Allotriophagie
Allotriophagie.
Vor Kurzem hat der Fall großes Aufsehen erregt, daß der Barbier Möcke in Dresden ein Oberkiefergebiß verschluckt hatte und daß dann dieses Gebiß aus dem Magen durch Operation entfernt ward. Man erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß eine ähnliche Operation bereits sechsmal ausgeführt worden ist: das erste Mal hat es sich um ein verschlucktes Messer, das zweite Mal um einen Löffel, das dritte Mal um eine Gabel, das vierte Mal um eine abgebrochene Schlundsonde aus Draht, das fünfte Mal um eine Haarfilzgeschwulst, entstanden durch jahrelanges Abbeißen der Spitzen des eigenen Zopfes, das sechste Mal gleichfalls um ein Gebiß gehandelt, und zwar ist der Erfolg dieser Operationen meist ein glücklicher gewesen.
Mir brachte der Dresdener Barbier lebhaft den Florentiner Gabelverschlucker Egisto Cipriani in Erinnerung, der als „Uomo della Forchetta“ in Italien eine gewisse Popularität genießt und den ich vor zehn Jahren in Florenz öfters gesehen und gesprochen habe. Der junge Mann, der damals etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, hatte einmal in einem öffentlichen Lokale zum Scherze eine 21 Centimeter lange Gabel von Komposition soweit wie möglich in den Rachen gesteckt und dann unwillkürlich hinuntergeschlungen, die er nun wohlgemuth und ohne große Beschwerden mit sich herumtrug. Er schlug sogar Kapital daraus, denn er ließ sich im Tivoli sehen, allwo er in grünseidenem Wamse und rothem Trikot ganze Eier hinunterstürzte, lange Degen in seinen Schlund einführte und darauf sogar noch eine Flinte abschoß. Aehnliche Vorstellungen sind bereits im Alterthume häufig gewesen, wie dies aus einer Anekdote des Plutarch in der Lebensbeschreibung des Lykurg zu ersehen ist – ein Bewohner Attikas spottet über die Kleinheit der spartanischen Schwerter, welche von den Gauklern in den Theatern leicht verschlungen werden. „Aber gut erreichen wir mit unseren Dolchen die Feinde,“ antwortete Agis.
Daß überhaupt Menschen aus Versehen und wider Willen einen ungenießbaren und unverdaulichen Gegenstand verschlucken, kommt öfter vor, als man denkt. Charakteristisch dafür ist [99] folgende Geschichte. Ein französischer Familienvater läßt den Herrn Guignol zu sich kommen, um Unterricht in der Kunst des Pulcinell zu nehmen: er möchte seinen Kindern, die für das Puppentheater schwärmen, eine kleine Freude machen. Der gute Vater will also etwas profitiren, aber er weiß nicht, daß sich die Pulcinellstimme nur vermittelst einer sogenannten Praktik hervorbringen läßt, eines Instrumentes, ähnlich einem Brummeisen oder einer Maultrommel, welches aus zwei Stückchen Blech mit einem Zünglein von Zwirnband in der Mitte besteht. „Da,“ sagt Guignol, „Sie haben keine Praktik, also nehmen Sie meine.“ Unser Bourgeois ist nicht weiter ekel, er steckt Guignol’s Praktik in den Mund. Aber er ist das Ding nicht gewohnt, er kann es nicht regieren, und bei jeder Bewegung seiner Zunge kommt er in Gefahr, die Praktik zu verschlucken. „O, fürchten Sie sich nicht,“ beruhigt ihn Guignol; „das würde Ihnen gar nichts schaden. Sehen Sie, eben die hier, die habe ich schon mehr als zehnmal verschluckt.“
Am Dreikönigstage wird bekanntlich in Frankreich beim Essen ein Kuchen unter die Gäste vertheilt, worin eine Bohne ist: wer die Bohne bekommt, heißt Bohnenkönig. Natürlich muß die Bohne vom Inhaber gegessen werden. Neuerdings hat man an Stelle der Bohnen Porcellanpüppchen (Bébés en porcelaine) treten lassen: sie werden auch verschluckt.
