Die Gartenlaube (1884)/Heft 52
[849]
No. 52. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Während die Mutter nach dem Kirchhofe wandelte, war
die alte Großmutter aus der Löwenapotheke ein wenig
in unser Gewölbe getreten und hielt meiner Schwester
verwaistes Kindchen auf dem Arme.
‚Na, Hans,‘ – sie duzte mich noch von der
Kinderzeit her, wo sie mir manchen Apfel geschenkt – ‚wie schaut’s
denn aus? Guck, wird Dir der Junge nicht der Emilie immer
ähnlicher?‘ Und sie setzte das rosige Geschöpfchen auf den Ladentisch
und schüttelte die Klapper vor ihm, um ihn zu beschäftigen. ‚Da
hat ihn die Minna vorhin beinah erdrückt vor Liebe; – na,
sie wird’s ja auch erleben, so ein Mäuschen in den Arm zu
nehmen. Kinderlieb ist sie, Hans, und eine gute Frau wird sie
auch werden; und die Hauptsache, – sie weiß Dir hier mächtig
Bescheid im Geschäft, und so Eine muß auch herein.‘
Ich hatte anfänglich garnicht auf sie gehört, weil ich das Kind betrachtet. Jetzt fuhr ich empor, der Sinn ihrer Worte traf mich wie ein Schlangenbiß.
‚Na, Hans, Du brauchst nicht so heimlich zu thun, das weiß die ganze Stadt, und die Mutter wird Dir’s längst gesagt haben, daß es ihr liebster Wunsch ist. Mein Gott, sie wird alt, und was sie erlebte zuletzt, hat sie arg mitgenommen, und – –‘
Sie hielt inne, denn draußen spazierte eine Gevatterin vorüber. Eilig nahm sie den kleinen Buben empor und schlürfte über die Schwelle. – Wie eine Unholdin kam sie mir vor, die auf dem Besen zum Schornstein hereingefahren, ein armes Menschenkind zu martern. Ich schlug plötzlich den Deckel des Pultes zu, daß es schallte und der Lehrling mit großen erschreckten Augen und offenem Munde in die Thüre trat. An ihm vorüber aber schritt ich hinaus in mächtiger Erregung. Das war zuviel! – Ich riß den Strohhut vom Haken und stürmte aus dem Alteburger Thor, dem Walde zu, daß die Frühlingsspaziergänger verwundert stehen blieben und mehr als ein halblautes: ‚Der ist wohl verrückt!‘ mir nachklang.
Und wie ich weiter drang durch Tann und Gestrüpp, ward ich allmählich ruhiger, aber ein düsterer Grimm quoll dafür in meiner Brust empor; und wie ich hoch oben auf der Schönauer Leite stand und weit hinausschaute in den herrlichen Frühlingsabend, – da kam zu diesem Grimm die Sehnsucht nach der verlorenen Herrlichkeit, nach meiner schönen goldenen Freiheit, nach allem, was mein Herze erquickt und begeistert hatte; und wie ein dunkles elendes Gefängniß erschien mir das Vaterhaus, in das ich mich selbst festgeschmiedet voll kindischer Begeisterung. – Ja, da lag es, ich kannte es wohl an dem hohen spitzen Dach, so recht inmitten dieser engen kleinen Stadt, in der Menschen wohnten mit engen Herzen und mit engem Gesichtskreis, und ich ballte die Faust und schüttelte sie und knirschte mit den Zähnen. – Weit, weit in der Ferne, da verschwamm mein Glück wie das Abendroth, mein stolzes Glück, und nimmer war es wieder zu erreichen, ohne wortbrüchig zu werden an der eignen Mutter!
Vielleicht ist sie großmüthig, wenn ich sie bitte, auf den Knieen bitte, mir die Freiheit zurückzugeben, mich hinaus zu lassen nach meiner Wahl?
Großmüthig? O, sie mußte es ja längst, längst gesehen haben, wie ich kämpfte mit mir. – Nein, großmüthig ist nur der, der Anderer Leiden nachfühlen kann: sie verstand nichts von dem, was mich bewegte; sie glaubte mich zu retten von meinem wilden unglücklichen Leben, wenn sie mich in das solide Geschäftshaus einsperrte; mit der Zeit verlernt ja auch der Vogel das Fliegen – im Käfig! Und wenn sie nun noch ein hausbacken Weib in meine Arme stieß, die allstündlich dafür sorgte, daß ihr Eheherr nicht über den Strang schlage, – dann, dann konnte ich ja noch vernünftig werden, konnte es ja noch endlich soweit kommen, daß ich im Schlafrock und mit der Pfeife kannegießernd den Abendschoppen in der ‚Sonne‘ trank und mich mit gutem Appetit zur Nachtsuppe setzte, weil ich ein paar Ellen Zeug verkauft hatte, ohne etwas herunterhandeln zu lassen.
Als verfolgten mich die Furien, so stürzte ich weiter, planlos, ziellos; erst als wieder Menschen an mir vorüberschritten, merkte ich, daß ich, den Strohhut in der Hand, mit zerwühltem Haar daher kam. Dann sagte ich mir, mich emporraffend: ‚Ich werde mit der Mutter reden.‘
Sie sei soeben heim gekommen, berichtete das Dienstmädchen im Flur, und nach oben gegangen. Ich stieg die Treppe empor und rief auf dem dämmrigen Vorsaal ‚Mutter! Mutter!‘
Da öffnete sie die Thür ihrer Schlafstube. ‚Hier bin ich, Hans!‘ Das klang so weich. ‚Komm herein!‘ Und nun stand ich ihr gegenüber. Sie hatte geweint, wie immer, wenn sie von den Gräbern kam, und sie hatte eben ein paar blaue Vergißmeinnicht, die sie von dort gebracht, in ein Glas gethan und sie unter das Bild des seligen Vaters auf die Kommode gestellt. [850] Nun setzte sie sich wieder in den Sorgenstuhl an das Fenster; aus dem Hintergrunde schimmerte das große Himmelbette ungeheuerlich herüber.
‚Schau Dich nur um,‘ sagte sie lächelnd, ‚hier bist Du geboren. – Es war Weihnacht grade, und Du machtest mir das garnicht zu Paß.‘
‚’s ist einmal mein Loos,‘ gab ich zurück.
Sie sah empor, und das Lachen erstarb auf ihrem Antlitz.
‚Ich wollte reden mit Dir,‘ fuhr ich fort, und heute noch erinnere ich mich, welche Mühe mir das Sprechen machte, und wie heiser meine Stimme über die Lippen kam – ‚von der Minna –.‘
‚Ja, Hans, das ist gut,‘ unterbrach sie mich, ‚sie ist ein braves Mädchen und verdient glücklich zu sein.‘
‚Du meinst also, ich soll sie heirathen?‘ fragte ich. – Aber sie merkte nicht den leisen Hohn in meiner Frage.
‚Ja, Hans, das ist der größte Wunsch von mir. Sieh, Schönheit vergeht, aber ein braves Herz nimmer. Sie ist eine Geschäftsfrau, wie keine weiter, und sie bringt Dir ein schönes Capital mit ins Haus. Du bist dreiundzwanzig Jahre, alt, Hans, und wenn Du eine Frau bekommst, die so recht ihre Sache versteht, so wird’s auch keine Noth haben mit uns. – Daß die Minna Dir herzlich gut ist, das hat sie gesagt, als ich sie darum befragte; sie wartet nur auf Dein Wort. Sie hat ein wenig Scheu vor Deinem stillen Wesen,‘ setzte meine Mutter nach einer kurzen Pause hinzu, ‚mit dem Friedrich wär’s leichter gegangen, meint sie. – Thue es bald, Hans, dieweil ich recht stümperig werde. – Sonst hast Du doch keine Neigung, nicht wahr? Ach, die Engel im Himmel sollten mich hier auf Erden beneiden, könnte ich noch den Erben sehen von ‚Wilhelm Rüdiger Söhne‘!‘
Und sie war aufgestanden und zu mir getreten; und sie reckte sich in die Höhe und strich mir über die Wangen: ‚Mein Einziger!‘ – Was doch für Macht in den zwei alten treuen Augen lag; eine Macht, gegen die ich vergeblich kämpfte.
‚Gute Nacht, Mutter,‘ sagte ich, ‚ich will’s überlegen.‘
Und wie ich droben in meinem Kämmerchen stand, da meinte ich, ich müßt’ ersticken. Und an der plaudernden Magd vorüber schritt ich aus der Hausthür und ging in den dunklen Schloßgarten; berauschend dufteten Flieder und Jasmin, wie heute lag der Mondesglanz über den schlummernden Wipfeln der Bäume und durch die verschlungenen Wege irrte mein Fuß immer tiefer hinein in die Frühlingsnacht, entlang an dem Flüßchen, auf dessen raschen Wellen die Silberstrahlen spielten, und hinüber über die aus Baumstämmen gefügte Brücke, wo die alte Schloßruine sich erhebt. Dann stand ich plötzlich vor einem kunstlosen Gefüge aus Stein, in halber Manneshöhe erhob es sich mitten auf dem von blühendem Gesträuch überschatteten Platze, und im grellen Mondschein erblickte ich goldene Schrift auf einer schwarzen Tafel. Ich trat hinzu:
Frieden erst bringet der Tod!
Dem Gedächtniß des Fräulein Rosa von Rettberg, ihrer unvergeßlichen Gefährtin in trüben Tagen.
Anna Katharina, Fürstin zu A……‘“Er brach plötzlich ab.
„Die Verse, Herr Baumeister, verließen mich nicht mehr“ – fuhr er nach einer langen Pause fort – „ich sah sie beständig vor mir in den goldflimmernden Buchstaben, ich sah das holde Antlitz, zu dessen Gedächtniß sie geschrieben, und ich ertappte mich einmal dabei, daß ich ein Pistol in der Hand hielt und das Schloß spielen ließ; erschrocken vor mir selber legte ich es hin und nahm es dennoch öfter wieder zur Hand. Gleichwohl schleppte ich mich noch vierzehn Tage so hin – vierzehn Tage, die zu den schrecklichsten meines Lebens gehören.
Und es ward wieder ’mal Abend; müde und schwer in den Gliedern wie ein alter Mann saß ich am Fenster der Ladenstube und schaute über den Marktplatz, auf dessen Pflaster der Frühlingsregen plätscherte. Im Rathhauskeller war ein Volk Hallenser Studenten eingeregnet, und ihr Singen und Lärmen scholl deutlich herüber in unser dämmeriges Gemach:
‚Vom hoh’n Olymp herab ward uns die Freude – –‘
so hatt’ auch ich einmal gesungen.
Die Mutter nickte im Sopha, und dann that sich die Thür auf und die Minna kam herein.
‚Grüß’ Gott!‘ sagte sie, ‚ist das ein Wetter!‘
Die Mutter aber rieb sich freudig die Augen, und den Schlüsselbund vom Haken nehmend, trat sie zu mir und flüsterte: ‚Hans, mach’s richtig heut’ Abend; ich lasse Euch allein.‘
Ich hielt sie plötzlich an der Schürze so fest, daß das Band riß; aber wie ich wieder in ihre bittenden Augen sah, ließ ich sie los; ich kam nicht auf gegen diesen Blick. Und sie verließ uns, und die Minna setzte sich gegenüber auf den andern Stuhl; vor den Fenstern plätscherte einförmig der Regen, und schwerfällig ging die Schwarzwälder Uhr an der Wand ihren einförmigen Schritt.
‚Bin durch den Park gegangen,‘ hub das Mädchen endlich an, und ihre raschen Athemzüge waren mählich ruhiger geworden, ‚an Fräulein von Rettberg’s Denkmal liegt Alles voller Kränze - ihr Geburtstag ist heute. Sie haben sie ja auch gekannt, Hans?‘
‚Ja!‘ erwiderte ich gepreßt und setzte hinzu, nur um etwas zu sagen: ‚Die furchtbare Cholera!‘
‚Cholera?‘ fragte sie rasch, ‚wer hat Ihnen das aufgebunden, Hans? Gift hat sie genommen! Eins, zwei, drei – vorüber war’s! Fragen Sie jedes Kind – so ist’s.‘
Ich sprang empor.
‚Nun ja, was weiter? Sie sollte Einen heirathen, den sie nicht wollte –; umsonst war sie nicht so blaß, immer und ewig; der Magister weiß es auch.‘
Ich trat zu ihr. ‚Nun, und wie denken Sie denn über solchen Fall, Fräulein Minna?‘ kam es schneidend über meine Lippen.
‚Ich?‘ Sie sah mich an, dann schlug sie erröthend die Augen nieder. ‚Ja, ich meine, mit ein bischen gutem Willen kann man Alles – warum nicht auch einem Mann gut werden? Der Tod ist bitter.‘
‚Mit ein bischen gutem Willen?‘ Ich wandte ihr kurz den Rücken und schaute wieder durch das Fenster. So standen wir noch, als die Mutter herein kam.
Sie sah von Einem zum Andern, und als sie das eisige Schweigen zwischen uns ein Weilchen beobachtet hatte, setzte sie sich stumm in die Sopha-Ecke. Es ward dämmerig im Zimmer und todtenstill, ich hörte nur ein leises Schluchzen.
‚Warum weinst Du, Mutter?‘ fragte das Mädchen endlich gepreßt.
‚Daß ich so gar kein Glück habe, so gar kein Glück mit meinen Kindern!‘ stieß sie hervor. ‚Hätt’ ich doch gar nie welche gehabt! Ach, wie ist man stolz und eingebildet auf so ein Kind, was thut man Alles und hat doch nimmer Dank davon! Auf den Knieen möchte man vor ihnen liegen, aber der hochmüthige Nacken beugt sich nicht um ein Haar. – Ehe der Hans geboren wurde, bin ich die Treppe hinuntergestürzt; wäre ich doch liegen geblieben und elendiglich verstorben, als daß ich so eine Marterzeit erleben muß! Was hab’ ich für Geduld mit ihm gehabt – und Alles vergebens!‘
Ich ging plötzlich mit dröhnenden Schritten durch das Gemach und die Treppe hinan. Ich wollte da Etwas aus einem Kasten nehmen, ich that es auch, und kam dann wieder herunter. Hinter der Stubenthür hörte ich das Jammern der Mutter; mir that es nicht mehr weh. Ich erinnere mich noch so deutlich, was ich in jenen Augenblicken sah und empfand. Feuchter Dunst wob sich um die Giebel der Häuser; die Rathhausuhr schlug Acht. Mit eigenthümlicher Langsamkeit schritt ich über den Marktplatz die Straße hinunter: es war kein Mensch zu sehen, der Regen hielt Alles in den Stuben; nur vor dem Rathskeller stand das Schenkmädchen und neckte sich mit einem Studenten, ihr helles Lachen schallte hinter mir drein wie ein letzter Gruß von Leben und Glück, seltsam contrastirend mit den Gedanken, die mein Herz trug. Wie Hohn empfand ich es.
‚Frieden! Frieden um jeden Preis!‘ schrie meine Seele, ‚hinaus aus dieser Erbärmlichkeit!‘
‚Im Schloßgarten!‘ sprach ich dann halblaut, indem mein Schritt rasch und rascher wurde. Ich ging durch verschiedene Wege, ich athmete tief und empfand die duftende kühle Luft wie eine letzte Wohlthat; eine wunderbare Ruhe kam plötzlich über mich, ein Gefühl von baldigem Geborgensein. Und tief und tiefer drang ich hinein in den dämmernden Garten. Irgendwo blieb ich dann [851] stehen und faßte in die Tasche des Ueberziehers; wie ich den Hut abnahm, lief es mir kalt über die Stirn, daß ich hastig darüber fuhr. – –
‚Hans, mein Junge!‘ sagte da eine milde Stimme, ‚hast Du wirklich einmal Philosophie studirt?‘ Und eine zitternde Hand bog danach kräftig meinen Arm zurück, daß die Waffe sich zur Erde senkte. ‚Leih’ mir Deinen Arm, daß ich mich stütze – laß uns zusammen plaudern und gieb mir das, was Du da in der Hand hast. Sieh’ – so ist’s recht; schau, wenn es so weiter regnet, wird’s ein schlechtes Obstjahr – die Apfelblüthe ist hin. Wir gehen gleich durch’s Pförtlein, Hans,‘ fuhr er fort; ‚setze Deinen Hut auf – so; es freut mich nur, daß ich Dich getroffen, wir können da noch einen Schluck Wein mit einander trinken. Ich komme eben vom Denkmal der Rosa Rettberg, hatte schon den ganzen Tag hinüber gewollt, mußt’ aber lange bei der Fürstin sitzen. Sie ist schier außer sich an solchem Erinnerungstage, und heute ganz besonders, wo ihr zu Ohren gekommen, daß in der Stadt das Märchen gehe, ihr Liebling habe sich vergiftet. ‚O, pfui!‘ sagte sie, ‚was hat die arme Seele gethan, daß man sie noch so beschimpft? Feig war sie nie, meine Rosa.‘
Ich stöhnte wohl auf bei diesen Worten, denn er preßte meinen Arm fester an sich. Und als wir endlich in seinem Zimmer standen, warf er den Hut auf den Tisch und sah mich an, und so mild sein Wort gewesen, so mild war sein Blick.
