frauen rede ich, Müller, von den Müttern, aber darum haben wir unser Vaterland doch lieb.“

„Freilich, Frau Amtsräthin,“ erwiderte er bedächtig, „ich weiß es von meiner seligen Schwester, wie die gejammert hat, als ihr jüngster Sohn bei Königgrätz geblieben ist –. Ja, das soll wohl sein: sie haben die Kinder groß gezogen und hängen jeden Tag [176] eine neue Hoffnung auf so einen Blondkopf –. Das nimmt auch kein Mensch übel, Frau Amtsräthin, der König von Preußen nicht und Bismarck nicht und Moltke nicht, beweint müssen sie werden, die braven Jungen und werden es auch, und nicht nur von den Müttern – das ganze Land thut es. Aber die Frau Amtsräthin sollten vorerst die Thränen noch sparen, noch lebt der junge Herr, und so lange ein Athemzug im Menschen ist, soll man die Hoffnung nicht lassen. Leben Sie wohl, Frau Amtsräthin, der Wagen ist draußen."

„Adieu, Müller! Grüßen Sie meinen Fritz. Mein Lebtag will ich’s Ihnen nicht vergessen, daß Sie da hinaus gehen –.“

„O Frau Amtsräthin, das ist bloß meine Schuldigkeit,“ sagte der Mann. „Adieu, Fräulein von Werthern.“

„Adieu, Herr Müller,“ sagte auch ich, „grüßen Sie Ihren jungen Herrn.“

Die alte Frau folgte ihm und ich saß am Fenster, der Lampe den Rücken zugewendet. – Ob er ihn finden wird? dachte ich und hörte auf das verhallende Rollen des Wagens. Ob er ihn finden wird – und wie? Todtwund und mit fieberndem Körper, oder schon – schon nicht mehr unter den Lebenden, wie unser armer Hans? –

Frau Roden kam nicht wieder, und als ich sie suchen ging im ganzen Hause, da fand ich sie endlich in ihres Sohnes Zimmer; auf dem Schreibtisch stand ein Licht, und sie saß auf dem Sofa und hielt einen alten Strohhut von ihm in der Hand. „Er war vom Kleiderständer gefallen, Tone,“ sagte sie leise; und ich that, als ob ich nicht wüßte, daß die kleine Frau ihn erst mühsam hatte herunter langen müssen, um etwas von ihrem Fritz zu haben, an das sie ihre Wange schmiegen konnte.

Und dann fragte sie dasselbe wie ich: „Ob Müller ihn bringen wird?“ Und als ich schwieg, setzte sie jammernd hinzu: „Was soll dann aus uns werden, Tone?“

„Aus uns?“ fragte ich. Wie ein Stich traf dieses „uns“ mein Herz. Aber da rollte schon der Hut vor meine Füße, und die alte Frau hatte mich umfaßt und küßte mich auf die Stirn. „Du weißt nicht, Kind, wie lieb ich Dich habe!“

Und ihre weichen welken Hände umfaßten mein heißes verweintes Gesicht einen Augenblick, dann zog sie mich hinauf und führte mich die Treppe hinauf zu meiner Stubenthür. „Schlafen Sie,“ sagte sie, „es war ein schwerer Tag – Gott wird barmherzig sein!“ Und da stand ich im Dunkeln, und das Herz wollte mir zerspringen, so stürmisch schlug es gegen die Brust.

Was sollte aus uns werden – aus mir? Ach, elender konnte ich nicht sein, wenn er todt, elender nicht als jetzt, denn er würde Lotte nie vergessen, nie! Nein, das dumme Herz klopfte umsonst so hoch empor. Und wenn er heimkehrte, würde ich gehen – wohin? Irgend wohin, die Welt ist groß, und hilfreiche Hände werden überall gebraucht. „Ich will in einem Lazareth Verwundete pflegen,“ sagte ich, als meine Augen schlaflos ins Dunkle starrten.




Tage und Tage waren vergangen. In dem sonnigen Zimmer, das neben Frau Rodens Schlafstube lag, stand ein schneeweißes Bette; wollene Gardinen waren aufgesteckt, damit auch am Tage Dunkelheit geschafft werden konnte, wenn müde heiße Augen sich schließen wollten; ein zweckmäßiger Krankenstuhl harrte am Fenster seiner Bestimmung, alles was sich irgend zur Bequemlichkeit des Verwundeten eignete, war in dem freundlichen Raume beisammen, nur er, dem diese Vorbereitungen galten, war nicht heimgekehrt.

Recht spärlich waren bis jetzt die Nachrichten von Müller eingetroffen, nur langsam kam er vorwärts, die Eisenbahnen fand er zerstört, Fuhrwerk kaum zu haben, und eine Spur des Gesuchten war bis jetzt nicht zu ermitteln gewesen. Man hatte die zahllosen Verwundeten in die verschiedensten Orte vertheilt. – Und nun die Zeitungsnachrichten mit immer neuen Berichten dieser blutigen Tage; war es ein Wunder, wenn der Muth tiefer und tiefer sank?

Endlich stand auch sein Name unter den Verwundeten, unter den Schwerverwundeten. „Herr Gott, und ich bin nicht bei ihm!“ stöhnte die alte Frau; „die Einzige, die er noch auf der Welt – und so weit von ihm.“ Und dann fragte sie wieder, ob sie stark genug sei, hinzureisen, um muthlos selbst zu antworten: „Ich käme nicht bis an die Grenze!“

Dann nach vierzehn Tagen eine Karte aus Pont à Mousson: „Ich habe ihn gefunden, es geht auch schon besser; in zwei Wochen, sagt der Arzt, können wir uns vielleicht langsam auf den Heimweg machen. Er ist seit gestern erst wieder bei Besinnung und schwach zum umpusten; er freute sich sehr, mich zu sehen, und grüßt seine Mutter herzlich. Jetzt schläft er, die Frau Amtsräthin können ihn nun nach Herzenslust pflegen, denn für diesen Feldzug hat er wohl genug, und sollte es noch ein Jahr dauern. Ich gebe von nun an regelmäßig Nachricht. Müller.“

Ich war bei Lotte, als die Karte kam: in ihrer Herzensseligkeit schickte Frau Roden sie mir herüber ins Schloß.

Lotte that, als sähe sie nicht, daß mir der Diener etwas überreichte. Sie arbeitete ruhig an dem fürstlichen Wappen, das, auf weißem Atlas in Roth und Gold ausgeführt, eine Schreibmappe zieren sollte, die sie ihrem Prinzen zum Geburtstag schenken würde. Mit glücklichem Lächeln betrachtete sie von Zeit zu Zeit die geschmackvolle Arbeit in einem kleinen Spiegel, der vor ihr auf dem Tische stand. Wir saßen im fürstlichen Garten; es war einer der wundervollen Tage, wie sie nur der September zu bringen vermag, und außerdem hielt noch ein zierliches, roth und weiß gestreiftes Zeltchen jede Zugluft von uns ab. Die Vorhänge waren zurückgenommen, und der Blick schweifte über den üppiggrünen, durch wundervolle alte Bäume geschmückten Garten.

Lotte hatte Briefe und Depeschen bekommen und vom Hofjuwelier im Auftrage Sr. Durchlaucht einen entzückenden Schmuck, der im geöffneten Etui vor ihr stand und dem die Sonnenstrahlen ein verführerisches Blitzen und Leuchten entlockten. Sie war in der allerrosigsten Laune, denn eine Freundin in Berlin, die kleine Else von Reckenthien, mit der sie in neuester Zeit wieder in Korrespondenz getreten war, hatte ihr geschrieben, daß man viel von der Verbindung der schönen Lotte von Werthern mit dem Prinzen Otto spreche, und daß sie, trotz des Krieges, das Gesprächsthema der Berliner Gesellschaft sei. Prinz Otto aber hatte ihr mitgetheilt, daß, sobald der Krieg vorüber – und man hoffe ja, daß in allernächster Zeit Friede werde – sie ihre Hochzeitsreise nachholen würden, und sie möge nur sagen, ob sie zunächst Neapel oder Rom für einen längeren Aufenthalt wählen wolle.

Sie war so in die Wappenstickerei und ihre Zukunftsträume versenkt, daß sie die leise Aeußerung der Freude gar nicht bemerkte, die mir die schlichten Worte der Postkarte entlockten. Die alte Frau hatte dazu geschrieben: „Bleiben Sie nur drüben, Tonchen, denn ich gehe eben zum Herrn Superintendenten und zur Frau Oberförsterin, um ihnen mitzutheilen, daß er lebt.“

Wir sprachen ja nie von Fritz Roden, wozu auch heute? Ich konnte aber nicht dafür, daß meine Hand zitterte, als ich Lotte eine Tasse Kaffee einschenkte, um die sie mich bat, und daß ein Tröpfchen des braunen Trankes auf ihre Hand flog, welche die Stickerei hielt. Sie sah ärgerlich empor: „Aber, Tone, ich bitte Dich! das konnte mir die ganze Arbeit verderben.“

Ich war erschreckt und bat sie um Verzeihung. Aber ihre Miene blieb schmollend.

