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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[833]

No. 51.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.




Christnacht.
Von
Victor Blüthgen.

Die Glocken sind verklungen –
Vom Thurm in Nacht und Schnee
Ruft’s mit Posaunenzungen:
„Ehre sei’ Gott in der Höh’!
Ein Licht ist aufgegangen
Zu Trost der finstern Welt,
Das wächst und sprengt mit Prangen,
Was sie gefesselt hält.“

Da folgt ein Jubiliren,
Ein wonnesel’ges Fest,
Da rührt sich’s rings, zu zieren
Das winterliche Nest;
Da flattert’s jungbeflügelt
Von Freuden hier und dort,
In tausend Flammen spiegelt
Sich das Verheißungswort;

Da treibt’s ein Glück zum andern,
Daß sich’s verdoppelt seh’,
Und Engelfüße wandern
Zu seg’nen durch den Schnee;
Und Engel droben grüßen,
Und ihre Lippe spricht:
Die Liebe läßt wohl büßen;
Doch sterben läßt sie nicht.

Das ist die Nacht wie keine,
So tief und so voll Glanz:
Die Nacht im Heil'genscheine,
Im Haar den Hoffnungskranz.
Der Himmel küßt die Erde:
Ein Weilchen schlummre noch –
Wie bang dir manchmal werde,
Der Frühling kommt dir doch!



[834]

Ein Weihnachtsgruß.

Von P. K. Rosegger.


Ueber der Waldlandschaft liegt eine starre, blasse Winternacht. Am Himmel steht der Mond, aber der Schnee auf den Fichtenbäumen flimmert nicht, denn der Mond und die Sterne sind durch eine matte Wolkenschicht verdeckt. In solcher Dämmerung sind die Höhenrücken und die Thäler und Schluchten nur unbestimmt zu sehen, hier ragen die schwarzen Zacken der Bäume schärfer auf, weiterhin verschwimmen die Umrisse der Berge und Bäume theils im Aether, theils im Schleier eines sachte beginnenden Schneiens.

Durch diese Nacht zittert ein Klingen. Es kommt von allen Seiten her, es ist, als ob die Schneeflocken in der Luft klängen. Es steigt von den Thälern herauf, wo Dörfer und Kirchen stehen, es sind die Glocken der heiligen Weihnacht.

Dort unter knorrigen Schirmtannen steht im Frieden des Waldes eine Hütte. Aus den niedrigen Fensterlein fällt noch Lichtschein wie eine rothe Tafel auf den Schnee hinaus. Drinnen am Tische sitzen zwei Menschen, aber nicht beisammen, sondern der eine dem andern gegenüber, wie sie vom Nachtmahle her eben sitzen geblieben sind. Seit Stunden sitzen sie da und sagen sich – einmal leiser, einmal lauter – gegenseitig alles Harte, Trotzige und Feindselige, das ihnen einfällt. Denn ein Ehepaar ist es, das sich erwählt hat, um sich einander mit Liebe, Geduld und Nachsicht das Leben tragen zu helfen. Keines hätte es besser treffen können mit seiner Wahl, denn Jedes ist unschuldig und fehlerlos und legt alle Schuld und Fehler auf das Andere. Was an Makel ist am Andern, was im Hauswesen fehl ging, was an den Kindern Schlimmes ist, was sonst Unangenehmes vorfiel – war es heute, war es vor Jahren, – Alles wird herbeigeholt und hin und hergeschleudert über den Tisch, nicht wie Spielbälle, sondern wie Steine, und Eins sucht das Herz des Andern scharf zu treffen; von Falschheit und Untreue ist die Rede, und von anderlei schönen Dingen, wie sie der Katechismus in den „sieben Hauptsünden“, in den „sechs Sünden im heiligen Geist“, und in den „vier himmelschreienden Sünden“ zur freien Wahl in Erinnerung bringt. Der Mann läßt mit Vorliebe seinen höhnenden Trotz spielen, fährt nur manchmal brausend auf, um dann wieder in die finstere Ruhe zu versinken. Die Gattin giebt sich heftig und rasch aus, und ist sie mit ihren Vorwürfen zu Rande, so beginnt sie wieder von vorne, daß es in der That zu hören ist, als nehme das Sündenregister des Ehemannes gar kein Ende. Sie zittert vor Wuth, oder sie schluchzt, wie es eben zum Texte paßt. Endlich haben sie sich so tief in das Elend hinein raisonnirt, daß sie den Tag verfluchen, an dem sie sich das erstemal gesehen, verfluchen ihre Ehe und alles Liebe und Gute, das sie sich gegenseitig angethan, verfluchen ihr ganzes Leben und segnen nichts, als das Grab, in das Eines vom Andern gestoßen zu werden vorgiebt. – Die Unschlittkerze ist durch den eisernen Schraubenleuchter hineingebrannt, ohne daß sie Eines emporgeschraubt hätte. Endlich verlischt das Licht und der Rest des Dochtes verglüht. Die zwei Leute – die Niemand haben auf der weiten Welt, als sich gegenseitig – fahren nun im Finstern fort, sich mit bitteren Vorwürfen zu quälen, bis die Müdigkeit ihre Leidenschaft betäubt und sie seufzend in den Schlummer sinken.