‚Armer Junge! Aber nun laß mich mal sorgen für Dich! Lege Dich dort auf das Sopha und gieb mir die Hand darauf, daß Du fein still bleiben willst, bis ich wiederkomme; ich gehe nur in den Keller und hole Wein.‘
Im wirren Fieberzustand lag ich dort, ich weiß nicht mehr, wie lange; mich dünkten es Stunden.
Endlich kam er mit Wein und flößte ihn mir ein. ‚Und nun steh’ auf,‘ sagte er, ‚ich bringe Dich heim.‘
‚Nein, nein!‘ wehrte ich ab, ‚ich gehe allein, nicht Sie in dem Regen.‘
‚So geh’ allein, Hans, ich kann Dich ruhig lassen; ich weiß es.‘
Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen stieg, und plötzlich schlangen sich seine Arme um meinen Nacken, und er küßte mich.
‚Das ist recht,‘ sagte er weich, ‚weine, Hans, weine ordentlich; es ist besser, als daß Andere um Dich weinen.‘
Zu Hause war Alles still und stumm; ich hätte es auch nicht ertragen, die Mutter zu sehen. Nur als ich an ihrem Zimmer vorbeischlich, meinte ich ein leises Stöhnen zu hören, aber Weiteres dachte ich nicht. Vergangenheit und Gegenwart gingen unter in der furchtbaren Erregung, die mich noch immer umfangen hielt. So suchte ich mein Bette auf.
Wie diese Nacht vergangen – das weiß ich nicht mehr. Gegen Morgen fuhr ich aus dem angstvollen Schlummer – am Bette saß meine Mutter; um Jahre sah sie gealtert aus.
‚Hans,‘ sagte sie mit zuckender Lippe, ‚Hans, bist Du krank?‘ Und sie faßte nach meiner Hand. ‚Ich möchte, daß Du gesund würdest, Hans, ganz gesund – so gesund, wie der Hollunderstrauch, den der Vater aus der dumpfigen Ecke herausgeholt und mitten in den Garten gepflanzt hat, der nun ein so schöner Baum geworden. Willst Du, Hans?‘ Und sie beugte sich über mich, und ihre warmen Thränen fielen auf mein Gesicht. ‚Willst wieder nach Jena, zu den Büchern? – Sag’s, oder meinst Du wirklich, daß mir die ‚Goldene Elle‘ lieber als mein einzig Kind?‘
Und sie hielt meine Hände mit leidenschaftlicher Gewalt.
‚Bin ich eine schlechte Mutter gewesen? Ich hab’s nicht besser gewußt, Hans – hab’ gemeint, ein Jeder kann, was er will – und nun soll es Etwas geben in der Menschenbrust, das stärker ist, als der eigene Wille. Du warst immer anders, Hans, ich hab’s nur nicht verstanden.‘
Und denselben Mittag noch stand eine kleine gebeugte Frau im Laden, die Augen roth von durchweinter Nacht. Und sie erzählte der Frau Stadtschreiberin, daß der Hans auf Reisen gehe, sich vorerst die Welt anzusehen, um dann weiter zu studiren, ‚denn wenn man nur den Einen hat, liebes Frauchen, soll er da nicht thun, wie es ihm am besten gefällt? Ich bin ja auch noch mobil genug, um den Laden zu besorgen, und wenn nicht, so nehme ich einen Commis; der Emilie ihr Fritzchen wächst ja auch heran; das mag Gott nun fügen, wie er will!‘ Und sie faltete das braunrothe schimmernde Gewebe zusammen und packte es in Papier. ‚So, und wenn Ihre Frau Mutter wieder fragt nach mir, so sagen Sie ihr, es ginge mir so gut, wie seit langer Zeit nicht.‘
Als ich Abschied nahm, um nach Jena zu gehen, standen zwei alte Menschen am Postwagen.
‚Hans, mein Junge,‘ sagte der Magister, ‚bisher warst Du kein Philosoph; nun halt’ die Ohren steif!‘
Die Mutter aber sah mich unverwandt an, als müsse sie sich auf Jahre hinaus sattschauen.
‚Hans, nun mach’ es, wie der Hollunderstock; werde gesund, aber schicke mir zuweilen auch eine Blüthe, ein frisches gutes Wort, weiter habe ich ja nichts mehr von Dir.‘
Und als der Wagen abfuhr, da sah ich, wie sich die alte Frau schwer auf den Arm des Magisters stützte, aber sie winkte trotzdem lächelnd mit dem Tuche.
Ja, so eine Mutter!
Aber was ich sagen wollte – da haben Sie es: es ist nicht immer die Noth des Lebens, die den Menschen zu jenem Entsetzlichen treibt; ich spreche aus Erfahrung. Noch zwei Minuten länger allein, und man hätte mich zu Grabe getragen, wie heut Ihren armen Cameraden. – – Und, sehen Sie, deshalb bin ich mitgegangen; und ich begleite Jeden zur letzten Ruhestätte, dem keine helfende Hand die Waffe herniederdrückte oder ihn am Rocke zurückhielt von dem Sprunge über das Brückengeländer. ’s ist Mitleid – das Leben kann so schön sein! – Wie gern hätt’ ich ihm gethan, wie mir der Herr Magister, dem, der da heute in die Erde gebettet ist, Friede ihm und Achtung den Gründen, die ihn dorthin getrieben!“
Er hob das Glas: „Dieses meiner Mutter und ihm, der hier gewohnt, dem alten wunderlichen Freunde!
Ich habe ihn nicht wieder gesehen!
Als ich mein Doctorexamen gemacht, kam ich zum ersten Male wieder heim; ich wollte der Mutter nicht früher vor die Augen treten, als bis etwas Rechtes aus mir geworden. Da war er bereits geschieden. Die Mutter aber stand an der Post, und wie ich den Marktberg hinan wollte, drehte sie mich um:
‚Nein – hier, Hans!‘ – Und sie wanderte mit mir zur Zimmergasse. ‚’s ist unser,‘ sagte sie einfach und deutete auf dieses Haus. ‚Ich kaufte es acht Tage nach seinem Tode. Das Geschäft dort aber hat der Schloßmüller für die Minna erworben; die heirathet Ostern meinen Commis.‘
So hat sie hier unten ihr Leben beschlossen; sie hat auf dieser Terrasse gesessen und drinnen im Zimmer den Kopf geschüttelt über die vielen, vielen Bücher. Zuweilen besuchte sie auch die Minna im Laden, später aber meinte sie: ‚’s ist doch geruhiger hier unten, es gefällt mir schon recht gut dahier.‘
Ich bin viel in der Welt umhergefahren, habe Jahre lang im Auslande gelebt, habe geschrieben und gesammelt und bin dann immer einmal wieder heimgekehrt zur Mutter. Ihr einziger Kummer war, daß ich nicht heirathete.
‚Aber Du bist mal anders, als andere Menschen, Hans,‘ sagte sie dann. Und wozu die Gelehrten eigentlich auf der Welt sind, das hat sie niemals begriffen. Wenn sie aber ganz besonders zärtlich war, sagte sie:
‚Mein Einziger, Du lebst!‘“
Der alte Mann schwieg. Nur die Frühlingsmelodien sangen weiter, die Nachtigall, das Wasser im Springbrunnen und das Flüstern der Bäume.
„Ich danke Ihnen, Herr Rüdiger,“ wollte ich sprechen, aber ich drückte ihm nur stumm die Hand und schritt allein durch die duftige Nacht weit in den Schloßgarten hinein, bis zu jenem Denkmal, auf dem die Worte stehen:
„Leben ist ewiger Kampf,
Frieden erst bringet der Tod!“
Sylvesterspuk.
Es war am Sylvesterabend. Die Uhr in dem Thurm der alten Aegidien-Kirche am Hauptmarkt hatte bereits mit dem ihr seit Jahrhunderten eigenen feierlichen Tempo elf geschlagen. – Auf den Straßen war es ganz still. Wer auf dem Ball oder mit guten Freunden zusammen am Familientische lustig in das neue Jahr hinüberzuschwärmen gedachte, hatte sich schon längst unter Dach gebracht. Auch wer in den Wein- oder Bierstuben seinen Kreis gefunden, wechselte nicht leicht mehr den Platz. Es gab, wie der Wächter ganz richtig bemerkte, keine stillere Nachtstunde im ganzen Jahr als diese letzte.
Die arme Marie war allein zu Hause, und sie hatte die Verpflichtung wach zu bleiben, bis die Herrschaft zurückkehren würde.
Vor wenig mehr als einem Jahr hieß sie ganz allgemein nur die hübsche Marie, und seitdem war sie sicher noch hübscher geworden, denn sie stand in dem Frühlingsalter, in dem auch bei solchen jungen Menschenkindern „alle Knospen springen“ und täglich sich neue Reize entfalten; aber die wenigen, die jetzt von ihr sprachen, nannten sie die arme Marie. Und das hatte auch guten Grund.
Die „hübsche Marie“ war die Tochter eines kleinen Beamten, den aber jeder brauchte. Bezifferte sich daher auch sein Gehalt nur auf eine unbedeutende Summe, so liefen doch nebenher allerhand Spesen ein, die zusammengenommen dasselbe weit überstiegen, sodaß er in seiner Art ein Haus machen konnte, ohne gerade, wie man zu sagen pflegt, „über seine Verhältnisse zu gehen“. Und weil er meinte, daß man doch nur einmal lebe und zunächst immer an die Gegenwart zu denken habe, der Extraverdienst auch nicht ausreiche, um davon ein namhaftes Capital anzusammeln, und „die Sache nun einmal so im Gange“ sei, so beschwerte er sich lieber gar nicht mit Ersparnissen, bewohnte ein hübsches Quartier, hielt einen Dienstboten, ließ Frau und Kinder in den besten Kleidern paradiren und hatte jedem Sonntagsgast etwas vorzusetzen. Das bildhübsche Mädchen zog, ohne es zu wollen, viel junges Volk aus den besseren Ständen an. Es war so leicht, in dem Hause Zutritt zu erhalten, und es ging da immer so ungezwungen lustig zu! Vielleicht fand sich auch einmal Einer, der’s ernst meinte. Von einem Gewissen, der in Kurzem schon auf eine gute Anstellung rechnete, hatte sie’s ganz bestimmt geglaubt. Er hatte ihr sogar seine Photographie geschenkt. Daß er mit dem einen Beine ein wenig lahmte, wollte sie ihm schon gern vergeben.
Die Herrlichkeit hatte unerwartet rasch ihr Ende erreicht. Den noch jungen und rüstigen Vater warf eine schwere Krankheit plötzlich auf’s Bett nieder. Ein Rückfall verschlimmerte sie, da er sich nicht schonte, um größere Einbußen in seinem Einkommen abzuwenden. Nach einigen Monaten voll Angst und Sorge wurde er nach dem Friedhof hinausgetragen. Das Begräbniß war „erster Classe“; das glaubte die Familie seinem Andenken bei den zahlreichen Bekannten und Freunden schuldig zu sein. Aber die Kosten verschlangen den größten Theil des Nachlasses. Der Wittwe blieb eine ganz unzureichende Pension. Die jüngeren Kinder mußten bei mildherzigen Leuten untergebracht werden, Marie war „alt genug“, sich ihren Unterhalt selbst verdienen zu können.
Es traf sich auch so glücklich, sie in einem vornehmen Hause als „Jungfer“ unterzubringen. Sie hatte da zwar auch die leichteren Dienste eines Stubenmädchens zu verrichten, aber der gnädigen Frau auch bei der Toilette behülflich zu sein und Abends den Thee einzuschenken. Sie war im Nothfall Vorleserin und besorgte Einkäufe, es gehörte zu ihren Pflichten, stets gut angezogen zu sein, um sich neben ihrer Herrin auch auf der Straße zeigen zu können. Sie führte kein bequemes Leben, aber sie zählte doch nicht geradehin zum Gesinde und durfte nach außen hin wenigstens den Schein wahren, eine junge Dame zu sein. Darauf legte sie großes Gewicht. Sie war vielleicht nicht eitler, als sonst hübsche Mädchen zu sein pflegen, aber sie hätte doch nicht einen Mann heirathen mögen unter dem Stande ihres Vaters und ohne ein Einkommen, das ihr erlaubte zu leben, wie sie’s von Hause gewöhnt war. –
Nun brachte ihre Herrschaft den Sylvesterabend auswärts zu, und auch die Magd hatte Erlaubniß erhalten, ihr Vergnügen zu suchen. Der Kutscher war im Stall bei den Pferdem und der Diener leistete ihm Gesellschaft, bis um ein Uhr der Wagen hinauszubesorgen sein würde. Marie war allein in den Wohnräumen. Sie sollte sich wach halten, um gleich bei der Rückkehr der Herrschaft öffnen und die gnädige Frau zu Bett bringen zu können.
Sie hatte die Thüren nach dem Flur von innen verschlossen oder verriegelt – nichts Zufälliges sollte sie erschrecken. Es waren das hohe, schmale, zweiflügelige, weißlackirte und mit geschweiften Goldleisten verzierte Thüren, die muschelartige Aufsätze trugen. Das wenige Licht, das von den Straßenlaternen durch die Spalten der schweren Damastvorhänge an den Fenstern fiel, spiegelte sich fast nur auf ihnen und allenfalls noch auf den Stuckverzierungen der Decken, auf den Glasprismen der Kronleuchter, die von denselben tief herabhingen, und auf den aus der dunklen Tapete vortretenden Bronze-Armleuchtern. Marie saß im letzten Zimmer bei einer kleinen Lampe, deren gelblicher Lichtschein nur die nächste Umgebung des Tischchens erhellte, das sie an den nur noch lauwarmen Ofen gerückt hatte. Es war unheimlich still um sie her; nur der nasse Schnee klatschte an die Fensterscheiben.
Sie hatte sich beschäftigt. Auf dem Tisch lag ein Gesangbuch mit schwarzem Deckel und goldenem Kreuz. Es war längst wieder geschlossen und für’s neue Jahr zurückgelegt, das mit frommen Gedanken eröffnet werden sollte. Ein aufgeschlagener Roman daneben mochte sie darnach eine Weile unterhalten haben. Jetzt aber legte sie sich Karten. Immer wieder fragte sie beim Schicksal an, was es ihr für’s neue Jahr bestimmt hätte, aber nie schien sich nach Wunsch zusammenfinden zu wollen, worauf sie wartete! Die garstigen Karten, wie langweilig das wurde!
Sie stand zur Abwechselung auf, trat an’s Fenster, schob die Vorhänge ein wenig zurück und schaute hinaus. Ganze Etagen der gegenüber liegenden Häuser waren erleuchtet. Da sind sie versammelt, dachte sie, denen das alte Jahr nichts als Freuden gebracht hat und die nun bei gefüllten Gläsern auch in’s neue hinüberjubeln. Bei uns ging’s auch einmal so lustig her. Das ist vorbei. Alle meine Hoffnungen sind begraben. Ein Jahr wird nun hinschleichen wie das andere in einförmigem Dienst, und es wird von dem kärglichen Lohn wieder nichts erübrigt sein. Was nützt auch der schmale Spargroschen? Ein armes Mädchen bringt’s zu nichts, wenn es sich ehrlich hält. Und das bischen Hübschigkeit … Reell meint’s doch keiner. Die reichen Leute –! denen fällt alles in den Schooß. Und verdient haben sie’s doch wahrlich nicht. Aber es ist so in der Welt, daß man gar nicht darnach fragt. Wem’s bestimmt ist, der hat’s. Ah - wenn ich nur ein einziges Mal …
Marie seufzte recht schwer, ging an das Tischchen zurück, nahm die Karten auf, warf sie aber gleich wieder fort. Sie lügen doch nur, murmelte sie, das Glück läßt sich nicht zwingen. Könnte man nur schlafen! Womit die Zeit herumbringen? – Sie ergriff die Lampe und trat ins anliegende Schlafzimmer der Herrschaft, nochmals nachzusehen, ob alles in Ordnung. Da standen die beiden Betten unter dem blauseidenen Baldachin, an der Wand hinten schwereichene Garderobenschränke mit geschnitzten [853] Thüren, daneben aber der hohe venetianische Ankleidespiegel der gnädigen Frau mit großen glänzenden Lampen zu den Seiten und einem weichen Pelzteppich davor. Sie blickte im Vorbeigehen in den Spiegel, und auf dem Rückwege wieder. Die gnädige Frau hat ungefähr meine Statur, dachte sie, aber sie ist lange nicht so hübsch, und ist’s nie gewesen. Ja – wenn sie nicht so schöne Kleider anzuziehen hätte, und den blitzenden Schmuck …
Sie fand nichts zu thun und setzte sich wieder in ihren Lehnstuhl am Ofen. Sie zog den Roman heran, las ein paar Seiten, durchblätterte die Schlußcapitel. Die Augenlider waren ihr so schwer, der Mund verzog sich in immer kürzeren Pausen zum Gähnen. Sie stützte den Kopf in die Hand, nickte ein, raffte sich gewaltsam wieder auf und brachte sich in eine andere Lage. Aber in der nächsten Minute schon – –
Nein! so geht’s nicht weiter. Die Stunden sind nicht herumzubringen. Sylvester! Da will man sich amüsiren. Womit amüsirt man sich, wenn man so mutterseelenallein ist? Ah! man ist nicht allein, wenn man in den Spiegel sieht. Die Toilette der gnädigen Frau. Es ist ein so unschuldiges Vergnügen, sich ein klein wenig mit seinem lieben Ich zu beschäftigen. Kann man in ungefährlicherer Gesellschaft sein?