„Ich möchte wirklich wissen, Tone, was Dich so aufregt?“

„Es war eine freudige Nachricht, Lotte.“

„Von wem hast Du denn Nachricht?“

„Nicht ich, Frau Roden hat sie; Fritz geht es besser. Du weißt wahrscheinlich nicht – er war schwer verwundet.“

Sie hob den Blick und sah mich an; es war aber nichts von Theilnahme darin, es war die reinste Verwunderung, ich mochte wohl hastig und erregt gesprochen haben. Und als sie schwieg, sagte ich: „Da wir einmal bei dem Thema sind, Lotte, ich gehe nach Berlin, wenn Fritz zurückkommt.“

„Warum denn, mein Gott?“ fragte sie, und wieder wollten ihre Augen auf den Grund meiner Seele dringen. Und unter diesem Blick fühlte ich, wie mir das Blut heiß in die Wangen schoß; ohne eine Antwort setzte ich mich und strickte weiter an den groben Socken aus selbstgesponnenem Garn der Domainenschäferei, die für unsere Braven im Felde bestimmt waren.

„Meinetwegen brauchst Du Dein Asyl nicht aufzugeben,“ fuhr sie fort; „was kannst Du dafür, wenn ich diese Verbindung löste? Er ist viel zu gutmüthig und war viel zu sehr verliebt, als daß er es Dir entgelten lassen würde, was die Schwester ihm angethan. Also, Unangenehmes in diesem Sinne hast Du nicht zu riskiren. Oder sind es andere Gründe?“

„Nein!“ sagte ich kühl.

[177]

Thankmar’s Tod.
Originalzeichnung von A. Bierdimpfl.

[178] „Früher habe ich mir einmal eingebildet, Du liebtest Fritz Roden,“ fuhr sie fort, „Aber seitdem ich Dich so gelassen dasitzen sah und häkeln, wenn er als mein Bräutigam kam, sagte ich mir – nein, wenn Jemand liebt, dann zieht er doch eher einen Sprung von der Brücke ins kalte Wasser vor, ehe er ansieht, wie der Gegenstand seiner Neigung eine Andere in die Arme nimmt. Nicht wahr, Tone?“

Ich konnte nicht antworten; sie hatte ja nicht gesehen, wie ich gekämpft und gerungen, wie ich auf der dunklen Treppe gesessen in Qual und Verzweiflung, wie mir das Herz zum Zerspringen pochte, jedesmal wenn ich seine Schritte hörte, und wie viel durchweinte Nächte mich dieses „ruhige Dasitzen“ gekostet hatte.

Auch sie schwieg, und ihre kleinen, bei den letzten Worten zur Faust geballten Hände lösten sich langsam, „Und darum, meine ich, kannst Du ruhig da drüben bleiben, ohne daß Dein beneidenswerther Gleichmuth ins Schwanken kommt,“ sagte sie endlich.

„Das nennst Du Liebe?“ fragte ich, die letzten Worte überhörend.

„Ja, das ist Liebe!“ erklärte sie bestimmt. „Soll es etwa Liebe sein – angenommen Du hättest Fritz Roden gern gehabt – wenn Du kommst und ihm das Wort bei mir redest, mir seinen Antrag überbringst, mich in der gräßlichsten Zeit meines Lebens, meinem Brautstande, dazu anhältst, ihm gebührlich zu begegnen, mich auf den Knieen bittest ihm mein Wort nicht zurückzugeben, weil er sonst unglücklich würde? Tone, weißt Du, solche Art Edelmuth hat keine Frau, die liebt; selbst die edelste Seele nicht, für die ich Dich im Großen und Ganzen halte. So kann sich Niemand in der Gewalt haben und wäre er in Selbstbeherrschung geübt, wie Keiner.“

„Ich glaube an bessere Liebe,“ sprach ich halblaut.

„Dann ist es aber keine Liebe,“ fuhr sie zornig auf, „Drehe Dich doch nicht immer auf einem Fleck, Tone; nenne es Freundschaft, Zuneigung, Wohlwollen, wie Du willst – aber rede nicht von Liebe! Liebe ist nicht besser oder schlechter, sie ist immer und überall dieselbe, sie duldet nichts Fremdes, Du willst mir doch nicht weismachen, daß Du –“

„Darf ich Dir die Zeitung weiter vorlesen, Lotte?“ unterbrach ich sie kurz.

„Nein, ich danke! Ich kann diese Kriegsberichte bald nicht mehr hören,“ erwiderte sie verdrießlich, „ebensowenig wie ich die entsetzlichen Socken kaum noch sehen kann, die Du permanent strickst.“

Das war wieder die alte kapriciöse Lotte Werthern, die Unglaubliches leistete, wenn es ihre Ansicht zu behaupten galt; die so weh thun konnte mit ihrer Zunge, Ich strickte schweigend meine Nadel vollends ab und begann die Arbeit zusammenzurollen, als ich auf dem sonnenbeschienenen Mittelweg Anita erblickte. Sie war in schwarzer Kleidung, und ihre kleine Gestalt nahm sich besonders vortheilhaft darin aus; es war Alles unendlich zierlich an ihr bis hinunter auf die Schuhchen und die spitzenbesetzte Taffetschürze. Sie hatte einen eigenthümlich schwebenden Gang, und ich mußte wieder daran denken, wie schön sie noch vor wenig Jahren gewesen sein mochte.

Erst als sie näher kam, bemerkte ich, daß sie sichtlich verstört aussah und ihre Blicke sich halb mitleidig, halb befriedigt auf Lotte richteten. Anita’s Augen konnten nichts verschweigen von dem, was in ihrer Seele vorging, „Frau Gräfin“, sagte sie mit mühsam zur Ruhe gedämpfter Stimme, „ich bringe keine gute Nachricht, heute früh ist in R. ein todter Prinz geboren.“

Wenn ein Blitz vor mir niedergefahren wäre, ich hätte nicht entsetzter sein können. Aber Lotte sagte nur: „O! – todt? Wie traurig!“

Sie hatte keine Ahnung, daß mit dem kleinen wappengeschmückten Sarg noch etwas Anderes hinabgesenkt werden würde als die Hoffnung des Landes, als das letzte Glück der zu Tode gebeugten verwittweten jungen Mutter.

Anita schwieg und sah mich an; unsere Augen begegneten sich bang und verständnißvoll. Und Lotte saß da und wickelte den rothen Seidenfaden um die Nadel und dachte an einen Kranz für den Sarg.

„Da möchten Sie den Gärtner benachrichtigen, Anita,“ begann sie, „einen Veilchenkranz soll er arrangiren; er hat soviele Veilchen jetzt, und es sind Frühlingsblumen. Arme Prinzessin! Wie geht es ihr, Anita? Woher überhaupt wissen Sie es?“

„Die ganze Stadt spricht davon, Frau Gräfin.“

„Man wird es mir wohl anzeigen. Benachrichtigen Sie den Gärtner wegen des Kranzes.“ – Anita ging in den Garten hinein.

(Fortsetzung folgt.)

Thankmar’s Tod.

Ein Stück deutscher Reichsgeschichte.

Das ganze erste Jahrzehnt der Herrscherzeit Otto’s des Großen, den die Geschichte als den eigentlichen Gründer des ersten deutschen Kaiserreichs betrachtet, bildet eine ununterbrochene Kette blutiger Fehden mit den blutsverwandten oder verschwägerten Gliedern der eigenen Familie und den der Unterwerfung unter ein königliches Haupt widerstrebenden Fürsten der einzelnen Stämme. Von diesen Kämpfen löst sich der Aufstand des kaiserlichen Stiefbruders Thankmar als eine selbständige erschütternde Tragödie heraus, die mit dem Tode des unglücklichen Helden ihren grausigen Abschluß fand.

Heinrich der Erste, mit dem volksthümlichen Beinamen der „Finkler“, hatte, als er noch schlichter Herzog in Sachsen war, die anmuthiqe Hetheburg, eine Tochter des reichen Grafen Erwin, gefreit und zu Merseburg, dem gräflichen Burgsitze, mit ihr ein glänzendes Beilager gehalten. Die Kirche erkannte aber diese, wie es scheint, ohne ihre Mitwirkung geschlossene Ehe nicht an, der Erzbischof von Halberstadt lud vielmehr die beiden Gatten vor das geistliche Gericht, welches die Ehe für gelöst erklärte und dem Kinde, das Hetheburg bereits unter dem Herzen trug, die Rechte der ehelichen Geburt absprach. Das Kind war jener Thankmar. Heinrich verheirathete sich später von Neuem in rechtsgültiger Ehe mit Mathilde, einer Enkelin des alten Sachsenherzogs Wittekind, und dieser Ehe entsprossen zwei Söhne, Otto und der jüngere Heinrich, bei dessen Geburt Heinrich der Finkler schon König war. Als der letztere an dem Markstein seines Lebens stand, empfahl er den deutschen Fürsten Mathildens erstgeborenen Sohn Otto als seinen Nachfolger in der Königswürde. Die Fürsten wählten auch einstimmig Otto zum König, wenn er auch nicht wie sein jüngerer Bruder Heinrich im Purpur geboren war, ein Umstand, den dieser später zum Grund blutiger Befehdung des kaiserlichen Bruders nahm.