Draußen klingen fort und fort die Weihnachtsglocken leise und lieblich über das Gewipfel der Bäume hin. Ich bin ausgegangen, einen Christbaum zu suchen, aber in diesem Walde nehme ich ihn nicht. –

In einem stattlichen Herrenhause desselben Thales – doch lassen wir das, senken wir auf die Bilder des Weltunfriedens den Schleier dieser Nacht. Wenn wir unsern grünen Weihnachtsbaum in jenem Walde, in jenem Lande holen wollten, wo der Friede ist, den die Engel verkündigten, wir müßten darauf verzichten.

Und dennoch – welch eine wunderbare Erscheinung an diesem Tage! Wenn eines Tages am Himmel zwei Sonnen stehen, so ist das Wunder nicht größer, als jenes, das sich am Weihnachtsfeste vollzieht. Das ist ein Tag, an welchem von all den eigennützigen Menschen keiner an sich, jeder an Andere denkt. Einer den Anderen mit Freuden zu überraschen, mit Gaben zu überhäufen, das ist das Ziel dieses Tages. Es ist kalter Winter, Keinen friert, denn die Herzen sind warm. Es giebt heimliche Arbeit Tag und Nacht, Keiner ermüdet, Keinen hungert, die Liebe zum Mitmenschen stärkt und sättigt. Es ist, als ob die Naturgesetze andere wären, und fast bangt man um das Gleichgewicht der Welt, da so plötzlich alles in Freude ist, da so plötzlich die Allgewalt der Charitas herrscht. Wenn ich am Morgen des Weihnachtstages aufwache und mein Auge auf den Christbaum fällt, der in Erwartung der nahen Jubelstunde still auf dem weißgedeckten Tische steht, da werden mir die Augen feucht. O Weihnachtsfest, das du die Herzen der Menschen erweckest und mit himmlischem Maienhauch die Erde zum Heiligthum wandelst, sei gegrüßt! Sei gegrüßt, du göttliches, du unbegreifliches Weihnachtsfest !

Der heilige Abend und der Christtag! Zwei Tage haben wir im Jahre, an welchen die Liebe herrscht, die vor nahezu zweitausend Jahren der Heiland geoffenbaret hat. Wenn jedes neue Jahrtausend auch nur einen Tag der selbstlosen Liebe in das Jahr legt, so brauchten wir nur mehr dreihundertdreiundsechzig-tausend Jahre, bis die Erde – wenn sie so lange das Leben hat – ein Himmelreich ist.

Uebrigens, wenn manche Leute das, was sie für den „Himmel“ thun, ohne daß die Mitmenschen davon einen Vortheil haben, für diese Welt und ihre Bewohner üben wollten, wir kämen noch um ein Bedeutendes früher zum heißersehnten Reiche Gottes auf Erden. – Der größte Fehler aber und das größte Hinderniß für eine bessere Zukunft ist, daß die meisten Leute so pessimistisch sind und an den göttlichen Keim im Menschen nachgerade aus Princip nicht glauben wollen. Mit Behagen wälzen sie sich in ihrem Thierbewußtsein, das Thier hat ja keine Pflichten, kein Gewissen, thut was ihm augenblicklich am besten taugt, und betrachtet als einzige moralische Aufgabe die, sich nicht erwischen zu lassen. Das ist hübsch bequem. Aber es wird ihnen nichts helfen. Besser wird’s doch, das ist gar nicht zu verhindern; nur ob es langsamer oder rascher geht, das ist Sache der Menschen.