Der Gedanke erfaßte sie so blitzartig, so zwingend – und sie konnte nicht widerstehen. Sie eilte leichten Fußes in’s Schlafzimmer, zündete die Lampen zu beiden Seiten des Spiegels an, trat vor, trat zurück, beugte das blonde Köpschen nach rechts und nach links, hob und senkte das runde Kinn, lachte und zeigte die weißen Perlzähne, blickte schwermüthig und nickte zu ihrem Bilde hinüber. Ein ganz niedliches Gesicht, eine zierliche Figur – ja wohl! wir beide dürfen es einander eingestehen. Wer sonst sieht darnach? Wenn man ein armes Mädchen ist … Ja, wäre ich die gnädige Frau und könnte mich frisiren lassen, wie sie, und mit Blumen putzen und in Seide kleiden und mit Schmuck behängen –! Da solltest du Augen machen – du da!
Und kaum war’s gedacht, so nestelten die spitzen Fingerchen auch schon um Zopf und an dem Scheitel. Wie sie nur so schnell Kamm und Bürste in die Hand bekommen hatte? Wie gefällig sich die Löckchen über der Stirn kräuselten, wie gut die Flechten gelangen, wie stolz die Frisur sich aufbaute! Eine rothe und eine weiße Rose noch! Da stand ja der Carton, in dem die gnädige Frau ihre Blumen aufbewahrte, man braucht den Deckel nur abzuheben. Da! Dieses Sträußchen paßt trefflich – nein, dieses noch besser – und dieses gar … das kleidet entzückend.
Aber das garstige dunkle Wollenkleid dazu, und das einfache glatte Krägelchen –! Dazu gehört eine seidene Robe – hellblau oder weiß, mit luftigen Spitzen garnirt – und die Schultern …
Ob die gnädige Frau den Schrank wirklich verschlossen hat? Sie läßt manchmal den Schlüssel stecken. Wollen einmal sehen. Was thut’s denn? Nur des Spaßes wegen – und weil heut’ Sylvester ist! Sie erfährt ja doch nichts davon. –
Ach –! welche Herrlichkeit! Man merkt’s gar nicht so, wenn die gnädige Frau selbst sich damit geputzt hat. An ihr ist man’s gewohnt. Wenn ich aber … Welche Robe wähle ich nur? Die eine übertrifft immer die andere. Doch kleiden sie sicher nicht gleich gut. Pah! versuchen wir sie nach der Reihe! Das amüsirt am besten – und wir haben ja Zeit.
Dies Feuerroth ist doch zu auffallend … dieser weiße Atlas – wunderschön! aber man muß sich dazu schminken … Das hellblaue Kleid – ! Es sieht so einfach aus, und doch ist der Stoff der kostbarste. Und die Einsätze – und die Spitzen! Ja, das – das! – du gefällst mir, Mariechen – du siehst sehr nobel aus – wirklich sehr nobel …
Und sie verbeugte sich vor dem Spiegel, ließ sich tief nieder und erhob sich in einer Bogenlinie, blickte schelmisch über die weiße Schulter, drapirte sich mit einem luftigen Shawl, spielte mit dem Fächer von geschnitztem Elfenbein und gemalter chinesischer Seide. Die Toilette ist vollständig – es fehlt nur der Brillantschmuck. [854] Aber der fehlt wirklich! In dieser kleinen Truhe pflegt die gnädige Frau ihn aufzubewahren. Alles ist verschlossen – natürlich. Und den Schlüssel hat sie mitgenommen. Wie schade! Der Schmuck gehört nun einmal dazu. Man sieht so unfertig aus – und gar nicht vornehm. Nur eine Kette, ein Armband ...
Ob denn voll meinen Schlüsseln kein einziger paßt? Vielleicht doch! Es käme auf den Versuch an. Der – oder der? Zu groß – zu klein. Der aber -? Was schadet’s denn? Ich will ja nichts nehmen! Wenn sich das Schloß ohne jede Gewalt ... Ah! wie leicht der Schlüssel sich dreht! Und der Deckel – da ist er schon auf. Wie das glitzert und funkelt – welche Pracht!
Und mit hastenden Fingern nahm sie die Armbänder und legte sie um das schmale Handgelenk. Eine Agraffe steckte sie links über der Brust in den schimmernden Atlaß. Die Arme zierte sie mit Spangen, in die rosigen Ohrläppchen zog sie kleine Gehänge von blitzenden Diamanten, an die Fingerchen steckte sie Ringe – an jedes zwei, drei – immer mehr. Es durfte nichts zurückbleiben.
Wie schön sie war! Etwas Schöneres hatte der Spiegel noch gar nicht gesehen. War das die arme Marie? Sie konnte sich gar nicht satt schauen. Aber unangenehm wäre es ihr gar nicht gewesen, wenn auch noch ein Gewisser sie hätte in all dieser Herrlichkeit bewundern können – nur ganz zufällig natürlich, etwa durchs Schlüsselloch. Wo mochte der jetzt sein? Gewiß vergnügte er sich irgendwo und dachte gar nicht an sie.
Die Uhr der Aegidienkirche schlug feierlich langsam zwölf.
Vor einer Stunde kommen sie nicht zurück. Wir haben nicht Eile. Man hört ja den Wagen, wenn er sie abholen fährt. Dann ist’s allenfalls Zeit zum Auskleiden.
Die tiefen Töne klangen ihr wie der Grundbaß zu der Walzermelodie, die sie leise trällerte, die Pausen immer mit einigen flatternden Tacten ausfüllend.
Sie warf die Schleppe zurück, wiegte den Körper anmuthig hin und her, setzte sich, kokettirte mit dem Fächer, den Blick immer fest auf den Spiegel gerichtet. Plötzlich aber schien sie zu erstarren, alle Farbe wich von ihren Wangen, die Augen hefteten sich voll Entsetzen auf eine Stelle dicht über der linken Schulter ihres Ebenbildes, das nun gleichfalls wie versteinert war – – : das Gesicht eines Mannes hob sich ganz deutlich gegen den dunklen Hintergrund ab.
Marie wollte aufschreien, aber die Kehle brachte keinen Ton vor. Konnte sie sich getäuscht haben? Darin gewiß nicht, daß ein Mann hinter ihr stand. Die Augen bewegten sich, und der Mund lächelte wie spöttisch. Aber ob es wirklich der war, an den sie eben gedacht hatte –? Zwar flimmerte es ihr vor dem Gesicht, als ob das Lampenlicht unaufhörlich zuckte, und die Züge wurden immer undeutlicher. Doch die Aehnlichkeit ... Unter der scharf gebogenen Nase ragte ein dunkles Bärtchen zu beiden Seiten spitz auf, und in derselben Richtung strebten die Augenbrauen an der Stirn aufwärts; das Haar hob sich in zwei gesonderten Büscheln von der schmalen Stirn ab, und ein feiner Spitzbart schien das lange Kinn noch zu verlängern. Der Kopf war ihr sonst nicht so interessant vorgekommen, die Augenbrauen nicht so hochgeschwungen, der Bart nicht so spitz. Aber ein Irrthum war doch nicht möglich. Und die grauen Augen blitzten ja auch so sicher auf sie hinein - sie hätte in die Erde sinken mögen.
„Mein Herr,“ begann sie, nachdem sie sich von dem ersten Schreck ein wenig erholt hatte, zitternd und leise, - „in welcher Absicht ...?“
„In der unverdächtigsten, mein sehr verehrtes Fräulein,“ antwortete er lispelnd. „Ich komme nur, Ihnen meine aufrichtige Bewunderung zu erkennen zu geben und meine Dienste anzubieten. Sie sehen in der That reizend aus. Es wäre doch jammerschade, wenn Sie sich nur für sich selbst geschmückt hätten.“
„Aber dieses Kleid - diese Juwelen ...“ bemerkte sie mit ängstlicher Hast und verstummte wieder.
„Ich weiß, was Sie sagen wollen,“ fiel er lächelnd ein. „Ich bin ein Mann ganz ohne Vorurtheil: diese Robe, diese Blumen, diese Steine würden Sie nicht besser kleiden, wenn es der Zufall so gewollt hätte, daß Sie die reiche Frau geworden wären, bei der Sie nun diese unschuldige Anleihe machen. Ihre Schönheit hat das beste Recht darauf –“
„Sie entschuldigen – zu gütig, mein Herr ...“ Marie wagte sich zurückzuwenden. Da stand er nun vor ihr im feinsten Gesellschaftsanzuge, den Hut in der Hand.
„Ich habe durchaus nichts zu entschuldigen,“ versicherte er mit gefälliger Verbeugung. „Alles Natürliche erklärt sich selbst. Es giebt unter den Menschen keinen berechtigten Unterschied, als den die Natur selbst in sie gelegt hat. Den künstlich zugebrachten nach Möglichkeit abzugleichen ist allemal eine sehr dankenswerthe Aufgabe. Und man darf sich ja nur genügend hoch stellen, um die kleinen Bedenken schwinden zu sehen, die leider so oft alle Thatkraft lähmen.“
Diese Worte beruhigten sie sehr. „Wenn ich nur wüßte, mein Herr ...“ sagte sie schon freundlicher.
„Doch nicht, wer ich bin?“ fiel er ein.
„Nein, nur ob ich nicht irre ...“ flüsterte sie verlegen.
Er zuckte leicht die Achseln. „Wenn man sich freilich zum Ball hat frisiren, toupiren und in den modernsten Frack stecken lassen ... Aber wozu auch jedes Ding beim rechten Namen nennen? Ich bin heute für Sie Herr Wunschhold und betreibe zur Zeit auch wirklich kein anderes Geschäft, als denen gefällig zu sein, die mich brauchen.“
„Das ist sehr liebenswürdig,“ sagte Marie, doch wieder ein wenig stutzig gemacht. „Nur begreife ich nicht ... Ich glaubte doch die Thüren verschlossen zu haben.“
„O, ein so rein äußerliches Hinderniß -!“ entgegnete er achselzuckend. „Ich würde meinem Namen schlecht Ehre machen, wenn ich mich dadurch abhalten ließe. Und nun, mein Fräulein - zögern wir nicht länger! Es bleiben uns knapp zwei Stunden Zeit.“
Er trat näher, indem er bei jedem Schritte den linken Fuß ein wenig nachschleifen ließ, und bot ihr galant den Arm. Sie legte die Fingerspitzen darauf, ohne sich doch von der Stelle zu rühren, und fragte verwundert, was er im Sinne habe.
Er nahm ihre Hand und ließ sie nicht mehr los. Sie hatte die Empfindung, als müßte jeder Versuch, sie ihm zu entziehen, ganz fruchtlos sein.
„Mein Wagen hält vor der Thür,“ entgegnete er, „in wenigen Minuten sind wir auf dem Sylvesterball, zu dem Sie sich ja eben so herrlich geschmückt haben.“
„Nein, nein!“ versicherte sie lebhaft, aber nicht erzürnt. Das Herz hüpfte ihr in der Brust, und das Blut schoß ihr in die Wangen.
„Sie dürfen ganz aufrichtig sein,“ sagte er lächelnd. „Wenn eine schöne junge Dame sich zum Ball ankleidet ... und Sie trällerten vorhin schon einen Walzer –“
„Das haben Sie gehört, mein Herr ...“
„Ich bitte, folgen Sie mir ohne Bedenken!“ – Er zog sie sanft fort, und sie konnte nicht widerstehen. Es ging wie ein magnetischer Strom von ihm aus. Sie schloß die Augen, als wandele sie eine Ohnmacht an. Und im nächsten Augenblicke stand sie auch schon auf der Straße. Ihr Begleiter öffnete den Schlag eines Wagens und hob sie hinein. Sie konnte nur gerade noch bemerken, daß zwei Rappen vorgespannt waren und der Dampf aus ihren Nüstern eine Garbe von Feuerfunken schien. Es war ihr nun schon nichts mehr verwunderlich.
Das war eine Fahrt! Wie durch die Luft ging’s. Die Räder schienen das Pflaster garnicht zu berühren, die Hufe der Rosse nicht aufzuschlagen. Die Gaslaternen huschten nur so vorüber. Plötzlich schreckte Marie auf. „Ich habe die Handschuhe vergessen!“ rief sie.
„O, das thut nichts,“ beruhigte Herr Wunschhold. „Warum eine hübsche kleine Hand durch ein so garstiges Ding verunstalten? Und alle die köstlichen Ringe verstecken? - Auf unserm Ball hat übrigens Jeder irgend eine Kleinigkeit vergessen - das fällt nicht auf. Man hat’s so eilig, sich sein Vergnügen zu stehlen ... Aber, da sind wir zur Stelle!“
Aus einem breiten Portal drang eine Fülle von Lichtglanz auf die Straße. Diener in glänzender Livree sprangen zu, rissen den Kutschenschlag auf. Den ersten Absatz der Treppe hielt eine Doppelreihe von Herren in Frack und weißer Cravatte besetzt. Und wie das Paar vorüberschritt - der Cavalier immer ein wenig hinkend - verbeugten sie sich wie die Halme eines Kornfeldes, über die der Wind streicht. Und hinauf ging’s, immer hinauf, Treppe nach Treppe über farbenprächtige Teppiche und an strahlenden Kandelabern vorbei. Die Wände waren Spiegelglas, und wohin Marie sah, sah sie sich. Endlich öffnete sich ein riesiger Saal – Musik scholl ihnen daraus entgegen – Tanzpaare wirbelten [855] vorüber. Tausend Gasflammen brannten, aber sie erschienen wie Kohlen, denn elektrische Sonnen überstrahlten sie mit ihrem silberweißen Mondscheinlicht. Darunter war Alles Bewegung – ein großer Kreisel, in dem viele kleine Kreisel sich unaufhörlich drehten.
Marie taumelte neben ihrem Begleiter in das Gewoge hinein. Man verneigte sich vor ihr – sie fühlte sich von zwei kräftigen Armen gefaßt – im Saal herumgewirbelt. So hatte sie noch nicht getanzt. Der Herr ließ sie los, und sogleich drängte sich ein anderer zu. Man gönnte ihr keine Pause. Ihre Schönheit schien auf die ganze Schaar der Tänzer einen unwiderstehlichen Zauber zu üben. Immer wartete schon ein Dutzend, wenn sie mit einem die Runde gemacht hatte. Und ihr war's, als ob ihr unaufhörlich Jemand in’s Ohr flüsterte: „Schnell, schnell! die Zeit verrinnt – wir haben nur eine Secunde zwischen dem alten und neuen Jahr!“
Da fühlte sie deutlich, daß der Herr, der eben mit ihr walzte, ihr einen Ring vom Finger zog. Und nun wußte sie auch, daß ihr schon mehrere fehlten, die auf dieselbe Weise verschwunden waren. Der folgende Tänzer nahm wieder seinen Tribut und jeder folgende. Marie schämte sich zu sagen, daß die Ringe ihr nicht gehörten, und ließ es willenlos geschehen. Der Ringe wurden immer weniger. Und dann kamen die Armspangen an die Reihe. Der eine sagte: wir müssen die Musik bezahlen, und löste ihr die Agraffe von der Schulter. Nun wurde ihr sehr beklommen zu Muthe. Wie sollte das enden? Aber man ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken, songern zog sie immer wieder in den Kreis der Tanzenden, die ihr alle eine grünliche Gesichtsfarbe zu haben schienen. Da löste sich auch schon das Schloß des brillantenbesetzten Gliederarmbandes, es fiel an ihrem Kleide hinab – viele Hände griffen zu, zerrissen den Schmuck, vertheilten die einzelnen Glieder. Und wieder wirbelte der Tanz.
