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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[149]

No. 9.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Was will das werden?

(Fortsetzung.)


8.

So schien denn diese Wetterwolke, ohne größeren Schaden angerichtet zu haben, vorübergezogen zu sein, und auch sonst schickte sich alles nach Wunsch. Schlagododro hatte kaum erfahren, daß „der Schein, auf den er bestand“, von mir eingelöst werden würde (woran er in letzter Zeit doch manchmal gezweifelt haben mochte), als er seine ganze sonnige Gutmüthigkeit und Liebenswürdigkeit gegen mich hervorkehrte, wie wenn unsre Freundschaft nie ein Hauch getrübt hätte. Ellinor von Vogtriz hatte den versprochenen Besuch bei Maria sogleich am folgenden Tage gemacht und alles mit ihr verabredet. Ich hatte die junge Dame auch diesmal nicht gesehen, wie ich sie denn auch vorher wissentlich nie gesehen hatte – begreiflicherweise, da wir uns in so völlig verschiedenen Kreisen bewegten, falls dieser Ausdruck überhaupt auf mich angewendet werden konnte. Maria, die sonst so gelassene, war wieder so voll des Lobes der Schönheit und Liebenswürdigkeit ihrer „Freundin“ – ein Ausdruck, welchen sie geflissentlich mehrmals gebrauchte – daß ich jetzt definitiv beschloß, dieselbe weder schön, noch liebenswürdig zu finden. Ueberhaupt trug ich für die ganze Angelegenheit eine Gleichgültigkeit zur Schau, die ich innerlich keineswegs empfand. Begreiflich genug. War es doch das erste Mal, daß ich mich auf längere Zeit aus den gewohnten Verhältnissen entfernen, in völlig andere treten, mich unter fremden Leuten bewegen sollte in einem vornehmen, reichen Hause, ich, der ich nie den Fuß in ein solches gesetzt hatte und mir von demselben Vorstellungen machte, die zu meiner wachsenden Unruhe mit jedem Tage ungeheuerlichere Dimensionen annahmen. Und diese Unruhe wurde gewiß durch den Gedanken nicht beschwichtigt, daß die Menschen, deren Gastfreundschaft ich jetzt in Anspruch nehmen wollte, Aristokraten waren, mit denen ich, der Republikaner, nichts zu schaffen hatte und also ehrlicherweise keine Gemeinschaft pflegen durfte. Nicht, weil sie ein Von vor dem Namen führten! das thaten die Werin's auch, aber sie alle dachten so großartig frei; ich war bei ihnen nie auf ein Vorurtheil gestoßen, das mich hätte verletzen, auf eine Anschauung, die ich nicht hätte theilen können. Im Gegentheil! ich war in dem Verkehr mit diesen hochbegabten Menschen im Schwunge über meinen früheren beschränkten Horizont weit hinausgetragen worden; hatte nun erst recht das Niedrige und Gemeine verachten lernen, mich von glühender Begeisterung für die höchsten Ideale, für Recht und Freiheit, erfüllen lassen. Und von Schlagododro, der doch so viel gemäßigter dachte, als ich, wußte ich, daß er wegen seiner Freisinnigkeit in seiner ganzen Familie verschrieen war, gerade so, wie bei den Junkerlein in unserer Klasse, deren wir eine

Junge Venetianerin.0 Nach dem Oelgemälde von E. v. Blaas.

[150] ganze Reihe zählten, und die sich naserümpfend von ihm zurückgezogen oder ihm offen den Umgang gekündigt hatten, als er es wagte, mit dem „Tischlerjungen“ einen Freundschaftsbund zu schließen.

Aber das waren Bedenken, die für mich hätten abgethan sein sollen, und die doch stärker als je auf mich eindrangen, als ich am letzten Abend vor der Reise in meinem Zimmer vor dem sorgsam gepackten Köfferchen stand, im Geiste schon abgeschieden von der trauten Umgebung, bei mir überlegend, ob ich der Mutter Lebewohl sagen oder mich mit der schriftlichen Notiz begnügen sollte, in welcher ich ihr meine Absicht mitgetheilt und die ich ihr durch die Magd (nicht mehr die lachlustige von früher, eine ältere, häßliche, mürrische Person) hatte zustellen lassen.

Ich hatte eben beschlossen, daß der schriftliche Abschied genüge, als ich ihre Thür gehen und den mir nur zu wohlbekannten leisen gemessenen Schritt des Kaplans über den Flur kommen hörte. Er mußte, um zur Treppe zu gelangen, an meinem Zimmer vorbei. Ich wußte aus leidiger Erfahrung, wieviel schritte es bis dahin, und wieviel er dann noch die Treppe hinab und zum Hause hinaus hatte. Ich hatte sie zu oft gezählt und bei dem letzten und dem Klappen der Hausthür jedesmal erleichtert aufgeathmet mit einer durch die Zähne gemurmelten Verwünschung, die ich dem Verhaßten nachsandte. Zu meinem Erstaunen blieb der Schritt heute vor meiner Thür stehen, an die alsbald – auch wieder leise und gemessen – geklopft wurde. Was konnte der Mann bei mir wollen? Unwillkürlich begann mir das Herz heftig zu schlagen, dennoch sagte ich mit leidlich fester Stimme Herein. Im nächsten Moment stand er vor mir und streckte mir die magere wohlgepflegte Hand entgegen, die ich nur eben an den Fingerspitzen berührte, um dann einen Stuhl herbeizurücken, ihn durch eine Geberde auffordernd, Platz zu nehmen.

„Wollen Sie sich nicht ebenfalls setzen?" sagte er.

Ich mußte zu diesem Zweck, da ich nur zwei Stühle hatte, das Köfferchen auf den Fußboden stellen. Sein Blick blieb auf dem Köfferchen haften, dessen Deckel ich schloß: der Mann sollte eben so wenig in meinen Koffer sehen, wie in meine Seele.

„Sie haben einen Ferienausflug vor,“ sagte er; „ich weiß es von Ihrer Frau Mutter. Sie ist sehr glücklich darüber. Je strenger sie selbst – viel strenger, als ich es billigen kann – der Welt entsagt hat, desto aufrichtiger freut sie sich, daß Sie in die Welt kommen, daß Sie Muth und Lust haben, dieselbe aufzusuchen. Und dazu sind die jungen Jahre gewiß die besten, ja, wohl die einzig geeigneten. Wer dann später resignirt, der weiß doch wenigstens, warum. Ich hoffe von Herzen, daß Sie nie zu dieser Resignation kommen, die eine traurige bleibt, auch wenn sie nothwendig sein sollte.“

War der Mann gekommen, mir das zu sagen? oder worauf wollte er hinaus? Ich saß, ohne mich zu regen, erwartungsvoll da, während mir jetzt zu meinem Aerger – das Herz noch immer unruhig schlug.

„Ich habe mich zunächst eines kleinen Auftrages zu entledigen,“ fuhr er nach einer kurzen Pause fort. „Sie wissen, daß ich nicht nur der geistliche, sondern auch der weltliche Beirath Ihrer Frau Mutter bin, und in dieser letzteren Eigenschaft habe ich Ihnen dieses kleine Päckchen zuzustellen, welches enthält, was der praktische Engländer richtig das ‚Needful‘ nennt, – diesmal für die Bedürfnisse und etwaigen Eventualitäten Ihres vorhabenden Ausfluges.“

Er wollte dabei ein Kouvert, das er aus der Tasche gezogen hatte, auf meinen Arbeitstisch legen; ich wies es lebhaft zurück.

„Es bedarf dessen durchaus nicht,“ sagte ich; „mein Taschengeld ist ein so reichliches, und ich wußte seit Monaten, daß ich diese Reise machen würde; ich bin völlig versehen.“

„Sehr vorsichtig, sehr klug für einen so jungen Mann,“ sagte er, ohne die mindeste Empfindlichkeit zu verrathen. „Aber wie Sie wollen. Ihre Frau Mutter hat keinen anderen Wunsch, als Ihnen die Freiheit des Empfindens und Handelns in jeder Weise zu sichern.“

„Ich bin meiner Mutter sehr verbunden,“ sagte ich.

„Sie haben wirklich alle Ursache dazu,“ erwiderte er, das Kouvert zwischen den Fingern bewegend; „Ihre liebe Mutter hat sich den Weg, von dem sie überzeugt ist, daß er zum Heile leitet, durch eigne Seelenkraft in Gebet und Andacht zu schwer erringen müssen, um nicht zu wissen, daß Gott nicht nur seine Heiligen, sondern auch uns sündige Menschenkinder wunderbar führt, und daß es wenig nutzt und oft recht üble Frucht bringt, so man sich vermißt, in seinen unerforschlichen Rathschluß mit kurzsichtigem Menschenwitz eingreifen zu wollen. Gesellt sich nun zu dieser höheren Einsicht, welche allemal die Demuth zur treuen Gefährtin hat, jene krankhaft nervöse Disposition, die Folge schwerster seelischer und physischer Leiden, so schaudert nun gar das zaghafte Herz, auch wenn es das Herz einer Mutter ist, vor der Verantwortung zurück, die wir mit der Leitung und Lenkung einer jungen Menschenseele auf uns laden. Ich hätte vielleicht früher schon Gelegenheit genommen, Ihnen dies zu sagen und damit wohl einen tieferen Einblick in das immerhin nicht leicht zu deutende Wesen Ihrer verehrungswürdigen Mutter zu eröffnen, – wie mich denn Ihre Mutter wiederholt dazu ermahnt und gedrängt hat, – aber ich habe gemeint, damit warten zu sollen, bis ich nicht mehr mit einem Knaben über so hochwichtige und schwierige Herzens- und Seelenangelegenheiten sprechen konnte, sondern mit einem Jüngling, der bereits selbst seine Herzenserfahrungen und seine Seelenkämpfe gehabt und erduldet hat, und bei dem man mit Sicherheit auf ein Verständniß rechnen darf, welches dem Knaben eben so sicher fehlt. Nicht wahr, ich habe mich darin nicht geirrt?“

Ich erwiderte nichts und was hätte ich auch erwidern sollen? Daß ich ihm nicht traute, so glatt die Rede auch von seinen Lippen floß? so schmeichelnd auch sein achtungsvoll höfliches Benehmen gegen den jungen Menschen war, den er in jeder Beziehung so weit übersah? Ich würde wohl endlich etwas sagen müssen, das fühlte ich wohl; aber nicht, bevor ich wußte, worauf dies alles hinaus sollte. Umschlich der Finkler den Vogel, um ihn zu umgarnen: nun, der Vogel war kein Gimpel und war auf seiner Hut.

„Ich darf mir gewiß Ihr Schweigen günstig auslegen,“ fuhr er fort, „und das giebt mir den Muth, der Sache, um die es sich handelt, näher zu treten. Ich bin überzeugt, daß Sie mich freundlich und ruhig anhören werden, wie Sie überzeugt sein dürfen, daß ich aus keinen anderen Motiven spreche, als aus denen der tiefsten Verehrung für Ihre Frau Mutter, der lebhaftesten Sympathie für Sie selbst und endlich aus der Nothwendigkeit der Situation heraus, die eine Entscheidung wünschenswerth macht, wie Ihre Frau Mutter meint, oder gebieterisch fordert, wie es meine Ansicht ist.“

Er hatte jetzt das Kouvert wieder eingesteckt und die weißen Hände über dem Stockknopf und dem niedrigen breitkrempigen Hut gefaltet. Seine dunklen Augen waren gesenkt; das aristokratische Gesicht hatte den Ausdruck tiefsten Ernstes angenommen, wie die Stimme, in der er jetzt weiter sprach, einen eigenthümlich eindringlichen Klang, trotzdem sie leiser war, als vorhin.

„Es giebt Irrungen des Herzens, die, wie beklagenswerth sie sind und wie schlimme Folgen sie auch für den Irrenden haben, ihm dennoch kaum angerechnet werden können. Als eine derartige Irrung muß ich die zweite Ehe Ihrer Mutter bezeichnen. Sie wurde von ihr eingegangen in einer Zeit tiefster seelischer und physischer Verstörung und Zerrüttung, welche die Annahme, daß Ihre Mutter mit dem vollen Bewußtsein der Wichtigkeit und Verantwortlichkeit des Schrittes gehandelt hat, fast ausschließen. Wie sie menschlich geirrt hat, so ist es menschlich recht und billig, ihr die Last, welche sie, ohne zu wissen, was sie that, jedenfalls in völliger Verkennung und Ueberschätzung ihrer Kraft auf sich geladen, möglichst zu erleichtern. Die Ehe zwischen einer gläubigen Katholikin, zu der Ihre Mutter geworden war, und einem Protestanten, der sich bereits damals von jedem Glauben losgesagt hatte, ist schon an und für sich im kanonischen Sinne keine; aber sie würde mir auch in dieser ihrer Entstellung heilig sein, wenn sie es in sich wäre oder je gewesen wäre. Nie hat zwischen den beiden Unglücklichen – denn auch der Mann kann nicht anders als tief unglücklich sein – ich will nicht sagen: eine Seelenharmonie, sondern nur ein leidliches Verständniß im gewöhnlichen menschlichen Sinne obgewaltet, wie das bei der völligen Verschiedenheit ihrer Naturen auch gar nicht anders sein konnte. Aber Ihre Mutter ist die bei weitem unglücklichere als die höhere, zarter besaitete Natur, die, um Fehle abzubüßen, welche großherzige Frauen am ehesten auf sich laden, um Versuchungen zu entgehen, denen Jugend und Schönheit am meisten ausgesetzt sind, von den Höhen eines gesellschaftlich reich bewegten, durch Kunst und Bildung verschönten Lebens zu den Niederungen socialer Dunkelheit und geistiger Armuth niederstieg, auf diesem Wege sich selbst verlierend und, was ihr viel schmerzlicher ist, das Einzige, was ihr aus [151] jenem früheren erhöhten Dasein übrig geblieben war und sie über die Misère des jetzigen hätte trösten können: ihr Kind.“

„Durch wessen Schuld?“ rief ich, ihm fest in die Augen sehend, die er bei seinen letzten Worten zu mir erhoben hatte. Auch senkte er den Blick nicht wieder, als er jetzt, leise und ohne eine Spur von Empfindlichkeit, fortfuhr:

„Sie irren sich völlig, wenn Sie glauben, daß ich Ihr Feind bin, der zwischen Ihnen und Ihrer Mutter steht. Das genaue Gegentheil ist der Fall. Ich weiß, daß ich Ihnen, dem jungen Freigeist und Freiheitsschwärmer, als Katholik und Priester verdächtig bin. Gerade wie hier Ihr Verdacht auf falscher Fährte ist, gerade wie die Armen und Elenden keinen treueren Freund haben als den katholischen Priester; wie sie nur durch uns, ich meine mit dem Beistand der heiligen Kirche, jemals ihre Fesseln werden brechen und zur Gotteskindschaft und zu einem menschenwürdigen Dasein zugleich gelangen können – und Sie also, der Sie dasselbe wollen wie ich, mein Freund sein müssen – ebenso stehe ich zu Ihnen in dieser Ihrer Herzenssache, und der Umstand allein, daß ich hier bin aus freien Stücken – denn wer hätte mich dazu zwingen können? – sollte Ihnen ein Beweis sein, daß ich die Wahrheit spreche.“

„Aber was verlangen Sie von mir?“ rief ich, der ich meine Erregung nicht mehr beherrschen konnte.