Ja, selbst das ist nicht ungewöhnlich, daß Leute in Gefahr, namentlich auf Reisen, Werthgegenstände mit Bewußtsein verschlucken, um sie nicht Räubern in die Hände fallen zu lassen; daß sie, wie die Araber sagen, ihre Barschaft zwischen Leib und Seele, das heißt, in den eigenen Eingeweiden bergen. Sie werden von den Beduinen Goldmägen genannt, und es ist für den ehrlichen Mann sehr mißlich, den Verdacht eines solchen zu erwecken, denn die Barbaren schlitzen ihm den Bauch auf oder geben ihm wenigstens wochenlang Bitterwasser ein. Noch in unserem Jahrhundert ist dergleichen in Tunis geschehen. Nebenher läuft in Arabien die andere Praxis, vor einer Reise in räuberische Distrikte Edelsteine und Perlen in ein silbernes Büchschen mit abgerundeten Ecken zu thun und dieses in eine zu dem Behufe (am linken Oberarme) geschnittene Wunde, welche man dann wieder zuheilen läßt, zu stecken. Daß sich aber die zuerst erwähnte Methode unter Umständen gut bewährt, zeigt der Fall des französischen Numismatikers Vaillant, welcher im 17. Jahrhundert Aegypten, Persien und andere fremde Länder durchreiste, um Münzen des römischen Ost- und Westreichs zu sammeln. Er wurde einst auf der Rückkehr von Rom mit mehreren anderen Franzosen von einem algerischen Korsaren aufgegriffen, beraubt, nach Algier gebracht und erst nach Monaten freigelassen. Man gab ihm 20 goldene Medaillen zurück, die man ihm abgenommen hatte, und er schiffte sich nach Marseille ein. Wiederum wurde sein Schiff durch Piraten von Saleh verfolgt. Jetzt entschloß sich Vaillant kurz und gut, seine Medaillen zu verschlucken. Doch diesmal erhob sich ein Wind, der marokkanische Korsar konnte den Franzosen nichts anhaben, und der moderne Midas kam mit seinen Schätzen im Leibe nach mancherlei Wechselfällen endlich glücklich in der Nähe der Rhonemündungen ans Land. Nun aber war er in großer Verlegenheit: die Medaillen, die an zehn Loth wiegen konnten, drückten ihn im Magen. Er befragte die Aerzte, sie konnten sich darüber, was er vornehmen sollte, nicht einigen; in seiner Ungewißheit that er nichts. Die Natur kam ihm selbst zu Hilfe, und als er in Lyon anlangte, hatte er bereits die Hälfte seiner Münzen wieder. Er besuchte einen Freund. dem er seine Abenteuer erzählte; er zeigte ihm die Medaillen, die da waren, und beschrieb ihm diejenigen, die er noch erwartete. Unter den letzteren war ein Otho, den sein Freund gern haben wollte. Vaillant sollte ihm diese Medaille für einen bestimmten Preis ablassen. Sie wurden auch wirklich handelseinig, und zum Glück war Vaillant noch an selbigem Tage in der Lage, Wort zu halten. Die interessanten Stücke finden sich gegenwärtig in der reichen Sammlung von Münzen und Medaillen in der Nationalbibliothek zu Paris.
Trauriger endete der Versuch des unglücklichen französischen Dichters Nicolas Gilbert, den Schlüssel seiner Kassette zu verschlucken. Er war vom Pferde gestürzt und wurde in das Pariser Krankenhaus Hôtel Dieu mit schweren Verletzungen gebracht. Der arme Mensch, bekanntlich ein geschworener Feind der Encyklopädisten, mag geglaubt haben, daß ihm die Philosophen seine Manuskripte oder andere Werthpapiere stehlen wollten, die er in gedachter Kassette verschlossen hielt, und verschluckte den Schlüssel zu derselben, der ihm in der Speiseröhre stecken blieb. Einige behaupten auch, er habe sich auf diese Weise das Leben nehmen wollen. Unter furchtbaren Schmerzen wies er beständig auf den Schlund und griff sich mit den Fingern an den Hals, aber Niemand verstand ihn, man wußte nicht, was er mit dieser Bewegung sagen wollte. So starb der französische Juvenal, der noch acht Tage vorher in einem lichten Augenblicke eines der ergreifendsten und herrlichsten lyrischen Gedichte der Franzosen, den „Poète mourant“ niedergeschrieben hatte, im Alter von 29 Jahren; erst nach seinem Tode bei der Sektion entdeckte man den jammervollen Thatbestand (12. November 1780).