Plötzlich entstand ein Rückstau der Menge. Viele flüchteten nach den Ausgangsthüren, fanden dieselben aber verschlossen. Die Besitzerin des Locals war erschienen, eine corpulente, grell geschminkte, wunderlich frisirte Dame in feuerrothem tiefausgeschnittenen Kleide. Hinter ihr ging ein Diener, der zwei Teller trug und von Zeit zu Zeit die darin befindlichen Goldstücke schüttelte. Es war nicht zweifelhaft, daß jeder Festtheilnehmer dorthin seinen klingenden Dank zu entrichten habe. Marie besaß nichts; Herr Wunschhold, nach dem sie sich ängstlich umschaute, war verschwunden. Die feuerrothe Dame maß sie mit einem vernichtenden Blick und deutete mit der Hand auf ein Nebenzimmer. Sie mußte dem Winke folgen; die Thüre wurde sofort hinter ihr verriegelt. So war sie nun allein mit einem alten Weibe, das sich sofort daran machte, ihr die Seidenrobe auszuziehen, ohne auf ihr Weinen und Flehen zu achten. Sie warf ihr nur ein zerrissenes Wollentuch um die nackten Schultern und stieß sie dann durch eine kleine Seitenthür hinaus. „Frohes Neujahr, mein Töchterchen!“ gab sie ihr höhnisch mit auf den Weg.
Marie war es, als ob sie tief, tief fiel. Und da lag sie nun auf der Straße im naßkalten Schnee, und über sie hin jagten die vom schneidenden Winde getriebenen Flocken. Sie bebte vor Frost. Das Tuch zog sie am Halse fest zusammen, aber es wärmte sie nicht. Sie raffte sich auf und lief in großer Eile die Straße hinab, immer dicht an den Häusern hin. Ihr war so traurig zu Muthe, und sie schluchzte immer in sich hinein, indem sie zugleich vor Kälte und Angst zitterte. Was sollte sie nun anfangen, wenn sie nach Hause zurückkehrte? Wie durfte sie auf Verzeihung hoffen? Und wenn sie ausblieb, wohin sich wenden? Gewiß würde die Polizei bald hinter ihr her sein und sie als eine Diebin verhaften. Wer würde ihr glauben, daß sie alle die kostbaren Sachen der gnädigen Frau gar nicht habe entwenden wollen, und daß es ihr so schlecht gegangen sei? Sie konnte ja nicht einmal sagen, in welches Haus sie geführt war. Ihr schauerte, wenn sie sich das Gefängniß vorstellte – in dem Roman, den sie vorhin gelesen, war’s so grausig beschrieben. Eine Diebin! Nein, das überlebte sie nicht!
Sie schlug ein schmales Seitengäßchen ein, das nach dem Flusse hinabführte. Er war noch nicht fest gefroren, aber das Wasser lag schwerbeweglich wie geschmolzenes Blei, und im Scheine der Laterne, die drüben auf der Kaimauer brannte, funkelten die Eiskrystalle. Auf dieser Seite war das Ufer ziemlich flach; das Gäßchen senkte sich in einem Einschnitt desselben bis zu einem Floß hinab, das mit Ketten daran befestigt und über einen hölzernen Steg zugänglich war. Die arme Marie schwankte über denselben, kniete vorn auf dem Randbalken nieder, wie es die Wäscherinnen zu thun pflegen, beugte sich über und schaute in das trübe Naß. Sie wollte beten, aber in der Angst konnte sie nicht einmal das Vaterunser fertig bringen. Daß sie hinab mußte, um sich vor der Schande zu retten, war ihr ganz gewiß; aber ihr junges Leben that ihr doch so leid. Sie wünschte, es möchte ihr Jemand einen Stoß von hinten geben, daß es halb wider ihren Willen geschehen müsse. Und das Wasser so eisig kalt!
Da vernahm sie Lärm ganz in der Nähe. Mehrere Leute polterten mit schweren Schritten heran. „Wo ist sie geblieben?“ wurde gefragt. – „Dort, dort!“ – man suchte sie offenbar. Die Stimmen wurden lauter. Zwei oder drei von den Verfolgern sprangen schon hinter ihr auf’s Floß und trappten dabei kräftig auf. Es war ihr, als ob sie die gnädige Frau sprechen und endlich auch ihren Namen rufen hörte. Sie durfte nicht länger zögern –: ein Ruck des Oberkörpers – die Augen zugedrückt – die Hände gefaltet – und ...
Neues, heftiges Poltern an der Thür. – „Marie – Marie! Aber hörst Du denn nicht? Kann Jemand so fest schlafen?“
„Es wird ihr doch nichts zugestoßen sein? Man muß den Schlosser holen lassen.“
„Marie – Marie –!“
„Gnädige Frau ...“
„Ah! endlich. So öffne doch!“
„Ich hab’s wirklich – nicht thun wollen – gnädige Frau ...“
„Aber so schließe doch auf, Kind! Wir wollen in’s Zimmer.“
„In’s Zimmer? ... O, mein Gott –! In’s Zimmer – ja! die Lampe ... Gleich, gnädige Frau, gleich!
Der Schlüssel wurde mit Hast umgedreht. – „Sie sind’s wirklich, gnädige Frau ... und ich ... und alles war nur ...“
Sie rieb sich die Stirn, in die sich die Kante des Buches tief eingedrückt hatte, und die schlaftrunkenen Augen. „Ach, verzeihen Sie ...“
„Aber so tief zu schlafen!“
„Und so zu träumen“ – sagte Marie beklommen. „Wenn Sie wüßten –! Diese Sylvesternacht vergesse ich nicht mein Leben lang.“
„Nun geh’ zu Bett, es ist wirklich recht spät geworden. Und ein frohes neues Jahr, Marie!“
Ein frohes neues Jahr ...
Was wird’s der armen Marie bringen? – Das kann ich errathen: es ist ein Brief unterwegs, den der Briefträger morgen früh abgeben wird, und die Aufschrift scheint von einer männlichen Hand. Wo das Couvert verklebt ist, zeigt sich ein ganz kleines Bildchen. Im Zwielicht hielt ich’s erst für eine platzende Bombe, aber es stellt ein flammendes Herz dar. Man wird zugeben, daß das bei einem Neujahrsbrief nicht ohne Bedeutung ist. Was aber in demselben geschrieben steht – das ist Briefgeheimniß.
Die Hexenprobe.
Die mittelalterlichen Gottesurtheile, in denen die Entscheidung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten einem unmittelbar eingreifenden göttlichen Wunder anheimgegeben wurde, kamen in Deutschland schon während des 14. Jahrhunderts in Abnahme und verschwanden unter dem Einflusse des römischen Rechtes im Laufe des 15. Jahrhunderts vollständig aus dem deutschen Gerichtsverfahren. Nur eine düstere Domäne blieb ihnen, der Hexenproceß. War doch nach den Definitionen der Juristen die Hexerei ein Ausnahmeverbrechen und erheischte ein von den Normen des üblichen Rechtsganges entbundenes Ausnahmegericht. So haben denn hier alle Mächte des Aberglaubens zusammengewirkt, um mitten in der civilisirten Welt ein Ungeheuer von Rechtsverfahren zu schaffen, das an Dummheit, Rohheit und Heimtücke alle Gräuel der Wilden weit hinter sich läßt und der christlichen Cultur ein unauslöschliches Schandmal aufgedrückt hat.
Die Hauptperson in diesem Proceß war der Henker, der daher mit Recht in einigen deutschen Gegenden schlechthin „der kluge Mann“ genannt wurde; alle Zweifel löste der Scharfsinn des Folterknechts. Was der Angeklagte sagte oder that, ob er verneinte oder bejahte, ob er standhaft war oder verzagt, jeder Lebensumstand, jedes Wort, jede Miene verwickelte ihn nur um so unentrinnbarer im Kreuzspinnennetz des Inquisitors, bis er unter Martern verzweifelnd die Schuld bekannte, die für den Richter von Anfang an feststand. Die einzige Erlösung war der Tod. Ueber dem Eingang zum Hexenthurm stand wie über Dante’s Höllenthor die Inschrift: „Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung schwinden!“
Dem Verhör und der „peinlichen Frage“ pflegte das Gottesurtheil der Hexenprobe voranzugehen. Es gab verschiedene Arten, von denen in der Regel mehrere nach einander zur Anwendung kamen. Als die wichtigsten sind zu nennen: die Thränenprobe, die Nadelprobe, die Feuerprobe, die Wasserprobe und die Hexenwage.
Da nach allgemeinem Glauben die Hexen nicht weinen konnten, so legte der Richter der Angeklagten die Hand auf den Kopf und sprach: „Ich beschwöre dich um der bitteren Thränen willen die von unserem Heiland, dem Herrn Jesus Christus, am Kreuze für unser Heil vergossen worden sind, daß du, im Falle du unschuldig bist, Thränen vergießest, wenn schuldig, nicht!“ – In der Regel constatirten die Richter mit Genugthuung, daß die also Beschworene sich vergebens angestrengt habe zu weinen. Auch auf der Folter waren, so glaubte man, der wirklichen Hexe die Thränen versagt; weinte aber eine Gemarterte dennoch, so war das nach der Ansicht der untrüglichen Richter nur teuflisches Blendwerk.
Noch größeres Gewicht als dieser Thränenprobe legte man der Nadelprobe bei. Wie nämlich nach dem Propheten Ezechiel (9, 4), und der Offenbarung Johannis (7, 3) die Auserwählten Gottes das Zeichen des Heils an der Stirn tragen, so drückt der Teufel denen, die, von Gott abgefallen, sich ihm ergeben haben, ein unvertilgbares Zeichen auf, das sogenannte stigma diabolicum. Er macht dies entweder mit der einfachen Berührung seines Fingers oder er ritzt der neugewonnenen Hexe an irgend einem Körpertheil die Haut auf und saugt das rinnende Blut. Häufig bringt er dieses Merkmal an offen sichtbaren Stellen an, wie an der Hand, doch häufiger an verborgenen, z. B. unter der Zunge. Nach diesem Teufelszeichen wurde beim Hexenproceß eifrigst gesucht. Es sollte daran zu erkennen sein, daß es unempfindlich sei und kein Blut gebe. Daher stach der Henker mit einer langen Nadel in jede Narbe, jeden Leberfleck, jedes Muttermal am Leibe der Angeklagten. Der Erfolg dieser Probe lag völlig in der Willkür des Henkers; denn er war während derselben mit der Angeklagten in einer Kammer allein und konnte hernach aussagen, was er wollte. Doch wenn er auch gar nichts Verdächtiges fand, so ließ sich der Hexenrichter dadurch keineswegs irre machen. Denn, sagte er, der Teufel zeichnet nur diejenigen, deren er noch nicht ganz sicher ist; seine getreuesten Anhänger läßt er ohne Zeichen – und so wurde die Abwesenheit des Hexenmals nur ein um so schlimmerer Verdachtsgrund.
Von den in der Vorzeit üblichsten Formen des Gottesurtheils, der Feuerprobe und der Wasserprobe, war die erstere im Hexenproceß nicht beliebt. Nach dem Criminalcodex der Hexenrichter, dem berüchtigten „Hexenhammer“, sollte zwar der Richter die Angeklagte fragen, ob sie zum Beweise ihrer Unschuld das glühende Eisen tragen wolle; er sollte ihr aber diese Probe nicht gestatten. Denn, so lautet die Begründung, die meisten erklären sich dazu bereit, weil sie auf die Hülfe des Teufels hoffen; auch gebe es betrügerische Mittel, um die Hand unverletzt zu erhalten. Daher sei die Berufung auf die Feuerprobe geradezu als ein weiterer Verdachtsgrund zu betrachten. Der einzige Fall, der uns bekannt ist, stammt noch aus der Zeit kurz vor Abfassung des „Hexenhammers“ (1487). Im fürstlich Fürstenbergischen Archiv zu Donau-Eschingen ist eine Urkunde erhalten, wonach sich eine gewisse Anna Henne von Röthenbach im Schwarzwald im Jahre 1485 durch das Tragen des heißen Eisens von der Beschuldigung des Hexenwerks zu reinigen vermochte.
Das am weitesten verbreitete und am längsten ausgeübte Hexenordal, die Hexenprobe schlechthin, war die Wasserprobe, das Hexenbad. Von alten Zeiten her hatte man bei den verschiedensten Völkern die Schuld eines Angeklagten dadurch zu erforschen gesucht, daß man ihn in’s Wasser warf. Dabei galten entgegengesetzte Anschauungen. Nach der einen handelte es sich für den Angeklagten darum, sich möglichst lang unter Wasser zu halten. So wurden bei den Tagalas auf den Philippinen sämmtliche eines Diebstahls verdächtige Personen in’s Wasser geworfen: wer zuerst wieder auftauchte, war der Dieb. Die gleiche Probe bestand bei den Papuas auf Neu-Guinea und bei den Negern der afrikanischen Goldküste. Auch die jüngeren Gesetzbücher der Inder bestimmten, daß der Angeklagte, an den Beinen eines im Wasser stehenden Mannes sich festhaltend, solange untergetaucht bleiben solle, bis ein abgeschossener Pfeil von einem Dritten im Laufe zurückgeholt werde; tauche er früher auf, so sei er schuldig.
Nach der anderen, verbreiteteren und alterthümlicheren Anschauung sollte die Unschuld des Angeklagten durch Untersinken, die Schuld durch Obenschwimmen erwiesen werden. Das Untersinken im Wasser galt überhaupt für ein günstiges Zeichen. Schon im Alterthum achteten die Syrer am Libanon darauf, ob die in den See Boëth geworfenen Opfergaben zu Boden sanken; geschah dies, so war es ein gutes Omen. Dieselbe Wasserprobe mit Opferkuchen übten die Lacedämonier. Auch die Schweden des 11. Jahrhunderts prüften die Richtigkeit eines Volksbeschlusses dadurch, daß sie einen Mann in den heilige Brunnen von Upsala niederließen: sank er unter, so war der Beschluß gültig.
Diesem Brauche lag die uralte Vorstellung von der Heiligkeit des Wassers zu Grunde. Das Wasser weiht und entzaubert; das Wasser hält böse Geister ab; das Meer stößt alle seine Leichen aus und duldet kein Blut, daher sich schiffbrüchige Schwimmer den Arm blutig bissen, um vom Meer nicht verschlungen zu werden. So wehrt das reine Element auch alle moralische Befleckung von sich ab; den Verbrecher nimmt es nicht auf. Die Wasserprobe in diesem Sinne findet sich bei den Indern in ihrem ältesten Gesetzbuch, bei den Slaven und den Germanen. Die alten Gesetze der germanischen Stämme schreiben zwar das Wasserordal nicht vor; es muß aber dennoch im Gerichtsgebrauch gegolten haben, da es der Kaiser Ludwig der Fromme im Jahre 829 verbot. Wie wenig dieses Verbot gefruchtet hat, ersehen wir daraus, daß es 400 Jahre später vom Papst Innocenz III. auf dem lateranischen Concil (1215) wiederholt wurde. In England wurde bis um jene Zeit die Wasserprobe bei Mord- und Raubklagen angewendet. So wurde im Jahre 1177 einer der vornehmsten Londoner Bürger, Johannes Senex, der mit andern jungen Leuten aus adeligen Familien nächtliche Raubanfälle verübt hatte, durch die Wasserprobe überwiesen und dann gehängt. In Deutschland hatten sich diesem Gottesurtheil hauptsächlich niedere Leute und Knechte zu unterziehen. Doch soll auch ein Reichsfürst, der Graf Welf, im Jahre 1126 in einem Rechtshandel mit den Bisthümern Augsburg und Freising dadurch seine Unschuld bewiesen haben. Das um 1230 von Eike von Repkow verfaßte Rechtsbuch der Niedersachsen, der „Sachsenspiegel“, ordnet an: „wenn zwei Männer ein Gut beanspruchen und die Nachbarn darüber kein Zeugniß zu geben wissen, so solle das Wasserurtheil entscheiden.“ Dieselbe Bestimmung hat das schwäbische Landrecht [858] im „Schwabenspiegel“ (aus den sechsziger oder siebenziger Jahren des 13. Jahrhunderts), wo außerdem noch den wegen Raub, Diebstahl oder Falschmünzerei zum zweiten Mal Angeklagten der Reinigungseid verweigert und dafür die Wahl gelassen wird, das Wasserurtheil zu bestehen oder das heiße Eisen zu trage oder in einen wallenden Kessel zu greifen bis an den Ellenbogen.
Von einer Anwendung der Wasserprobe gegen Zauberer und Hexen im Mittelalter ist, in Europa wenigstens, nichts überliefert. Aus Indien berichtet der arabische Reisende Mohammed ibn Batuta, daß im Jahre 1330 eine Frau, die im Verdacht stand, einem Jüngling durch den bösen Blick das Herz in der Brust verzehrt zu haben, mit vier Tonnen voll Wasser an Händen und Füßen in einen Fluß geworfen und, da sie nicht untersank, verbrannt wurde. Erst im 16. Jahrhundert lassen sich Fälle dieser Art in Deutschland nachweisen, die frühesten in Westfalen, dann in Lothringen, den Niederlanden, Frankreich und England.