„Ich verlange nichts,“ erwiderte er; „ich komme als ein Bittender und bitte nichts weiter, als daß Sie mich geduldig anhören. Ich habe Ihnen jetzt die Situation, in der Sie beide, Ihre Mutter und Sie, jeder für sich und einander gegenüber sind, geschildert, und Sie werden mir Recht geben, wenn ich vorhin sagte, diese Situation dränge nach Entscheidung. Hier ist eine Mutter, die sich immerdar nach ihrem Sohn gesehnt hat und dieser Sehnsucht keinen Ausdruck geben konnte, da sie fürchten mußte, nicht verstanden zu werden; hier ist ein Sohn, der nun weiß, daß der Schatz der Liebe seiner Mutter ihm nicht, wie er wähnte, vorenthalten, sondern nur aufgespart ist, um ihm desto reichlichere Zinsen zu tragen – was in der Welt könnte die Beiden hindern, einander in die längst geöffneten Arme zu fliegen, in Zukunft einander so nahe zu stehen, wie sie sich bisher fern zu stehen schienen?“

Er schwieg, wohl, um mir Zeit zu lassen, mich zu sammeln. Ich bedurfte dessen wahrlich. Hatte ich denn recht gehört? Was ich als Knabe mit tausend heißen Thränen von Gott vergebens erfleht, das sollte mir nun plötzlich wie durch ein Wunder doch zu Theil werden? Ja, durch ein Wunder! Dies ging nicht mit rechten Dingen zu. Und dann –

Ich war aufgesprungen und an das offene Fenster getreten, um durch die dürren Zweige des Kornelkirschbaumes über den kleinen Hof nach dem Licht zu blicken, das düster aus der Werkstatt heraufdämmerte –

Und dann: wo blieb, wenn dieser Bund, den der Priester mir anbot, zwischen der Mutter und mir geschlossen wurde – wo blieb der Vater? was wurde aus ihm? Sollte er mit aufgenommen werden in den Bund? dann freilich durfte ich ja keinen Augenblick zögern zuzugreifen. Und es konnte ja nicht anders sein; sie mußten ja wissen, mit welcher Liebe ich an dem Vater hing!

Ich wandte mich wieder in das Zimmer. Herr von Ruver, der meine halb unwillkürliche Bewegung nach dem Fenster richtig gedeutet hatte, kam mir zuvor.

„Es wird freilich ohne alles Opfer für Sie nicht abgehen, aber wann wird je auf der Welt ein Großes ohne Opfer erreicht? Und sollte Ihnen die Wahl zwischen der Mutter, die Sie mit Schmerzen geboren hat, und dem Manne, der Ihnen – ich gebe es zu – immer ein treuer Hüter war, aber an den Sie doch weder Bande des Blutes, noch, ich bin dessen gewiß, ein tieferes geistiges Interesse fesselt – sollte Ihnen die Wahl schwer werden?“

„Was verstehen Sie unter dieser Wahl?“ fragte ich mit einer Ruhe, über die ich mich selbst wundern mußte, denn in meinem Herzen war es bei jedem der letzten Worte des Kaplans heiß und heißer aufgewallt.

„Viel und wenig,“ erwiderte er. „Wenig in so fern, als Ihnen in Ihrer Gesinnung gegen Ihren Adoptivvater keinerlei Wandlung zugemuthet wird; viel unter Umständen, wenn die Umstände eine Trennung wünschenswerth oder nothwendig machen sollten.“

„Eine Trennung?“ murmelte ich.

„Sie wissen,“ fuhr er fort, „für uns Katholiken ist die Ehe ein Sakrament in voller Konsequenz des heiligen Wortes, daß, was Gott zusammengefügt hat, der Mensch nicht scheiden soll. Von einer Scheidung kann also keine Rede sein, nur von einer Trennung, die ja überdies immer bestanden hat und möglicherweise nur eine räumliche Erweiterung erfahren würde – etwas völlig Irrelevantes also für die eigentlich Betheiligten, das für Sie selbst nur in so fern relevant wird, als Sie sich eventuell entschließen müßten, um mit Ihrer Mutter vereinigt zu bleiben, sich ebenfalls von Ihrem Stiefvater zu trennen.“

„Würde dieser Fall bald eintreten?“

„Wer könnte in die Zukunft blicken?“ erwiderte er nach einigem Zögern. „Ich kann nur so viel sagen, daß, wenn gewisse Eventualitäten eintreten, dieselben für Ihre Mutter und dann selbstverständlich auch für Sie eine namhafte, vielleicht glänzende Veränderung der Glücksgüter und der Lebensstellung zur Folge haben würden. Auch Ihr Stiefvater würde dabei nicht leer ausgehen; man würde sich angelegen sein lassen, ihm einen sorgenfreien Lebensabend zu sichern. Aber bevor ich mich Ihnen weiter öffne über Angelegenheiten, die für jeden Anderen Geheimniß bleiben müssen, außer für den Sohn, der mit seiner Mutter einig und eines ist – Ihre Mutter erwartet Sie. Wollen Sie mir zu Ihr folgen?“

Er hatte sich erhoben, jetzt ein Lächeln – ein Lächeln des Sieges, den er über den Jüngling errungen zu haben glaubte – auf den schmalen Lippen. Ich weiß nicht, ob ich auch so noch länger hätte an mich halten können – dies Lächeln brachte mich außer mir. Wie flüchtig es auch gewesen war, es erschien mir wie ein giftiger Hohn über mich und über den Vater, dessen Hammerpochen von unten heraufklang, dumpf und traurig, als schlüge er die Nägel in den eigenen Sarg.

„Nein,“ rief ich, „ich will Ihnen nicht folgen. Zu meiner Mutter, sagten Sie? Hat sie mich gepflegt, wenn ich krank, hat sie mich getröstet, wenn ich trostlos war – trostlos darüber, daß ich keine Mutter hatte wie andere Kinder? Wer hat alles Das an mir gethan, was meine Mutter hätte thun sollen? und dabei nie ein böses Wort gehabt gegen sie, die ihn und mich von sich gestoßen und getrieben, als wären wir unreine Thiere? Und ihn soll ich jetzt verlassen zum Dank für alle seine Liebe? Nun und nimmermehr! Behalten Sie Ihre Geheimnisse und die Glücksgüter, mit denen Sie mich fangen wollen, oder theilen Sie sie mit meiner Mutter! Mir soll es gleich sein; ich will nichts davon. Hören Sie: nichts! nichts!“

„Ich höre,“ erwiderte er – und dabei zuckte abermals ein Lächeln um seinen Mund – diesmal ein Lächeln des Spottes, vielleicht der Verachtung – „Sie sprechen ja laut genug – lauter, als es sich vielleicht dem Jüngling ziemt einem Manne gegenüber, der sein Vater sein könnte. Auch höre ich nichts, als was zu hören ich leider erwarten mußte und erwartet habe. Dennoch sei es fern von mir, Ihnen zu zürnen, wie ich wohl dürfte; ich verzeihe Ihrer Jugend die Hitze, zu der Sie sich montirt, Ihrer Unerfahrenheit die Wahl, die Sie getroffen haben. Auch soll sie deßhalb nicht unwiderruflich sein, diese Wahl. Ich lasse Ihnen Zeit, zur Ruhe, zur Besinnung zu kommen. Ebenso werde ich Ihrer Mutter den vorläufigen Ausgang dieser Unterredung in einer Weise mittheilen, die für sie die wenigst kränkende ist und Ihnen den Weg zur Umkehr offen läßt. Leben Sie inzwischen wohl, und Gott behüte Sie!“

Er nickte mit dem Kopfe, winkte mit der weißen Hand das Zeichen des Kreuzes und hatte das Zimmer verlassen. Ich hörte ihn nach dem der Mutter gehen und brach in ein höhnisches Gelächter aus: da stecken sie nun wieder die Köpfe zusammen über den bösen Buben! –

Glücklicher Weise für mich dauerte die Unterredung nicht lange. Der leise gemessene Schritt kam wieder über den Flur, an meiner Thür vorbei, knarrte die Treppe hinab und entfernte sich aus dem Hause. Ich athmete auf wie Jemand, der aus einem häßlichen Traume erwacht. Oder war wirklich Alles nur ein Traum gewesen? Aber da – wie ein Zeichen, das der Böse zurückgelassen – lag auf der Diele ein schwarzer glänzender Handschuh des Mannes. Ich stieß ihn mit dem Fuß auf die Seite, als ich nun selbst das Zimmer verließ, um zu dem Vater zu eilen, den ich hatte verrathen sollen.


[152]

Die Liebe höret nimmer auf.
Nach dem Oelgemälde von W. Kray.

[153] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[154]
9.

Als ich in die Werkstatt trat, legte der Vater eben die blaugrüne Schürze ab. Er sei gerade mit seiner Arbeit für heute fertig, und nun wollten wir behaglich mit einander plaudern.

Es war eine Stunde erquicklichen Beisammenseins, in der ich jeden Augenblick dem Himmel dankte, daß ich den Versucher so kräftig von mir gewiesen. Zwar, wenn ich dem Guten in die treuen Augen sah, erschien mir, was ich gethan, so selbstverständlich, wie das Gegentheil schändlichster Verrath gewesen wäre. Dennoch war ich zufrieden mit mir und würde meinen Triumph voll genossen haben, nur, daß der Leidenszug in dem Gesichte des Vaters heute Abend ausgeprägter war, als selbst die Tage vorher, wo er hatte zugeben müssen, daß er sich schlecht befunden habe, während er heute behauptete, es gehe ihm wieder völlig gut. Und plötzlich fiel mir das Wort des Kaplans von dem sorgenfreien Abend, der, wenn ich mich folgsam erwies, dem Vater bereitet werden sollte, schwer auf die Seele. War das nicht schon ein Gewinn, um dessentwillen ich den Handel hätte eingehen müssen? Ich hatte freilich immer angenommen, daß, für den Vater zu sorgen, meine Aufgabe sein werde, und gelobte mir jetzt wieder im Stillen, meine Pflicht gewissenhaft zu erfüllen; aber ich hatte nicht bedacht, daß die Nothwendigkeit der Hilfe so früh an mich herantreten könne. Und doch mußte ich mir wieder sagen, daß meine Selbstvorwürfe ganz thöricht seien. Ich wußte, der Vater hatte vom ersten Augenblicke an sich in ökonomischen Dingen der Mutter gegenüber die volle Selbständigkeit bewahrt; würde er jetzt zu der Kränkung, vollends von ihr verlassen zu werden, noch die Schmach einer Pension hinzunehmen? Niemals! so wenig wie ihn irgend eine Summe dafür entschädigen konnte, daß ich ihn verließ. Ach, er war heute Abend so gut und lieb, kam wieder auf seine Jugend zu sprechen und das herrliche Leben „oben auf dem Walde“, wo zu Häupten die Riesentannen feierlich rauschten und durch die Stämme hier und da ferne blaue Berge still herüber grüßten. Das, müsse er sagen, möchte er wohl noch einmal sehen mit mir zur Seite, mir des Waldes Heimlichkeiten zu offenbaren; denn wenn er es auch sonst auf Erden zu nichts gebracht und Zeit seines Lebens ein unpraktischer Phantast gewesen sei und jetzt anfange ein stumpfer alter Kerl zu werden – dem Walde habe er ins Herz gesehen, wie wohl so leicht Keiner, und wenn er einmal sterbe, ein Stück von der Seele des Waldes sterbe mit ihm – das glaube er sicherlich.

So ging seine Rede, und ich hätte immer nur so zuhören mögen; denn es war die reinste, heiligste Poesie, was da in den schlichtesten Worten, die ihm unbewußt kamen, aus seinem Munde floß – dem Bergquell gleich, der, sein unschuldig Lied singend, unerschöpflich zu Thal rinnt – aber es wurde spät, und er hatte mir gesagt, daß er morgen sehr früh wieder an die Arbeit müsse. So gab ich denn vor, ich selbst sei müde und müsse mich stärken für den folgenden Tag.

Eine Wolke zog über seine Stirn, aber gleich lächelte er mich wieder freundlich an.

„Wir werden uns nun lange Zeit nicht sehen,“ sagte er, „und ich leugne nicht, ich werde Dich wohl ein wenig vermissen. Der Tod ist Trennung, aber die Trennung, so lange wir leben, ist auch so eine Art Tod.“

Ich erschrak. Trennung! ich hatte das Wort eben gehört aus dem verhaßten Munde des Pfaffen, mußte ich es nun auch aus dem Munde des geliebten Vaters hören?

„Wenn Du so sprichst, Vater,“ rief ich, „so bleibe ich sicher hier.“

„Wenn ich wie spreche?“ erwiderte er; „vom Tode? warum soll man von dem nicht sprechen, wie von dem morgenden Tage? Beide kommen gewiß, nur daß der morgende Tag vielleicht für uns nicht kommt, der Tod aber irgend einmal sicher. Ich verstehe freilich, warum die Jugend vom Tode nichts hören und wissen will; sie hat ja auch naturgemäß nichts mit ihm zu schaffen, außer wenn sie uns Alte zu Grabe geleitet, wobei Ihr denn meistens ein Gesicht macht, wie die Kinder, denen das Kartenhaus einfällt. Die Alten, die herum saßen, wußten ja, daß es einfallen würde, und warteten nur auf den Augenblick. Ich warte nicht auf den Augenblick, aber ich habe auch durchaus nichts gegen den Tod, außer daß wir nicht verlöschen können wie ein Licht, oder zerrinnen wie der Tropfen im Wasser, oder schmerzlos still zu Erde werden wie der umgesunkene Baum im Walde. Nun so bequem ward es uns Menschen nicht; aber das Ende vom Liede ist es doch, und ich sage, es ist ein schönes Lied, das der Wind durch den rauschenden Wald und die Welle am hallenden Ufer singt, und in dem wir mitsingen werden, ein Stimmchen im großen Chore, durch alle Ewigkeit. Glaubst Du nicht, Kind, daß es dieselbe Musik ist, die der Malle Heinrich hört des Morgens, wenn die Sonne auf- und wenn sie am Abend zur Rüste geht? Gehört hat – der arme Kerl! Er war heut hier in der Dämmerstunde und suchte Dich, ob Du nicht wüßtest, wo die schöne Musik geblieben sei? er höre sie nicht mehr; ob sie wohl gestorben sein könne? dann solle ich ihr doch einen Sarg machen, einen recht schönen Sarg! Seltsam, ihm ist die Musik gestorben, mir sind es meine Bilder: ich sehe keine mehr, und meine Särge gehen leer zu Grabe. Aber Du bist wirklich müde, Kind; Deine Augen sind trüb. Laß uns zu Bett!“

Wohl mochten meine Augen trüb sein, aber nicht vor Müdigkeit. Auch konnte ich die Thränen nicht länger zurückhalten, als er mir jetzt zur Gutenacht die Hand bot. Er sah mich erstaunt an.

„Kind, was weinst Du?“ sagte er. „Und mir ist so recht heiter und fröhlich zu Sinn! Geht Ihr jungen Leute heutzutage so auf die Reise? Wart’, ich will Dir etwas mitgeben, das Dir Freude machen wird. Ich wollt’ es Dir eigentlich erst bei der großen Trennung geben. Nun mag’s auch bei der kleinen sein.“

Er verschwand in der Kammer„ wo ich ihn an seinem Pulte kramen hörte. Ein Schrecken überfiel mich. Sollte es das sein?

Er kam zurück, setzte die Lampe wieder auf den Tisch; es war, wie ich geahnt hatte: in der anderen Hand hatte er das Etui, welches das Bild meiner Mutter enthielt.