Thankmar fügte sich erst willig in das von der staatlichen und kirchlichen Satzung ihm diktirte herbe Los, bis ein Ereigniß die schlummernden Triebe seines Ehrgeizes ins Wachen rief und zu verhängnißvollem Handeln antrieb.

Graf Siegfried, dem schon unter Heinrich dem Finkler die Statthalterschaft von Sachsen anvertraut und der über die unterworfenen Wenden entlang der ganzen Ostmark des Reichs gesetzt war, hatte das Zeitliche gesegnet, und Thankmar glaubte einen Anspruch auf diese bedeutsame Stellung erheben zu können, um so mehr, als er durch seine Mutter Hetheburg mit dem Grafen Siegfried blutsverwandt war. Er sah sich jedoch in seiner Erwartung getäuscht; denn Otto verlieh die Stelle dem Grafen Gero, dem Sprossen eines bisher noch unrühmlichen Geschlechts am Unterharz. Es mochte ihn dazu wohl die politische Erwägung bestimmt haben, daß eine solche Machtstellung den in seinen Kindesrechten gekränkten, seinem Charakter nach als leidenschaftlich und habgierig gescholtenen Bruder leicht zu weiteren gefährlichen Unternehmungen des Ehrgeizes anregen könne. Thankmar nahm indeß die Kränkung nicht willig hin, sondern sann darauf, das Verweigerte sich mit Gewalt zu verschaffen. Der eigenen Macht entbehrend, mußte er darauf ausgehen, sich einen mächtigen Bundesgenossen zu schaffen, und fand ihn in Herzog Eberhard von Franken, der gleich Thankmar den Groll gekränkter Ehre im Herzen nährte.

Herzog Eberhard besaß nämlich im Hessenlande, das damals zu Franken gehörte, reiche Güter, mit denen sächsische Edelleute belehnt waren. Die Sachsen aber waren darüber stolz geworden, daß jetzt aus ihrem Stamme die Könige gekürt wurden, und hielten es wohl [179] für unschicklich, einem Franken dienstbar zu sein. So verweigerte der Sachse Breuning, Eberhard’s Lehnsmann, diesem offen den Gehorsam. Eberhard hatte ihn darum eigenmächtig, ohne des Königs Vermittelung anzurufen, schwer gezüchtigt, seine Burg verbrannt, die Besatzung getödtet. König Otto aber hatte diesen offenen Bruch des Landfriedens an Eberhard mit einer Buße von hundert Pfund Silber und an dessen Kampfgenossen mit der entehrenden Strafe des „Hundetragens“ von Franken bis zum Königssitze auf der Pfalz zu Magdeburg bestraft. Die Bestraften fügten sich zwar dem Richterspruche, sannen aber im Geheimen auf Wiedervergeltung der ihnen vermeintlich zugefügten Unbill. Während der König sich in Bayern aufhielt, übten sie von Neuem offene Gewaltthat wider die Sachsen, die unter der Botmäßigkeit von Otto’s jüngerem Bruder Heinrich standen. Der Kampf wurde mit allen Gräueln der Verwüstung geführt, und selbst die von dem zurückkehrenden König den Empörern angebotene Verzeihung fachte ihn nur zu helleren Flammen an, da man sie als Schwäche deutete. Jetzt glaubte Thankmar auch für sich die Zeit zum Handeln gekommen. Er überfiel in nächtlichem Hinterhalte die Feste Beleke in Westfalen, in welcher sein Stiefbruder Heinrich saß, nahm diesen gefangen und führte ihn gebunden Eberhard zu, gleichsam als Unterpfand ihres gemeinsamen Rachebundes. Dann zog er verheerend weiter durch Westfalen bis zur Eresburg, die er besetzte.

Der Aufruhr hatte jetzt so große Ausdehnung angenommen, daß die Stellung des Königs aufs Aeußerste gefährdet erschien. Da brach zum Glück für diesen in Eberhards Reihen eine Spaltung aus, und König Otto gewann dadurch Zeit, zunächst den Kampf gegen den treulosen Stiefbruder allein aufzunehmen. Er zieht mit einem Heere nach der Eresburg. Dort öffnen ihm im wachgewordenen Gefühle der Untreue die Bewohner freiwillig die Thore, und Thankmar geräth dadurch in die äußerste Bedrängniß. Dem Verlassenen bleibt zur Rettung des Lebens nichts weiter übrig als das Asylrecht der Kirche, und er flüchtet in die dem Apostel Petrus geweihte Ortskirche. Dort legt er den Schild und die goldne Kette, das Zeichen seiner fürstlichen Geburt, auf den Altar nieder und erfaßt diesen mit den erschöpften Armen, also sich sicher dünkend im Schutze des Heiligen. Aber seine Verfolger achten diesen Schutz nicht. Es sind die Mannen seines Stiefbruders Heinrich. Die ihrem Herrn von Thankmar angethane Schmach hat sie aufs Tiefste erbittert; sie wollen dieselbe rächen um jeden Preis, selbst um den des eigenen Seelenheils. Gewaltsam erbrechen sie das Thor des geweihten Asyls und dringen mit bewaffneter Hand in das Heiligthum ein. Thankmar, obwohl bis zum Tode erschöpft, rüstet sich zum Widerstande und nimmt den schimmernden Schild wieder vom Altare. „Ein Sachse,“ berichtet nach den Chroniken Giesebrecht, „mit Namen Thietbold trifft ihn, und Schmähungen begleiten den glücklichen Streich, aber sofort giebt ihn Thankmar mit noch besserem Erfolge zurück, und Thietbold haucht am Altare den Athem aus. Immer heißer entbrennt der Streit. Tapfer vertheidigt sich Thankmar, bis ihn ein Wurfspeer im Rücken trifft, der durch das Kirchenfenster, das dem Altar zunächst gelegen, auf ihn geschleudert ward. Rettungslos sinkt er endlich am Altare hin; ein Krieger Otto’s mit Namen Maincia gab ihm den letzten Stoß und raubte die goldne Kette vom Altare.“

In Otto’s Willen lag dieser blutige Abschluß des Dramas durchaus nicht. Er erfüllte vielmehr sein Herz mit tiefer Betrübniß. Denn trotz aller Energie und thatkräftigen Herbe besaß der Kaiser einen durchaus versöhnlichen Charakter. Das bewies er in den schweren Kämpfen, welche ihm nachher sein leiblicher Bruder Heinrich und sein Schwager, der Herzog Giselbrecht von Lothringen, bereiteten, in denen auch Maincia den sühnenden Tod erlitt. Immer und immer wieder verzieh Otto den Verirrten, bis die Gewalt dieser Großmuth namentlich des Bruders Herz völlig umkehrte und ihn zum treusten Genossen des Kaisers machte.

Endlich waren denn auch alle streitenden Stämme versöhnt, einten sich willig unter das gemeinsame Oberhaupt und zogen, als die Horden der Ungarn und Hunnen das Vaterland bedrohten, in Treue geeint wider dieselben zum siegreichen Kampfe.
Fr. Helbig.     

Auf dem Londoner Straßen-Pflaster.

Mit Illustrationen und Originalskizzen von H. Friedrich und Zeitbildern nach „The Illustrated London News“.

Ein englischer Volksredner.

Einer der schönsten Plätze Londons ist Trafalgar Square, welchen die Denksäule Nelson’s, des populärsten Helden Englands, überragt. Kirchen, Paläste und Theater begrenzen seine langen Fronten, fashionable Straßen nehmen hier ihren Anfang und laufen in langgestreckten Linien gegen Westen nach dem Hydepark. Hier ist der Mittelpunkt des Westend, der geldverzehrenden, tonangebenden Stadt mit den Palästen der Königin und des Adels, den Klubhäusern und öffentlichen Gebäuden; hier grünen prachtvolle Gärten in dem weiten steinernen Häusermeer; überall Reichthum und verschwenderischer Luxus.

In dieses vornehme Viertel zogen am 8. Februar Tausende beschäftigungsloser Arbeiter, um eine jener großen Volksversammlungen abzuhalten, wie sie nur in London zu schauen sind, und über die Verbesserung der Arbeiterlage zu berathen. Welchen Ausgang diese Demonstration genommen, ist allgemein bekannt. Feinde der Ordnung wußten die Gelegenheit zu benutzen, um auf dem Sockel der Nelsonsäule die rothe Fahne des Aufruhrs aufzupflanzen, und, angefeuert durch aufrührerische Reden, zogen Rotten professioneller Diebe und Einbrecher nach den benachbarten Straßen, um dort die Fenster einzuwerfen, Läden zu plündern, Vorübergehende ihrer Baarschaft zu berauben, überhaupt die gröbsten Excesse zu begehen. Stundenlang, von der überraschten Polizeimacht nicht gehindert, wogte im Westend die entfesselte Raublust, bis der angerichtete Schaden sich nach Millionen bezifferte und die Plünderer triumphirend nach dem Hydepark abzogen.

Hansom-Cab.