Das Hexenbad geschah meist öffentlich. Die Angeklagte wurde entkleidet und kreuzweis gebunden, so daß der rechte Daumen an der linken großen Zehe, der linke Daumen an der rechten großen Zehe festgeknüpft war. So wurde sie an einem Seil mit dem Rücken auf das Wasser hinabgelassen; war sie eine Hexe, so schwamm sie „wie Pantoffelholz“. Häufig findet sich in den Acten die Angabe, der Teufel habe der Hexe versprochen, ihr bei der Wasserprobe mit einer Eisenstange zum Sinken zu verhelfen; er habe ihr aber im entscheidenden Augenblick zum Hohne nur eine Nähnadel gebracht. Auch hier hatte wieder der Henker in der Art, wie er die Gebundene auf das Wasser legte, den Erfolg der Probe in der Hand. Theologen und Juristen aber bewiesen die Unfehlbarkeit dieser Procedur mit der Heiligkeit, welche dem Wasser durch seine Verwendung bei der Taufe verliehen werde, sodaß es Alles, was durch die Berührung des Teufels befleckt sei, von sich stoße. Es ist offenbar, schrieb der gekrönte Hexenhenker Jacob I. von England, Gott hat als ein übernatürliches Zeichen von der ungeheuerlichen Gottlosigkeit der Hexen angeordnet, daß das Wasser diejenigen in seinen Schoß aufzunehmen widerstrebt, welche das heilige Wasser der Taufe von sich geschüttelt haben. Dazu kam, daß man den Zauberern überhaupt wegen ihrer angeblichen Fähigkeit, durch die Luft zu fliegen, ein geringeres specifisches Gewicht zuschrieb. Schon die alten Griechen hatten den wegen ihrer Zauberkünste berüchtigten Thibiern am Schwarzen Meere nachgesagt, daß sie im Wasser nicht untersinken könnten.
Lange nachdem die Gottesurtheile im Civil- und Criminalproceß abgeschafft waren, erhielt sich die Wasserprobe als vorläufige Prüfung im Hexenproceß, obgleich sich früh schon gewichtige Stimmen dagegen erhoben. Die Universität Leyden gab schon im Jahre 1594 ihr Gutachten dahin ab, daß die Wasserprobe in keiner Weise als Beweismittel gelten könne; das häufige Obenschwimmen der Angeschuldigten erkläre sich aus der Art, wie sie kreuzweis gebunden gleich kleinen Schiffchen mit dem Rücken auf das Wasser zu liegen kommen. Auch in Frankreich wurde dieses Ordal, das man dort gegen geringe Leute in einer Kufe voll Wasser anzuwenden pflegte, durch einen Beschluß des Parlaments von Paris im Jahre 1601 verboten. Dennoch unterwarfen sich noch 1696 einige Verdächtige zu Montigny bei Auxerre freiwillig der Wasserprobe und ließen sich darüber eine notarielle Urkunde ausstellen. In den österreichischen Gesetzen wurde gleichfalls schon im 17. Jahrhundert die Wasserprobe „als eine verborgene, ungewisse, teuflische, Gott versuchende Anzeige“ ausgeschlossen. Dafür ließ aber der bayerische Oberst Hans Sporck im Jahre 1644 zu Schwäbisch-Hall eine Reihe von Soldatenweibern binden und zur Probe in den Kocher werfen! In Westpreußen fanden die amtlichen Hexenproben noch im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts statt. Damals kam eine ehrliche Frau aus Bischofswerder in den Ruf der Zauberei, weil ihr Vieh durch ihren Fleiß auffallend wohl gedieh. Im Gefühle ihrer Unschuld beredete sie ihren Mann, mit ihr nach Grunau im Kreise Flatow zu fahren, und unterzog sich dort mit anderen Verdächtigen der Wasserprobe. Allein zu ihrer größten Scham und Bestürzung schwamm sie sammt den übrigen und kam beim Volke erst recht in’s Geschrei. Die Herrschaft aber war verständig genug, trotzdem an ihre Unschuld zu glauben und sie unbehelligt zu lassen.
Im Jahre 1721 verbot der König Friedrich Wilhelm I. alle Hexenprocesse. Dennoch spukte der Unsinn noch lange und nicht blos in den Köpfen des niederen Volks. Von jeher haben die meisten Menschen an den Vorstellungen, welche ihnen in der Kindheit beigebracht worden sind, mit einer Pietät festgehalten, die alle Kritik ausschließt. Gewiß sind darunter jederzeit sehr ehrenwerthe, sehr wohlmeinende, oft auch sehr geistreiche Männer gewesen, und die von ihnen vertretene Tendenz des Beharrens hat als mäßigendes Element auf den Gang der menschlichen Entwickelung im Ganzen vortheilhaft gewirkt. Aber ebenso sicher ist, daß, wenn sie einzig maßgebend wären, die Menschheit noch nicht einmal die Culturstufe des Australnegers erreicht hätte. Jeder Fortschritt, und handelte es sich auch um die Abschaffung der elendesten Mißbräuche, mußte diesem conservativen Theile der Menschheit in heißem Kampfe abgerungen werden. Es darf uns daher nicht wundern, daß selbst die Hexenprocesse, die Tortur und die Wasserprobe noch lange ihre überzeugungstreuen Vertheidiger gefunden haben.
Noch im Jahre 1787 machte der katholische Pfarrer von Parchow bei Bütow in Pommern eine Eingabe an den König Friedrich Wilhelm II., in welcher er über die bedrohliche Zunahme der Hexerei und Besessenheit in dortiger Gegend klagte und die allerunterthänigste Bitte stellte, Seine königliche Majestät möchte „ohne Verzug denen Besitzern des Dorfes Zukowke wie auch zu Parchow gnädigst schwimmen befehlen“; denn dieses sei das einzige allerbeste Mittel, die Zauberer, als welche wie die Enten schwimmen und nie zu Grunde gehen, zu erkennen. Der Eingabe war ein Namensverzeichniß der Hexen und Zauberer beigelegt. Unter Parchow stand der Vermerk: „Es werden sich aber allhier noch mehrere Zaubere und Zauberer finden; nur muß das ganze Dorf geschwommen werden.“
Diese Bitte wiederholte im September desselben Jahres ein benachbarter Edelmann, der in seinem seltsamen Deutsch dem Könige folgendes traurige Erlebniß zu klagen hatte: „Ew. Majestät werden es zu Gnade halten; ich bin dieses Jahr den 3. Mai bei einem Freimann (einem freien Bauern) Namens Michel N. N. auf die Hochzeit invitieret, da nicht hingehen wollte. Der Mann hat nicht abgelassen, da endlich hingangen. Wie ich zum Essen aus einem Spitzglas Branntwein trunk, kam mir was in den Hals, ging aber herunter. Um ein Weilchen nahm ich wieder einen Schluck aus demselbigen Spitzglas; da kam mir wieder was in den Hals und blieb stehen, und das Vorige, was heruntergangen, kam auch wieder in die Höhe und conjungierten sich recht im Schlucks, und das habe ich vorerst nicht ‚effomiret‘ (evomirt); aber nach und nach ward das immer schlimmer, und habe im Hals Brennen und Reißen und theils in der Brust und eine sehr große Beängstigung und eine erstaunende Plage. Also nach aller Absicht weiß ich nicht anders, als daß mir in dem Branntwein angeflogen, einen bösen Geist einzutrinken. Der Geist ist wie ein Nebel. Der Teufel thut sonst keinem Menschen nichts; aber die Leute, so mit dem Teufel Pacta haben, die befehlen ihm, daß er das thun muß. – Ich bin ein Mann 68 Jahr alt und habe das Unglück erlebet und die Plage. Als komme mit flehender Bitte an Ihro Majestäten, ob der Michel N. N. nicht wegen der bösen That, die mir geschehen, in seinem Hause die Freiheit und die Erlaubniß bekommen kann, zu untersuchen. Das Wasser ist heilig, die Wasserprobe ist gerecht. Kein Zauberer wird nicht ersaufen, noch zu Grunde gehen. Ein Zauberer hat Teufelszeichen am Leibe wie ein Schwamm; wenn er bestochen wird, hat keine Fühlung. Ein guter Mensch, ein Gotteskind, wenn das auf’s Wasser geschmissen wird, geht gleich unter. Seliger Andenken hoher Monarchen, hochseligen König Majestäten Friedrich Wilhelm Regierung sind noch Protocolla vorhanden, daraus deutlich zu ersehen, was das für eine Beschaffenheit damit hat.“
Solches schrieb der gute Freiherr im Jahre, da Goethe die „Iphigenie“, Schiller den „Don Carlos“ vollendete, sechs Jahre nach Lessing’s Tod und nach Kant’s „Kritik der reinen Vernunft“!
Aber leider hat unser culturstolzes 19. Jahrhundert kein Recht, auf die Thorheit des 18. pharisäisch herabzusehen. Die Gluth der Hexenbrände glimmt noch immer unter der Asche fort. Der Teufelswahn hat noch zahllose Anhänger. Von den Dämonen des Aberglaubens vor Allem gilt Schiller’s Wort:
„Leicht aufzuritzen ist das Reich der Geister;
Sie liegen wartend unter dünner Decke,
Und leise hörend stürmen sie herauf.“
Daß bei den Serben und andere halbcivilisirten Völkern noch immer Frauen als Hexen geschwemmt werden, darf uns nicht [859] in Erstaunen setzen, wenn noch genug Leute existiren, welche Hexenproben in Deutschland und in den Niederlanden miterlebt haben. Im Jahre 1823 ging durch alle Zeitungen die Nachricht, daß zu Delten in Geldern eine Frau von mittleren Jahren, welche in den Verdacht der Hexerei gekommen war, sich selber erboten habe, ihre Unschuld durch die Wasserprobe zu beweisen; daß diese Probe wirklich am hellen Mittag vor den Augen der herbeiströmenden Zuschauer in dem nahen Fahrwasser vorgenommen worden und zu ihren Gunsten ausgefallen sei. – Der glückliche Ausgang macht diesen Fall zum Possenspiel. Von fürchterlichem Ernst aber war ein anderer, der sich dreizehn Jahre später auf der Halbinsel Hela bei Danzig ereignete. Ein Mann des kassubischen Dorfes Ceynowa erkrankte an der Wassersucht, und ein Wunderdoctor bezeichnete dem versammelten Dorf eine einundfünfzigjährige Wittwe, Mutter von fünf unmündigen Kindern, als die Hexe, die ihn krank gemacht habe. Um sie zu zwingen, dem Verzauberten zu helfen, schlug und trat er die arme Frau in der erbarmungslosesten Weise; ebenso schlug sie der Kranke, an dessen Bett sie geführt wurde, mit einem Stocke blutig. Dann ruderten die Fischer und der Wunderdoctor zweimal mit ihr in’s Meer hinaus, banden ihr die Hände und warfen sie aus dem Boote. Beim zweiten Male zogen sie die Mißhandelte so lange im Wasser nach, bis sie ertrank. Die näheren Umstände lauten so grauenhaft roh, daß man einen Bericht aus den Ländern der Kannibalen zu lesen glaubt. Und das geschah im preußischen Staat im August des Jahres 1836!
Von den bisher genannten Hexenordalen waren die Nadelprobe und die Wasserprobe die häufigsten. Viel seltener war die letzte, welche noch zu nennen ist, die Probe der Hexenwage.
Ein förmliches Gottesgericht der Wage, wobei das Gewicht des Menschen über seine Schuld oder Unschuld entscheiden soll, finden wir sonst nur in Indien. Zwar kommt es in der ältesten Rechtsquelle, dem Gesetzbuche des Manu, noch nicht vor; das kennt nur den Reinigungseid, die Feuerprobe und die Wasserprobe. Aber in der späteren Fünfzahl und der noch späteren Neunzahl der indischen Gottesurtheile steht das der Wage obenan. Es war vorgeschrieben für Brahmanen, Frauen, Kinder, Greise, Kranke, Blinde und Lahme. Der Angeklagte fastete einen Tag, badete dann in heiligem Wasser, opferte im Feuer und verehrte die Götter. Dann wurde er in einer vorschriftsmäßig gebauten Wage zweimal gewogen, und wog er beim zweiten Male weniger als beim ersten, so war er unschuldig. Das entscheidende zweite Wiegen geschah mit großer Feierlichkeit. Die Wage wurde mit Fahnen und Kränzen geschmückt. Opfer wurden beim Schall der Instrumente den Göttern dargebracht. Der Richter stellte den mit dem Wiegen beantragten Männern vor, daß, wenn sie nicht ehrlich dabei zu Werke gingen, ihnen im Jenseits diejenigen Strafen zu Theil würden, die den Mörder eines Brahmanen und den falschen Zeugen erwarten. Darauf wurde dem Angeklagten ein Blatt um den Kopf gebunden, auf dem die gegen ihn gerichtete Anklage geschrieben stand zugleich mit dem Spruche: „Sonne und Mond, Wind, Feuer, Himmel, Erde, Wasser, das Herz und Yama (der Todtenrichter), Tag und Nacht, beide Dämmerungen und Dharma (der Gott des Rechts) kennen des Menschen Wandel.“ Dann sprach der Richter oder der Angeklagte selbst ein Gebet an die Wage wie folgendes: „Du, o Wage, bist der Sitz der Wahrheit. Du wurdest vor Alters von den Göttern erfunden. Bring die Wahrheit an den Tag, du Geberin des Glücks, und reinige mich von allem Verdacht! Wenn ich schuldig bin, o du gleich meiner Mutter Verehrungswürdige, dann laß mich niedersinken! Bin ich aber schuldlos, so hebe mich in die Höhe!“ – Ueber den Fall, daß beim zweiten Wiegen das Gewicht sich gleich bleibe, waren die Gesetzgeber getheilter Meinung: nach dem eineh war dies ein Zeichen der Schuld wie das schwerere Gewicht; nach dem andern war es ein Zeichen geringerer Schuld; nach dem dritten sollte die Probe wiederholt werden.
Wie wir noch heute bildlich von einer Last der Schuld sprechen, so sollte also hier die von einem göttlichen Geist beseelte Wage symbolisch andeuten, ob diese Last auf dem Angeklagten liege oder nicht. Eine ganz andere Vorstellung lag dem Glauben an die Hexenwage zu Grunde. Schon bei der Wasserprobe haben wir gesehen, daß den Zauberern ein geringeres specifisches Gewicht beigelegt wurde, als anderen Menschen. Sie mußten also überhaupt ihrem absoluten Gewichte nach leichter sein als andere von gleicher Leibesbeschaffenheit. Wie bei der Wasserprobe derjenige schuldig war, der oben schwamm, so wurde durch das Urtheil der Wage derjenige als schuldig erwiesen, der weniger wog, als er nach seinem Aussehen geschätzt wurde.
Im Jahre 1728 wurde zu Szegedin in Ungarn nach dortigem Gebrauche an einer Anzahl Personen beiderlei Geschlechts, die der Hexerei beschuldigt waren, außer der Wasserprobe auch die Probe mit der Wage vorgenommen. Dabei, so sagt ein gleichzeitiger Bericht, habe sich das Wunder ergeben, daß ein großes dickes Weib nicht mehr als anderthalb Loth, ihr Mann, welcher auch nicht von den kleinsten war, nur fünf Quentchen, die übrigen aber entweder ein Loth oder drei Quentchen oder noch weniger gewogen haben. Sie wurden sämmtlich lebendig verbrannt.
Wenn nicht, wie hier, offenbarer böswilligster Betrug mitunterlief, so mußte dieses Gottesurtheil stets zu Gunsten des Beschuldigten ausfallen. War man doch in Friesland schon zufrieden, wenn der Gewogene über elf Pfund schwer war. Im Jahre 1707 wog der Pöbel bei Bedford in England ein verschrieenes Weib gegen die zwölfpfündige Kirchenbibel ab, und da es sich schwerer als diese erwies, wurde es frei.