„Nimm es, Kind!“ sagte er; „ich sehe keine Bilder mehr und brauche keine mehr.“

Ich wollte erwidern: und dies Bild brauche ich nicht und ich will es nicht. Aber hatte ich mich darum in dieser Stunde so brav gehalten und die Empörung, welche noch in meiner Seele von der Scene mit dem Pfaffen zitterte, mit keinem Worte anklingen lassen, um nun zuletzt mich dennoch zu verrathen und das Herz des besten Mannes, dem „so recht heiter zu Sinn war“, aufs Tiefste zu betrüben? Das durfte ich nicht und stammelte meinen Dank, indem ich das Etui, ohne es zu öffnen, in die Tasche gleiten ließ. Er ahnte nicht, weßhalb ich mich so stürmisch jetzt in seine Arme warf und ihn küßte. „Ich hab’ es Dir ja gern gegeben,“ sagte er. „Und nun zum letzten Male: gute Nacht, Kind!“

Ich war wieder auf meinem Zimmer, rathlos, wo ich mit dem Etui bleiben sollte, wie man nicht weiß, wohin mit einer glühenden Kohle, ohne sicheren Schaden anzurichten. Und wenn ich es schließlich doch in meinen Koffer legte, so war es nicht, weil ich der Sicherheit meines Schreibtischschlosses nicht traute, sondern weil ich – nun ja! – weil ich mich nicht von ihm trennen wollte; weil mich sein Besitz mit einer schaudernden, aus Liebe und Haß seltsam gemischten Bewegung erfüllte. Ich aber redete mir ein, ich wolle es nur Maria zeigen, die wiederholt den lebhaften Wunsch ausgesprochen hatte, wenn nicht in Wirklichkeit, so doch im Abbild meine Mutter zu sehen; und die, wenn sie dies Bild sähe, bestätigen würde, was sie mir unlängst gesagt: hasse die Pfaffen, die sie Dir geraubt; Deine Mutter darfst Du nicht hassen!

Und so beweglich ist der Jugend Sinn: während noch, was ich eben Empörendes und Rührendes erlebt, in meiner erregten Seele nachzitterte, dachte ich bereits auch an das Morgen: an Maria und Schlagododro und die Abenteuer, die mir unzweifelhaft bevorstanden auf der geheimnißvollen Insel, welche ich mir als mein Königreich ausdrücklich vorbehielt, wenn ich von der Bodenluke des Nachbargiebelhauses beim Seifeblasen die Welt zwischen mir und Emil Israel theilte, und die, trotzdem sie nur durch eine schmale Wasserstraße von uns getrennt war, mein Fuß noch nie betreten hatte.


Drittes Buch.
1.

Ein leichter Holsteiner Wagen mit zwei kräftigen Braunen, auf dem Vorderplatz ein junger Kutscher (für gewöhnlich Knecht, und nur „ad hoc“ durch einen Livréerock zum Kutscher gemacht.); auf dem Rücksitze zwei junge Bursche, welche die Schule hinter sich und die endlosen Ferien vor sich haben und von denen ich [155] der eine bin und Schlagododro der andere ist; ein glatter Sommerweg, auf dem das Wägelchen zwischen unabsehbaren Kornbreiten so rasch dahinrollt, daß wir die brütende Hitze kaum verspüren würden, auch wenn wir vor allem eifrigen Reden Zeit darauf zu achten hätten – das war die Situation, in welcher uns der Spätnachmittag des folgenden Tages fand. Eine Situation, die Schlagododro durchaus vertraut war, eine völlig neue für mich. Er wollte es noch immer nicht glauben, was ich ihm schon wiederholt versichert, daß ich seine Heimathinsel noch nie zuvor mit einem Fuße betreten habe.

„Sie hat Dir doch, so lange Du lebst, vor der Nase gelegen,“ rief er.

„Vielleicht gerade deßhalb,“ erwiderte ich. „Als ich ein kleiner Junge war und ich sie immer vor Augen hatte, und mein heißester Wunsch, einmal hinüber zu kommen, fand ich Niemand, der sich meiner erbarmt und mir mein Verlangen gestillt hätte, das ich vielleicht auch nicht einmal ausgesprochen habe. Später, als ich auf eigenen Füßen stand und ich jeden Tag hätte hinüber segeln und rudern, oder schlittschuhlaufen, allenfalls schwimmen können, wollte ich es nicht mehr. Die Insel war nur ein Traum geworden, den ich mir nicht zerstören wollte, mein Separat-Königreich, in welchem ich mir tausend Schlösser baute – eines schöner und stolzer als das andere. Siehst Du nun ein einziges von meinen tausend Schlössern?“

„Nein, wahrhaftig nicht!“ rief Schlagododro, die großen blauen Augen rollend.

„Ich auch nicht! Und das ist es ja eben. Ich wußte, daß sie sich in blaue Luft auflösen würden, sobald ich herüberkam. Und daran bist Du schuld.“

„Meinetwegen!“ rief Schlagododro lachend. „Du konntest doch nicht ewig träumen, obgleich Du wirklich eine erstaunliche Anlage dazu hast. Tausend Schlösser! potztausend! Wir haben auf der ganzen Insel, so weit ich sie kenne – und ich glaube, ich kenne sie so ziemlich von einem Ende bis zum andern – überhaupt nur fünf Schlösser, was man so nennen kann. Das sind, außer den zwei vom Fürsten, Grenwitz, Prohnitz und unser Nonnendorf, das freilich erst nachträglich aus einem Kloster zu einem Schloß umgebaut ist. Die andern sind eben Herrenhäuser, besten Falls und meistens. ganz gewöhnliche Pächterwohnungen, manchmal noch mit Strohdächern bis auf den heutigen Tag, wie zum Beispiel gleich da links Voigtehagen, auf dem ein Herr von Kalden wohnt, oder da rechts an dem Wald – Du siehst nur eben noch den Giebel und das Viehhaus – Bernewitz – es ist dreihundert Jahre im Besitz der Bernewitz gewesen – jetzt hat’s ein Herr – wie heißt der Kerl doch –“

„Krause,“ sagte der jugendliche Kutscher, ohne sich umzuwenden.

„Richtig: Krause! Und da noch weiter rechts –“

Schlagododro wußte wirklich in meinem Königreich Bescheid wie „in seiner Tasche“, und wenn ihm ja einmal der Name von einem Gut oder Gutsherrn nicht gleich kommen wollte, so half Jochen vom Bocke sofort ein, ich machte ihm über seine Allwissenheit ein ironisches Kompliment, das doch nicht ohne einen Beigeschmack von Neid war. Ja, wahrhaftig: ihm und seinesgleichen gehörte die Erde; wir Andern waren nichts als hauslose Wanderer, die der Besitzer achtlos oder mißtrauisch an sich vorüberziehen sieht oder, wenn er besonders gutmüthig oder gut aufgelegt ist, hereinkommen heißt, damit sie eine Stunde rasten.

Schlagododro gab dieser meiner Empfindung in seiner Weise Ausdruck, indem er lachend sagte: „Du bist und bleibst eben ein Phantast. Ich bin keiner, und das wäre auch schlimm für mich, der ich als Junge Oekonom werden wollte, und heute nachdem ich eingesehen habe, daß es mir dazu am Besten fehlt – woran es den Vogtriz, wie Du weißt, mit seltenen Ausnahmen immer gefehlt hat – wenigstens Nationalökonom werden will. – Jochen, waren die Herrschaften schon angekommen, als Du wegfuhrst?“

„Ja, jung’ Herr: der Herr Major und das gnädige Fräulein von dem Herrn Major und noch ein anderes Fräulein aus der Stadt und die Verzieherin von dem gnädigen Fräulein.“

„Von der habe ich ja noch gar nichts gehört,“ sagte ich; „wer ist denn die?“

„O,“ sagte Schlagodobro, „die ist famos. An der wirst Du Deine helle Freude haben. Sie heißt Fräulein Drechsler und macht ihrem Namen Ehre. Weiter sage ich aber nichts.“

Und nun – wären wir sonst junge Leute gewesen? – da die Rede einmal auf „die Damen“ gekommen war, blieben wir vorläufig bei diesem Lieblingsthema, das aber der großen rothen Ohren willen, die Jochen unter seiner Livréemütze wie zwei Flamingoflügel seitwärts starrten, in halblautem Tone und oft flüsternd geführt wurde. Ich erfuhr von Schlagododro zum andern Male, daß seine Kousine Ellinor das schönste Mädchen der Welt sei, und daß er sie „bis zum Wahnsinn“ liebe. Wenn ich ihm das nicht aufs Wort glauben wolle, so würde mir sicher der Beweis genügen, daß er wiederholt versucht habe, ein Gedicht an sie zu machen. Immer dasselbe. Dennoch sei er nicht über den ersten Vers hinausgekommen, und auch der stehe noch nicht fest. Er heiße entweder: „Geliebte Ellinor, von ganzem Herzen,“ oder: „Von ganzem Herz’, geliebte Ellinor“ – aber im ersten Falle fände er auf Herzen als Reim nur Schmerzen, und das sei doch zu verbraucht; im zweiten fände er gar keinen. Es sei zum Verzweifeln. Wie ich mich aus der Affaire ziehen würde?

„Ich würde beide Anfänge aufgeben und dafür einen dritten neuen nehmen,“ sagte ich.

„Ja, Du!“ rief Schlagododro wüthend; „Du hast gut reden, Du schüttelst dergleichen nur so aus den Aermeln. Ich möchte den Packen Gedichte sehen, den Du schon auf Fräulein Maria gemacht hast.“

„Noch nicht ein einziges, auf Ehre!“ versicherte ich.

Er sah mich mit verwundert rollenden Augen an. „Wie ist das möglich? Liebst Du sie denn nicht?“

„Wenigstens nicht ‚bis zum Wahnsinn‘,“ erwiderte ich ausweichend.

„Dann liebst Du sie nicht,“ docirte Schlagododro; „man liebt entweder bis zum Wahnsinn, oder man liebt gar nicht. Aber nun verstehe ich wieder nicht –“

Schlagododro brach jäh ab. Ich wußte, was er hatte sagen wollen: warum ich dann so viel bei Werins verkehre? Er hatte es mir gegenüber nie ausgesprochen und verschwieg es auch jetzt: er hielt es für unmöglich, daß ich ihn um Adalbert’s willen aufgegeben habe, eines Menschen willen, der ihm im tiefsten Grund der Seele zuwider war; von dem er gegen Andere erklärt hatte, daß er ihn überhaupt gar nicht für einen richtigen Menschen halte, sondern für einen aus Hochmuth, Herzlosigkeit und Fanatismus zusammengebrauten Homunculus, von dem er sich gar nicht wundern würde, wenn er sich eines schönen Tages in seine Bestandtheile auflöste und spurlos verschwände; Notabene nicht, bevor er in der Welt ein gründliches Unheil angerichtet.

So waren wir denn, bei diesem dunklen Punkt unserer Freundschaft angelangt, in Schweigen versunken, während wir weiter durch die immer lieblicher werdende Landschaft rollten, über welcher sich die Sonne bereits zum Untergange neigte. Vor uns und unter uns, die wir von einer sanften Anhöhe herabkamen, blinkte im röthlichen Licht eine tiefeinschneidende Bucht des Meeres auf, das wir während unserer ganzen Fahrt nicht wieder gesehen hatten. Links am Ufer ragten aus prächtigen Busch- und Baummassen Giebel und Dächer.

„Das ist Nonnendorf,“ sagte Schlagododro. „Gefällt es Dir?“

„Was ich bis jetzt davon sehe –“

„Ist nicht viel,“ unterbrach er mich lachend; „freilich; aber, ich denke, es wird Dir schon gefallen.“

Ich nickte; aber nicht mit innerlicher Zustimmung. Im Gegentheil: das Herz war mir seltsam beklommen, als ob da hinter die dunklen Baummassen das Geheimniß sich zurückgezogen habe, welches mir früher die ganze Insel war, und nun da verschleiert sitze. Und daß es klüger von mir gewesen wäre, hätte ich mich nie in die Lage verlocken lassen, an den Schleier rühren zu dürfen. Aber auch diese Reue kam zu spät. Schlagododro würde doch sehr verwundert die Augen gerollt haben, wenn ich da plötzlich aus dem Wagen gesprungen und in die Felder gelaufen wäre. Und nun waren es auch schon nicht mehr Felder, sondern glatte mit dunklem Buschwerk betupfte Wiesen, oder waren es Parkanlagen? und dann eine Allee mächtiger Linden, die in vollster Blüthe prangten, und da hielten wir vor dem Schloß.

(Fortsetzung folgt.)

[156]

Ein Pygmäen-Theater.

Mit Illustrationen nach Photographien im Verlage von Pflaum u. Co., k. k. Hofphotographen in Berlin.

Mignon mit ihrer Soldateska.

Die Welt hat schon oft große Schauspieler gesehen, die leider recht kleine Künstler waren, gegenwärtig kann sie einmal die umgekehrte Erfahrung machen und kleine Schauspieler betrachten, die in ihrem Fache groß sind. Seit mehreren Jahren hat sich ein kleines Völkchen von Schauspielern zu einem Ensemble vereinigt und unter dem Namen der „Liliputaner“ im In- und Auslande Theatervorstellungen gegeben, die überall Sensation erregten und den Miniaturkollegen unserer berühmten Helden der Posse und Operette Lorbeerkränze einbrachten, hinter denen sie selbst verschwanden, wie Lichtwer’s „Kleiner Gernegroß“ im väterlichen Hute. Wohl zeigten sich schon in früherer Zeit auf Messen und Märkten geniale Zwerge, die angestaunt wurden, als ob sie Gulliver von seinen Reisen mitgebracht hätte, und die aus ihrem körperlichen Taschenformat goldenen Nutzen zu ziehen wußten, aber die Neuzeit hatte sich nach und nach gegen das Schauspiel dieser „menschlichen Phänomene“, wie sie die große Glocke der Reklame ausrief, abgekühlt, und sie mußten sich seitdem in Marktflecken und auf Dörfern mit ihren winzigen Leibesdimensionen um kargen Sold „groß thun“. Was den Einzelnen aber versagt blieb, gewann eine ganze Gesellschaft von Zwergen wieder, und die „Liliputaner“, welche sich nach und nach zu einem Zwergensemble von neun liebenswürdigen Köpfchen vereinigt haben, ernten in Berlin, Chemnitz, Leipzig, wo sie gegenwärtig im „Krystallpalast“ die „Kleine Baronin“ zur Aufführung bringen, kurz überall, wo sie ihre Füßchen hinsetzen, reichen Applaus, so daß sie unter den reisenden Virtuosen schon, wenn uns der Ausdruck gestattet ist, mit „ins Gewicht fallen“.

Ida Mahr und Selma Görner.