Für uns auf dem Kontinent ist die Möglichkeit derartiger Vorkommnisse fast unverständlich, aber London, mit dem sich keine Stadt der Welt messen darf, bildet eine Welt für sich, eine Welt von Gegensätzen, die den Wanderer auf Schritt und Tritt überrascht. Ein eigenartiges Leben fluthet in diesem ungeheueren Häusermeer; ich will versuchen, dem Leser Bilder vom Londoner Straßenpflaster zu schildern, wie man sie dort tagtäglich beobachten kann und in ihrer Gesammtheit schwerlich auf einem anderen Fleck der Erde finden dürfte.

Ich setze mich in ein „Hansom-Cab“, die modernste Droschke Londons, und rolle über das in den größeren Straßen überall eingeführte Holzpflaster nach dem Schauplatz der jüngsten Unruhen. [180] Es fährt sich gut und bequem in dem Hansom. Nur nach vorn hin offen oder wenigstens mit einem Schiebfenster versehen, besitzt es nur zwei Räder und auch nur zwei Sitze. Der Kutschersitz fehlt vorn ganz, ist dagegen in einer Art von Erker hinten an dem Dach des Wägelchens angebracht. So ist das Hansom sehr leicht gebaut und wird in Bezug auf Schnelligkeit der Beförderung von keinem andern Gefährt übertroffen, weil eben die englischen Droschkenpferde, wenngleich immer nur als Einspänner verwandt, von der Stelle zu kommen wissen. Diese Droschken sind auch sehr elegant eingerichtet und neuerdings meistens auch mit einem Aschenbecher und kleinen Spiegel versehen. Dagegen läßt sich von dem plumpen, geschlossenen, viereckigen und viersitzigen Fourwheeler (Vierräder) wenig rühmen. Es giebt mehr als 12 000 Droschken auf den Londoner Straßen. Und doch vermitteln sie sowohl wie die Tausende von Omnibussen und Pferdebahnwagen nur einen geringen Theil des Verkehrs. Die Eisenbahn hat ihnen längst den Rang abgelaufen, und ihr Netz wird täglich ausgedehnter und dichter zugleich. Unter den Straßen wie über den Häusern hin gehen ihre vollgepfropften Züge. In London selbst und seinen Vorstädten giebt es bereits mehr als 200 Eisenbahnstationen. Doch die beförderungsgierige Menge ist noch immer in außerordentlichem Zunehmen begriffen.

Schluß der Volksversammlung auf dem Trafalgar Square.
Nach der Zeitschrift: „The Illustrated London News“.

Auf der Fahrt nach meinem Ziel könnte ich meinem Begleiter noch mehr von dem Riesenvekehr Londons berichten, ihn an das alte Sprichwort erinnern, daß in London mehr Schotten wohnen als in Edinburg, mehr Irlander als in Dublin, mehr Juden als in Palästina und mehr römische Katholiken als in Rom. Ich könnte ihm auch erzählen von dem Riesenhunger dieser Stadt, den alljährlich 400 000 Ochsen und l½ Millionen Schafe stillen müssen, und von dem Falstaff-Durst derselben, den in 12 Monaten 180 Millionen Quart Porter und Ale und 31 Millionen Quart Wein kaum zu löschen vermögen, und von der Gourmandise, die hier alljährlich 1 200 000 Hummern und 500 Millionen Austern vertilgt – doch da sind wir bereits auf dem Trafalgar-Square angelangt, im Herzen des „Klublandes“, in dem jene Leckereien wohl den größten Absatz finden.

Die Plünderung der St. James-Straße.
Nach der Zeitschrift: „The Illustrated London News“.

Wir sind im Westend, und an den Fontainen des großen Trafalgar-Square vorüber wandern wir weiter. Da liegt das jüngst geplünderte Piccadilly vor uns; eine Reihe elegantester Läden schmückt die breite anderthalb Kilometer lange Straße, die der Hyde-Park-Corner, eins der neun Thore des Riesen-Parkes, nach Westen zu abschließt. Und dort weiter Pall-Mall, das eigentliche „Klubland“. Hier glänzen die Paläste der United Service- und Reform-Klubs; nicht weit davon liegt der Guards’-Klub, dem nur die Officiere der Leibgarde angehören dürfen, ferner Athenäum-, Army and Navy-Klub etc. Aehnlichen Bauten begegnen wir in der nahen St. James-Street, mit dem gleichnamigen Palast und Park, an dessen Eingang sich die 124 Fuß hohe Yorksäule erhebt. Von ihrem Kapitäl kann man das herrliche Westend überschauen, Waterloo Place, Pall-Mall, Oxford-Street und St. James-Square. Mir fiel es ein, daß ich über dieses Viertel vor Jahren die charakteristischen Worte las: „Um hier Bälle geben zu können und eine Lordstochter zu heirathen, plünderten schon Hunderte von zweiten Lordssöhnen und niedriger Geborene die Indier um so viel Schätze, daß jeder nach Rückkehr seine 10- bis 20 000 Pfund Renten genoß.“

Noch geblendet von all dem geschauten Reichthum, versunken in Betrachtungen über das herrliche Leben in den Klubhäusern,

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Straßen-Künstler.

wo das glückliche reiche Mitglied zu billigsten Preisen die vorzüglichsten Genüsse erlangen kann, bin ich in eine der seitwärts gelegenen Straßen gelangt und hätte beinahe auf eine Reihe von Bildern getreten, die dicht an der Mauer mit buntfarbiger Kreide zum Theil unmittelbar auf das Trottoir gezeichnet sind. „Pity the poor Artist!“ steht darunter. Und daneben liegt er selbst, der „Künstler“ von zerlumptem und verhungertem Aussehen. Der Hut ihm zur Seite mit einigen darin enthaltenen kleinen Münzen deutet uns an, welches die Zielscheibe unserer „Mildthätigkeit“ sein soll. Ach, man begegnet diesem „Bild von Bildern“ oftmals in den Londoner Straßen. Es herrscht schreckliche Armuth in dem reichen London! –

Da kommen sie angezogen – ein Mitleid erregender Trupp! Vater, Mutter und ein halbes Dutzend hohlwangiger lumpenbedeckter Kinder. Sie singen. Das Betteln ist ja verboten, aber Gelderwerb durch Gesang, ist das nicht eine ehrliche Profession? Nicht ebenso ehrlich wie die Kunst der „Malerei“? O über die Ironie gesetzgebender Weisheit, die den Mildthätigen nöthigt, für sein Almosen auch noch das ohren- und herzerschütternde Gesinge mit in den Kauf zu nehmen! Erst dadurch wird seine Handlungsweise gesetzmäßig! Doch jener andere singende Trupp – ist sein Anblick nicht noch peinlicher? Es ist ein Häuflein der „Erlösungs-Armee“. Da halten die „Truppen“ an der Ecke. Einer aus ihrer Mitte beginnt – zu predigen, ein ungebildeter, fanatischer Gesell. Ist es nicht Gotteslästerung viel mehr als Gottesdienst? Fort, nur fort von diesem phrasenhaften Geschwätz! Da tritt eine alte Person aus dem Haufen mit einem widerwärtigen Grinsen auf mich zu. Sie will mir ein „Trakt“ in die Hand drücken. Mir ist’s, als wäre es ein schmutziges Orgellied, und ich eile davon. Starr blickt sie mir nach. Es sollte wohl eine milde Wehmuth in diesem Blicke liegen, als wollte sie sagen: „Bist du denn so tief in des Satans Krallen, daß du vor einer bloßen Berührung mit uns Heiligen zurückbebst? – Ha, wie ihn das böse Gewissen jagt!“

Außer Dienst.

Ich wollte diesem Lärm entfliehen, bin aber dafür in den Bereich einer dröhnenden Drehorgel gekommen, deren Tänze selbst den Straßenlärm übertönen. Die ausübenden Künstler dieser Instrumente sind in London durchweg Italiener, während die eigentlichen Straßenmusikanten – „the German bands“ – hier fast ausschließlich vaterländische – Missethäter sind. Ihre englischen Kollegen huldigen, vor einer Schenke aufgestellt, lediglich dem seltsamen Trio, das mittelst Trompete, Harfe und Geige hervorgebracht wird, und thun auf diese Weise dar, daß auch „das Strenge mit dem Zarten gepaart“ nicht immer „einen guten Klang“ zu geben braucht.

So sollte man sich fast versucht fühlen, das Londoner Pflaster als die recht eigentlich heimische Stätte aller schönen Künste zu betrachten. Ach, sie allesammt, die ihnen hier obliegen, sind eine große Plage für das Londoner Leben. – Doch bin ich nicht selbst ausgezogen, heute den Stoff für diese Schilderung und somit mein Brot auf der Straße zu suchen? Wer es soweit gebracht, sollte der nicht gelernt haben, nachsichtiger über seine Umgebung zu urtheilen?

Ein seltsames Trio.

„Special Echo“, „Latest Edition: Globe“ schreit plötzlich ein zerlumpter Bube dicht an meiner Seite, der die Abendblätter feilbietet. Er fügt auch noch einige mysteriöse Andeutungen von einer entsetzlichen Mordthat, über die in den Blättern berichtet sein soll, hinzu, um für sein umfangreiches Bündel, das er unter dem Arme trägt, leichter Absatz zu finden. Hat er dann ein Blatt an den Mann gebracht, so macht er sich weislich aus dem Staube und überläßt es dem Leser, nach jener Schreckensthat in den Spalten der Zeitung sich umzusehen. Der kann aber meistens recht lange suchen!