Die berühmteste Hexenwage befand sich in der holländischen Stadt Oudewater an der Yssel. Die Bürger beriefen sich auf ein von Kaiser Karl V. ihnen verliehenes Privilegium, wornach die der Zauberei Beschuldigten auf ihrer Stadtwage sollten gewogen werden, und wenn sich dabei ergäbe, daß das Gewicht der gewogenen Person mit der natürlichen Beschaffenheit ihres Körpers übereinstimmte, so sollte das bei allen Gerichten des heiligen römischen Reichs Glauben finden und jede andere Probe ausgeschlossen sein. Wann und wo der Kaiser dieses Privilegium erteilte, ist unbekannt; weder das Original noch eine Abschrift der Urkunde ist erhalten. Im Jahre 1575, als die Spanier die Stadt erstürmten und die Einwohner niedermachten, ging das Stadthaus mit allen Pergamenten und Papieren in Flammen auf. Ueber die Veranlassung dieses Privilegs gab es verschiedene Meinungen. Nach der einen hörte der Kaiser in einem benachbarten Dorfe, daß dort Jemand wegen Zauberei verbrannt werden sollte, weil sein Gewicht zu gering befunden worden sei. Der Kaiser verlangte Bericht über den Verlauf des Processes, und da er sah, daß der Schulz und der Pastor in ungehöriger Weise vorgegangen waren, verfügte er, daß der Beschuldigte zu Oudewater gewogen werden solle, weil dort das Troy-Gewicht (das nach der Stadt Troyes benannte französische Handelsgewicht) gebraucht werde. Nach einer andern Ueberlieferung hatte der Kaiser vernommen, daß in der Stadt Oudewater nie ein Mensch als Zauberer verbrannt worden sei, weil man da die Uebung habe, die Beschuldigten zu wiegen, statt sie wie anderwärts der Wasser- und Nadelprobe zu unterwerfen. Darauf soll der Kaiser unter Gutheißung einer so verständigen und menschenfreundlichen Maßregel die Stadt mit jenem Privilegium begabt haben.
Und menschenfreundlich in der That war diese Anordnung, die den Aberglauben mit seinen eigenen Waffen bekämpfte; sie hat viele vor der Folterbank und dem Scheiterhaufen bewahrt. Denn welche Bewandtniß es auch mit dem Privilegium haben mochte, thatsächlich genoß die Stadtwage von Oudewater fern und nah das allgemeinste Vertrauen, und Leute, die in ihrer Heimath in den Verdacht der Hexerei kamen, wurden von ihren Gerichten hingeschickt, um sich wiegen zu lassen und ein Attest darüber heimzubringen. Besonders zahlreiche Kundschaft kam aus den Bisthümern Köln, Münster und Paderborn. Ein Augenzeuge aus den Jahren 1645-1648 erzählt von einem jungen Mann aus Paderborn, der in solcher Angst hinkam, daß er eher einem Todten als einem Lebenden glich; als er aber die Probe glücklich bestanden, sprang er vor Freuden auf und rief: „Das heißt Leben und Gut gewonnen!“
Das Wiegen geschah vor einer besonderen Commission, welche aus zwei Schöffen und dem Stadtschreiber bestand. Die Person mußte sich bis aufs Hemd entkleiden und wurde untersucht, ob sie nicht irgend einen Gegenstand, der sie schwerer machen sollte, bei sich trage. Bei Männern nahm der Gerichtsbote, bei Frauen die Stadthebamme diese Untersuchung vor. Frauen mußten ihre Haare aufgelöst über die Schultern fallen lassen. Der geschworene
[860][861] städtische Wagemeister wog die Person, und der Stadtschreiber stellte darüber das Certificat aus.
Es sind uns mehrere solcher Urkunden in holländischer Sprache erhalten. Als Beispiel diene eine der letzten, aus dem Jahre 1717, welche ein holländisches Ehepaar betrifft:
- Wir Bürgermeister, Schöffen und Räthe der Stadt Oudewater in Holland thun kund und bescheinigen hiermit auf Ansuchen des Klaas Ariens van den Dool, gebürtig zu Noordeloos, gegen sieben und dreißig Jahre alt, mit blauen Augen, dunkelbraun von Haut und Haar, – und der Neeltje Ariens Kersbergen, gebürtig von Lakerveld, gegen ein und dreißig Jahre alt, von mäßiger Postur, braun von Haut, mit blauen Augen, – Mann und Frau, wohnhaft auf dem Dool unter Meerkerk, – daß heute vor uns erschienen sind die Herren Dirk van der Lee und Gerrit Ingen van Liesveld, Schöffen dieser Stadt, zugleich mit Jan Racaute, geschworenem Wagmeister, welche auf Ansuchen der Bittsteller erklärten, sie wollten wahr und wahrhaft sein; daß sodann durch den vorgenannten Wagmeister auf ernstliches Ansuchen der Bittsteller in Gegenwart der vorgenannten Herren Schöffen und anderer notabler Personen der vorgenannte Klaas Ariens mit der gewöhnlichen Wage und dem richtigen Troy-Gewicht, wie man es stets in dieser Stadtwage gebraucht, ist gewogen worden, nachdem Philipp van der Werf, Gerichtsbote dieser Stadt, erklärt hatte, daß derselbe Klaas durch ihn entkleidet und Schuhe, Strümpfe sammt den andern Kleidern ausgezogen worden seien, und so allein im Hemde, ohne daß er irgend etwas Schweres an sich hatte, ist derselbe hundert und zwei und zwanzig Pfund schwer befunden worden. Darauf ist die vorgenannte Neeltje Ariens damit gewogen worden, nachdem Jacomyntje Aerts Dekker, Stadthebamme allhier, erklärt hatte, daß die mehrgemeldete Neeltje von ihr war entkleidet, Schuhe und Strümpfe ausgezogen worden, und so allein bedeckt von ihrem Hemde und ihrem schwarzen Frauenmantel (falie), mit lose von ihrem Haupte hangenden Haaren, ohne daß sie irgend etwas Schweres bei sich hatte, ist dieselbe Person hundert und zehn Pfund schwer befunden worden. Dem gemäß bescheinigen wir, daß das vorgenannte Gewicht beider Personen mit deren natürlicher Leibesbeschaffenheit sehr wohl zusammenstimmend ist befunden worden, und da sie hierüber unseren offenen Bestätigungsbrief sich erbaten, um sich desselben gehörigen Falles zu bedienen, haben wir ihnen denselben nicht verweigern können noch wollen.
- Alles ohne Betrug und zum Beweise der Wahrheit haben wir dies mit unserem Stadtsiegel und der Unterschrift unseres Stadtschreibers bekräftigt am 21. Juni 1727.
Gebühren. | |||||
Schöffen | 1 | Gulden | 16 | Stüber | |
Stadtschreiber | 2 | „ | 18 | „ | |
Bote | 12 | „ | |||
Wagmeister | 12 | „ | |||
Hebamme | 12 | „ | |||
Summa | 6 | Gulden | 10 | Stüber. |
Zahlreiche solche Bittsteller kamen freiwillig nach Oudewater, ohne von ihrem Gerichte dahin geschickt zu sein; denn es war das beste Mittel, jeden auftauchenden Verdacht der Zauberei gleich im Keime zu ersticken. So wurde einmal ein Mann in einem ungenannten deutschen Ort von einem andern, mit dem er in Streit gerathen war, als Hexenmeister verschrieen. Seine Freunde riethen ihm gleich, sich in Oudewater wiegen zu lassen, und er reiste auch dahin, unterließ aber die Probe aus Unschlüssigkeit oder Furcht und kehrte ohne Attest in seine Heimath zurück. Die Folge war natürlich, daß sich nun das Gerücht verbreitete, er sei gewogen und zu leicht befunden worden, und der Richter, dem das zu Ohren kam, stellte einen Haftsbefehl gegen ihn aus. Zu seinem Heile wurde er noch rechtzeitig gewarnt und entfloh. Er traf mit einem zusammen, dem es ähnlich ergangen war, und dieser rieth ihm dringend, nach Oudewater zurückzukehren. Er faßte sich ein Herz, ging hin, ließ sich wiegen und brachte die gewünschte Bescheinigung nach Hause. Damit war sein guter Name wieder hergestellt, und der Richter gab ihm sein Vermögen, das er bereits confiscirt hatte, wieder heraus.
Vor allen andern Menschen waren diejenigen, die ein herumziehendes Leben führten, beim Volke der Zauberei verdächtig. In manchen Gegenden, wie am Niederrhein, war das Wort Zigeunerin gleichbedeutend mit Hexe. Daher lag es diesen Heimathlosen besonders nahe, in Oudewater ihre Zuflucht zu suchen. Eine solche Scene hat der Künstler, dem wir unsere Abbildung verdanken, dargestellt. Wir sehen da allerlei fahrendes Volk, eine Zigeunerbande und Bittsteller in Pilgertracht, welche vor der Rathscommission erschienen sind, am sich den rettenden Vorweis zu holen.
Nach unverbürgter Ueberlieferung datierten diese Proben bis in’s Jahr 1773. Die letzte, von der wir sichere Kunde haben, wurde im Jahre 1754 mit einem Mann und einer Frau aus dem Münsterlande vorgenommen.W. H.
Zwei Weihnachtsepisteln.
- Lieber Alfred!
Ich muß schreiben; ich sage Dir: ich muß. Es ist durchaus nöthig, daß ich mich gegen irgendwen ausspreche, wenn sich der Aerger nicht versetzen und mich Karlsbad oder Kissingen in den Rachen werfen soll. Und Du bist Junggeselle (danke Gott!), das heißt, Du wirst meine Auslassungen nicht auf dem Umwege über Deine Frau an die meinige befördern – was mir nicht gerade angenehm wäre und Du kannst Nutzen daraus ziehen, für den Fall, daß Deine vorgerückten Jahre Dich so wenig vor Heirathsgedanken schützen sollten, wie mich die meinen geschützt haben.
Diese Weihnachtsbeschererei bringt mich noch um. Jedes Jahr dieselbe Geschichte – gute Vorsätze, und dann: am Ende wird’s wieder so „wie voriges Jahr es am heiligen Abend war“ – singt eben der Chorus meiner Drei (meine Frau ist ausgegangen, „einkaufen“ natürlich). Diese Kannibalen können hier singen, während ich mir die Haare ausraufen möchte! Natürlich: Lottchen hat wahrscheinlich ihre diesjährige Landschaft schon fertig (drei solche Monstra hängen bereits eingerahmt in meinem Zimmer; es „wäre ja unrecht, wenn man dem Kinde die Freude nicht machte!“), Fritz hat seine laubgesägte Console oder etwas Aehnliches vermuthlich auch bereits zum Polirer geschleppt, wenigstens höre ich nicht mehr dieses entsetzliche Rasseln, das mich seit Wochen nervös gemacht hat. O, wie freut sich der gute Papa auf diesen mißrathenen Staubfänger, den er künftig mit dem Blick zu zerbrechen fürchten muß! Und Angela hat mir bereits in einem unbewachten Augenblicke angedeutet, daß ich mich auf eine unvergleichliche Fröbel-Kindergartenstickerei gefaßt machen darf. Dabei sitzen nun diese Würmer seit Wochen krumm und plagen sich, statt Schneemänner zu bauen und sich mit Bällen zu werfen und Abends rechtzeitig schlafen zu gehen, denn außer den Eltern werden auch noch die lieben Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen von ihnen beglückt. Nun denke Dir unsere beschränkten Räume im Winter – ein armer Oberlehrer kann nicht für Jedes ein Zimmer heizen. Ich komme vom Spaziergang, sofort stürzt es durch alle Thüren davon: „Papa kommt!“ Eine Zeitlang war ich von der gesammten Familie wie ein Aussätziger gemieden. „Hast Du auch nichts gesehen, Papa?“ Hundertmal versichert man das Gegentheil, und wenn sie abgehen, hängen sie doch die Köpfe: „Jetzt ist mir die ganze Freude verdorben.“ Was meine Frau mir wieder stickt – natürlich muß sie sticken, da sie augenleidend ist – weiß ich nicht. Ein Sophakissen, einen altdeutschen Schoner, einen Tischläufer, was die Berliner „Compotchaussee“ nennen – kurz irgend etwas, was wahrscheinlich ganz nett, aber mit gewebtem Muster um die Hälfte billiger und reichlich so hübsch in einem Laden zu haben wäre. Siehst Du, das ärgert mich am meisten: diese Geschenke verderben den Charakter; natürlich bin ich Weihnachten gezwungen, vor Freude außer mir zu sein über die Gaben der Liebe – –
Wenn das Glück gut ist und das Sophakissen besonders gerathen, bekomme ich es überhaupt nur Weihnachten zu sehen. Später ist es mit einer weißen Häkeldecke verhängt und wird vertrauten Freundinnen in Stunden besonderer Seelenannäherung enthüllt. Geschlafen habe ich noch auf keinem. Der Sophaschoner wird, um ihn zu schonen, für hohe Festtage verwahrt (ich habe im vorigen Jahre solch ein Prachtstück bekommen, [862] um das mir’s selbst mehr leid gewesen wäre, als um das Sopha, wenn Jemand den Kopf dagegen gelegt hätte). Die Compotchaussee legt Bertha alle Jahre einmal auf, wenn wir große Gesellschaft haben.
Aber Du bekommst doch auch andere Geschenke? willst Du sagen. Jawohl, das versteht sich. Aber ich stehe Todesangst aus, wenn ich daran denke. Tante Jetta könnte mir z. B. sehr wohl ein Eckbrett mit scharlachrothen Lambrequins schenken, die sie bestickt hat – ich Unglücklicher fand neulich ein solches, bei dessen Anfertigung ich sie überraschte, recht hübsch, wiewohl mir Eckbretter ein Gräuel sind und ein solches scharlachrothes Scheusal sämmtliche Farben in jedem Zimmer todt machen würde.
Ich sollte einen Wunschzettel schreiben, aber ich kann mich dazu nicht entschließen. Ich will nichts, nichts – gar nichts!
Aber die Wunschzettel der Uebrigen habe ich in Händen. Lauter „Kleinigkeiten“ natürlich: meine Bertha vielleicht einen neuen Pelzschmuck, Batist zu einem Kleide, zwei hübsche Tischdecken, einen Korallenschmuck – er muß aber genau so sein, wie der von der Directorin – „endlich“ eine Kette zu der goldenen Uhr etc. Natürlich zur Auswahl notirt, aber ich weiß genau: wenn ich das eine gekauft habe, wäre ihr gerade das andere lieber gewesen. Nun die Kinder! Es ist haarsträubend, was sich für Spielsachen heutzutage aufsummen. Wir haben uns in unserer Jugend königlich mit einer Schachtel der ordinärsten Bleisoldaten amüsirt, die wir mit Erbsen aus einer Holzkanone zu Falle bringen konnten. Jetzt will mein Junge durchaus den trojanischen Krieg haben. Diese Sammlung von ein paar Dutzend Bleikunstwerken aber ist unter fünfzehn Mark gar nicht zu schaffen. Das ist erst ein einziges Geschenk! Für das, was heutzutage die standesgemäßen Puppen kosten, könnte ich beinahe einen Waisenknaben ernähren. O Zeitalter der Klapperpuppen und Waldteufel, wo bist du? Diese Rangen werden blasirt, anspruchsvoll – es hört alles auf!
Das Tollste ist aber das Besorgen von all dem Kram. Ich bin ein ziemlich unentschlossener Mensch im Einkaufen, denn ich muß genau wissen, ehe ich zugreife, daß ich mich nicht über den Kauf hinterdrein ärgere. Nun laufe einmal in diesen Läden herum: gestoßen, auf die Zehen getreten, ungeduldig – „He, Fräulein!“ – „Gleich, mein Herr!“ – jawohl, eine Viertelstunde warten, und wenn man aussuchen will, läuft einem dies Volk unter den Händen weg. Du lachst, mein Lieber – das ist sehr billig; Du „kannst auch lachen“, Du hast Deine gemüthliche Stube, Deine Spaziergänge, Deinen alten Scat, Du lässest wie alle Weihnachten Deine Spickgans, Deine Näschereien von der Wirthin für uns einpacken und merkst von alle dem Weihnachtselend nichts, behältst vor allem Dein schönes Geld, und ich armer Schulmeister werfe es für eine Menge unnützen Kram zum Fenster hinaus. Mit dem zehnten Theil von dem, was mich dieses Fest kostet, haben wir in unserer Jugend das lustigste Weihnachten von der Welt gehabt. Jetzt muß ich mich mit Privatstunden ein halbes Jahr abplagen, um dem „schönsten“ Fest der fortgeschrittenen Neuzeit gerecht zu werden, und habe drei geschlagene Wochen keine Ruhe, den Kopf voll Sorgen, um alles recht zu machen: Vorwürfe rechts und links, Erwartungen, die ich enttäuschen muß, Kämpfe – dies und das ist noch nicht da; die schönsten Weihnachtsbäume habe ich mir vor der Nase wegnehmen lassen und komme mit einem Krüppel an; alles wird „bis auf den letzten Augenblick verschoben“; hier „dürfen wir uns nicht lumpen lassen“; da „können es doch Andere auch, warum wir nicht?“ Mein Portemonnaie windet sich krampfhaft in der Tasche – vergebens. „Es muß sein!“
Alfred, kennst Du dieses fürchterliche „Es muß sein“? – Nein, Dasjenige, welches Du kennst, ist ein vernünftiges Product Deines inwendigen Menschen dem Du die Hand reichst, indem Du sprichst: „Gut also, braves Muß.“ Dieses mein „Muß“ ist ein fremdes Ding, das ich nicht begreife, ein Fatum, ein Verhängniß.