Alle diese Fälle haben jedoch mit der Allotriophagie, welche den Hauptgegenstand unserer Betrachtung bilden soll, nichts zu thun. Allotriophagie nennt man die Begierde, „Allotria“ zu essen: gefährliche und ungenießbare Gegenstände, Kohlen, Glas, Nägel, Messer u. dergl. zu verschlingen und diese krankhafte Neigung findet sich nicht selten bei Geisteskranken, bei Nervenverstimmungen bei Bleichsüchtigen im Wechselfieber etc. Auch die maßlose Gefräßigkeit, die nichts Festes verschmäht und oft zur Schau-Esserei ausartet, steht nur in losem Zusammenhange mit der Allotriophagie. Sie ist jedoch interessant genug, um kurz skizzirt zu werden.
Zu allen Zeiten und in den verschiedensten Gegenden hat es niedrige Menschen gegeben, die ein Gewerbe daraus machten, zur Belustigung des Publikums viel und darunter das unglaublichste zu essen. Unter Nero, berichtet ein Chronist, war ein Vielfresser, von Geburt ein Alexandriner, Namens Harpokras, welcher nicht nur ein gekochtes Wildschwein und hundert Eier, sondern auch eine lebendige Henne mitsammt den Federn und ein Milchferkel, ja, Pinienäpfel, Heu, Palmbesen, Tischtücher, Glasscherben und Schuhzwecken verschlang; ein ähnlicher Künstler ließ sich unter Alexander Severus, ein dritter, welcher auch den Namen Fresser, nämlich Phagon führte, unter Aurelian sehen. Ich selbst habe in Berlin Leute getroffen, die Schnapsgläser einbissen und zu Pulver kauten; einen „Glasscherbenfresser“ lernte Rosegger’s Waldschulmeister in Winkelsteg kennen.
Im Jahre 1771 starb zu Ilefeld der Passauer Vielfraß Joseph Kolniker. Er konnte nicht anders satt werden, als wenn er Steine unter sein Essen mischte, und zwar hatte er diese Liebhaberei von seiner Mutter und Großmutter geerbt. Schon in seinem dritten Jahre fraß er vor Hunger Steine wie Saturn. Sein Appetit war ungeheuer – er hatte sich den Athleten Milo zum Vorbilde genommen, der einen Stier durch die Rennbahn trug und an selbigem Tag verzehrte; binnen 24 Stunden aß er, so einmal auf dem Braunschweiger Schlosse, ganze Kälber- und Rinderviertel auf. Aber immer mischte er Steine unter sein Essen. Auch nahm er Metalle, Filz und andere Dinge zu sich.
Wer hätte ferner noch niemals von dem Wittenberger Gürtner Jakob Kahle, dem sogenannten Freßkahle gehört? Dieser Mann, der im Jahre 1750 zu Wittenberg als neunundsiebzigjähriger Greis gestorben ist, machte sich einst in einem Wirthshause in Gegenwart vieler Menschen darüber her, einen ganzen Dudelsack zu fressen. Von ihm wird erzählt, daß er bei seinen Mahlzeiten gelegentlich die irdenen Schüsseln und Teller mitverzehrte, daß er Tassen und Gläser zermalmte, daß er die Spanferkel mitsammt den Borsten und die Lämmer mitsammt der Wolle einschlang. Einmal raste seine Eßlust so, daß er ein bleiernes Schreibzeug nebst der Tinte, dem Streusande, dem Federmesser und den Federn verschwinden ließ. Diesen Umstand haben sieben Zeugen vor Gericht eidlich versichert, wie überhaupt der ganze Mann nichts weniger als ein Mythus ist; sein Leichnam ward 1750 auf landesherrlichen Befehl geöffnet und de Polyphago Wittenbergensi eine Dissertatio verfaßt. Erst in seinem sechzigsten Jahre war er ein wenig menschlich geworden. Dabei war er auch gleich den indianischen Mohawk und den italienischen Lazzaroni ein „Esser lebendiger Speise“: lebendige Eulen, Mäuse, Ratten, Heuschrecken und Raupen nahm er mit Vorliebe zu sich, und diese Vorliebe theilte er mit dem französischen Grenadier Tarare, der 1799 im Alter von 26 Jahren gestorben ist. Dieser entsetzliche Mensch nährte sich gelegentlich von Schlangen und zerriß lebendige Katzen mit den Zähnen.