Ein Jünger der Wissenschaft.

Knaben werden hier für viele Verrichtungen verwandt, die man in Deutschland Männern übertragen zu müssen glaubt. Leider müssen sie oftmals selbst dann schon an strenge Arbeit, wo sie sich offenbar noch in dem Alter befinden, in welchem ihnen die Schulbank viel mehr noth thäte, als das Straßenpflaster. Auf der andern Seite ist es aber auch nicht zu leugnen, daß eben diese frühzeitige Selbständigkeit, diese Schule des Lebens eine treffliche Lehrmeisterin abgiebt. Das kann man schon dem ganzen Auftreten der Burschen selbst ansehen. So sind sämmtliche Stiefelputzer an den Straßenecken ganz junge Burschen. Sie bilden eine eigene „Brigade“, die sich aus verwahrlosten Knaben immer wieder aufs Neue rekrutirt und über 400 „Shoeblacks“ zählt. Außer einem reinlichen Unterkommen erhalten dieselben Kost und als Uniform einen Flanellkittel, der, je nach der Abtheilung, zu welcher sie gehören, von besonderer Farbe ist, meistens roth oder blau. Dafür müssen sie eine gewisse Summe ihrer täglichen Einnahmen abgeben, die sich insgesammt auf nahezu 12 000 Pfund Sterling jährlich belaufen sollen. Andere Buben stellen sich an den Straßenübergängen auf, mit dem Besen in der Hand und fegen dann auch wohl einen kleinen Weg quer über die Straße. Es hat gewiß seine Annehmlichkeiten, wenn man bei schmutzigem Wetter auf die andere Seite der Straße zu gelangen hat und sich dann einer solchen gefegten Bahn bedienen kann. Rathsamer aber wäre es jedenfalls, die städtische Behörde ließe fegen. Die Thätigkeit der kleinen Crossing Sweepers, die auf eigene Hand den Besen führen, ist kaum etwas Anderes, als ein Deckmantel für Bettelei. Selbst die Telegraphenboten sind, wenn nicht geradezu Knaben, doch junge Burschen im Alter von vielleicht vierzehn bis siebzehn Jahren. Dagegen mag sich manches einwenden lassen; allein bei der Telegraphie ist doch eine schnelle Befördernng der Depeschen wohl die Hauptsache, und in dieser Beziehung dürften auserlesene junge Burschen in diesem Alter ausgedienten Soldaten nicht nachstehen.

Straßen-Kehrer.

Eine angenehme Erscheinung auf dem Londoner Pflaster ist mir allemal der Londoner

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Hyde-Park-Corner.

Schutzmann, ohne deßhalb mich mit meinem guten Gewissen hervorthun zu wollen. Jener ist in erster Instanz gleichsam ein lebendiger Wegweiser, an den man sich am besten um jedwede Auskunft wendet. Er ist stets artig, nie anmaßend. Dazu hat ihn zum Theil das Publikum selbst herangebildet. Denn wollte er es sich beikommen lassen, seine Autorität herauszubeißen, den Wichtigen zu spielen, das Publikum würde ihn dermaßen auslachen, daß er es gewiß nicht zum zweiten Male versuchte. Bis vor zwei Jahren durften die Schutzleute der eigentlichen City sich noch nicht einmal den Schnurrbart wachsen lassen. Ob das ein Mittel gegen Aufspielerei sein sollte? Doch auch heute, wo die Verordnung gegen das männerverschönernde Gewächs nicht mehr besteht, ist der „Bobby“ immer noch der Liebling des anständigen Publikums. Die unverzeihliche Lässigkeit bei den letzten Straßentumulten dürfte die Sympathie für unsern „Bobby“ allerdings stark erschüttert haben. – Zumeist an belebten Kreuzungspunkten der Straßen steht in London der Briefkasten, eine hohe, dicke, rothangestrichene eiserne Säule, einem Brunnenpfosten vergleichbar, aus der die Briefträger die Menge der Briefe in großen Säcken abholen.

Ich zaudere – was soll ich noch herausgreifen aus der Fülle der interessanten Typen des Londoner Straßenlebens? Jene Reihe von „Sandwichmen“ bietet noch ein heiteres Bild: ein jeder von ihnen trägt ein großes Plakat auf Brust und Rücken, und so ziehen sie gemeinsam durch die Straßen. Alle Plakate enthalten dieselbe Annonce. Ein „Sandwich“ ist bekanntlich ein belegtes Butterbrot. Daher haben die Leute ihren Namen! Sie selbst sind die Fleischeinlage, und die Plakate stellen die Brotschnitten dar. Der Name mag bezeichnend genug sein, aber die Idee von dem Butterbrot mit Menschenfleisch – –

Sandwichmen.

Apfelsinen-Händler.

Da gedenke ich lieber noch des im friedliebenden England so selten gesehenen Kriegers, der seine Herzallerliebste spazieren führt, statt des Säbels, der außer Dienst nicht getragen werden darf, das Spazierstöckchen in der Hand, auf dem Kopf das leichte, kleine Studentenkäppchen; während dort der junge Student ein Gehäuse auf dem Haupte trägt, das zwar ganz aus Zeug gefertigt, seiner Form nach aber, nach deutschen Begriffen, eher einen Ulanenkopf als den eines Jüngers der Wissenschaft zieren sollte!

Es ist inzwischen dunkel geworden.

„Tivoli Lager Beer!“„Vienna Lager Beer!“ Wie anheimelnd berühren uns diese halbdeutschen Worte mit der Bezeichnung von etwas so ganz Deutschem, das hier immer mehr Eingang findet. Da stand es groß angeschrieben. Ich befand mich vor einer deutschen Restauration – mit deutschem Bier. Ob ich hineinging? Darüber brauche ich wohl wirklich keine Rechenschaft abzulegen. Denn es hat mit dem „Londoner Straßen-Pflaster“ nichts zu schaffen. Aber als ich wieder herauskam, da schien das Aussehen der Straße wesentlich verändert. Ein leichter Nebel lagerte darüber – nichts Seltenes für London! Und so kam es, daß ich bald meinen Weg, der ohnehin ziellos war, verlor. Das kommt in London auch wohl vor! Ich wurde indeß bald inne, daß ich in eins der ärmeren Quartiere der Stadt gerathen war.

Plötzlich befand ich mich einem wild aussehenden Gesellen gegenüber, einem Irländer, der Apfelsinen auf einem neben ihm stehenden Tisch zum Kauf bot. Da ich ihm einige Aufmerksamkeit geschenkt, glaubte er offenbar, ich sei von Kauflust dazu veranlaßt, und ich hatte Mühe von ihm fortzukommen, ohne ein Geschäft mit ihm zu machen. In den ärmeren Stadttheilen werden viele Eßwaaren auf offner Straße feilgeboten, wie gebratene Kartoffeln und Kastanien, verschiedene Sorten von Schnecken und Austern, allerart Früchte u. dergl. –

Einen Penny die Tasse!

Nicht weit von dem Irländer stand eine kleine Bude, in welcher ein reinlich aussehender Alter in hochfeinem Cylinder Kaffee ausschenkte. Die Tasse kostete einen Penny, schien aber gleichwohl recht – warm zu sein, eine Eigenschaft, die selbst in Abwesenheit anderer Vorzüge den Kutschern und Arbeitern und anderen, die in den kalten Nächten und in der Frische des frühen Morgens auf der Straße zu thun haben, nicht gleichgültig sein kann. Dieses Geschäft blüht erst recht nach Mitternacht, wenn die Restaurationen geschlossen sind. Immer ärmlicher und trübseliger wurde Alles um mich her! Ich war in das Ostend von London gerathen, die unübertreffliche Heimstätte von Armuth, Schmutz und Verbrechen, eine Stätte, die nur von wenigen anständigen Menschen betreten, deren Vorhandensein schon von dem übrigen London nach Kräften ignorirt wird. Ich hielt es daher für angemessen, an den Heimweg zu denken, aber wie sollte ich nun nach Hause kommen? So spät gab es auf der unterirdischen Eisenbahn keine Züge mehr. Ich fragte einen des Weges kommenden Schutzmann nach der Entfernung bis zu meiner Wohnung. Nach kurzem Besinnen veranschlagte der höfliche „Bobby“ dieselbe auf etwa sieben Meilen. Ein netter Weg! Ich überlegte schon, ob ich einen Gasthof aufsuchen sollte – eine eigenthümliche Idee für jemand, der in derselben Stadt wohnt! – vertraute mich aber schließlich doch abermals einem Hansom an. Mit großer Schnelle steuerte diese „Londoner Gondel“ durch das unendliche Häusermeer der Weltstadt. Die sieben Meilen legte sie in weniger als drei Viertelstunden zurück. „Sieben?“ – „Zwölf!“ versicherte der Kutscher, als es ans Bezahlen ging. Was die Leute doch fahren! – W. F. Brand.     


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Nachdruck verboten.

Josef Kainz.

Biographische Skizze von Josef Lewinsky (Berlin).