Die kleinen, liebenswürdigen, anmuthigen Kobolde, die es gewagt haben, die hohen Stufen zum Tempel Thaliens hinaufzutrippeln, spielen aber auch mit einer Verve und Würde, mit einer so ergötzlichen Drolerie, daß ihren Vorstellungen, mögen sie nun „Robert und Bertram“, „Lumpaci Vagabundus“ oder „Schneewittchen“ von ihrem Repertoire auftischen, immer reiches Interesse gezollt werden wird. Man glaubt die geschäftigen Heinzelmännchen, wie Kopisch sie besungen hat, auf den weltbedeutenden Brettern agiren zu sehen, und unter normalen Verhältnissen würden einzelne der modernen Pygmäen, die freilich nichts von der elementaren Kraft der mythologischen Zwerge und Wichtelmännchen besitzen, wirklich bemerkenswerthe schauspielerische Kräfte geworden sein. Es sei uns gestattet, die Mitglieder des Zwergtheaters hier mit Namen vorstellen zu dürfen; sie selbst werden es uns gewiß gern verzeihen, wenn wir dem Namen indiskreter Weise Alter und Größe hinzufügen, denn letztere spielen ja bei diesen Nachkommen des „huldrevolks“ der Gattin Odin’s selbstverständlich die Hauptrolle. Die begabtesten der kleinen Truppe sind unstreitig Selma Görner, 21 Jahre alt und 105 Centimeter hoch, Ida Mahr, 19 Jahre alt, 108 Centimeter hoch, und der lustige Komiker Franz Eberl, das Nesthäkchen der Truppe, 19 Jahre alt und 88 Centimeter hoch. Neben ihnen lassen Johannes Wolf, 40 Jahre alt und 106 Centimeter hoch, sowie Ignaz Wolf, 28 Jahre alt und 96 Centimeter hoch, ihr schauspielerisches Licht besonders leuchten, und auch die übrigen kleinen theatralischen Nippfiguren, Minna Mignon, 22 Jahre alt und 117 Centimeter hoch, Bertha Jaeger, 17 Jahre alt und 103 Centimeter hoch, Max Walter, 23 Jahre alt und 111 Centimeter hoch, und schließlich Hermann Ring, 23 Jahre alt und 104 Centimeter hoch, vollbringen mit Fleiß und Routine, was „in ihren Kräften“ steht. Es macht zwar auf manchen Theaterbesucher einen verzweifelt komischen Eindruck, wenn die kleinen, fidelen Bürschlein mit edler Grandezza über die Bühne marschiren, die Beredsamkeit eines miles gloriosus beim Bericht ihrer Heldenthaten entfalten oder gar in den Liebesscenen praktisch zur Anwendung bringen, was Madame Amour sie gelehrt hat, aber wer einmal näher mit dem Zwergvölkchen verkehrt hat, der wird auch wissen, daß ihr Herzchen ebenso heiß zu fühlen versteht, wie das Herz von uns „Riesen“.

Ignaz und Johannes Wolf nebst „Hänschen“.

Der große und der kleine Mime (Franz Ebert).

Unsere Bilder zeigen die flotten Akteure in einzelnen Scenen aus der bereits genannten Posse von Groß „Die kleine Baronin“, ein Stück, das ihnen „auf den Leib geschrieben“ und trotzdem von ziemlicher Länge ist. Da präsentirt sich die kleine Baronin, Fräulein Mignon, mit ihrer Soldateska im schneidigen Parademarsch, da lehnen sich die beiden lustigen Soubretten, Fräulein Ida Mahr und Fräulein Görner, die Eine als flottes Stubenmädchen, die Andere als Oekonomie-Inspektor, traulich an einander, nachdem sie sich ihr Herz entdeckt haben, und dort schreiten gravitätisch Ignaz und Johannes Wolf als Kutscher Knicker und Koch Josef mit Hänschen, dem „Riesen“, auf der Suche nach der entflohenen Baronesse einher. Auf dem letzten Bilde endlich mißt sich Herr – das Epitheton klingt fast zu stolz für den kleinen Kobold – Franz Ebert mit dem genannten „großen Mimen“, dem er nicht allzu viel übers Knie reicht und doch künstlerisch „gewachsen ist“.

In keinem der lustigen Gnomen macht sich ein krankhafter Zug bemerklich, und die medicinische Weisheit, daß Zwerge selten über 30 Jahre alt würden, macht der Senior der Gesellschaft Johannes Wolf, der bereits 40 Lenze zählt, zu Schanden, wie sie schon seiner Zeit durch die berühmte 86 Centimeter hohe Zwergin Anna Therese Sonbrey aus den Vogesen, die 64 Jahre alt wurde, hinfällig gemacht worden ist. Uebrigens präsentiren sich die „Liliputaner“ trotz ihrer Kleinheit immer noch in mittlerer Statur unter ihres Gleichen, denn die Geschichte berichtet von Zwergen, die nur eine Höhe von 42 Centimeter erreichten. Die beiden Miniatursoubretten Selma Görner und Ida Mahr verstehen sich auch auf die Kunst des Gesanges und tragen ihre Lieder und Kouplets mit großem Chic vor, wenn ihre Stimme auch natürlich kein Material für eine Wagner’sche Ortrud oder Brunhilde hergiebt. Die Stimme ist ebenso groß – Pardon, ebenso klein, wie die Sängerinnen selbst. Pfiffig sind sie allesammt und schlagfertig dazu; sie sind mit ihrem Schicksal zufrieden, wenn auch die goldne Zeit für die Zwerge vorbei ist, wo sie an die Höfe der Fürsten gezogen wurden und als „Kammerzwark“ bei Tafel die hochfürstlichen Gäste durch „allerley Kurtzweyhl und Narrenspossen ergetzeten“. Haben sie doch dafür heut zu Tage alle Rechte der „Großen“ und gelten nicht mehr ihr Leben lang, wie im Mittelalter, wo sie wie die Krüppel auch für lehn- und erbunfähig gehalten wurden, für unmündige Bürschchen. Seit der Zeit Peter’s des Großen, der bekanntlich alle Zwerge seines Reiches an seinem Hofe versammelte und die berühmte „Zwergenhochzeit“ arrangirte, hat man gewiß nicht wieder ein solches Pygmäenvölkchen zusammen agiren sehen, ein Völkchen, das einen so gewitzigten, schlauen Eindruck macht wie die Gesellschaft unserer „Liliputaner“.
Hermann Pilz.     

[157]

Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

So weit kam es! War ich denn blind gewesen bisher? Wie mit einem Zauberschlage trat Lottes Wesen in das wahre Licht: ihr Leichtsinn, ihre Frivolität erschienen mir grenzenlos in diesem Augenblick. Prinz Otto hatte den Bräutigam aus ihrem Herzen verdrängt; noch trug sie den Ring des Andern am Finger, und schon waren die treulosen Gedanken zum Fürstenschloß hinübergeflattert. Und heute, gerade heute –!

So stand ich, den Brief in der zitternden Hand, als sich langsam die Thür öffnete und Fritz Roden eintrat. Er kam zu mir herüber und bot mir die Hand; das flackernde Licht warf einen zuckenden Schein über sein Gesicht; es kam mir vor, als sei er ein Anderer geworden, so verändert sah er aus, oder machte es die Uniform, die er schon trug?

„Ich wollte Ihnen Lebewohl sagen, Fräulein Tone,“ sprach er, „Ihnen und Charlotte. Es ist besser, man scheidet in Frieden, wenn man auf solchen Wegen hinauszieht, wie ich. In dieser Nacht reise ich ab, um den Schnellzug in T. zu treffen. Morgen um zehn Uhr bin ich bei meinem Regiment.“

Er hatte sich, während er sprach, ruhig im Zimmer umgesehen und heftete nun seinen ernsten Blick fragend auf mich. Und als ich stumm blieb und nur mit der Hand auf den nächsten Sessel wies, sagte er: „Ich danke, Fräulein von Werthern, viel Zeit habe ich nicht, es muß so manches noch besprochen werden; was ich Ihnen zu sagen habe, läßt sich auch so abmachen." Er zögerte –. „Sie stehen nun so allein mit ihrer Schwester,“ begann er abermals –

Da drängte sie sich endlich empor, die ganze tiefe Bitterkeit meines Herzens, in den Aufschrei: „Allein! Ja ganz allein!“ Und dann brach ich in Thränen aus, die ersten seit dem Tode der alten Frau.

Nach ein paar Augenblicken wußte er Alles, Alles.

Eine furchtbare Pause entstand, durch nichts unterbrochen, als durch sein schweres Athemholen. „Hier können Sie nicht bleiben,“ sprach er endlich fast heiser, „ich bringe Sie zu meiner Mutter.“

Ich schüttelte den Kopf, aber er wiederholte sein „Kommen Sie“ jetzt so bestimmt und ruhig, daß ich ihm folgte, als hätte ich keinen eigenen Willen mehr. So gingen wir neben einander durch den stillen Garten; berauschend dufteten die Centifolien in dieser wonnigen Sommernacht, und vom Gutshof scholl das Singen der Mägde und Knechte. Ueberall tiefster heiliger Friede, nur in der Menschen Herzen Kampf und Noth. Einen Augenblick blieb er stehen, deutlich klangen die Worte des Soldatenliedes zu uns herüber:

Morgen marschiren wir, Ade! Ade! Ade!
Wie lieblich sang die Nachtigall
Vor meines Liebchens Haus,
Verklungen ist nun Sang und Schall,
Das Lieben ist nun aus,
Das Lieben ist nun aus – Ade!

Ob er an den Abend dachte, wo die Nachtigall gesungen und Lotte neben ihm stand? Er fuhr sich über die Augen; dann schritt er weiter, nicht langsamer und nicht rascher, und vor der Wohnstube angekommen, öffnete er die Thür und ließ mich eintreten. Verwundert schaute die alte Frau auf, die Wäsche in einen kleinen Koffer legte. „Hier bringe ich Tone, Mutter,“ rief er. Dann war er gegangen.

Ich konnte nicht anders, ich flüchtete zu ihr, schlang beide Arme um ihren Nacken und weinte von Neuem. Und als ich ihr endlich Alles geklagt, schob sie mich zurück und starrte mich an, als sei ich nicht bei Sinnen. „Lotte – Trauung!“ stammelte sie. „Weiß er – Alles? – Armer Junge, auch das noch!“

Dann schüttelte sie den Kopf und fragte wieder: „So rasch? Getraut – sagen Sie? Heute? Anita hat die Vermittlerin gespielt, natürlich! – Daß er die Einwilligung bekam? Freilich, er ist der Abgott seiner Mutter, und sie mögen froh sein, ihn unter der Haube zu wissen. Und die Eile? Das macht der Krieg, der Superintendent traut morgen fünf Paare. – Ach, wenn ich’s nur fassen könnte, Tone! – Tone, ich muß zu meinem Fritz!“

Doch ehe sie noch die Thür erreichte, trat er wieder ein. Angsterfüllt sahen wir ihn an, aber er setzte sich ruhig an den Tisch.

„Nun thue den Koffer weg,“ bat er seine Mutter, „die letzten paar Stunden laß uns gemüthlich sein mit einander. – Fräulein Tone, bleiben Sie bei meiner Mutter, wenn es Ihnen kein Opfer ist, die alte Frau ist gar so allein.“

Ich reichte ihm die Hand als Zusage; zarter konnte der Verlassenen keine Zuflucht geboten werden.

„Ich danke Ihnen,“ sprach er, „ich gehe nun ruhiger fort.“

So saßen wir, wie immer, in der gemüthlichen Wohnstube; auf dem Tische funkelte goldener Rheinwein in den alten Römern; es sah so still und friedvoll aus.

„Mögen wir uns glücklich wiedersehen,“ sprach er und stieß mit seiner Mutter an. Und dann redeten sie von diesem und jenem in der Wirthschaft, von allem Möglichen, nur nicht von dem, worüber sein Herz fast brach, und nicht vom Scheiden. Einmal noch fuhr er dunkelroth empor; Musik schallte in das Zimmer und Fackelglanz brach durch das Fenster – Prinz Otto bekam von den Reservisten ein Ständchen. Wunderbar feierlich erscholl es: Ein’ feste Burg ist unser Gott!

Begeisterte Hochrufe auf den Fürsten und den Prinzen folgten, und endlich das Lied, das Hunderttausende deutscher Herzen höher schlagen ließ:

„Es braust ein Ruf wie Donnerhall –“

und:

„Lieb Vaterland, kannst ruhig sein -“

Der alten Frau leuchteten die Augen. „Wo bleibt unser eignes Weh?“ fragte sie mich. „Weinen Sie nicht, Tone, es ist doch etwas Großes um ein ganzes Volk in Waffen.“ Und sie sah stolz zu ihrem „Jungen“ empor, obgleich ihr das alte Herz fast brach. Er war ihr Letzter.

Ich wollte die wenigen Augenblicke nicht stören, die Mutter und Sohn noch vereinten. Unter dem Vorwande, in unserer Wohnung allerlei verschließen zu müssen, entfernte ich mich. Und in den finsteren vereinsamten Räumen stellte ich mich ans Fenster und barg die fiebernde Stirn in mein Tuch. Lotte, ach Lotte!

Und allmählich ward es tiefe stille Nacht, lichtlos und schweigend lag das Schloß. Dann kam ein Wagen in schnellem Trabe daher und hielt jäh unter meinem Fenster. „Leben Sie wohl, Antonie,“ scholl es herauf.

Aber ich konnte nicht antworten; ich sank in die Kniee und legte meine Stirn auf den harten kalten Marmor der Fensterbank: schrankenlos brach der Jammer in mir durch. Wild und heiß habe ich geweint um sein und mein Elend und um das Leben, das so öd und hoffnungsarm vor mir lag.


„Die Frau Gräfin läßt das gnädige Fräulein bitten, in der Dämmerung doch einmal herüber zu kommen,“ lautete Anitas Bestellung, die mich am andern Tage in unserer Wohnung aufsuchte, wo ich mit schwerem Kopf und noch schwererem Herzen die nachgelassenen Papiere der Großmutter ordnete. Dem Vorschlag der Frau Roden gemäß sollte ich schon heute völlig zu ihr übersiedeln, und nun gab es so vieles noch zu erledigen und vieles konnte nicht eher geschehen, bis ich mit Lotte geredet.

„Die Frau Gräfin?“ fragte ich.

„Gräfin Charlotte Kaltensee, die Gemahlin Sr. Durchlaucht,“ erklärte Anita, ohne eine Miene zu verziehen.

„Ach so – meine Schwester. Sagen Sie ihr, ich würde kommen. Se. Durchlaucht ist abgereist?“

„Vor einer Stunde,“ erwiderte sie. „Die Gräfin ist trostlos.“

Anita entfernte sich. Ich räumte weiter; ich konnte es nicht über mich gewinnen, einen Blick zu den Fenstern drüben zu thun. Als es dunkelte, ging ich zu Lotte; ich kann sagen, nicht mit freundlichen Gedanken.

Anita öffnete mir und führte mich durch die spärlich erleuchtete Halle den Korridor entlang bis zu der Thür, durch die ich schon einmal getreten war, an jenem Tage, als der Prinz [158] Lotte zum ersten Male sah. Ich folgte ihr und durchschritt das kleine Zimmer. „Bitte, linker Hand in den gelben Salon,“ flüsterte die Italienerin, dann entfernte sie sich. Ich hatte mit einem Male rasendes Herzklopfen, als ich vor der verhangenen Thür stand; es war eine Art Schwindel, oder machte es die eigenthümlich schwere Atmosphäre in diesen fürstlichen Räumen, stark durchduftet von Rosen und Orangeblüthen? Mit zitternder Hand faßte ich endlich die seidenen Falten und trat in das Gemach.

Es war erhellt durch verschiedene auf Etageren und Tischen vertheilte Lampen. Ueberall ein goldig heller Schein, blinkende Reflexe, ein Geriesel von schweren leuchtend gelben Stoffen; Landschaften und Menschenbilder in breiten goldenen Rahmen, prächtige alte Möbel, unzählige Nippes und am Boden ein weicher Teppich in satten Farben. Und dort, unter dem großen Bilde, auf dem wundervoll gemalte spielende Putten ihre rosigen Glieder über den Rahmen zu strecken schienen, lag auf einer chaise longue, den Kopf in die Kissen geborgen, Lotte.

Sie hörte mich nicht. Ihre langen schwarzen Zöpfe hingenüber das weiße spitzenbesetzte Negligé herab; – sie hatte es einst bei einer Theatervorstellung getragen in der Rolle einer eleganten jungen Frau – es war mir eine häßliche Mahnung und half mich noch bitterer machen. Alles Komödie! klang es verächtlich in mir.

„Lotte!“ rief ich dann. Da schrak sie empor, und ich sah in ihr schönes verweintes Gesicht.