Heute hört man Stimmen, das Abhauen von jungen Bäumchen zu sogenannten „Christbäumen“ sei wirthschaftlich zu verwerfen, man solle nur bedenken, welch ein Capital in solch jungem Waldwuchse vernichtet werde. Natürlich, das Capital, dem opfern wir Alles, Ehre, Friede, Gewissen, warum nicht auch das sinnigste und innigste Festzeichen der Familie, das höchste, reinste Glück unserer Kinder – den grünen Weihnachtsbaum! Kein Baum im deutschen Walde wird so hoch verwerthet, als das Wipfelchen, das wir auf unseren Weihnachtstisch stellen, aber – es trägt kein Geld ein. Für Geld verkaufen wir Alles. Jener alte, gichtbrüchige Geizhals wurde von einem Zauberer gefragt, ob er nicht sein jämmerliches Alter gegen blühende Jugend vertauschen wolle. Ja, wenn er sein Geld mitbekäme in die Jugend, meinte der Greis. Das eben nicht, sagte der Zauberer, Geld sei eine Sache des Alters; der Jugend Reichthum sei Gesundheit, Frohsinn, Zuversicht, Liebe. – Wenn ich, so sagte nun der Geizhals, mein Geld nicht mitnehmen darf in die Jugend, dann danke ich! – starb und verdarb bei seinem Gelde.

Der seelensiechen, gichtbrüchigen Menschheit von heute möchte es wohl auch so ergehen wie dem in glückloser Selbstsucht vertrockneten Geizhals, wenn nicht endlich der Genius der Jugend, die Macht des Ideales und der Hang nach dem reinen Glücke des Herzens doch siegen müßte.

Ihr kennt die Geschichte, wie der arme Gregor hinausging in den Wald, um für seine lieben Kinder ein Christbäumchen zu holen. Dabei ergriff ihn der Förster und ließ ihn als einen Dieb und Waldfrevler sofort in den Arrest stecken. Das bürgerliche Gesetzbuch sagt, der Förster hätte recht gethan. Nun tragen wir freilich noch ein anderes Gesetzbuch in unserem Herzen, das spricht hier den Geklagten frei und klagt den Kläger an. Das ist mir schon ein Verdächtiger, der immer nur aufs bürgerliche Gesetzbuch schaut. Als ich einst in jungen Jahren aus dem Waldhause in die Fremde ging, unwissend und unerfahren, nahm mich meine Mutter ait der Hand und sagte: „Peter, wenn Du einmal einem Andern etwas thun willst und weißt nicht, ob’s recht oder unrecht [835] ist, so mache auf ein Vaterunser lang die Augen zu und denk, Du wärest der Andere.“ – Da habt ihr das Evangelium, den Katechismus und das bürgerliche Gesetzbuch in wenigen Worten beisammen.

Ihr Gesetzgeber, Prediger und Lehrer, ihr Künstler, Dichter und Zeitungsschreiber, alle, die ihr zum Volke redet, ein gemeinsames Ideal müßt ihr schaffen helfen, anstatt es zu gefährden. Wo das menschenverbindende Ideal fehlt, da befehden sich Kinder und Eltern, Diener und Herrschaft, es befehden einander die Stände, die Nationen, die Rassen, und unsere entwickelte Cultur, die dem Frieden und Wohlwollen dienen sollte, wird die raffinirte Schürerin unendlichen Haders und Krieges. Dabei lösen wir vor lauter Klügeln und Spitzfindigkeit uns zu Schemen auf, oder erstarren zur rohen Materie, deren ganzer Idealismus im Courszettel besteht.

Und ihr hochweisen Herren, die ihr euer Wissen und gelehrtes Wähnen ins Volk schleudert und damit Alles auszurichten, zu ersetzen vermeint, ich sage euch das: Wo Glaube und Hoffnung nicht ist, da kann auch die Liebe nicht sein.

Bange wird mir oft, wenn ich das unheimliche Treiben unserer Zeit, die grauenhafte Verwirrung unserer Geister betrachte. Aber die eine Zuversicht habe ich: Wenn die Menschheit im skeptisch-frivolen Greise sich verliert, im schuldlosen Kinde wird sie sich wieder finden, im treuherzigen Gemüthe, in der Wahrhaftigkeit und Zuversicht, in der Natürlichkeit und kindlichen Freude.

Ostern ist das Fest der Macht, Pfingsten das der Schönheit, Weihnacht das der Liebe. Und darin erkenne ich an diesem Feste das göttlich Liebevolle, daß es uns zurückführt zur Kindschaft. Werdet wie die Kinder und das Himmelreich ist euer! Dieser Ausspruch hat heute noch erhöhtere Bedeutung, als vor eintausendachthundert Jahren. Damals sang auch Jemand: Friede den Menschen! Das hören wir seitdem jedes Jahr und sagen es so oft, daß wir nichts mehr dabei denken. Wer die jagenden, hastenden, ruhelos sich betäubenden, hassenden, verzweifelnden Kinder der Welt betrachtet, deren Evangelium und Lebenszweck im „Kampf um’s Dasein“ besteht, der wird ahnen, welch ein Weihnachtsgeschenk der heilige Christ uns zugedacht hat in der friedenssüßen Kindheit des Menschensohnes.