Der Künstler, welchen wir in einer seiner Glanzrollen, als „Don Carlos“, unsern Lesern im Bilde vorführen, wurde am Neujahrsmorgen des Jahres 1858 in dem ungarischen Städtchen Wieselburg geboren. Die erste Jugend des Knaben floß so gleichmäßig dahin, wie die anderer Kinder, die nicht zur Darstellung eines Don Carlos und Romeo berufen sind. Erst später auf dem Realgymnasium in Wien traten bei dem kleinen Josef theatralische Neigungen zu Tage, welche jedoch den Enthusiasmus seiner Lehrer noch nicht erregten.

Im fürstlich Sulkowsky’schen Liebhabertheater fand Josef Kainz zuerst die Bretter, welche seine „Welt“ bedeuteten. Als er am 5. Oktober 1873 in dem Lustspiele „Für nervöse Frauen“ zum ersten Male auftrat, ward ihm der erste ermuthigende Beifall eines wirklichen Publikums. Trotz der fortgesetzten Triumphe konnte der Vertreter des „Sonnenthal-Faches“ bei Sulkowsky sich nicht verhehlen, daß ihm zum Bühnenhelden noch Vieles fehlte. „Mit heißem Bemüh’n“ wurde nun studirt; die Theaterschule der Hofschauspielerin Frau Kupfer-Gomansky fleißig besucht, und nach kurzer Zeit schon konnte die treffliche Lehrerin es wagen, ihren Zögling dem Direktor Dingelstedt zu einem Probespiel vorzuführen. Der Erfolg war ein derart günstiger, daß der anwesende Dr. August Förster, der spätere Direktor des Leipziger Stadttheaters, den talentvollen Anfänger für seine Bühne engagirte.

In der Seele des feurigen Jünglings gährte es nun gewaltig. Einem kühnen Schwimmer gleich, der sich bisher in den engen Grenzen eines Flusses gehalten, drängte es ihn hinaus in die weite wogende See einer großen Bühne. Er sollte die Gefahren des tückischen Elementes bald genug kennen lernen. Ein Gastspiel am Kasseler Hoftheater hatte das Schicksal eines gründlichen Fiasko. Obgleich der Regisseur dieser Bühne ihm jegliches Talent absprach, ließ sich Kainz nicht entmuthigen; er ging an das Theater nach Marburg, und hier, wo er Alles spielen durfte, war er an der rechten Stätte.

Diese vielumfassende Thätigkeit hatte indessen auch ihre üblen Folgen, denn künstlerisch verwildert kam Kainz nach Leipzig in seine neue Stellung. Dem Direktor Förster schien es daher ein Wagniß, dem jungen Schauspieler die Rolle des Ferdinand in „Kabale und Liebe“ für die Eröffnungsvorstellung anzuvertrauen, und seine Befürchtung war nur zu begründet. Das erste Auftreten Kainz’ als Advokat Edmond in der „Kameraderie“ von Scribe war ein „Durchfall“ sans phrase. Ein auf dies Debut bezügliches Vorkommniß ist charakteristisch genug, um es hier einzuschalten.

Im Zuschauerraume des Theaters hatte sich allabendlich eine Anzahl auf Engagement gastirender junger Schauspieler zusammengefunden, die den jeweiligen Gast in ihrer Weise kritisirten und ihrer Freude unverhohlen Ausdruck gaben, wenn dieser Gast durchfiel. Als Kainz am Abend nach seinem verunglückten Debut im Kreise seiner Genossen wieder erschien, wurde er gefragt, wo er denn gestern gewesen.

„Ich hatte ein wenig zu thun,“ war seine ausweichende Antwort.

„O, das ist schade, daß Sie nicht hier waren,“ meinten die liebreichen Kollegen. „Gestern trat in der ‚Kameraderie‘ ein junger Liebhaber auf; den hätten Sie sehen müssen. Es war das Entsetzlichste, was uns je vorgekommen! ...“

Vielleicht war es eine der größten schauspielerischen Leistungen des Künstlers, daß er die Kritik seiner Kollegen lächelnden Antlitzes entgegennehmen konnte.

Durch Fleiß und Ausdauer gelang es dem jungen Künstler doch, vorwärts zu kommen, und vielleicht würde er sich in seiner Stellung schließlich befestigt haben, wenn nicht eine Differenz mit dem Direktor zu einer Lösung des Kontrakts geführt hätte. Der heißblütige Künstler, der sich schon für unentbehrlich hielt, forderte seine Entlassung und – erhielt sie. Das hatte er nicht erwartet. Er stand nun ohne Engagement und – auch ohne Geldmittel. Er reiste nach Berlin, um daselbst eine andere Stellung zu suchen; doch „Alles besetzt!“ hieß es dort. Bekümmert um die Zukunft kehrte er zurück und – o Jubel! – fand die Ankündigung eines Kontrakts vom Hoftheater in Meiningen.

Nun wurde die Situation idyllisch. Leicht im Herzen und im Geldbeutel marschirte der junge Menschendarsteller, das Ränzlein auf dem Rücken, zu Fuß durch den Thüringer Wald. Freundliche Bauerntöchter sorgten für Speise und Trank, und gastliche Heuböden boten die herrlichsten Nachtlager. Die Fahrt war etwas zigeunerhaft, aber man „deklamirte“ sich lustig durch und glücklich kam man an das Hoftheater, nach Liebenstein. Am 26. August 1877 gastirte der Künstler als Ferdinand in „Kabale und Liebe“ und war nach dem zweiten Akte engagirt.

In der Gesellschaft der „Meininger“ wurden nun jene großen Gastspielreisen unternommen, auf welchen das Talent des Künstlers in ungeahnter Weise sich entwickelte. Da, wo das Wort des Philipp:

„Ich mag es gern leiden, wenn auch der Becher überschäumt,“
nur bedingt gelten darf, lernte der Künstler sein noch ungezügeltes Temperament beherrschen, und so war es möglich, daß er anläßlich eines Gastspiels der „Meininger“ in Leipzig sich glänzend rehabilitirte und in der Rolle des Melchthal in Wien sogar enthusiastischen Beifall fand. Ein mit dem Stadttheater darauf abgeschlossener Kontrakt trat zwar nicht in Kraft, dafür erging vom Münchener Hoftheater an ihn die Aufforderung zu einem Gastspiel, das, von Erfolg gekrönt, zum Engagement des Künstlers führte.

Ein großer Schritt vorwärts war gethan. Unter der Leitung Possart’s reifte seine Kunst zu immer schönerer Blüthe. Bald war er der Liebling des Publikums und der Kritik, und auch die Gunst des Königs ward dem Künstler in ungewöhnlichem Maße zu Theil.

Am 30. April 1881 trat Kainz in Viktor Hugo’s „Marion Delorme“ zum ersten Mal in einer Separatvorstellung vor dem Könige auf und unmittelbar nach derselben wurde ihm mit Worten der wärmsten Anerkennung im Auftrage Sr. Majestät ein Sapphir-Ring überreicht – Auszeichnungen, die sich noch öfter wiederholten. Nun galt Kainz allgemein als der erklärte Liebling des Königs, und das war er in der That. In einer der folgenden Nächte wurde er durch den Kammerdiener des Königs aus dem Schlafe geweckt.

„Sie müssen sofort mit mir nach dem Linderhof fahren,“ hieß es, „Se. Majestät wünscht Sie zu sehen.“

Noch schlaftrunken, halb im Traume, freudig und zugleich bestürzt, raffte der Künstler das Nothwendigste in aller Hast zusammen und fuhr, von den Segenswünschen der Mutter begleitet, nach dem Linderhof. Aber ach! in der Eile hatte man das Allernothwendigste vergessen – ein wärmendes Kleidungsstück. Die Nacht war eisigkalt, der Wagen offen, der Weg führte ins Hochgebirge, und in seinem luftigen Frack gelangte der Künstler halb erstarrt auf den Linderhof. Ein wenig erbaulicher Zustand vor einer königlichen Audienz ... Doch in der Sonne der königlichen Huld war das körperliche Mißbehagen schnell überwunden. Mit bezaubernder Liebenswürdigkeit empfing ihn der Monarch in seiner von magischem Lichte erhellten Grotte der von jedem Weltverkehr abgeschlossenen Einsiedelei. Eine Woche über durfte Kainz in der unmittelbaren Nähe des Königs weilen.

Das durch die Fülle der Auszeichnungen von Anfang an beängstigende Verhältniß sollte indessen nicht von langer Dauer sein. Eine gewisse Trübung, die dasselbe, nicht ohne Schuld des Künstlers, schon bei einer Reise in der Schweiz erlitt, wohin er den König begleitete, führte dann zur Lösung der Verbindung. Obgleich der Monarch dem einstigen Liebling noch ferner Zeichen seines Wohlwollens gab, hatte letzterer doch das Gefühl, daß er an dem Hoftheater des Königs nicht mehr an der rechten Stelle sei. Als das „Deutsche Theater“ in Berlin seiner Verwirklichung entgegenging und ein günstiger Engagementsantrag an den Künstler gelangte, folgte er willig dem Rufe – zu seinem Besten und dem des Deutschen Theaters.