Ich habe schon dran gedacht, einen Verein von Familienvätern zur Beschränkung dieses Weihnachtsunfugs zu stiften. Umsonst! Ich finde keine Mitglieder. Sie erklären alle die Idee für nett, aber wenn es zum Schwur auf dem Rütli kommen soll, machen sie Ausflüchte: es würde sich nicht so consequent durchführen lassen, es hinge so vieles von unberechenbaren Umständen ab – aha, „Nachtigall, ich hör’ dir laufen“!
Um des Himmels willen: würden wir denn dieses Fest der Liebe nicht hundertmal gesegneter verleben, wenn wir uns nicht Wochen und Wochen vorher beständig die Stimmung verdürben – nicht abgehetzt, bis in den letzten Nerv zerschlagen, schier genußunfähig daran gingen, das nagende Portemonnaie in der Tasche, um mit Wippchen zu reden – friedlich still mit kleinen Freuden uns überraschten, beglückt auch von einem bescheidenen Etwas unter dem lichtstrahlenden Bäumchen? Muß denn der Weihnachtstisch zu einem Ausstellungsplatz für die Fortschritte des modernen Kunstgewerbes werden? Geht nicht die echte rechte Weihnachtsstimmung unter dieser Geschenkwuth verloren, die nachher scheel auf ihr Theil blickt, weil es doch nicht ganz das geworden ist, was man sich davon versprochen?
Alfred, Du kennst meine Bertha. Sie ist eines der vernünftigsten Weiber, die es giebt: aber wenn Weihnachten anrückt, verzweifle ich an ihr. Nicht blos an ihr: an der Welt, an der Zukunft unseres Vaterlandes, am gesunden Menschenverstande – an mir selber, der nicht die Kraft findet, auch hier im Handeln unentwegt zu seiner besseren Ueberzeugung zu stehen.
O meine Casse, meine Casse! Das Mädchen muß für mindestens zehn Thaler haben (sie hat schon angedeutet, daß sie Freundinnen besitze, welche stets für fünfzehn bekommen), es kommt die Waschfrau, der Barbier, die Kellner – bis Neujahr geht das so lustig weiter – –.
Herrgott, wer scheust mir denn etwas? Jeder Lehrling bekommt seine baumwollene Weste oder sonst etwas Gutes, da hat er doch ein wirkliches Geschenk. Was mir geschenkt wird, bezahle ich doch schließlich auch, oder ich muß mich revanchiren, und da revanchirt man sich gegenseitig in die Höhe, daß man des Teufels werden möchte.
Alfred – ich sage Dir als Dein älterer Bruder: bleibe Junggesell, oder warte erst die Zeit der Umkehr ab. Denn so kann’s nicht lange fortgehen in unserm lieben Vaterlande, oder wir schenken uns Weihnachten alle bankrott. Amen!
Es ist herunter vom Herzen. Ich schließe eilig, Bertha kommt eben an. Ich reiche Dir im Geist die brüderliche Rechte und bitte um Dein Mitleid.
* | * | |||
* |
- Lieber Alfred!
Du wirst Dich nicht wenig über meinen Zorneserguß vom 20. amüsirt haben. In der That – wenn ich auch in der Sache denselben Standpunkt einnehme: jener Brief dürfte mehr ein augenblickliches Stimmungsbild als eine objective Würdigung der ganzen Frage darstellen.
Es ist doch ein famoses Fest, und das Herz geht einem so dabei auf, daß man, sobald die Kinder erst durch die Thür geschlüpft sind, die Wochen vorher total vergessen hat. Ich fühle mich angesichts der jüngst verlebten Tage durch Pflicht und Gewissen gedrungen, so manchem Schiefen und Einseitigen in dem frühern Briefe eine Correctur nachzusenden.
Ein reizender Christabend, die Kinder im Himmel, Bertha rührend, ich so recht innerlich glücklich! Ich sah Dich im Geist mit noch ein paar braven Junggesellen um die Bowle sitzen, Schnurren erzählen wie alle Tage, Pfeife rauchen wie alle Tage – Junge, es ist etwas ganz Besondres um so einen eignen Herd, ein geliebtes Weib und ein paar muntre Rangen, und nie fühlt man das deutlicher, als unter dem Christbaum.
Es ist allerdings wahr: diesmal ging mancher gefürchtete Kelch an mir vorüber. Das Eckbrett mit den Lambrequins habe ich freilich bekommen: na, in einer schattigen Ecke wird es ganz belebend wirken. Tante Jetta, das arme Wurm, hat sich redlich. damit gequält. Die Landschaft war auch da, war aber diesmal keine Landschaft, sondern ein Porträt, und gar nicht übel. Das Mädel macht Fortschritte. Der Junge hat Verzierungen zu einem Schlüsselschränkchen ausgesägt – ich habe mir überlegt, daß man sie ja auf festes Holz aufleimen kann; das wird sich nicht schlecht ausnehmen, etwa wie ausgestochene Arbeit. Bertha hat mir Vorhänge über mein Bücherspind gestickt, allerliebst, mit türkischem Muster – das hat große Vortheile, sie werden mir nicht mehr so oft alles umkramen, um abzustäuben. Lieber war mir noch ein prächtig gesticktes Sammet-Käppchen – es hat mich riesig erfreut. Bertha hat’s als Julklapp geworfen, und die ganze Verwandtschaft, die wie alljährlich unsern Weihnachtstisch zu sehen gekommen, stand bei dem Act Gevatter. Die gute Seele, meine Bertha! Wie strahlte sie, daß ich mich so zufrieden gab! Auch sie war’s ja – das Mißmuthsfältchen wegen mangelnden Korallenschmucks ist verschwunden. Na und der trojanische Krieg – der Junge war aus Rand und Band. Er baute auf wie ein alter Homerkenner, sage ich Dir, und die große Luftbüchse und die gewaltige Puppe verfehlten ihren Eindruck nicht. Man stellt diese Sachen wirklich jetzt ganz allerliebst her. Im Grunde liegt das Geheimniß der Weihnachtserfolge doch darin, daß man Jedem nicht das schenkt, was man ihm wünscht, sondern was er sich selber wünscht. Schließlich wird man – entschuldige, ich wurde eben vom Barbier gestört, der brave Blutsauger hat sein Theil weg; rasirt auch wirklich wie mit einer Flaumfeder – auch mit dem Geldpunkt fertig. Ich bin schon über andere Ausgaben weggekommen, von denen ich weniger Freude gehabt habe, und an ein paar Privatstunden stirbt man nicht.
Schade, daß Du Dich nicht einmal entschließen kannst, ein Weihnachtsfest bei uns zu verleben. Du würdest an dem Aufbau des Baums und den übrigen Arrangements Deine helle Freude haben. Mein Werk!
Adieu, altes Haus! Was ich Dir noch sagen wollte: Heirathe! Du wirst es nicht bereuen. Trotz Weihnachten.
Nachschrift. Deine Gans war delicat, und die andern Ueberraschungen stehen über dem Niveau der Junggesellenauswahl. Alles grüßt und dankt! Adieu – ich muß eine Puppenhand leimen.
[863]
Fast ist es zur unumgänglichen Form geworden, das Gedenkblatt an
eine dahingeschiedene Bühnengröße mit des Dichters Worten zu beginnen:
„Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“. Man scheut
bei diesem Zugeständniß den Widerspruch nicht, der doch unmittelbar
folgen soll. Das geschichtschreibende neunzehnte Jahrhundert hat ja des
Poeten schönes Bedauern längst entkräftigt und fllcht auch den darstellenden
Künstlern die Ehrenkrone des Ruhmes aus immergrünen Zweigen.
Der Duft freilich fehlt diesen Kränzen, denn ihn vermöchte nur das ewig
jung bleibende Kunstwerk selbst zu geben. So ist der Ruhm des dahingeschiedenen
Schauspielers entweder das Product liebevollen Angedenkens
oder das Erzeugniß forschenden und vergleichenden Sammelfleißes, welch
letzterer der Vater der Theatergeschichte genannt zu werden verdient.
Mit emsiger Geschäftigkeit und einer Pietät, die um so eifriger ist, als nur Zeugnisse und keine Beweise beschafft werden können, trägt man jeden kleinen Zug aus dem künstlerischen wie aus dem Privatleben des Darstellers in sein biographisches Bild, das demzufolge oft mehr einer Anekdotensammlung als einer kunstgeschichtlichen Monographie gleicht. Aber kein Schauspielerleben hat dieses Schicksal in so reichem Maße erfahren, als das Ludwig Devrient’s, um dessen Erscheinung in der Kunstwelt sich eine ganze Corona von lustigen und wehmüthigen Zügen verdichtet hat. Sein Schaffen als Künstler ist durch die Ueberlieferung seiner im höchsten Grade originellen menschlichen Eigenthümlichkeiten fast verdunkelt worden, und der Refrain über seine Künstlerschaft lautet in allen Quellen nur: genial, unübertrefflich – wozu dann noch ein paar so schöne Bezeichnungen, wie intuitive Begabung oder Durchdringen zur Objectivität des Charakters, das ihrige thun. Wer vermag sich aus diesen Andeutungen eine Vorstellung zu bilden? Es sind dies ja nur die allgemeinen Kennzeichen jeder echten Künstlerschaft, und dem Publicum, dem es vergönnt war, Meister Ludwig’s Darstellungen zu sehen und zu hören, würden sie wohl nur ein mattes Lächeln abgewinnen.
„Hätten Sie ihn gesehen,“ sagte mir ein Zeitgenosse, ein alter Berliner, „wie er als Shylock sein Messer wetzte, wie sein dämonisches, großes Auge von einem Haß erglühte, der Sie schaudern machte bis in’s innerste Herz – hätten Sie gesehen, wie er röchelnd der Wache in die Arme sank, wie jeder Nerv an diesem Körper, von dem vernichtenden Urtheil gleichsam zerschnitten, nachzitterte, wie seine Stimme tonlos heiser, während sie uns vorher in ihrem Rachedurst erschreckte, jetzt erschütterte – so etwas kommt nicht wieder.“
Ich nicke bestätigend, denke aber doch zweifelnd darüber nach und befrage die Geschichte dieser Kunst. Der ehrliche Kunstfreund hat doch nicht ganz Recht: denn daß eine solche Darstellung nie wieder komme, kann ich ihm nur bedingt zugeben – sie kam ja wieder, denn ich sehe ja jeden unserer heutigen Shylock’s dieselben Mittel zum Ausdruck bringen oder doch versuchen – das ist es also nicht, aber daß es vorher nicht da war, das machte die Größe dieses Mannes aus. Vor Ludwig Devrient war der Shylock auf der Bühne die verspottete, komische Figur, wie sie auch heute noch Shakespearemanisten aus der Architektur des Lustspiels abgeleitet als einzig berechtigt hinstellen.
Devrient als Erster erfaßte die Tiefe der Dichtung ganz, er zuerst versenkte sich congenial in die Seele Shakespeare’s und gab zuerst das ganze, volle Bild jenes furchtbaren Charakters. So schuf er den Lear neu um, so seinen vielleicht vollendetsten Charakter Falstaff, dessen Darstellung auf der heutigen Bühne neben seinem Shylock recht eigentlich das Erbtheil Ludwig Devrient’s ist. Und diese Thaten werden ihm den Ruhm eines Genies besser erhalten, als die Wiedererzählung jener berühmten und berüchtigten Devrient-Anekdoten; diesen schöpferischen Einfluß auf seine Mit- und Nachwelt zu betonen, ist die Pflicht des Geschichtschreibers dieser Kunst.
Devrient hätte, wie er befruchtend auf die darstellende Kunst wirkte, freilich in noch höherem Grade anregend auf die literarische Werkstatt seiner Zeit wirken können, wenn seine unbeherrschte Natur sich nicht so früh ausgezehrt hätte, aber das anspornende Beispiel reichte doch hin, neben der antikisirenden, stilvollen und der lyrisch-romantischen Production auch dem Charakterschauspiel wieder Boden zu verschaffen, und vor Allem war Devrient der Messias, der den größten dramatischen Dichter aller Zeiten, Shakespeare, der eben literarisch wieder zu Ehren gekommen war, namentlich seinen Humor, auf der deutschen Bühne populär machte. Zu solchem Gelingen gehört ein Genie, und das war Ludwig Devrient in des Wortes höchster Bedeutung. Seine reiche Begabung war nicht die eines mühsamen Fleißes, eines grübelnden Verstandes, er erfaßte den Gegenstand seiner Kunst mit der glühenden Seele des Schöpfers und gestaltete im dämonischen Drange einer immer gährenden Phantasie, ja, ich glaube, daß kaum ein anderer Darsteller die Unhaltbarkeit der Annahme, der größte Schauspieler sei doch nur ein reproductiv schaffender Künstler, so schlagend bewiesen hat.
Wir sehen ihn in seinen jungen Jahren, als er unter dem Namen Herzberg in Gera und Dessau die Bühne betrat, an seiner Kunst verzweifeln, weil ihm das Nachschaffen von längst Dagewesenem nicht genügte, und sehen ihn aufleben, als ihm endlich die Aufgabe gelang, eine ganz neue Rolle, den Kanzler Flessel in dem längst vergessenen Stück „Die Mündel“, so überwältigend und ganz aus eigenen Mitteln zu schaffen, daß von Stund an der Glaube an seinen Beruf in ihm erwachte.
Von glaubwürdigen Augenzeugen, wie A. Klingemann, wird uns erzählt, daß Devrient im Anfange seiner Darstellung oft matt und unbedeutend erschienen sei. Mehrere Acte waren schon vorübergegangen, und das Publicum fragte sich kopfschüttelnd: ist das der große Devrient? – Da mit einer Wendung des Stückes fängt das schöne Auge an, sich zu beleben, jeden leisesten Gedanken der Seele verratend, der Mann, der vorher mittelmäßig und matt erschienen war, wächst über seine Umgebung zur Riesengröße empor, jeden Athemzug, jede Empfindung seiner Zuschauer bannend; man vergaß den Ort, wo man sich befand, man dachte nicht mehr daran, daß es das Spiel eines Augenblickes sei, eine Fiction des Dichters, was man da vor sich sah – man fühlte nur noch die Gewalt der verkörperten Leidenschaft, der menschgewordenen Idee, und erst mit dem Fallen des Vorhanges erinnerte man sich an das Kunstwerk, das da eben gespielt worden war, und lebte wie aus einer magischen Verzauberung zur unbegrenztesten Bewunderung auf.
Ein solches Schaffen wird durch die Schablone der landläufigen Auffassung von Schauspielern und Schauspielkunst nicht gedeckt, es ist verwandt mit dem furor poëticus der Alten, oder es ist ein und dasselbe. Wer möchte wohl noch nach philiströser Sitte mit dem Censurbuch des Schullehrers in der Hand den Lebensgang dieses Mannes bemäkeln, wie es oft genug versucht worden ist? – Mit dem tiefsten Bedauern muß der Kunstfreund einräumen, daß dieser geniale Mann an seiner eignen Schrankenlosigkeit zu früh zu Grunde ging und in seiner Kunst Invalide wurde, da er auf dem Gipfel derselben hätte stehen sollen und können. Ihn litt es nicht in der Studirstube, nach der Art tüchtiger und lobenswerther Schauspieler über die Aesthetik ihrer Rollen nachzudenken, die Mutter seiner Kunst war die Begeisterung, und seine Beobachtung des menschlichen Charakters suchte und fand er im wechselnden Kreise des bunten Lebens, in dem er anfangs meist stumm und prüfend, dann aber zur regsten Mittheilsamkeit hingerissen, gern verweilte. Das trockene Denken, das ihn, wie viele groß angelegte Naturen, nur dazu führte, der Nichtigkeit der Dinge auf den Grund zu sehen, machte ihn unwirsch und verbittert, wie ihn Karl von Holtei in seinem Vagabundenroman so ergreifend schildert, und er entwand sich ihm im wörtlichsten Sinne, indem er flüssige Himmelsgluth mit dem Schaumwein einschlürfte, dem er leidenschaftlich zugethan war.