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Man muß zwischen Pantophagie und Allotriophagie scharf unterscheiden. Die erstere beruht auf einer maßlosen Gefräßigkeit, welche nichts Festes verschmäht; die letztere auf einer krankhaften Disposition, welche einen Appetit auf Ungewöhnliches erzeugt. Dort ist charakteristisch, daß zunächst normale Kost in ungeheuren Quantitäten genossen wird; hier, daß ein gewisser Widerwille gegen gute Nahrungsmittel, dagegen ein Gelüst nach schlechten besteht. Auch in der Thierwelt fehlen die Allesfresser nicht: die Raben, die Strauße und die Haifische stellen ebenso viele Tarare, Kolniker und Kahle vor. Der Straußenmagen ist sprichwörtlich, er gleicht dem Korb eines Lumpensammlers, der alles aufnimmt: in der That hat man darin schon mehrere Kilo Werch und Lumpen, dazu kupferne Thürangeln, eiserne Schlüssel, kupferne und eiserne Nägel, Bleikugeln, Münzen, Knöpfe, Schellen, Kieselsteine und Sand gefunden. Wahrhafte Kolniker aber sind die unersättlichen Haifische, die Tiger des Oceans, die in Freiheit den Schiffen nachfolgen. Sie fressen alles Genießbare und alles Ungenießbare. Der Magen eines Weißhaies enthielt einen halben Schinken, einige Schafbeine, das Hintertheil eines Schweins, das Haupt und die Vorderbeine eines Bulldoggen, eine Menge von Pferdefleisch, ein Stück Sackleinen und einen Schiffskratzer. Andere Haie sah man die verschiedenartigsten Dinge verschlingen, welche man ihnen vom Schiffe aus zuwarf, Kleidungsstücke sogut wie Stockfisch, Zinnkannen sogut wie Speck, sie scheinen alles bewältigen zu können. Respektable Fresser! Und doch nennt man die Gelüste, welche der Allotriophagie vorausgehen, nicht „Strauße^ und nicht „Haie“, sondern „Elstern“, Picae (nach dem lateinischen pica = die Elster), und zwar wohl nicht deßhalb, weil die Elster wie der Strauß und der Haifisch alles zusammenfräße – sie ist wohl gefräßig, aber doch nicht bis zu dem erwähnten Grade sondern deßhalb, weil sie gern glänzende metallene Dinge stiehlt und versteckt, wie die Geisteskranken dergleichen auf die Seite bringen, indem sie davon naschen. Noch im vorigen Jahre starb in dem städtischen Irrenhause zu Wards Island ein gewisser August Geyer, in dessen Magen zwei silberne Theelöffel gefunden wurden. Da nun der Magen mit den silbernen Löffeln ebenso wenig machen kann wie die Elster, so ist der Vergleich recht treffend.
In diesem Sinne hat man auch solche krankhafte Gelüste, die sich nicht auf glänzendes Metall beziehen, mit dem Namen Picae belegt. Wenn bleichsüchtige Mädchen Essig trinken und Kohlen, Kreide, Schieferstifte, Kaffeebohnen essen, wenn skrophulöse Kinder Kalk und Sand, ja gewöhnliche Erde verschlucken, so nennt man das eine Pica. Und solchen Gelüsten, die immer etwas Krankhaftes haben, sind auch die Thiere, namentlich die Hausthiere unterworfen; im Jahre 1851 brachen sie, wie eine wahre Epidemie, in der Ackerbaukolonie von Lommel in Belgien aus, und seit dieser Zeit hat man diese Zustände, die in der Thierarzneikunde Malaciae genannt werden, genauer zu studiren angefangen. Eine Kuh, welche an den Zäunen leckt, Lumpen kaut, Leder, Erde, Holz, Kohlen u. dergl. aufsucht, ist nicht etwa gefräßig wie ein Haifisch, sondern leidend, was man sofort an ihrer Magerkeit, der Mattigkeit der Bewegungen und der Trockenheit der Haut bemerken kann. Mit einem Worte, die Allotriophagie ist bei Menschen und Thieren ein Krankheitssymptom, während die Pantophagie eher ein Uebermaß von Gesundheit und einen Hunger anzeigt, der in seiner Heftigkeit blind gegen zweckentsprechende Nahrungsmittel wird. Der Haifisch, der eine zinnerne Kanne hinunterwürgt, übereilt sich gleichsam – man müßte denn annehmen, daß ihm bei den großen Quantitäten wirklicher guter Nahrung auch die Aufnahme geringwerthiger Stoffe ein Bedürfniß sei.