Getragen von der Gunst des Publikums und der Presse hat Kainz sich mit dem ersten Auftreten Berlin erobert und seinen Besitz mit jeder neuen Rolle befestigt. Sein Carlos, sein Romeo, sein Ferdinand und Prinz von Homburg sind bedeutsame, zum Theil hinreißende Leistungen, und unbestritten zählt Kainz zu den festesten Stützen des „Deutschen Theaters“. Was seine Darstellung so lebensvoll, so hinreißend macht, ist das edle Feuer jugendlicher Kraft, das aus seinen Worten lodert, ist das echte Pathos der Empfindung, die Gluth der Leidenschaft, die Größe der Auffassung und, bei all seinen reichen Mitteln, das ernste Streben nach Wahrheit. Nicht minder aber ist es die Schönheit seiner Diktion, die beneidenswerthe Gabe, die Sprache des Dichters als die Sprache der Natur erklingen zu lassen.

Eine reiche, befriedigende Thätigkeit ist dem jungen, unablässig und ernst an sich arbeitenden Künstler eröffnet. Möge er sie fortsetzen zum Nutzen der deutschen Bühne! Gelingt es ihm allmählich, seinen Gestalten eine noch größere künstlerische Einheit und Geschlossenheit zu geben, so wird der Name Josef Kainz unter den Ersten seiner Kunst genannt werden.


Blätter und Blüthen.

Zur Kongogeschichte. Gegen Dr. Pechuël-Loesche, den Verfasser der Broschüre „Herr Stanley und das Kongo-Unternehmen“ (Leipzig, 1885), wurde im „Mouvement Géographique“, dem Organ des Kongostaates, vor Kurzem der schwere Vorwurf erhoben, er habe im Laufe der Zeit seine Ansichten über den Kongo geändert und zwar lediglich aus „Rancune“ abfällig über das Kongo-Unternehmen geurtheilt. Als Beweis dafür wurden in dem genannten Blatte einige Sätze aus den Berichten, die Dr. Pechuël-Loesche während seiner Mission am Kongo im Jahre 1882 an den Präsidenten der Gesellschaft sandte, citirt und einigen Sätzen aus der Broschüre gegenübergestellt. Der Widerspruch war in der That mehr als auffällig.

Inzwischen druckt Dr. Pechuël-Loesche in einer neuen Broschüre „Herrn Stanley’s Partisane und meine officiellen Berichte vom Kongolande“ die betreffenden Abschnitte nach seinen Kopien ab und beweist, daß die von seinen Gegnern angezogenen Stellen vielfach aus dem Zusammenhang gerissen und in sinnentstellender Weise abgeändert wurden, um künstlich einen Widerspruch herbeizuführen. Es genügt, diese Thatsache einfach zu konstatiren, und wir fügen noch hinzu, daß anderweitige ausführliche Auszüge aus den officiellen Berichten von Dr. Pechuël-Loesche, die in der neuen Broschüre abgedruckt werden, auf das Schlagendste beweisen, daß er vor drei Jahren am Kongo in der Hauptsache ebenso urtheilte, wie jetzt in Europa. Außerdem bringt Dr. Pechuël-Loesche in einem Anhang zu seiner neuesten Broschüre Urtheile unabhängiger deutscher Forscher (Dr. Zoeller, C. B Herrmann, Mitglied der österreichischen Kongo-Expedition, sowie Lieutenant Kund und Dr. Wolff, beide im Auftrage der „Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland“ am Kongo thätig) über die gegenwärtigen Zustände in dem streitigen Gebiete, welche die früher verbreiteten schöngefärbten Schilderungen Lügen strafen und bei weitem die meisten Angaben Dr. Pechuël-Loesche’s bestätigen.

[184] Ruine Falkenstein. Auf Wunsch einiger unserer Leser bringen wir beifolgend die Ansicht der Ruine Falkenstein, welche in dem Artikel „Allerlei von den Königsbauten im bayrischen Hochlande“ (vgl. Nr. 6 der „Gartenlaube“) erwähnt wurde und in diesem Frühjahre abgetragen werden soll. Dem malerischen Bildchen fügen wir noch einige Notizen über die Geschichte der Burg hinzu.

Ruine Falkenstein.

Vor Jahrhunderten war der Falkenstein, Berg und Burg, Eigenthum des Fürstbischofs von Augsburg. Die wechselnde Gunst des Kriegsglückes in der „Schwedenzeit“ hatte den Fürstbischof Heinrich von Augsburg das Schlößlein auf dem unzugänglichen und darum Sicherheit verbürgenden Berge zum Aufenthaltsort erkiesen lassen. Allein die Schweden waren grimme Feinde. Sie machten Jagd auf den Kirchenfürsten auch auf dem Falkenstein. In dunkler Nacht verließ der Bischof daher den Berg und entfloh. In Oberdorf holten ihn die Schweden jedoch ein und tödteten ihn. Die Burg auf dem Berge wurde erstürmt, verbrannt und ist seitdem Ruine geblieben. Im Laufe der Zeit haben die Besitzer des Falkensteins sammt der Ruine mehrfach gewechselt. Bis zum Herbste des Jahres 1883 waren die Gemeinden Weißensee, Mailing und Steinach Eigenthümerinnen des Berges. Speciell das Joch befand sich im Besitze von Mailing und Steinach. Den Steinach’schen Antheil aber, zu welchem die Spitze mit der Ruine gehörte, brachte König Ludwig II. im Herbste 1883 durch Kauf in seinen Privatbesitz. – Außerdem bemerken wir noch, daß das Maschinenhaus der auf den Falkenstein führenden Wasserleitung sich nicht bei dem Tiroler Städtchen Vils, sondern, wie uns von befreundeter Seite mitgetheilt wird, am sogenannten „Manzenberg“ in der Nähe von Pfronten-Meillingen an dem Flüßchen Vils befindet.

Der Dichter und der Wahnsinn. Die Dichtung beruht auf der freien Verknüpfung der Phantasiebilder, der Wahnsinn auf der unfreien. Daß die eine leicht in die andere überzugehen vermag, beweisen zahlreiche traurige Beispiele – Tasso, Hölderlin, Lenau! Leider hat die neueste Zeit diese Beispielsammlung wieder bereichert. Man mochte den allzuhohen Flug der Begeisterung bei jenen Dichtern gefährlich finden: vor Kurzem verfiel aber auch ein Wiener Volksdichter dem Irrsinn, und dieser lehnte sich stets an das Volksleben an, das er mit Humor behandelte, und nachtwandelte niemals auf den Zinnen der Poesie. O. Berg, der im Irrenhause zu Döbling starb, hat mehr als hundert Gesangspossen und Volksstücke geschrieben, welche dem großen Wiener Publikum jahrzehntelang eine willkommene Erheiterung boten und von Kalisch und Andern zum Theil von der Donau an die Spree in geeigneter Umarbeitung verpflanzt worden sind. Nicht mit Nahrungssorgen hatte Berg zu kämpfen; er hinterläßt eine halbe Million Gulden. Dagegen hat der Dramatiker Albert Lindner, welcher neuerdings als unheilbar in ein Irrenhaus aufgenommen worden, einen schweren Kampf mit der Noth des Daseins bestanden, und seine Familie bleibt in trostlosen Verhältnissen zurück. Lindner ist kein heiterer Volksdichter wie Berg: seine Muse nahm einen höheren Aufschwung; ein Jünger Shakespeare’s strebte er nach dem Lorber der tragischen Dichtung. Verhängnißvoll wurde für ihn der Schiller-Preis, den das Berliner Komité, welches das beste Drama jedes Trienniums zu krönen hatte, seinem „Brutus und Collatinus“ ertheilte; ermuthigt durch diese Auszeichnung gab er seine Stellung als Gymnasiallehrer in Rudolstadt auf und kam nach Berlin; aber er hatte sich in der Tragweite jener Preisertheilung geirrt. Wir leben nicht in Frankreich! Berlin ist nicht Paris, ein Urtheil des Berliner Schiller-Komités hat durchaus keinen Einfluß auf die deutschen Theater, welche sich nicht beeifern, die preisgekrönten Stücke zu geben. Das hat auch die Folgezeit sehr deutlich bewiesen. Lindner’s nächstes Drama „Die Bluthochzeit“ ging noch über viele Bühnen, besonders da die Meininger es in ihr Repertoire aufgenommen hatten; doch alle seine späteren Tragödien klopften vergebens an die Pforten der deutschen Theater an. Eine kleine feste Stellung und eine litterarisch-kritische Thätigkeit, welche oft die ganze Verbitterung so schmerzlicher Enttäuschung athmetee, reichten nicht aus, das äußere Leben des Dichters in erfreulicher Weise zu gestalten; hierzu kam der nagende Kummer über den Mißerfolg seines dramatischen Schaffens, gegenüber den leichten und glänzenden Siegen, welche die Modeschriftsteller davontrugen. So umnachtete sich sein Geist, und dem gleichen traurigen Lose wie der vermögende und erfolgreiche Possendichter verfiel der arme, erfolglose Tragiker.