„Tone,“ bat sie wie ein Kind, „bleib bei mir!“ Und aufstehend schlang sie die Arme um meinen Hals und versenkte ihre glühenden Wangen an meine Schulter. „Ich bin so glücklich, so glücklich, Tone! Vergieb mir und sage mir, daß Gott nicht so grausam sein kann, daß er wiederkommen muß!“

„Sprichst Du kein Wort, Tone? Hast Du keinen Segenswunsch für mich?“ fragte sie, sich emporrichtend. „Wenn Du wüßtest, wie grenzenlos lieb ich ihn habe, Du ständest nicht mehr mit so strenger Miene da, Tone. Du zürnst mir,“ fuhr sie fort und ließ nun auch ihre Arme von meiner Schulter gleiten, „weil ich Dich nicht ins Vertrauen zog? Aber es ging Alles so rasch – weißt Du. An dem Tage, wo ich meine Verlobung löste, da hatte er schon Nachricht, daß der Krieg unvermeidlich sei, und da – im Sturm hat er mir mein Ja! abgenommen. Er reiste sofort zu seiner Mutter –. Die entsetzliche Eile, die mir just so unsympathisch ist wie Dir, sie bedingt der Krieg; ich wäre unter allen Umständen für eine Anstandsfrist gewesen –. Aber so, wenn man so liebt, wenn man nicht weiß, ob man ihn wiederkehren sieht, dann schwinden alle kleinlichen Rücksichten –. Freilich,“ fuhr sie nach einer Pause ungeduldig fort, „das begreifen nicht alle Menschen, dazu gehört vollstes Empfinden, wahre Leidenschaft – Liebe!“

„Ja,“ sagte ich, und das Herz klopfte mir bis in die Zungenspitze, „und noch etwas mehr gehört dazu, um mit dem Verlobungsring am Finger dem Anderen sein Herz zu geben.“

„Ach Tone,“ erwiderte sie mitleidig, „was verstehst Du davon; wir wollen nicht mehr darüber reden. Du wirst es ebenso wenig begreifen, daß ich Fritz nie gut war, wie daß ich meinen“ – sie stockte – „Gatten unsagbar liebe.“

„Dann durftest Du Rodens Antrag auch nicht annehmen.“

„Aber,“ rief sie ungeduldig, „ich kannte Otto noch nicht! Ich gab doch Roden nur mein Jawort, um Euch und mich vor dem Verhungern zu bewahren!“

„O, das ist schrecklich, Lotte!“

„Mein Gott, das ist der Welt Brauch, Tone. Ich wäre vielleicht auch ganz zufrieden geworden schließlich, und die solide Spießbürgerlichkeit hätte mir zuletzt ebenso gut gemundet wie der ewige Kartoffelsalat, mit dem Du uns in letzter Zeit jede Woche ein paarmal satt gemacht hast –. Aber da sah ich ihn, und vom ersten Tage an, von der ersten Stunde an liebte ich ihn. Weißt Du noch, hier in diesem Zimmer? Und da –“

„Da hättest Du Fritz Roden bei Zeiteu sagen müssen, wie es um Dich stand.“

„Aber wußte ich denn, ob mich der Prinz –“

„O, ich verstehe,“ unterbrach ich sie bitter, „und da wolltest Du abwarten? Dann, wenn der schillernde bunte Schmetterling davon flog, hättest Du das spießbürgerliche vertrauensvolle Herz immer noch am Faden, – und würdest Dich mit ihm eingerichtet haben!“

„Ich bitte Dich, Tone, höre auf!“ rief sie heftig; „sei froh, daß ich in dem Augenblick, wo wir gänzlich verlassen dastanden, eine rettende Hand fand, die uns bewahrt vor dem Schlimmsten, was es giebt, vor des Lebens Noth.“ Und als ich schwieg, fuhr sie fort: „Davon wollte ich mit Dir sprechen; Otto wünscht, daß Du bei mir bleibst. – Ich soll diese Zimmer bewohnen bis auf Weiteres: Schloß Kaltensee ist noch nicht eingerichtet; es liegt in Bayern, wo der Herzog große Besitzungen hat. Es ist mir zum künftigen Wohnsitz angewiesen; wie Du weißt, führe ich auch den Namen. Es ging Alles so rasch, ich war wie in einem Traum. Ich habe ein höchst anständiges Nadelgeld, es ist gesorgt für uns Beide; ein großes Glück, Tone!“

Sie hatte sich in einen kleinen Fauteuil gesetzt und lehnte den schönen Kopf zurück.

„Ach Tone, der entsetzliche Krieg!“ seufzte sie. Und denke Dir nur, nicht einmal eine Brauttoilette hatte ich; das alte weiße Cachemirkleid mußte ich anziehen, und der Prediger sprach so kurz, so wenig feierlich, es geht ja Alles unter in dieser schrecklichen Mobilmachung. Er war mit zwei Herren, einem Rittmeister von E. und einem Kammerherrn der Herzogin, als Trauzeugen herübergekommen. Einen Myrtenkranz hat Anita mir in Hast und Eile zusammengebunden, und wäre nicht der Brillantreif gewesen, um den er sich schlang, kein Mensch hätte in mir die Braut eines Prinzen vermuthet. Aber nun sprich doch einmal, Tone! Nimmst Du ein Glas Wein mit ein paar Früchten? Im Speisesaal steht noch unser einziger und letzter Mittagstisch, fast unberührt; ach Tone, ich konnte vor Weinen nicht essen! Werde ich je wieder ihm gegenüber sitzen und ihm eine Aprikose schälen?“

Und sie sprang empor, eilte durch das Zimmer, schlug die Hände vor die Augen und lachte und weinte in einem Athem. „Am liebsten liefe ich ihm nach in den Krieg,“ schluchzte sie. „Ach, daß ich hier sitzen muß und mich sehnen und bangen! O du großer Gott.“

Sie war hinreißend in ihrer jungen Liebesseligkeit, in der Angst um den Geliebten. Aber auf mich übte es keinen Zauber. Ich mußte an Fritz Roden’s blasses Gesicht denken, an seine Augen, aus denen alles Leben gewichen schien, als er erfuhr, daß sie einen Andern gefreit.

„Du bleibst doch gleich hier?“ fragte sie. „Ich wollte Dich noch bitten, an den Vormund in meinem Namen zu schreiben; es mußte alles per Depesche gehen in der Hast. Auch wegen Großmama –. Der gute Mann wird gänzlich konsternirt sein. Ach Tone, Großmama. Glaube mir, ich traure herzlich um sie.“

Ich mochte wohl eine abwehrende Handbewegung gemacht haben, denn sie verstummte.

„Ich will Dir gerne den Brief schreiben, Lotte,“ sagte ich dann, „aber hierbleiben kann ich nicht. ich habe Fritz Roden versprochen, seiner Mutter zur Seite zu stehen in der Zeit, wo er vom Hause fort.“

Lotte war anfänglich sprachlos, dann wurde sie böse. „Das geht nicht!“ rief sie bestimmt.

„O ja, es geht, Charlotte!“

„Aber ich darf nicht allein bleiben, Otto will es nicht.“

„Dein Mann wird doch für eine passende Persönlichkeit sorgen können; überdies ist Anita da,“ erwiderte ich.

„Aber ich kann sie nicht mehr leiden!“ fuhr sie auf, „sie ist so unverschämt vertraulich. Was gehen Dich Rodens an?“

„Nichts – das ist wahr. Aber mein Rechtlichkeitsgefühl drängt mich, in Etwas den Kummer gut zu machen, der durch uns über sie gekommen ist. Außerdem – ich liebe die alte Frau wie –“

„Wie eine Mutter!“ ergänzte Lotte ironisch.

„Ja!“ bestätigte ich aus vollstem Herzen.

„Otto wird es Dir übelnehmen,“ begann sie nach einer Pause. „Er sagte gestern Abend: Deiner Schwester setze ich natürlich ein Jahresgehalt fest – wie –“

Ich fuhr empor. „Er ist sehr gütig, aber ich muß danken!“

„Was hast Du nur gegen ihn?“ fragte sie schmollend.

„Daß er feige, daß er ehrlos handelte, als er die geliebte Braut eines braven Mannes heimlich zu gewinnen wußte, das habe ich gegen ihn!“ wollte ich ausrufen. Aber ich schwieg; warum sollte ich etwas aussprechen, das sie selbst hätte fühlen müssen, und – sie hatte sich ja so leicht, so leicht gewinnen lassen.

[159] Eine lange Pause entstand. Anita war unhörbar durchs Zimmer geschritten und hatte auf einem Tischchen Wein, Früchte und Kuchen arrangirt, das sie nun herbeitrug. Sie stellte noch eine silberne Schale voll krystallklarer Eisstückchen hinzu, fragte nach der Frau Gräfin weiteren Befehlen, und als Lotte ungeduldig den Kopf schüttelte, verschwand sie ebenso leise, wie sie gekommen war. Sie hatten sich Beide überraschend schnell in die veränderte Situation gefunden; daß sie jüngst lange Nachmittage zusammen verplauderten, war vergessen; Lotte ganz Herrin – Anita ganz Untergebene.

Als ich noch immer schwieg und Lotte ansah, die mir halb den Rücken wendete, so daß ich nur das feine Profil erblickte, überkam es mich plötzlich wie Mitleid mit diesem schönen sonnigen Geschöpf. Gott allein wußte, was ihrer noch harrte an der Seite des Mannes, dem sie so rasch zu eigen geworden. Sollte ich ihr die einzigen glücklichen Stunden mit finsteren Prophezeiungen verderben? Eilig erhob ich mich. „Behüt Dich Gott, Charlotte, verzeihe meine trübe Stimmung; morgen, übermorgen, wenn ich ruhiger geworden, dann sprechen wir zusammen. Heute nur noch Eines: mögest Du glücklich werden so recht von Herzen glücklich.“

Sie wandte sich, ihre Augen leuchteten, ein helles schönes Roth flog über ihr Gesicht. „Ich bin es schon, Tone, und werde es bleiben, wenn Gott mir meinen Otto gesund heimschickt.“

Sie faßte mich um und schritt mit mir bis zur Thür.

„Komm morgen wieder,“ bat sie, „ich muß Dir noch sein Brautgeschenk zeigen und das Diadem, das die Herzogin durch den Kammerherrn schickte. Ja, und dann sprechen wir noch einmal über unser Zusammensein.“

„Nein, Lotte, darüber nicht, das ist nicht anders; rede mir nicht mehr davon.“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, drückte ich ihr die Hand und ging, wie ich gekommen, mit schwerem Herzen. Und sie blieb allein in ihrem goldenen Käfig, mit ihren süßen Erinnerungen und ihrem großen vermeintlichen Glück, ohne daß ihr auch nur der leiseste Gedanke kam: „Du hast einen Menschen, einen guten treuen Menschen, elend gemacht, vielleicht fürs Leben.“




„Wir wollen arbeiten, Tonchen, das ist der beste Trost!“ sagte Frau Roden am anderen Morgen. Und wir arbeiteten. Was haben wir Alles geschafft in jener schweren Zeit! Sachen, die gar nicht nöthig waren. Die alte Frau wußte immer etwas Neues, und wie Recht hatte sie: Arbeit ist der beste Trost!

Still, sehr still war es in dem weltfernen kleinen Städtchen, in dem alten Herrenhause; und derweil flogen die ersten Siegesbotschaften jubelnd über das deutsche Land. Von Thurm zu Thurm schwangen sich die Glockenklänge. Sieg! Sieg! Es ist ein Wort, berauschender als Wein. Selbst in unsere Einsamkeit kam vorübergehend Leben, die Menschen strömten nach den Straßenecken, wo die Depeschen angeheftet wurden; die Kinder bekamen „frei“ in der Schule; alte Feinde schüttelten sich die Hände: Leute, die nie mit einander gesprochen, riefen sich mit frohen Mienen die Kunde zu, vom Rathsthurme bliesen die Stadtmusikanten: „Nun danket alle Gott!“ und in der Kirche erbrauste die Orgel und jubelnde Menschenstimmen fielen ein. Ja, Jubel, Jubel überall.

Dann kam die Zeitung mit der ersten Verlustliste; herzbrechend, wenn man die schlichten Namen in langen Reihen hinter einander las. Welch eine Welt voll Jammer und Weh lugte unsichtbar hinter jedem einzelnen hervor! Und man starrte darauf hin und fragte sich, was man beginnen würde vor Verzweiflung, wenn das Auge einen lieben theuren Namen dort erblicken müßte?

Aber so sehr auch der fortstürmende Siegeszug die Gemüther in Athem erhielt, die Nachricht von der Heirath des Prinzen Otto mit der schönen Lotte von Werthern machte dennoch Sensation. Die guten Leute hatten Lotte noch ganz selbstverständlich als Fritz Roden’s Braut im Sinn – von der Entlobung war ja kein Wörtlein über die Schwelle des Hauses gekommen, und nun verbreitete sich plötzlich das Gerücht von der romanhaften Verbindung. Wie wenn ein Stein ins Wasser geworfen wird und immer weitere Kreise sich auf der stillen Oberfläche dahin ziehen, so ging es von Lippe zu Lippe, von Ohr zu Ohr, leise und zweifelnd – ja, wer weiß, ob es wahr ist? Als aber eines Tages der prinzliche Landauer durch die Straßen brauste und in die schimmernden grauseidenen Polster die schlanke, in elegante Trauer gekleidete Gestalt der jungen Frau sich schmiegte und ihr schönes stolzes Gesicht, vom schwarzen Spitzenhütchen umrahmt, gleichgültig über die gaffenden, die Fenster aufreißenden Leute hinweg sah, da wußte man es endlich, daß die Brautschaft mit dem Roden vorüber und der Prinz, der lustige Prinz Otto, sie heimgeholt habe in sein Schloß.

Frau Roden’s Besuchzimmer wurde gar nicht leer von all den Menschen; aber die neugierigen Fragen blieben hinter den erstaunten Lippen, wenn sie mich erblickten und die liebe alte Frau mich so freundlich als ihren Trost in der Einsamkeit, als ihre Hausgenossin vorstellte. So klug wie sie gekommen, gingen sie wieder und hatten nur gerade erfahren, daß Herr Roden, nach welchem sie sich so angelegentlich erkundigten, Gottlob wohlbehalten in Frankreich marschire, und daß er fleißig schreibe.

Unsere Wohnung stand verschlossen, die Möbel verhangen; nur einige der lieben alten Sachen hatte ich mir herüber tragen lassen in die Zimmer, die mir Frau Roden eingeräumt; dieselben, in denen wir zuerst wohnten. Wohn- und Schlafstube war daraus geworden; am Fenster stand mein Nähtisch, in der Ecke das Klavier und am Ofen das Körbchen für Schnips. Der kleine vierbeinige Freund hatte zwar ein schöneres drüben bei Lotte, aber zuweilen besuchte er mich doch, als wollte er seiner alten Pflegerin nicht ganz untreu werden, und dann schmeckte ihm die Milch, die ich ihm vorsetzte, immer köstlich.

Lotte hauste still vornehm in ihrem kühlen Schloß und beantwortete die vielen, vielen Briefe und Depeschen, die ihr täglich neue Liebesgrüße von dem Prinzen brachten. Er war im zweiten bayerischen Korps; sein Bruder, der Erbprinz, stand bei den Sachsen und Fritz Roden marschirte mit seinem alten Regimente, den preußischen Garde-Füsilieren.