Finden denn die Weihnachtsglocken nimmer Harmonie in unserer Seele? Heute ausgelassene Freude, morgen wieder Lieblosigkeit. Wäre denn die Treue, das herzliche Anschließen des Menschen an den Menschen nicht selbstverständlich auf dieser Welt, wo die Elemente jede Stunde tausend Waffen gegen uns bereit halten? Wahrlich, es ist nicht klug, sich Feinde zu schaffen unter den Brüdern und hohlen Phantomen nachzujagen und Herzen zu verwunden die kurze Zeit, da wir das Sonnenlicht schauen über den Gräbern. Die Lichter heute am Weihnachtsbaum, sie brennen genau so feierlich, ernst und still, wie jene dereinst an der Todtenbahre! –


Nachdruck verboten.
Am Abgrund.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Immer enger schloß ich mich meinem gelehrten Freunde an, wir durchstreiften Wald und Thal – bei jedem Schritte ein Wort des Wissens, der Belehrung – und so war es natürlich, daß mein junges Herz in dem Hause des Magisters blieb, während ich theilnahmlos daheim am runden Tische saß und über Dinge reden hörte, die mir fremder geworden denn je. Ja, wenn es nur das gewesen wäre, aber unsere Seelen wurden sich auch fremd und fremder, ich verstand die Meinen nicht mehr und sie mich nicht, und das war es ja eben!

‚Fremd und fremder!‘ sagte ich. Zuerst die Mutter, – sie konnte es nicht überwinden, daß einer ihrer Söhne ein Stubenhocker, ein Bücherwurm geworden. Ihr imponirte es wenig, daß ich der Fürstin vorgelesen, daß mich die Lehrer lobten und daß ich am Schluß des Winterhalbjahrs eine lateinische Rede in der Aula hielt. Sie hatte dafür ihre Freude an dem Bruder, der Sonntags im modischen Anzuge, wie aus dem Ei geschält, von Erfurt herüber kam, wo er, um sich auswärts umzuthun, als Commis in einem größeren Geschäfte unserer Branche Stellung genommen hatte. Sie freute sich über ihn in einer Weise, daß es mir weh zu thun begann; er war so frisch, so hübsch, er war die Zukunft des Hauses, ihres Alters Trost, ihre künftige Stütze; von mir war keine Rede mehr. Sie hatte ihr Wohlgefallen an der Schwester, die einen Bräutigam gefunden, den jungen Apotheker nebenan. Im fröhlichen Kreise nach des Tages Last und Hitze saßen sie scherzend und lachend vor der Hausthür, oder zogen Sonntags in den Wald, nach dem Jägerhause, um Röstwürstchen und Weizenbier zu genießen und Abends mit lautem Singen heimzukehren, nachdem sie alle Ereignisse des Städtleins beredet und besprochen hatten.

Daß ich lieber daheim blieb bei meinen Büchern, daß ich des Magisters stillen Garten und meinen Homer dem Trubel und dem Gedränge auf der Schützenwiese, oder dem Kegelspiele im ‚Sonnen‘-Garten vorzog, das verstand die Mutter nicht, aber sie hielt mich für unleidlich hochmüthig; der ‚Herr Professor‘ nannte sie mich. Der Herr Professor! – Und kam ich mitunter zu ihr, um mich schmeichelnd zu ihr hernieder zu beugen, so sagte sie herbe scherzend:

‚Ei, ei! Der Herr Professor lassen sich herab zu mir?‘ Oder: ‚Hat ein so gelehrter Herr denn noch Zeit, seine dumme Mutter zu herzen?‘ –

Der Einzige, der mich noch bei dem alten Kosenamen ‚Hans‘ rief, das war der Vater. Ja, der Vater – wenn er bei uns geblieben wäre! Aber da kam einmal ein Tag, an dem der Laden geschlossen blieb und meine Mutter mit rothen nassen Augen ein Trauerkleid für sich und die Schwester vom Stücke schnitt. In der Ladenstube saß ich mit Friedrich am Sarge des Vaters, drei Nächte lang, und hatte mich schier aus einander geweint. Am dritten Tage schritten wir hinter dem Sarge über unsere Schwelle, und drinnen weinten und jammerten die Frauen. Das war gerade vier Wochen vor dem Abiturium, eine Zeit, in der, wie Sie ja auch wissen, so ein junger Kopf ohnehin schon schwer in Anspruch genommen wird.