In gewisser Weise sind wir alle sonderbare Schwärmer. Wir
essen Roastbeef und Weizenbrot. Metalle essen wir, Holzfasern
essen wir, Erden und Kalke essen wir, wenigstens mit darunter,
ja, diese seltsamen Nahrungsmittel sind auch ein unabweisbares
Bedürfniß. Was ist das Salz? Die Verbindung eines Metalls
und einer Luftart. Was enthält der Salat und eine Schüssel
Spinat? Die unverdauliche Holzfaser oder Cellulose. Asche, nach
welcher die Allotriophagen bisweilen heftig verlangen, ist allen
animalischen und vegetabilischen Speisen und Getränken beigemischt.
Alle diese fremdartigen Substanzen dienen theils wirklich zur Ernährung, indem sie verdaut und zum Aufbau des Körpers verwendet
werden; theils dienen sie nur zur Füllung des Magens und gleichsam
zur Folie der eigentlichen Nahrungsstoffe. Die Schalen der Körner
und Hülsenfrüchte sind ganz unverdaulich, und ebenso durchwandern
Salatblätter und grüne Gemüse den Darmkanal völlig unverändert
und haben weiter keinen Nutzen, als die wirklich verdaulichen
Substanzen in lockerer Form zu erhalten. Dieser Nutzen ist aber
sehr groß, denn wir könnten ohne dergleichen Allotria kaum leben:
wie der atmosphärischen Luft Stickstoff beigemischt sein muß, um
die Wirkung des Sauerstoffs zu dämpfen, so braucht der Körper
außer der eigentlichen Ladung eine Art von Ballast, der an sich
keinerlei Werth besitzt. Andere Male halten wir es wenigstens
für kein Unglück, wenn wir mit den Nahrungsmitteln Dinge
genießen, die wir nicht brauchen können, wenn wir z. B. mit einer
Kirsche den Kern, in einem Bissen Wildbrett ein Schrotkorn
hinunterschlucken. Und so könnte man denken, daß auch die
Kolniker und die Kahle bei ihren athletischen Mahlzeiten ein paar
Scherben und ein paar Steine nicht beachten, oft geradezu bedürfen.
Wer hätte nie beobachtet, daß die Hühner und die Tauben von Zeit zu Zeit sandige und steinige Konkremente aufpicken? Sie dienen ihnen, die keine Zähne haben, vermuthlich dazu, die Wirkungen des in ihrem Magen befindlichen Quetschapparates zu verstärken. Und ebenso nimmt der Karpfen, wenn er den Schlamm nach Kerbthieren und Gewürm durchwühlt, erdige Bestandtheile mit auf, ja, diese scheinen für seine Verdauung nothwendige Bedingung zu sein. In den Zuchtteichen pflegt man ihn mit Schafmist zu füttern, doch lockt man dadurch wohl bloß das kleine Gethier herbei, freilich verschluckt der Karpfen den Mist mit. Endlich steht fest, daß gelegentlich auch die Wölfe, die Renthiere und die Rehe Thon oder zerreiblichen Speckstein fressen und daß man solche Erden als Lockspeise und Witterung gebraucht.