Und weiter, weiter ging die Zeit; so bang, so schwer für uns Daheimbleibende. Und wenn sich auch emsig die Hände regten zu allem Möglichen, was da hinausgeschickt ward, um das Elend zu lindern – die Gedanken ließen sich nicht abweisen, sie flogen über die Schlachtfelder und suchten die Fährten, wo sie gezogen und gestritten; überall, überall, im heißen Sonnenbrand, auf staubigen Straßen und in regnerischen Bivouaknächten. Ach Gott, behüte und schütze sie. Wohl hundertmal fragte die alte Frau: „Wie mag’s ihm gehen?“

Wie rasch konnte sie durch die Stube eilen dem Briefträger entgegen, um den Feldpostbrief in Empfang zu nehmen. „Warten, warten!“ sagte sie dann athemlos zu dem alten Manne und riß das Schreiben auf, und wenn die Mutteraugen erblickten, was sie ersehnt hatten, daß er gesund und wohlbehalten, so langte sie in die Ledertasche unter der Schürze, und jedesmal kriegte der schmunzelnde Alte einen harten Thaler. Und dann rief sie das ganze Haus zusammen auf dem großen Flure und Alle mußten hören, was er berichtete. Zuweilen versagte ihr die Stimme vor Rührung, dann las ich weiter, und immer stand auch ein Gruß an Fräulein von Werthern dabei.

Und so kamen jene Augusttage! Ahnungslos saßen wir am achtzehnten unter den schattigen Kastanien auf dem Hofe und schnitten Bohnen ein; Frau Roden und ich auf der Bank zwischen den Fenstern, in einiger Entfernung die Mamsell mit den Mägden auf den Stufen der Haustreppe. Vor uns spielten einige Kinder, die dem verheiratheten Oberknecht gehörten, der in einem Seitengebäude wohnte und zu seinem größten Kummer daheim geblieben war, weil er lahmte. Frau Roden amüsirte sich, wie die Kleinen so tapfer Krieg führten; sie gingen wie die Wütheriche auf einander los; das kleine Mädchen aber sang aus Leibeskräften, während es neben der Mamsell auf den Sandsteinstufen saß und ihre Puppe wiegte:

„Eins, zwei, drei,
Mit den Franzosen ist’s vorbei!
Sie wollten avanciren,
Sie müssen retiriren –
Eins, zwei, drei,
Mit den Franzosen ist’s vorbei.“

Gar komisch klang es aus dem Kindermunde, und Frau Roden lachte herzlich. „Das ist alt, das konnte meine Mutter schon singen,“ sagte sie.

Da kam ein Lakai durch das geöffnete Thor auf den Hof, der mich zu Lotte rief. Ich band meine Küchenschürze ab und ging hinüber.

(Fortsetzung folgt.)


[160]

Nervöse Magenleiden.

Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad.


Wer kennt nicht die Fabel von der Empörung der Gliedmaßen des Körpers gegen den Magen, diesen trägen Tyrannen, für den sie alle arbeiten und sich quälen müssen, während er in aller Ruhe gemächlich sich nährt und mästet? Und wie schön vertheidigt Shakespeare durch den Mund des edlen Römers Menenius Agrippa (in „Coriolan“) des Magens Recht und Macht:

Es ist gewiß, Ihr einverleibten Freunde,
Daß ich die Speisen all’ zuerst empfange,
Die Euch ernähren, und mit allem Recht,
Da ich das Vorrathshaus und das Gewölbe
Des ganzen Körpers bin. Bedenkt es wohl:
Durch Eures Blutes Strome send’ ich sie
Bis an des Herzens Hof, des Hirns Senat
Durch alle Ständ’ und Aemter
Im Gliederstaat des Menschen. Ich vertheile
Der kleinsten Ader, wie dem stärksten Nerv,
Was die Natur zu ihrem Leben heischt.

Es kann mit wenigen Worten nicht besser die hochwichtige Rolle des Magens für den gesammten Haushalt des Körpers gezeichnet werden, als dies der Freund Coriolan’s that. Ja wohl, es klingt Manchem vielleicht beschämend: der Magen ist für den Menschen ebenso wie für jeden thierischen Leib das nothwendigste Organ zur Erhaltung des Lebens. Den Verdauungsorganen und dem Magen in erster Reihe fällt die Aufgabe zu, die Stoffe, aus denen sich der Leib aufbaut und erhält, aus der pflanzlichen und thierischen Nahrung auszuziehen und sie frei von jeder unnützen Beigabe darzustellen. Ein gar merkwürdiges chemisches Laboratorium ist dazu im Magen eingerichtet, um aus dem verschlungenen Bissen jenen Speisebrei zu bereiten, welcher dem Blute die erhaltenden Stoffe zu bieten vermag. Kräftig arbeitet die Muskulatur des Magens durch abwechselnde Zusammenziehung der Längsfasern und Kreisfasern, um mittelst dieser wurmförmigen Bewegung jedes Theilchen der zerkleinerten Nahrungsstoffe mit der Magenschleimhaut in Berührung zu bringen. Die zahlreichen Drüsen dieser Schleimhaut sind dabei in voller Thätigkeit und mengen ihre Absonderungen, den Magensaft, dem Breie bei. In diesem klaren, farblosen Safte von saurem Geschmacke und eigenthümlichem Geruche sind besonders das Pepsin und die freie Salzsäure wirksame Bestandtheile, denen die bedeutungsvolle Eigenschaft zukommt, die Eiweißkörper und das Leim gebende Gewebe der Nahrung in eine lösliche Substanz zu verwandeln, die man Peptone nennt. Während der Magen seine Bearbeitung der Nahrungsbestandtheile vollzieht, bleiben die Oeffnungen desselben nach oben und unten verschlossen und nur pausenweise wird unter stärkeren Zusammenziehungen des Magens der Speisebrei in den Dünndarm entleert.

Es ist leicht begreiflich und seit alten Zeiten wohl erkannt, daß Veränderungen in der anatomischen Beschaffenheit des Magens, also Erkrankungen der Muskelhaut, wie der Schleimhaut und der in dieser eingebetteten Drüsen, die Verdauung beeinträchtigen und eine Fülle von Störungen hervorrufen, welche auf den ganzen Organismus den schädigendsten Einfluß üben. Schwäche der Muskelschicht hemmt die nöthigen Bewegungen des Magens, wie sich dies bei Magenerweiterung zeigt; eine zu große Menge von Magenschleim, wie sie sich bei Magenkatarrh findet, hüllt die Nahrungsstoffe in eine dicke Lage, durch welche es dem Magensafte schwerer wird, durchzudringen; ein an der Wand sitzendes Magengeschwür bringt weitgehende Zerstörungen zu Stande, und Neubildungen wie Magenkrebs verschließen den Ausgang des Magens und zersetzen den Mageninhalt. Dies Alles ist bereits seit Langem in der Medicin genügend gewürdigt; aber erst in der jüngsten Zeit ist es erwiesen worden, daß eine große Reihe von Verdauungsstörungen ihren Ursprung nicht in krankhaften Veränderungen in dem Gewebe des Magens und Darmes hat, sondern nur durch Störungen im Nervensystem verursacht ist. Es giebt also verschiedene nervöse Magenleiden, welche ähnliche krankhafte Erscheinungen mit sich bringen wie die Gewebsveränderungen des Magens.

Es sind zumeist Störungen im gesammten Nervenapparate, welche zu Ernährungsstörung der Magennerven, zu erhöhter Reizbarkeit der den Magen beherrschenden Nervenbahnen führen. Die nervösen Magenleiden sind eine Theilerscheinung der allgemeinen Nervenschwäche, welche durch mannigfache Veränderung der normalen Zusammensetzung des Blutes, z. B. bei Blutarmuth, Bleichsucht, fieberhaften Krankheiten, oder durch Ueberanstrengung des Nervensystems in Folge unzweckmäßiger Lebensweise herbeigeführt wird. Die nervösen Magenleiden sind darum vorwiegend eine Krankheit der vornehmlich mit geistiger Arbeit beschäftigten Stände. Der Landmann, welcher seine Zeit zumeist im Freien verbringt, und dessen Arbeit zwar die physischen Kräfte, nicht aber die Nerven sehr in Anspruch nimmt; der Tagelöhner, welcher im harten Erwerbe des täglichen Brotes wenig Muße zur Reflexion und keine Zeit zum Grübeln über seine Empfindungen hat, kennt wie vieles andere „Nervöse“ auch nicht die nervösen Magenleiden.

Diese kommen besonders bei Personen vor, bei denen die Anlage zu Nervenleiden überhaupt ererbt ist oder bei denen die Nervenschwäche durch ihren Beruf erworben wurde, bei jungen Leuten beiderlei Geschlechtes in den Entwickelungsjahren, bei zarten blutarmen Frauen, bei Männern, die sich unausgesetzt geistigen Anstrengungen unterziehen und eine vorwiegend sitzende Lebensweise führen. Es scheint, daß auch unmäßiges Tabakrauchen die Entwickelung nervöser Magenleiden begünstigt.

Die normalen Funktionen der Nerven des Magens zielen auf Bewegung dieses Organs, Absonderung der Drüsen und Empfindung hin. Nach diesen drei Richtungen hin wirkt auch die Nervenstörung schädigend. Die Forscher haben gefunden, daß Reizung der herumschweifenden Nerven (N. vagi), welche den Magen versorgen, mächtige Zusammenziehungen des unteren Magentheiles, des Pförtners, hervorrufen, Durchschneidung dieser Nerven dagegen Lähmung der Muskelbewegungen des Magens zur Folge hat. Es wurde weiter erwiesen, daß nach Durchtrennung der herumschweifenden Nerven am Halse die Magenabsonderung, namentlich die Pepsinbildung wesentlich beeinträchtigt wird und hierdurch Verlangsamung der Verdauung eintritt.

Was hier das Thierexperiment darthut, das kann täglich durch Beobachtung am Menschen erhärtet werden. Wer hat nicht schon an sich selbst oder an Anderen die Erfahrung gemacht, daß Schreck Magenschmerz verursacht, daß Kummer und Sorge den Appetit nehmen, daß Ekel die Verdauung stört, daß Furcht heftige Magen- und Darmbewegungen (Erbrechen und Durchfall) hervorruft. Wer „sein Brot mit Thränen ißt“, der verdaut es auch schlecht. Wie fördernd wirken hingegen angenehme Nervenerregungen auf die Verdauung! Das wußten die mit allen Genüssen des Lebens innig vertrauten, üppigen Römer ganz genau, indem sie bei der Tafel nicht bloß dem Gaumen, sondern auch allen anderen Sinnen schmeichelten und sich während des Essens an Gesang und Tanz ergötzten. Blumen und Musik, Wein und frohe Gesellschaft erhöhen nicht nur die Freuden des Mahles, sondern erleichtern auch die Verdauung der bunten Reihe von Tafelgerichten. Die freudige Erregung bei Tische wirkt gleich dem elektrischen Reize auf die Vagusnerven, welcher dem Magen mehr Blut zuführt, die Absonderung des Magensaftes vermehrt und die Magenbewegungen steigert.

Die nervösen Magenleiden, welche die Bewegungen des Magens beeinträchtigen, können entweder eine Verminderung dieser Muskelthätigkeit veranlassen und hierdurch die normale Verdauung der Nahrungsbestandtheile verlangsamen und behindern, oder im Gegentheile zu krampfhafter Steigerung der Magenbewegungen führen. Das Letztere giebt zuweilen den Anlaß zu dem eigenthümlichen Schauspiele, daß man bei hochgradig nervösen Individuen ein unaufhörliches, bald schwächeres, bald stärkeres Wogen und Zusammenziehen des Magens und der Gedärme sieht. In anderen Fällen findet durch nervöse Erregung ein so mächtiges Bewegen der Magenmuskulatur statt, daß Aufstoßen von Luft mit weithin hörbarem Geräusche zu Stande kommt. Es giebt nervöse Personen, besonders Damen, die von solchen heftigen Gaseruptionen aus dem Magen derart gequält werden, daß sie nicht nur auf jede Gesellschaft verzichten müssen, sondern durch jene Anfälle auch zu

[161]

Auf der Wanderschaft.
Nach dem Oelgemälde von E. Daelen.

[162] schlafen gehindert sind. Dem peinlichen Zustande des nervösen Erbrechens liegt gleichfalls zuweilen eine abnorme Veränderung der Magenbewegungen zu Grunde, durch welche eben die Beförderung des Mageninhaltes in einer der gewöhnlichen entgegengesetzten Richtung, nämlich nach oben stattfindet. Durch solche erhöhte Reizbarkeit der Bewegungsnerven kommt auch das nervöse „Wiederkauen“ zu Stande, indem gewisse derart Leidende kurze Zeit (zuweilen aber auch längere Zeit, durch drei bis vier Stunden) nach der Einnahme von Nahrung das Verschluckte partienweise wieder in die Mundhöhle hinaufbringen, und zwar ohne daß sie dabei Unbehagen oder Uebelkeit fühlen. Dieser sonderbare Vorgang des Wiederkauens, welcher übrigens manchmal seinen Grund in der üblen Gewohnheit hat, Gase aus dem Magen mit Gewalt empor zu treiben, und deßhalb auch durch energische Willenskraft unterdrückt werden kann, ist schon von den alten Aerzten beobachtet und in wenig schmeichelhafter Weise für die damit Behafteten als eine Thierähnlichkeit gedeutet worden.

Unter dem Einflusse des Nervensystems kommen ferner Magenleiden zur Entwickelung, welche in mangelhafter Absonderung oder krankhafter Veränderung des Magensaftes ihren Grund haben. Die Redensart, daß Einem beim Anblicke oder bei der Vorstellung besonders lockender kulinarischer Delikatessen „das Wasser im Munde zusammenläuft“, hat ihre physiologische Begründung in der Thatsache, daß durch solche Nerveneinflüsse eine vermehrte Speichelabsonderung im Munde stattfindet. Heftige plötzliche Erregung wiederum, wie Schreck und Furcht, kann die normale Speichelabsonderung unterbrechen. Dieser Erfahrungssatz soll in Indien praktisch zur Entdeckung eines Diebes verwerthet werden, den man unter den Dienern des Hauses vermuthet. Man zwingt alle der That Verdächtigen, eine kleine Menge Reis durch einige Minuten im Munde zu halten. Derjenige, dessen Reis am trockensten bleibt, weil seine Speichelabsonderung in Folge der schuldbewußten Angst unterbrochen ist, wird als Dieb erkannt.

Aehnlich wie mit der Speichelbildung verhält es sich auch mit der Absonderung des Magensaftes, welcher durch Nerveneinflüsse sowohl nach Menge als nach Beschaffenheit wesentlich verändert werden kann. In einer Reihe von Fällen findet eine Vermehrung von Salzsäure des Magensaftes statt, wodurch eine häufig zur Beobachtung kommende nervöse Verdauungsstörung ihren ausgeprägten Charakter erhält. Bei Personen, welche geistig überangestrengt oder heftigen Erregungen ausgesetzt sind, treten von Zeit zu Zeit Anfälle von Säuregefühl im Magen auf, als ob dieser von einer Säure angeätzt würde, dann das Gefühl von Uebelkeit, das sich zum Erbrechen steigert. Diese Anfälle können bei nüchternem wie bei vollem Magen auftreten und wiederholen sich wöchentlich oder in Pausen von mehreren Wochen und Monaten mehrere Male. Manche Speise, die zu ihrer Umwandlung im Magen längerer Zeit bedarf, ruft die Anfälle hervor. Mit den Magenbeschwerden ist zumeist quälender Kopfschmerz, sowie Herzklopfen verbunden. Letzteres hat seinen Grund in dem Drucke des im Magen aufgesammelten Gases auf die dünne Scheidewand zwischen Magen und Herz, das Zwerchfell. Da der Sturm dieser Beschwerden sich bald nach Veränderung der Lebensweise durch eine Vergnügungsreise oder Aufenthalt auf dem Lande legt, so läßt sich schon daraus das Wesen dieses nervösen Magenleidens im Gegensatze zu einer organischen Erkrankung des Magens, wie Magenkatarrh oder Magengeschwür, nicht verkennen. Im Anfalle selbst leistet das Trinken eines Glases lauwarmen Wassers oder einer Tasse warmen Thees gute Dienste durch Verdünnung der Magensäure.