Trost für Baumeister. Das Rathhaus zu Wernigerode kann sich der in Nr. 7 der „Gartenlaube“ abgedruckten originellen Inschrift nicht allein rühmen. Nach einer Mittheilung aus Dresden findet sich dieselbe auch an dem 1877 dort von dem jetzt in Schwerin weilenden Baurath Möckel erbauten Hause Leubnitzerstraße Nr. 13. Möckel’s Bauweise wurde vielfach kritisirt, und der lakonische Spruch mochte von ihm deßhalb in erster Reihe auf seine Gegner gemünzt sein. – Auch im Auslande ist der bauherrliche Trost nicht unbekannt, und vielleicht huldigte der bekannte Amsterdamer Architekt Cuypers ähnlichen Grundsätzen wie sein Dresdener Kollege, wenigstens stehen auch an seinem Hause – noch dazu mit bezüglichen Abbildungen – die leicht verständlichen Reime:

„Jan bedenckt’ et,
Piet vollbrenght’ et,
Claesgen laeckt’ et,
Och! Wat maeckt’ et!“

* *      


Eine bulgarische Madame Adam. Wer kennt nicht die fanatische Gegnerin der Deutschen, die besonders zur Zeit Gambetta’s in ihrem Salon eine vielfach tonangebende Rolle spielte! Madame Adam, die Nachfolgerin der Madame Tallien auf dem Gebiete der politischen Egerien, zugleich Herausgeberin einer chauvinistischen Revue, Missionärin der Republik an der Newa, und an der Donau in Pest von den Magyaren gefeiert, außerdem eine stattliche Schönheit, nicht eine interessante Häßlichkeit, wie Louise Michel, die Politikerin der Boulevards und der rauchumqualmten Arbeiterversammlungen, hat auf der Balkanhalbinsel eine Nachfolgerin gefunden. Spiridion Gopcevic, der Augenzeuge des serbisch-bulgarischen Krieges, der darüber in „Unsere Zeit“ berichtet, erzählt uns von einer politischen Dame, die in Sofia und Philippopel eine Rolle spielt. Es ist dies die Frau des bulgarischen Ministers Karawelow, die nach manchen Abenteuern in den Hafen dieser Ehe eingelaufen ist und nicht bloß in ihrem Salon, sondern sogar im Ministerkonseil, dem sie beizuwohnen pflegt, in wichtigen Fragen ihre oft entscheidende Stimme abgiebt. Sie soll die Audienzen bei ihrem Gemahl vermitteln und manches diplomatische Aktenstück selbst inspirirt oder verfaßt haben. Das Schicksal der Welt wird freilich nicht in den Boudoirs von Sofia entschieden: die Fäden, an denen sich die kleinen Balkanstaaten bewegen, sind nicht allzu lang und ruhen zuletzt doch in den Händen der großen Kabinette.


„Das wirthschaftliche Leben der Völker.“ Unter diesem Titel ist vor Kurzem ein „Handbuch über Produktion und Konsum“ von Dr. Karl von Scherzer (Verlag von Alphons Dürr, Leipzig) erschienen, in welchem zum ersten Male die Arbeitsthätigkeit sämmtlicher Kulturvölker an der Hand abgerundeter geschichtlicher und statistischer Bilder erschöpfend geschildert wird. Das treffliche Werk ist von hervorragender Wichtigkeit für Volkswirthe, Groß-Industrielle und Kaufleute um so mehr, als der Verfasser auf Grund seiner großen überseeischen Reisen über viele dunkle und verwickelte Fragen des Exporthandels nach eigener Anschauung ein maßgebendes Urtheil abzugeben vermag. Wir werden noch Gelegenheit finden, unsere Leser mit dem Inhalt einzelner Kapitel dieses interessanten Buches vertraut zu machen.*      


Für die kranke Lehrerin („Gartenlaube“ 1885, Nr. 33) gingen ferner ein:
C. Vogelsang, Ingenieur in Siegen i. W. Mark 10; Erlös einer Sammlung d. Marg. Böhme, Lehrerin in Glauchau 32; E. in Altengönna 1; Ph. Süßengut in Bamberg 3; O. D. in Hamburg 5; M. Th. in Crimmitzschau 100; Ges. unter Kolleginnen und Kollegen in Gotha durch E. St. 53; Mr. W. in Löbtau b. Dresden 10; O. F. in Berlin 3; M. v. B. in Dresden 10; C. O. in Dresden 5; L. u. J. W. in Mannheim 5; A. W. in Mühlhausen i. E. 3; Lia Mathesius in Pilsen 3; Frau Jenny Leipziger in Budapest (10 fl. 5 W.) 16,33; V. in Magdeburg 5; M. K. in Chemnitz 12; N. S. in Breslau 5; Sammlung der Exped. d. Penig-Bornaischen u. Frohburger Wochenblattes in Penig 57,70; Aus Herzberg a. H. 10; Ges. v. L. F. Rumbach in Frankfurt a. M.: Brüder Fuchs daselbst 10, Karl Saalfeld in St. Blasien 12, Fr. Mathes in Mannheim 4, Rumbach in Frankfurt a. M. 4, zusammen 30; C. M. B. aus Gera 10; L. S. in Leutkirch 5; Ges. bei einem Abschiedsknipp in Ostrowo durch O. R. aus Breslau 10; Ges. d. M. P., Lehrerin in Braunschweig 10; Dr. H. in Detmold 3; M. A., Hamburg-Uhlenhorst 20; G. Sch. in Görlitz 20; Louise in Wolfenbüttel 1,50; K. G. in Stettin 3; L. T. in Lissa (Bez. Posen) 7; G. Bonhardt in Darmstadt 2,80; Dieter in Darmstadt 1; H. in Kelberg 2; A. J. in Leipzig 3; B. L. in Dresden 5; Y. Z. in X. 30; Fräulein Schaaff in Freiburg i. Br. 2; Elisabeth Müller-Mernéll in Freiburg i. Br. 2; Frau Schinzing in Freiburg i. Br. 1; M. B. in Heidelberg 1,50; Durch Wilh. Streubel in Wolkenburg ferner: Lehrer L. in L. 1, Sch. in W. 1, P. in D. 1, zusammen 3; Leipziger Lehrer-Verein 25; Durch Marg. Böhme, Lehrerin in Glauchau ferner 8; J. Glaeser, Lehrerin in München 5; J. S. in B. 1; Von einem Unbekannten d. die Schulze’sche Hofbuchhg. in Oldenburg (zweimal 5 Mk.) 10; Dr. Pilling in Erfurt 5; Christian Foehr in Stuttgart 3; Frau A. Utecht in Templin 8; Fräul. Julie Appenroth in Klausthal 6; M. v. O. in Kassel 10; K. X. in Halle a. S. 1; G. Lutz in Göttingen (Ueberschuß einer Geldsendung) 0,43; Als kleine Weihnachtsgabe von einer Wittwe in Lindau 10; Aus Stendal 14; Ges. bei der Uhlemann’schen Hochzeit in Oberfrohna durch W. Streubel in Wolkenburg 25; Leopold Jacobi in Victoria West, Süd-Afr. 9,08; Br. in Brandenburg a. d. H. 5; Durch W. Giese in Quern bei Flensburg u. zwar von W. G. 2, P. T. 1,50, H. T. 0,40, M. C. 0,50, zusammen 4,40; Frau Geheimrath Troschel in Bonn 5; H. R. in Sthm. 2; Ges. bei Kollegen u. Kolleginnen durch Minna Saalfeld in Sachsenhausen 27; W. in Beirut (Syrien) durch Stötzner in Leipzig 20; Eine langjährige Abonnentin in Reutlingen 2; W. W., Poststempel Gießen 3; O. L. in Kronstadt in Siebenbürgen ein Fäßchen Honig „zur Stärkung der kranken Lungen“. Gesammtbetrag 147252 ₰.

Wir schließen hiermit die Sammlung, indem wir herzlichen Dank den mildthätigen Gebern sagen, die es ermöglicht haben, daß die Kranke durch einen Winteraufenthalt in Meran und Mentone ihre Gesundheit stärken und festigen konnte. Es ist nunmehr gegründete Hoffnung vorhanden, dieselbe ihrem Berufe wiederzugeben und so ihrer Mutter und den unmündigen Geschwistern die Ernährerin zu erhalten.Die Redaktion.     


Inhalt: Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 165. – Karnevals Lust und Leid. In Briefen aus der Karnevalssaison mitgetheilt von Paul von Schönthan. S. 171. – Hoheit Karneval der Unsterbliche. Eine Faschings-Huldigung von Richard Schmidt-Cabanis. Mit Illustration. S. 173. – Die Andere. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 173. – Thankmar’s Tod. Ein Stück deutscher Reichsgeschichte. Von Fr. Helbig. S. 178. Mit Illustration. S. 177. – Auf dem Londoner Straßen-Pflaster. Von W. F. Brand. S. 179. Mit Illustrationen S. 179–182. – Josef Kainz. Biographische Skizze von Josef Lewinsky (Berlin). S. 183. Mit Portrait: Josef Kainz als „Don Carlos“. S. 165. – Blätter und Blüthen: Zur Kongogeschichte. S. 183. – Ruine Falkenstein. Mit Abbildung. – Der Dichter und der Wahnsinn. – Trost für Baumeister. – Eine bulgarische Madame Adam. – „Das wirthschaftliche Leben der Völker.“ – Für die kranke Lehrerin. (Schluß-Quittung.) S. 184.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.