Ja, bekanntlich haben auch Millionen Menschen ein Bedürfniß, in kürzeren oder längeren Perioden Erde zu essen, ohne daß man dieses Bedürfniß als ein krankhaftes Gelüst anzusehen berechtigt wäre. Die Arbeiter in den Sandsteingruben des Kyffhäuserberges streichen einen feinen Thon, die sogenannte Steinbutter, auf ihr Brot; bei Franzensbad in Böhmen, in Ebsdorf bei Lüneburg, im nördlichen Schweden hat man das sogenannte Bergmehl, eine feine [128] und weiße Erde, welche aus den Kieselpanzern von abgestorbenen Infusorien besteht, mit Kornmehl vermischt genossen. Namentlich aber findet sich der Gebrauch der Erde als Speise in Ländern der heißen Zone – Erde, und zwar fette, schmierige, wird am Orinoko, in Peru, an den Küsten von Guinea, auf Java, in Persien, Syrien, auf der Insel Sardinien gegessen; hier verzehrt man ein Brot aus Eicheln, die in Erde verbacken werden, eine Probe davon befindet sich in Montegazza’s anthropologischem Museum. Der beste Beweis für die Verbreitung der Sitte ist, daß die Erde wie andere Lebensmittel auf den Markt gebracht wird, zu kleinen Kuchen, Plätzchen, Röllchen oder Kügelchen geformt, dann und wann geröstet und mit Cocablättern vermischt, kurz, als ein normales Naschwerk behandelt wird. Nicht bloß als Naschwerk: die Otomaken, deren Lebensweise Alexander von Humboldt in seinen „Ansichten der Natur“ beschrieben hat, genießen ihre Thonkugeln wie Brot zu Fischen und Schildkröten, zwei bis drei Monate lang jedes Jahr ausschließlich. Dabei befinden sich diese Leute völlig wohl. Also es ist nicht der Hunger, der die Bewohner der heißen Zone treibt, in Ermangelung eines Besseren Erde zu verschlingen, sondern sie haben sich gewöhnt, das tägliche Nahrungsbedürfniß mit Erde zu befriedigen, auch wenn sie vollauf zu leben haben; sie fressen den Staub mit Lust, wie die Muhme des Mephistopheles.
„Jeder nach seinem Geschmacke,“ sagte der Bauer, da aß er Roßkastanien für Bratäpfel. In der That, wenn wir die vorstehenden Thatsachen überblicken, so bleibt kaum ein irdischer Stoff übrig, der nicht schon einmal gegessen worden wäre, ja, was mehr sagen will, es bleibt kaum einer übrig, den man von vornherein unter die „Allotria“ zählen könnte. Allerdings beruht die Allotriophagie zunächst auf einem krankhaften Gelüste, aber wenn man genauer hinsieht, so ist der gesündeste Mensch bei seiner frugalen Kost ein Allotriophage, der Dinge zu sich nimmt, die er niemals gebrauchen kann; die Kolniker und die Kahle verschlingen Steine, ja, die Neger und die Indianer weiden sich an der sanften Erde, und die Arbeiter vom Kyffhäuser streichen die Steinbutter auf ihr Brot, des wackeren Burschen nicht achtend, der singt:
„Mich will es schier bedünken,
Als thät uns Eines Noth,
Das ist ein roher Schinken,
Ha, mit sanftem Butterbrot.“
Rechnen wir hinzu, was gelegentlich aus Versehen oder aus einer sonderbaren Vorsicht verschluckt wird, so möchten wir an unserem Magen ganz irre werden. Und was uns das Leben an bittern Pillen sonst zu verschlucken giebt! –
Aber ich will mit einem guten Wunsche schließen. Wenn sich ein Schüler mit andern Dingen abgiebt, als die sind, mit denen er sich beschäftigen sollte, so sagt man, er treibe Allotria. Wenn er das einmal thut, so ist das kein großes Unglück, er soll nur für gewöhnlich fein hinter den Büchern sitzen und die gesunde Nahrung, die seinem Geiste und Herzen geboten wird, nicht verschmähen. Wenn ihm die fehlte, so wäre es freilich schlimm. Und so wünsche ich denn auch jedem Leser dieser Zeilen, daß er sein Lebenlang etwas Solides zu beißen und zu brechen habe und daß ihm der Geschmack dafür nie abhanden kommen möge. Wenn er dabei hin und wieder Allotria verschluckt, so braucht er sich nicht zu fürchten. Erst wenn er ausschließlich auf Allotria erpicht ist, tritt Gefahr für seine Gesundheit ein. Dann leidet er an einer Krankheit, er hat Allotriophagie.