Schließlich erfahren die Empfindungen des Magens durch Nervenstörungen nicht selten mannigfache Veränderungen. Der gesunde Magen hat nur zwei ihn beherrschende Empfindungen, das unangenehme Gefühl des Hungers, wenn durch längere Zeit keine Nahrung eingenommen wurde, und das befriedigende Sättigungsgefühl, wenn dem Magen genügendes Material zur Verdauungsarbeit zugeführt worden. Durch Einfluß eines kranken Nervensystems kann das Hungergefühl sich zu Heißhunger steigern, welcher die Grenzen der Norm schrankenlos überschreitet. Es treten zumeist zu bestimmten Zeiten, manchmal in der Nacht, Anfälle auf, durch welche die Kranken unter dem Gefühle von Angst und hoher Erregung unwiderstehlich dazu getrieben werden, kolossale Mengen von Nahrungsmitteln zu sich zu nehmen, bis sie den Magen so angefüllt haben, daß er befriedigt erscheint. Ich kenne eine Dame, welche gewöhnlich nur sehr mäßig ißt und sich dabei wohl befindet, die aber in vierwöchentlichen Pausen mehrere Nächte hindurch die heftigsten Anfälle von Heißhunger bekommt. Die Angst, daß solche Anfälle sie unvorbereitet finden, ist bei dieser Dame so groß, daß sie allnächtlich auf ihrem Nachtkasten eine kleine Vorrathskammer von Semmeln, Wurst und Obst aufgespeichert hält. Weit häufiger ist der Fall, daß nervösen Personen das Hungergefühl mangelt, daß sie durchaus keinen Appetit empfinden und das Einhalten der Mahlzeiten nur als eine unangenehme Pflichterfüllung betrachten. Zuweilen ist speciell Widerwille gegen gewisse Speisen vorhanden. Bekanntlich kehrt sich oft genug diese Abneigung der Nervösen gegen den Genuß des ihnen gerade am meisten zuträglichen Fleisches. Es kommt in einzelnen Fällen auch zu widernatürlichen Hungergelüsten, zu Appetit auf Kalk, Kreide, saure Speisen, ja sogar auf recht ekelhafte, dem gesunden Menschen im höchsten Grade widerliche Dinge. (Vergl. die Artikel „Allotriophagie“ in Nr. 6. und 7 dieses Jahrgangs.)

Eine krankhafte Empfindlichkeit der Magennerven giebt sich ferner durch mannigfache Schmerzempfindungen in der Magengegend kund. Nicht nur durch Erkrankungen in dem Gewebe des Magens, sondern auch durch Störungen im nervösen Empfindungsapparate treten solche unangenehme schmerzhafte Gefühle auf. Man muß daher bei heftigen Magenschmerzen nicht gleich an Magengeschwüre oder Magenkrebs denken, wie dies den Laien so häufig in Angst versetzt, sondern einfach an ein weit öfter vorkommendes nervöses Magenleiden. Solche Kranke klagen über das Gefühl von Brennen im Magen, über Schmerz in der Magengrube, ein belästigendes Druckgefühl, das sofort oder erst einige Zeit nach dem Essen auftritt, über stechende und bohrende Empfindungen, welche anfallsweise mit heftigen Bewegungen des Magens einhergehen (Magenkrämpfe).

Solche Ueberempfindlichkeit des Magens ist oft eine Theilerscheinung der Ueberreizung des gesammten Nervensystems und deutet auf Veränderungen im Gehirne und Rückenmark. Zuweilen wird sie aber auch plötzlich durch heftige Affekte herbeigeführt, und so datiren manche nervöse Magenleiden von überstandenem Schreck oder Aerger her. Nicht selten rührt aber die krankhafte Empfindlichkeit des Magens von der Erkrankung eines anderen Organes her. Personen, welche mit ähnlichen Leiden behaftet sind, werden zuweilen jahrelang für magenkrank gehalten und als solche behandelt, bis der Sitz des Uebels, das so stürmische Erscheinungen von Seite des Magens hervorrief, in einem anderen Körpertheile gefunden wird. Lebhaft erinnere ich mich einer Dame der höchsten Gesellschaftskreise, welche durch mehrere Jahre an den heftigsten Magenschmerzen, Appetitlosigkeit, stetem Erbrechen nach der Mahlzeit litt und in Folge dieser Beschwerden zum Skelette abgemagert war. Heilmittel und Mineralwässer, welche sich sonst bei Magenleiden trefflich bewähren, blieben zur Verzweiflung der Patientin und ihrer Umgebung ganz erfolglos. Bei einer genauen Untersuchung der Kranken konnte ich die Ursache des Magenleidens in der Erkrankung eines andern Organs konstatiren, und nach einer kleinen Operation waren die quälenden Beschwerden wie mit einem Zauberschlage vollkommen verschwunden, lebhafter Appetit stellte sich ein, die Speisen wurden normal verdaut, und das Gesammtbefinden der Dame besserte sich so, daß sie nach Jahresfrist ein blühendes Aussehen hatte.

Dieses Beispiel zeigt deutlich, daß sich über die Behandlung der nervösen Magenleiden nichts Allgemeines sagen läßt. Es ist vielmehr Aufgabe des Arztes, die Ursachen genau zu erforschen, durch welche eine Störung in dem Nervenapparate des Magens eingetreten ist. Da jedoch die nervösen Magenleiden in der großen Mehrzahl ein Symptom der modernen, in unserer Zeit so weit verbreiteten und mit einem ganzen Heere von nervösen Erscheinungen verbundenen allgemeinen Nervenschwäche sind, so erwächst daraus als unerläßliche Pflicht nicht nur für den Arzt, sondern auch für jeden Gebildeten der seinen Körperfunktionen die nöthige Aufmerksamkeit schenkt, der Widerstandslosigkeit und Hinfälligkeit der Nerven entgegen zu arbeiten. Alles, was die Nerven übermüdet und überregt, soll vermieden werden. Maßhalten in der Arbeit wie im Genuß schont die Nervenkraft, Selbstbeherrschung in erregenden Momenten behütet die Nerven vor Ueberempfindlichkeit, zweckmäßiger Wechsel von geistiger Thätigkeit [163] und Erholung verhindert vorzeitige Abnützung der Nerven. Aus diesen hochwichtigen Sätzen ziehe jeder die Moral für seine Lebensweise!

Gegen die nervösen Magenleiden ist darum das wichtigste Mittel Nervenstärkung im Allgemeinen. Die Magennerven selbst bedürfen dabei insofern der Schonung, als man ihnen ihre Arbeit zu erleichtern suchen soll. Es ist zweckmäßig, die Nahrungszufuhr auf mehrere Mahlzeiten des Tages zu vertheilen und dabei die schwer verdaulichen Speisen zu meiden, aber doch eine gewisse anregende Abwechselung beizubehalten. Zuweilen sind gerade bei nervösen Magenleiden leichte Reizmittel zum Genusse empfehlenswerth. Wenn zu wenig Magensaft abgesondert wird und dieser Mangel den Verdauungsstörungen zu Grunde liegt, thut ein Zusatz von Gewürzen zu den Speisen gute Dienste, oder muß der Verdauung künstlich durch Darreichung von Salzsäure und Pepsin nachgeholfen werden. Wer sein nervöses Magenleiden zu Hause in der gewöhnlichen Beschäftigung nicht los werden kann, der schnüre sein Ränzchen und gehe auf einige Wochen hinaus in Gottes freie Natur, in die Wälder, auf die Berge, an das Meeresgestade. Die neuen angenehmen Eindrücke auf Phantasie und Gemüth, die bluterfrischende Macht der gesunden Luft, die körperstärkende Bewegung aller Muskeln werden ihren mächtigen Einfluß auf Belebung der Nerven nur selten versagen und auch die widerspänstigen Magennerven siegreich bekämpfen.


Blätter und Blüthen.

Dank und neue Bitte. I. Fahrstühle betreffend. Von den Wohlthaten, welche die milde Hand unserer opferfreudigen Leser so gern armen Bittenden angedeihen läßt, sind im vorigen Jahre am reichlichsten diejenigen eingegangen, welche ihren Empfängern in der That am wohlsten thun. Wir konnten fünfundzwanzig jener Unglücklichen, denen schwere Krankheit den Gebrauch ihrer Glieder unmöglich gemacht hat, die Freude bereiten, aus den vier Wänden ihrer Schmerzensstätten hinaus in Gottes freie Luft befördert zu werden. Wir bedauern, daß wir nicht die sämmtlichen Dankbriefe als Lohn für die edlen Geber hier abdrucken lassen können; möge das Nachstehende ihnen genügen!

Einem körperlich von Geburt an elenden, aber geistig begabten Mädchen von nun 14 Jahren, das, mitten im schönen Gebirge im Vogtland wohnend, in seinem ganzen Leben noch keinen Baum der herrlichen Wälder gesehen, ist endlich diese Freude bereitet, und zwar durch Uebersendung eines Fahrstuhls vom Thüringerwald her, vom Stahlhüttenwerk „Grenzhammer“ bei Ilmenau.

Ein anderer Fahrstuhl stillte die Klage der armen Frau und Mutter in Guben, welche, 40 Jahre alt, seit 15 Jahren an Füßen und Händen durch die Gicht verkrüppelt, „wenn Andere sich in Gottes freier Natur ergötzten, die vier Wände ansehen mußte“; Alt und Jung weinten vor Freude, es war ein Weihnachtsjubel, als der Stuhl ankam. Wie der dritte Fahrstuhl an die von Kindesbeinen an lahme, nun über 30 Jahre alte Anna Lemmer in Kriegshaber bei Augsburg gelangte, das ist eine der liebenswürdigsten Geschichten der Wohlthätigkeit, von welcher wir leider weiter nichts verrathen dürfen, als daß ein gutes, freudiges Mädchen am Rhein einem unglücklichen am Lech eine Freude „wie vom Himmel gekommen“ bereitete.

Eine Leidensschwester der Vorigen in Großbothen, vom elften Jahre an am Unterkörper gelähmt, hat jahrelang in einem Kinderkorbe zubringen müssen, in demselben ist sie konfirmirt und – nun 31 Jahre alt geworden. Trotz der gichtverkrüppelten Hände sucht sie durch Nähen sich nützlich zu machen und verdient wirklich täglich – fünf Pfennige! Für dieses arme Wesen mußte ein eigener Fahrstuhl besorgt und eingerichtet werden. Dies geschah in Berlin, und ein edler Wohlthäter übernahm allein die Kosten desselben (125 Mark).

Eine große Freude erlebten wir in der Redaktion der „Gartenlaube“ selbst. Ein vormaliger Soldat des 107. Infanterie–Regiments in Leipzig, welcher an Verkrümmung der Halswirbel mit Verdrehung des Kopfes seit- und abwärts leidet und höchstens 10 Minuten am Stock zu laufen vermag, hatte trotz alledem sein ärztliches Zeugniß selbst in die Redaktion gebracht. Da das Glück es fügte, daß Tags zuvor ein ganz neuer Fahrstuhl von einem Wohlthäter aus Wiesbaden angekommen war, so ließen wir den Kranken sofort in denselben setzen, und so konnte der Ueberglückliche, der so mühselig hergehinkt war, nun stolz im eigenen Fahrstuhl heimkehren. – Allen Gebern mit dem Dank der Beglückten auch unsern Dank, insbesondere auch denen, welche uns durch Geldspenden unterstützten. Wir erhielten 5 Mark von einer Lehrers-Gattin, 9 Mk. von P. P., 100 Mk. von D. A. „in dankbarer Anerkennung dafür,“ schreibt der Geber, „daß es mir vergönnt ist, hier (in Meran) mir Gesundheit zu holen“; 100 Mk. von F. P. in O., mit dem Wunsche, der Empfänger möge Gott bitten, daß seine beiden kranken Mädchen bald wieder völlig genesen möchten. Dieses Gebet ist gewiß aus einem dankerfüllten Herzen gekommen. –

Und nun unsre Bitte an die Leser und Freunde der „Gartenlaube“, in dieser Wohlthätigkeit freudig fortzufahren! Noch immer liegen unerfüllte Wünsche, ungestillte Klagen vor uns. Eben deßhalb sind uns auch Anerbietungen von gebrauchten, aber noch guten Fahrstühlen gegen billige Entschädigung willkommen. – Die Bittenden aber ersuchen wir, ihren Schreiben stets obrigkeitliche Zeugnisse beizulegen, weil wir ohne dieselben keinerlei Wünsche um irgendwelche Hilfe berücksichtigen können.Die Redaktion.     

Ein Heim für deutsche Erzieherinnen in Paris. In zahlreichen Artikeln hat die „Gartenlaube“ auf das harte Los hingewiesen, welches deutsche Erzieherinnen so oft im Auslande trifft, und wiederholt ist in denselben dringend und warm die Nothwendigkeit betont, von der deutschen Heimath aus für jene von Noth und Sorge und von Gefahren aller Art oft bitter bedrängten Frauen in den fremdländischen Weltstädten einzutreten. Arm an Erfolgen, überreich an Enttäuschungen ist namentlich auch das Leben deutscher Erzieherinnen in der französischen Metropole, und gerade dort fehlte es bisher an einem geeigneten Heim, zu welchem die meist ebenso rathlosen als von allen Mitteln entblößten, nicht selten auch noch erkrankten Lehrerinnen ihre Zuflucht hätten nehmen können. Gegenwärtig wird indeß auch dort Abhilfe angestrebt, und da keine Geringere als die deutsche Kronprinzessin an der Spitze des „Vereins zur Gründung eines Heims für deutsche Erzieherinnen in Paris“ getreten ist, so dürfte wohl auch eine rasche und glückliche Erreichung des angestrebten Zieles zu erwarten sein. Namentlich das erhebende Beispiel eines ungenannten Wohlthäters aus dem Königreiche Sachsen, welcher unter der Bedingung baldiger Errichtung des Heims die Summe von 34 000 Mark für dasselbe zur Verfügung gestellt hat, möge zur Anspornung dienen, den Ruf deutschen Gemeinsinns auch in diesem Falle zu bewahrheiten. Jeder nach seinen Mitteln: bescheiden der eine, reicher der andere – einig aber beide im Hochsinn, das ist das Rechte!

Schatzmeister des Vereins ist der Geh. Kommerzienrath von Hansemann, Berlin W., Behrenstraße 43.* *     

Zwei Schachmeister. Das königliche Spiel hat in neuester Zeit eine internationale Bedeutung gewonnen: vorüber ist die Idylle des Schachs, die wir noch auf manchen treuherzigen Gemälden abgebildet sehen; zwei Schachspieler sitzen in der Rebenlaube, im Boudoir, im Arbeitszimmer und messen ihre Kräfte; rings tiefe Stille und Einsamkeit. Das ist jetzt anders geworden; es kamen die Turniere in London und anderen Weltstädten. Da fand das Schachspiel statt in voller Oeffentlichkeit; um die Bretter der Meister drängte sich ein großes Schachpublikum; jeder Zug, jede Partie wanderte in die Zeitungen. Und so bildeten sich auch in Deutschland anfangs provinzielle Vereinigungen, später der große deutsche Schachbund, der 85 Schachklubs vereinigt und Meisterturniere veranstaltet, bei denen die anerkannten Matadore mit einander kämpfen und jüngere Kräfte unter gewissen Bedingungen die Meisterschaft erringen können. Ebenso häufig waren die sogenannten „Match“, die Wettkämpfe zwischen zwei Größen des Schachs: einer der berühmtesten war der in Paris zwischen unserem unvergeßlichen deutschen Schachmeister Andersen und dem genialen Nordamerikaner Morphy, zwei Kämpfern, die einander gleich standen in ursprünglicher Begabung, in glänzender und überraschender Spielweise mit den weitreichendsten Kombinationen, wenn auch das Schlachtenglück den Amerikaner begünstigte.