Ein kurzes, rein menschliches Glück, das er in der Liebe zu seiner ersten Frau, Margarethe Neeffe, der Tochter des Dessauer Capellmeisters und Componisten, fand, zerstörte nach Jahresfrist der Tod; seine spätere Ehe brachte ihm wenig Harmonie, so blieb ihm nur seine Kunst, zu deren Ausübung er wieder geistige und physische Anregung im Weine suchte – und diese verderbliche Wechselwirkung stets auf’s Höchste gespannter Kräfte zerrüttete ihn schon in jungen Jahren. Er hat durch diese Lebensführung viel Verwirrung unter nachstrebenden Kunstjüngern angerichtet, die es ihm in jeder, auch in der tadelnswerthen Weise nachzuthun suchten, ja, man hört nicht selten unter Berufung auf Ludwig Devrient behaupten, der geniale Schauspieler brauche ein ungebundenes, unmäßiges Leben, um an die Darstellung großer Leidenschaften heranzureichen. – Ich will darüber nicht rechten, mir hat es immer geschienen – und die Geschichte bewahrheitet es – daß mit großer Künstlerschaft auch stets ein großer Charakter verbunden war. Möchten jene, denen genial und lüderlich unzertrennliche Begriffe sind, sich wenigstens die Charakterreinheit Devrient’s bewahren!
Ihm haftete keine niedere Gesinnung an, sein weiches Herz war nicht allein jeder Vorstellung, sondern auch jeder Bitte zugänglich, und wir besitzen [864] rührende Züge seiner Wohlthätigkeit, seiner warmen, menschlichen Theilnahme.[1] Mißtrauen freilich war ihm nicht fremd, ja es wuchs mit den Jahren, da sein körperlicher Zustand die Berliner Bühnenleitung bewog, ihm größere Aufgaben, denen seine Kräfte nicht mehr gewachsen waren, vorzuenthalten, aber nie hat er sich zur Heuchelei erniedrigt, wie er auch in der Laufbahn seines Ruhmes keines jener unwürdigen Mittel angewendet hat, welche der Genialität von heutzutage so oft anhaften.
Ludwig Devrient starb am 30. December 1832, nachdem er sechzehn Jahre der Berliner Hofbühne angehört hatte. – Seinen Manen, denen in diesen Blättern schon verschiedene Male ausführlicher gehuldigt worden ist, diese kurze Rückerinnerung bei der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages darzubringen, war der Zweck dieser Zeilen.
Unter den zahlreichen[WS 1] Bildern, die Ludwig Devrient’s Züge der Nachwelt vermitteln, ist das dieses Gedenkblatt begleitende von seinen Zeitgenossen am meisten geschätzt, da es, aller schmeichelnden Zuthaten bar, die größte Ähnlichkeit besitzt. –
„Das kommt nicht wieder,“ sagte der Berliner Kunstfreund – mehr aber darf und muß es uns gelten, daß es vorher auch nicht war und dennoch lebendig fortwirkt in der Entwickelung der deutschen Schauspielkunst, die sich trotz aller pessimistischen Klagen über den Verfall des Theaters, dank jenen großen Vorbildern, wenigstens in der Harmonie des Ganzen, in der Treue gegen den Dichter als eine vorwärtsstrebende Kunst bewährt hat. Max Martersteig.
Blätter und Blüthen.
Aus der Spinnstube. (Mit Illustration S. 856.) Thüringen, das grüne Blatt, welches sich Deutschland, nach dem Worte des Dichters, zum Schmuck und zur Zierde an seine Brust gesteckt hat, ist nicht blos durch seine natürliche Schönheit vor vielen anderen Gegenden unseres deutschen Vaterlandes ausgezeichnet, sondern übt auch durch die eigenartigen Sitten und Gebräuche seiner Bewohner einen mächtigen Reiz auf den Fremden aus. Die Liebe zur gemüthlichen Geselligkeit, die bei dem sangeslustigen Thüringer von Alters her so sehr zu Tage tritt, hat auch manche volksthümliche Gewohnheiten geschaffen, die sich unverändert von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt und erhalten haben. Ein solcher Brauch, der sich noch in vielen Gegenden unseres Vaterlandes findet, ist der „Spinngang“. Kommt die kalte Jahreszeit und hüllt die ganze Natur in ein eisiges Schneegewand, dann beginnt für die Land- und Waldbewohner Thüringens eine einförmige, freudenarme Zeit, und die mächtigen Schneewehen schneiden ihnen oft jeden Verkehr mit der Außenwelt ab. Darum suchen sie sich gegenseitig die trübe Winterzeit abwechselnd zu gestalten, und namentlich in den hochgelegenen Gebirgsorten gewährt dann die „Spinnstube“ für Alt und Jung Unterhaltung und Lust. Die Nachbarn kommen des Abends zusammen, die Frauen spinnen, die Männer schmauchen ihr Pfeifchen, und dabei wird erzählt von Berg und Thal, von Thier und Baum, von Land und Meer. Ungleich lustiger geht es in den Spinnstuben der Dorfjugend zu. Da sprudeln die jugendlichen Gemüther über, es giebt ein Scherzen, Necken und Spielen ohne Ende. Gern mischt sich wohl ein altes Mütterlein mit unter das übermüthige Volk der Burschen und Mädchen, und manch schönes Waldmärchen erzählt die Alte den aufmerksamen „Spinngästen“.
Erst wenn der Ruf des Wächters auf der Straße ertönt, dann kehren Vater und Mutter vom Nachbar zurück, und auch die Spinngäste rüsten sich zum Aufbruch. Freundlich geleiten die biedern Hausleute die flinken Spinnerinnen bis zur Hausthür, aber nur zaghaft treten diese hinaus in’s Freie. Denn gewöhnlich werden sie dort von den vorausdrängenden Burschen mit Schneeballen empfangen, und nur schleunige Flucht bringt sie aus dem unsichern Bereiche der lachenden Schützen. H. Heinz.
Weihnachtsleckereien auf dem Weltmarkte. Ein alter Scherz behauptet, ein Kostgänger könne am billigsten bei der Post leben, koste dort ein Couvert doch nur 10 Pfennig, à la Karte gebe man nur 5 Pfennig und Leckereien habe man sogar ganz umsonst. Umsonst? Wohl nicht ganz, bezahlen muß man sie schon, die echten Leckereien nämlich, mit denen wir uns zu Weihnachten allesammt so schön den Magen verderben. Aber fast umsonst liefert die Post sie uns doch, nämlich vom Laden auf den Tisch; man denke: 10 Pfund Marcipan von Königsberg nach Stuttgart für 50 Pfennig, und ebenso viel Lebkuchen von Nürnberg nach Memel – ist das nicht fast umsonst? Und dieses „fast umsonst“ hat dem Weltmarkte Artikel zugeführt, von denen er früher nie etwas „auf Lager“ haben konnte. Vor 15 Jahren noch hätten die genannten süßen 10 Pfund an Fracht das Fünffache ihres Werthes verschlungen, und so vertheuerte Artikel führt der Weltmarkt nicht, selbst aus Galanterie gegen das schöne Geschlecht nicht, dessen Vorliebe für Süßigkeiten männiglich bekannt ist. Das haben wir erst dem großen deutschen Reichspostmeister zu verdanken, der den 50-Pfennigsatz einführte. Seitdem beherrschen gewisse Weihnachtsleckereien zu ihrer Zeit den Weltmarkt, und zwar von bestimmten „classischen“ Productionsstätten aus sich in alle vier Winde zerstreuend. Basel, um als höfliche Leute Fremden den Vortritt zu lassen, versendet centnerweis seine köstlichen „Leckerli“ innerhalb des deutschen Reichspostgebietes für 50 Pfennig das Fünf-Kilo-Paket, Nürnberg hat seine Lebkuchen-Industrie um das Vierfache vermehrt, seitdem es seine verführerische Waare in den bekannten Schachteln für 50 Pfennig Porto den Leckermäulern in Nord und Süd direct zuführen kann. Königsberg nimmt zur Weihnachtszeit die Kräfte eines kleinen Postamtes lediglich für die Versendung seines Marcipans in Anspruch, Hunderte von Centnern dieses Magenbeschwerers und ach so köstlichen Verdauungsverderbers nehmen von hier aus ihren Weg, ähnlich geht es in Lübeck zu, der alten praktischen Hansestadt, welche es so vortrefflich versteht, den Leuten „was Süßes vorzumachen.“ Und Thorn, der arge Zankapfel an der Weichsel, um den sich Polen und der deutsche Orden einst unaufhörlich stritten, vertritt jetzt eine friedliche Mission im Rathe der Völker. Seine Pfefferkuchen sind weltberühmt und werden waggonweise zur Weihnachtszeit zur Befestigung des allgemeinen Friedens verladen: wirkt doch jener gewürzreiche, milde Honigkuchen so versöhnend auf den Menschen und den Weihnachtsmagen, bildet er doch das Correctiv gegen seine süßen Concurrenten, das Marcipan und die Lebkuchen. So möge man denn Eins mit dem Andern nicht entbehren, und wer in der heutigen von Colonial-, Welthandels- und Weltverkehrsfragen durchrüttelten Zeit sich kräftig an der Lösung dieser Fragen betheiligen will, greife die Sache praktisch an und sorge für einen guten Umsatz der Weihnachtsleckereien auf dem Weltmarkte. – r.
Ein neues Buch über den Congo. Wer in letzter Zeit aufmerksam der Entwickelung der colonial-politischen Ereignisse gefolgt war und sich über die schwebenden Zeitfragen genauer unterrichten wollte, der mußte in unsrer sonst so stattlichen „afrikanischen Literatur“ schmerzlich eine Lücke empfinden. Es fehlte uns ein Buch, welches die jetzige Lage der Dinge an dem vielbesprochenen Congo in klarer und anschaulicher Weise schilderte, das, frei von der Behandlung schwieriger wissenschaftlicher Fragen, uns ein getreues Bild jener Handelsstationen an dem großen afrikanischen Strome bot, aus denen jetzt ein neuer afrikanischer Freistaat gebildet werden soll. Der englische Reisende H. H. Johnston hat sich das Verdienst erworben, diese Lücke auszufüllen, indem er in seinem Werke: „Der Congo. Reise von seiner Mündung bis Bolobo“ die Natur des Landes, den Charakter seiner Einwohner und das Leben in den berühmten Stanley’schen Stationen des Congo in leichter plaudernder Form schilderte. Wir können es mit Freuden begrüßen, daß die Leipziger Verlagshandlung von F. A. Brockhaus das interessante und mit vielen Illustrationen geschmückte Buch in deutscher Uebersetzung herausgegeben und auf diese Weise der deutschen Leserwelt zugänglich gemacht hat. – i.
Kleiner Briefkasten.
Frau Clara. Zwei Novellen unserer geschätzten Mitarbeiterin Stefanie Keyser: „Der Krieg um die Haube“ und „Glockenstimmen“ (in einem Bande) erschienen im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Ein neuer Band erscheint im nächsten Jahre.
G. D. 1058 B. Wenden Sie sich an die Universitätsklinik in Berlin oder Leipzig. Wir können Ihnen zu unserem Bedauern nicht helfen.
B. in Frankfurt a. O., Osc. M.: Nicht geeignet.
Eine neue Einbanddecke zur „Gartenlaube“. Von der Absicht geleitet, unseren Lesern bei nun bald vollendetem Jahrgang für den vollständigen Band ein elegantes, den Anforderungen des heutigen Geschmackes entsprechendes Gewand zu bieten, ließen wir nach der Zeichnung von Prof. Fr. Wanderer in Nürnberg eine neue Einbanddecke anfertigen, von welcher wir nebenstehend eine Abbildung in verkleinertem Maßstabe geben.
Diese Decke ist von olivenbrauner Farbe, in Gold- und Schwarzdruck ausgeführt und dürfte wohl bald von der Mehrzahl unserer Leser mit Vorliebe zum Einband der Gartenlaube gewählt werden. Sie ist durch jede Buchhandlung zu dem billigen Preise von Mark 1,25 zu beziehen. Mit Benutzung derselben ist jeder Buchbinder im Stande, zu verhältnißmäßig billigem Preise einen soliden und eleganten Einband herzustellen. Auch die früheren Decken können zum Preise von Mk. 1,30 noch bezogen werden.
[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht transkribiert.]
Mit der vorliegenden Nummer schließt wiederum ein Jahrgang - der zweiunddreißigste - der Gartenlaube, und mit einer für alle Freunde unserer Zeitschrift sicher hocherfreulichen Nachricht dürfen wir diese Nummer in die Welt senden:
- Die Auflage unseres Blattes ist im Laufe des verflossenen Jahres von 224,000 wieder auf 260,000 Exemplare gestiegen.
Diese Thatsache, welche uns einestheils mit einem Gefühle freudiger Genugthuung erfüllt, muß uns anderntheils aber auch ein Sporn sein, ein mächtiger Antrieb zu immer neuen und immer verstärkteren Anstrengungen, um die Gartenlaube mehr und mehr ihrem großen Ziele zu nähern:
- ein Vereinigungspunkt zu sein für die besten, volksthümlichsten Erzähler, Dichter und Denker Deutschlands, ein frischer, reiner Quell nützlicher Belehrung und edler Unterhaltung für das deutsche Haus, ein treuer Spiegel des geistigen Lebens unseres Volkes, ein warmer, verständnißvoller Freund desselben in Freud und Leid.
An der Verwirklichung dieses Programmes, welchem die Gartenlaube ihre große Verbreitung durch ganz Deutschland und weit über dessen Grenzen hinaus in allen Welttheilen verdankt, wollen wir auch für die Folge unverdrossen, gewissenhaft und mit Aufbietung unserer ganzen Kraft weiterarbeiten. –
Unterstützt von einem auserlesenen Kreise hervorragender Schriftsteller dürfen wir für den neuen Jahrgang einen seltenen Schatz belehrender Artikel, sowie fesselnder Romane und Novellen in sichere Aussicht stellen.
Die beliebteste Erzählerin der Gartenlaube hat ihr durch Krankheit verursachtes, mehrjähriges Schweigen gebrochen, und schon in der ersten Nummer des neuen Jahrgangs wird der längst mit Spannung erwartete Roman von
eine der fesselndsten und ergreifendsten Schöpfungen der Verfasserin beginnen.
An E. Marlitt’s Roman werden sich sodann im Laufe des Jahres noch folgende Romane und Novellen berühmter und beliebter Autoren anschließen:
Der Edelweißkönig. Von L. Ganghofer. – Trudchens Hochzeit. Von W. Heimburg.
Aus unserem reichen Vorrathe populärwissenschaftlicher Artikel greifen wir nur einige wenige heraus, um sie hier zu nennen:
Ferienstudien am Seestrande. Weiber und Männlein. Von Carl Vogt. – Die Nihilisten. Von Johannes Scherr. – Blutarmuth und Bleichsucht. Von Dr. F. Dornblüth. – Die Dynastie der Naundorffs. Von R. v. Gottschall. – Die Fettleibigkeit und ihre Folgen. Von Prof. Dr. Heinrich Kisch. in Prag-Marienbad. – Wüsteneindrücke. Von G. Schweinfurth. – Kaiser Wilhelm und die deutsche Marine. Von Contre-Admiral Reinhold Werner. – Ueber den hygieinischen Werth der Pflanzen im Zimmer. Von Prof. Dr. M. v. Pettenkofer. – Die Trinkgewohnheiten der Völker. Von A. Lammers. – Spielschulen und Kinderbewahranstalten vom Standpunkte der Gesundheitspflege. Von Dr. L. Fürst.
Dabei werden wir unsere Rubriken „Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit“ – „Deutschlands Colonialbestrebungen“ fortführen und dieselben immer reichhaltiger und interessanter zu gestalten suchen.
Auch eine Steigerung unserer illustrativen Leistungen dürfen wir im Hinblick auf unsere mit Beiträgen trefflicher Künstler gefüllten Mappen mit gutem Gewissen versprechen.
Desgleichen wird die Gartenlaube auch für die Folge einer alten Ehrenpflicht: der Förderung humaner Zwecke ihre Dienste widmen, ihren Einfluß leihen. Hat sie doch auch im verflossenen Jahre wieder durch Hunderte von Dankbriefen aus Nah und Fern die Ueberzeugung von der Nützlichkeit ihrer oft schwierigen Arbeit auf diesem Gebiete schöpfen, und damit den schönsten Lohn für dieselbe empfangen dürfen!
Ueber all’ unseren Bestrebungen soll uns aber als die höchste auch fortan die gelten: jederzeit einzutreten für die Einigkeit, Wohlfahrt und Größe des deutschen Volkes und für die Stärkung der deutschen Nationalität auch jenseits der Reichsgrenzen. Inmitten der kämpfenden Parteien wollen wir das beste und sicherste Band der Einigung immer fester knüpfen helfen: die gemeinsame Liebe zum Vaterlande!
„Und daß sich diese Liebe stähle,
Das wirken wir mit treuer Hand,
Denn leuchtend steht uns vor der Seele
Was Alle eint – Das Vaterland!“
Mit diesen Worten, welche unseren Jahrgang 1884 eröffneten, wollen wir ihn auch schließen und rufen hiermit unseren Lesern ein freundliches „Auf Wiedersehen im neuen Jahre!“ zu.
[866]
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: zahreichen