Ein solcher Match zieht gegenwärtig die Blicke von Europa und Amerika auf sich und mag zugleich als glänzendster Beweis dafür dienen, wie im Zeitalter der Eisenbahnen und Telegraphen das Schach selbst in den großen Weltverkehr mit hereingezogen worden ist und die Schachmeister eine Rolle spielen wie die internationalen Berühmtheiten der Kunst. Dieser Match findet in Nordamerika statt, obschon die beiden Kämpfer, Zuckertort und Steinitz, keine Amerikaner sind. Der erstere ist in den Ostseeprovinzen geboren, lebte lange in Posen und Breslau und kann als ein Jünger Andersen’s betrachtet werden; seit Jahren hatte er London zum Aufenthalt gewählt als Schachlehrer, Schachredakteur und Korrespondent; im Blindlingsspiel hat er seine Meisterschaft in ganz Deutschland bewährt, bei mehreren großen Turnieren Preise gewonnen. Sein Gegner Steinitz ist ein Oesterreicher, aus Mähren gebürtig, in jüngster Zeit in Amerika lebend, wo er eine Schachzeitschrift herausgiebt.

Die Bedingungen des Match sind: 2000 Dollars Einsatz; Sieger ist, wer zuerst zehn Partien gewonnen hat; hat jeder der Spieler neun Partien gewonnen, so soll der Match für unentschieden gelten, damit nicht der Gewinn einer einzigen Partie den Ausschlag giebt. Der Beginn des Match fand in New-York statt. Nach vier Partien begeben sich beide Spieler nach St. Louis, und dort an den Ufern des Mississippi sitzen sie sich jetzt gegenüber. Dann ist in den Bedingungen festgesetzt, daß, wenn auch hier der eine der Gegner drei Partien gewonnen hat, der Abschluß des Match in New-Orleans stattfindet. In der Stadt des gelben Fiebers soll der eine der Kämpfer den Todesstoß erhalten.

Ein solcher Wandermatch ist in der Geschichte des Schachspieles etwas Neues; vielleicht bemächtigt sich später einmal ein Barnum eines solchen Schachwunders und führt es durch alle Erdtheile spazieren; denn auch unter den Lotosblumen an der ewigen Ganga giebt es Meister des Schach. Zunächst sind auf den Ausgang des Match kolossale Summen verwettet: englische Lords und amerikanische Dollar-Millionärs sind die Wettenden – „hier Steinitz, hier Zuckertort!“ ist die Losung diesseit und jenseit des Oceans. Bisher ist der Letztere ein wenig im Vortheil, er hat in New-York vier Partien hinter einander gewonnen; doch das Schlachtenglück ist wechselnd und ihm in St. Louis nicht in gleicher Weise treu geblieben. Was die Persönlichkeit der beiden Schachgrößen betrifft, so haben sie kaum das preußische Rekrutenmaß. Steinitz ist breit und massiv, Zuckertort fein, mager, geistig beweglich. Der Ausgang des Match ist zweifelhaft: zwischen Spielern von gleicher oder nahezu gleicher Stärke entscheidet oft der Zufall, der von der Schachtheorie verbannt ist, aber in der Praxis des edeln Spiels oft seine koboldartige Rolle mit unerwarteter Wirkung durchführt.

[164] Die Liebe höret nimmer auf. (Mit Illustration S. 152 und 153.) W. Kray ist Meister in Stimmungsbildern, in denen Wogen und Wolken den effektvollen Rahmen zu irgend einer originellen Herzens- oder Leidensgeschichte bilden. Das Absonderliche der Situation, in welche er die Gestalten seiner Phantasie versetzt, sichert den Erfolg seiner Bilder in weitesten Kreisen. Auch das von uns in dieser Nummer reproducirte Gemälde trägt diesen allgemeinen Charakterzug der Kray’schen Schöpfungen. Die Fabel von der Liebe, die nimmer aufhört, ist alt, wie das menschliche Herz, das Gewand aber, in welches sie hier eingehüllt wurde, keineswegs gewöhnlich. Der Phantasie des Betrachters ist der weiteste Spielraum gelassen; man könnte zu diesem Bilde lange Geschichten als Erläuterung schreiben, aber wir meinen, den Inhalt der Stimmungsbilder soll man nachfühlen und nicht ausdenken – wenn man ihre Wirkung voll und rein erhalten will. *      

Auf der Wanderschaft. (Mit Illustration S. 161.) Die Scene, welche dieses mitten aus dem Leben herausgegriffene Bild wiedergiebt, läßt sich mit wenigen Worten erläutern. Ein hungriger, aller Baarmittel entblößter Handwerksbursch zieht auf der Straße an Fleisch- und Bäckerläden vorüber und kämpft mit der Versuchung, sich durch die landesübliche Kunst des „Fechtens“ in den Besitz von Nahrungsmitteln zu setzen. Tausend andere thun es in diesem Falle ohne Zaudern; der Wanderbursch auf unserem Bilde ist aber nicht von dem gewöhnlichen Schlag, er setzt, ohne zu betteln, seinen Weg fort, bis er Arbeit und Lohn findet. Erfreulich ist das Ende der hier angedeuteten Geschichte, das man aus dem Bilde selbst allerdings schwerlich errathen könnte, welches aber durchaus der Wahrheit entspricht.

Der Wanderbursche hat sein Ziel glücklich erreicht, Arbeit gefunden, und Dank seinem Fleiß ist er mit den Jahren ein angesehener und reicher Mann geworden, so daß er kürzlich dem trefflichen Künstler E. Daelen in Düsseldorf den Auftrag geben konnte, das Bild zu malen, welches jenes Erlebniß seiner Jugendzeit mit charakteristischer Treue wiedergiebt. *      

C. Michael †. Nur in engeren Kreisen ist es bisher bekannt geworden, daß der Name „C. Michael“ ein Pseudonym war; heute braucht er ein Geheimniß um so weniger zu umschließen, als Marie Wolf, die begabte Schriftstellerin, welche ihn annahm und zu Ehren zu bringen wußte, seit dem 4. Februar nicht mehr unter den Lebenden weilt.

Der Lebenslauf der Verblichenen bietet nichts Besonderes und Außerordentliches. Ihre Jugend war sonnig, die Zeit der zweimaligen Ehe glücklich, nicht zu unfreundlich das spätere Alter. Ihre öffentliche Wirksamkeit begann Marie Wolf erst im reiferen Alter, im Jahre 1879, und seitdem erschienen außer den Plaudereien in der „Gartenlaube“ – meist unter dem Gesammttitel „Vernünftige Gedanken einer Hausmutter“, unter welchem sie später auch zu einem viel begehrten Buche vereinigt wurden (Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig) – fast jedes Jahr zwei oder drei Arbeiten in Buchform, von welchen namentlich die für die reife weibliche Jugend bestimmten Erzählungen „Robertine“ (nach dem Französischen der Frau von Staël),[WS 1] „Rings um die Welt“, „Der Mann mit der Wünschelruthe“ (sämmtlich im Verlag von O. Spamer in Leipzig) mit verdienter Anerkennung zu nennen sind.

Interessant war die Sorge, mit welcher die werdende Schriftstellerin anfänglich bemüht war, ihr Geheimniß vor der nächsten Umgebung zu hüten. Sie selbst hat darüber sowie über die erste Veranlassung zu ihrer litterarischen Thätigkeit in einem Briefe das Folgende erzählt:

„Es war im Jahre 1879. Ich war mit meiner Kasse gar knapp bestellt. Als ich nun in meinem Schreibtisch kramte, fand ich tief unter den vielen Wirthschaftsbüchern und Vormundschaftsrechnungen ein Heft von kleinen Aufsätzen, die ich in früheren Jahren zu meinem Vergnügen niedergeschrieben hatte. Der Gedanke blitzte in mir auf: Ob man nicht etwas davon verwerthen könnte? – Ich packte einige dieser Sachen zusammen, und am Ostermorgen früh fuhr ich damit auf den Bahnhof Riesa und gab das Packet an die Redaktion der ‚Gartenlaube‘ zur Post. Ich hatte den Umweg nicht gescheut, um nur ganz heimlich zu Werke zu gehen, denn auf dem nächstgelegenen Großenhainer Postamt hätte man ja – meine Schrift gekannt.“

Nun, die schüchtern hinausgesandten Erstlinge hatten Erfolg, und die Verfasserin hätte – im Gegensatz zu manchen Andern! – es weder damals noch später nöthig gehabt, sich unter angenommenem Namen zu verstecken. Dietrich Theden.     

Die inhaltsschweren Worte. Im Jahre 1830 trat der erste Landtag des Königreichs Sachsen zusammen, oder wie man ihn damals noch nannte, der „Ständetag“. Man versprach sich außerordentlich viel von dieser Versammlung, und es war daher natürlich, daß sich auch die Mitglieder derselben eine außerordentliche Wichtigkeit beilegten. So kam es, daß die gewählten Mitglieder insgesammt beschlossen, sich ein Jeglicher portraitiren und das Portrait lithographiren zu lassen. Man konnte also durch Ankauf aller in gleichem Formate gehaltener Bildnisse sich für ein billiges Stück Geld eine schöne „Gallerie zukünftiger Berühmtheiten“ anlegen, und jeder Einzelne konnte seine Verwandten und Freunde mit seinem Bildnisse erfreuen. Jeder mußte seiner Unterschrift irgend ein schönes klangvolles Motto, womöglich mit den Worten eines großen Dichters, beifügen, und wer selbst in den Dichtern keinen rechten Bescheid wußte, der zog einen Litteraturkundigen zu Rathe. Das Ständemitglied Neumann, ein tüchtiger Bauer, aber sonst kein Schriftgelehrter, gerieth an einen Spaßvogel, und auf dessen Rath schrieb er unter sein Porträt: „Drei Worte nenn’ ich Euch inhaltsschwer: Johann Gottfried Neumann!K. B.     



Sprechsaal.


Neues für den Haushalt. Vielfach ist von unseren Abonnenten der Wunsch geäußert worden: wir möchten im Sprechsaal unaufgefordert von Zeit zu Zeit über neue praktische Erfindungen, Geräthe etc., die für den Haushalt bestimmt sind, kurz berichten. Wir kommen hiermit auch diesem Wunsche nach und erwähnen zunächst

eine neue Petroleumlampe für den Familien- und Studirtisch,

welche von der bekannten Lampenfabrik Schuster und Bär in Berlin unter der Bezeichnung „Neue Patent-Reichs-Lampe“ auf den Markt gebracht wird. Ihre Leuchtkraft erreicht das Doppelte einer gewöhnlichen Tischlampe mit weitestem Brenner. Daher genügt eine Lampe für den Familientisch, an dem drei bis vier Kinder ihre Schularbeiten zu machen haben und die Mutter ihre Näherei besorgt; ebenso verbreitet sie auf dem größten Studirtische genügende Helle, ohne durch Hitze zu belästigen, da der bereits früher in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1882, Nr. 49) besprochene Doppelcylinder dieselbe abschwächt.

Eine eigenartige Konstruktion verhindert durch Luftzuführung die Erhitzung des Petroleums und schließt dadurch die Explosionsgefahr aus. Der Oelverbrauch ist um ein Geringes größer als bei den gewöhnlichen Lampen, was aber bei denjenigen nicht in die Wagschale fallen wird, die ihre gesunden Augen brauchen und zu erhalten wünschen. Die Reinigung der einfach und dauerhaft konstruirten Lampe ist ebenso wie das Abschneiden des Dochtes und das Eingießen des Petroleums bequem und leicht zu handhaben. Dasselbe System ist auch bei Hängelampen ausgeführt, die in entsprechender Dochtgröße mit einer einzigen Flamme einen ziemlich großen Salon glänzend zu erleuchten vermögen. Die Form ist bei den Tisch- wie bei den Hängelampen geschmackvoll und elegant.


Frage 6: Welches Mittel können Sie mir empfehlen, um bebrütete Eier von leeren zu unterscheiden?

Antwort: Man untersucht in den ersten Bruttagen, gewöhnlich am sechsten oder siebenten Tage, die Eier auf ihre Befruchtung mit Hilfe des Lichts und nennt dieses Verfahren das Spiegeln oder Schieren der Eier. Das bebrütete Ei erscheint gegen helles Licht gehalten dunkel, das unbefruchtete ist durchscheinend, wie ein frisch gelegtes. Sehr zu empfehlen sind für diesen Zweck die „Eierprüfer“ oder Eierspiegel, die man schon zu dem billigen Preise von 75 Pfennig erwerben kann. Neue Erfahrungen haben erwiesen, daß es wünschenswerth ist, die Eier bei der Untersuchung in der natürlichen Lage zu belassen, da ein Aufrichten derselben den Embryo zerstören kann. Nach dieser Regel werden die Eier in der Hühnerzuchtanstalt St. Ilgen bei Heidelberg mit besonders konstruirten Eierspiegeln untersucht. Die St. Ilgener Spiegel kosten allerdings 12 Mark das Stück. Im Uebrigen verweisen wir Sie auf das treffliche neu erschienene Werk „Die Geflügelzucht nach ihrem jetzigen rationellen Standpunkt“ von Bruno Dürigen (Berlin, Paul Parey, 1886). *      



Allerlei Kurzweil.


Auflösung der geometrischen Komponir-Aufgabe in Nr. 7:


Auflösung des magischen Tableaus „Cotillonorden“ in Nr. 7: Die Anzahl der in den Zacken des Ordens befindlichen weißen Querstriche zeigt die Ordnung an, in welcher die Buchstaben an den Zacken zusammenzusetzen sind. In gleicher Weise giebt die Zahl der weißen Blätter der im Mittelfelde befindlichen Blume die Reihenfolge der bei denselben stehenden Buchstaben an. Die Worte heißen: „Carneval in Rom“.S. Atanas.     



Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

Jul. N. in Wien. Rudolph Scipio’s treffliche Erzählung „Ein deutscher Ritter“ bildet den 6. Band von „Ebhardt’s Jugendbibliothek“, welcher auch die Erzählung „Mitten im Leben“ von A. Gnevkow angehört. Beide Verfasser wenden sich an das reifere Alter.

Ein deutscher Arbeiter in Wohlin. Freundlichen Dank für Ihre Zusendung von Briefmarken, wir bitten um mehr.

L. S. in Kairo, F. G. P. in Wien, Ein langjähriger Abonnent in Düsseldorf: Nicht geeignet. A. S. P.: In der Form zu schwach, darum nicht verwendbar. H. M. in München: Dank! Wir sind versorgt. A. T. V.: Schwindel.


Inhalt: Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 149. – Junge Venetianerin. Illustration. S. 149. – Ein Pygmäen-Theater. Von Hermann Pilz. Mit Illustrationen. S. 156. – Die Andere. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 157. – Nervöse Magenleiden. Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad. S. 160. – Blätter und Blüthen: Dank und neue Bitte. – Ein Heim für deutsche Erzieherinnen in Paris. – Zwei Schachmeister. S. 163. – Die Liebe höret nimmer auf. S. 164. Mit Illustration S. 152 und 153. – Auf der Wanderschaft. S. 164. Mit Illustration S. 161. – C. Michael †. Von Dietrich Theden. – Die inhaltsschweren Worte. – Sprechsaal. – Allerlei Kurzweil: Auflösung der geometrischen Komponir-Aufgabe in Nr. 7. – Auflösung des magischen Tableaus „Cotillonorden“ in Nr. 7. – Kleiner Briefkasten. S. 164.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Autorin der französischen Robertine war nicht Frau von Staël, sondern Frau von Bawr.