Ich saß vor meinen Büchern in dem kleinen Stübchen oben und konnte mich noch immer nicht besinnen ob des plötzlichen Verlustes; ich hörte wie sonst die Schelle herauf klingen, die einen Käufer meldete, hörte der Mutter geschäftigen Tritt und der Schwester Walten, und es klang doch so sonderbar, so anders. Ja, es war viel Freudigkeit dahin an meinem Schaffen. – Friedrich reiste wieder nach Erfurt; die Mutter wollte das Geschäft allein besorgen, bis seine Zeit dort um sei. Ich trat zu ihr, als Friedrich fortging, und fragte sie, ob ich ihr helfen könne bei den Rechnungen und Büchern.

Du?‘ sagte sie und trocknete ihre weinenden Augen; aber sie dankte mir nicht einmal.

Ich stand und ging so um sie herum und fand doch kein Wort, das mich ihr näher brachte; sie hatte auch weniger Zeit noch als sonst; sie kam selten einmal zum Ausruhen und meine Examenarbeiten drängten; so ließ ich es denn und schob einen herzlichen Annäherungsversuch auf bis zu gelegenerer Zeit. Aber mir war unter ihren traurigen vorwurfsvollen Blicken zu Muthe, als hätte ich schwer gegen sie gesündigt, und wußte doch nicht womit.

So bedrückt arbeitete ich und ging still einher, daß der Magister mich fragte und mich lächelnd und mild tröstete: ‚Der Kummer um den Vater, Hans; – ein schwerer Stand, der Wittwenstand, besonders bei einer Geschäftsfrau; habe Geduld – Rebus in adversis animum deponere noli! Was sagen will: Verliere nie den Muth im Mißgeschick!‘

Am 25. März 1831, acht Tage vor Ostern, machte ich das Examen. Feierlich theilte der Director uns das Resultat mit, dessen wir abgespannt und erwartungsvoll harrten; nun, Sie kennen ja auch diese Stunden. Gottlob, wir hatten sämmtlich bestanden! Ich verließ mit einem wunderlichen Gefühle das alte Schulgebäude. – ‚Zum Herrn Magister!‘ das war mein erster Gedanke, – mein zweiter: ‚Wenn der Vater noch lebte!‘ Dann kehrte ich um und schlug den Weg nach Hause ein. Ich weiß nicht, ob es nur das Bewußtsein war, daß die Mutter doch das [836] größte Anrecht habe, die Erste zu sein, die diese Kunde erfuhr, oder ob ich mich sehnte, das Mutterauge ein einziges Mal in freudigem Stolze auf mich gerichtet zu sehen, – ich vermag es nicht mehr zu entscheiden.

Ich fand sie nicht in der Ladenstube, auch im Laden selbst war es still; nur die Schwester saß hinter dem Ladentische und nähte an weißem Linnen für ihre Mitgift, und vor ihr saß der Bräutigam, der herüber gekommen war, um ein Stündchen mit ihr zu verplaudern. Auf Beider Gesicht lag Frühlingssonmenschein. Sie fuhr erschreckt empor, die Emilie; oben sei die Mutter, sagte sie dann lachend, oben in der Stube.

Ich stieg die Treppe hinan und trat ein; es war das sogenannte Putzzimmer, hatte eine geblümte Tapete, helle Birkenmöbel, schneeweiße Gardinen und einen Glasschrank mit vielen vergoldeten Tassen. Hier fand ich die Mutter vor dem Schreibsecretär, in dem sie ihre Ersparnisse, ihre Andenken und Briefschaften aufzubewahren pflegte. Sie schrieb – nein, sie machte Striche mit einer Bleifeder, so eifrig, daß sie erst dann aufschaute, als ich neben ihr stand und meine Hand auf ihre Schulter legte.

,Du, Hans?‘ sagte sie, und an ihren Zügen bemerkte ich, daß etwas Frohes sie beschäftigte, siehst Du, eine Freude hat man doch ’mal wieder. Friedrich’s Principal schreibt mir da, er habe so großes Vertrauen zu ihm, daß er ihn in einer Zahlungsangelegenheit nach Mailand schicken will – das freut mein Herz, Hans; es ist Schneid in dem Jungen! Und nebenbei kann er Geschäftsverbindungen in Mailand und Zürich anknüpfen, die uns nützen werden, und er lernt ein Stückchen Welt kennen obendrein. Und Du,‘ – sie ließ mich nicht zu Worte kommen – ,da siehst Du, ich male mir sogar schon diese Zukunft aus. Das da‘ – und sie wies mir ein Blatt Papier, auf dem ein großes Viereck gezeichnet stand, mit lauter kleinen Quadraten darinnen – ‚das ist unser Haus, und hier – guck – wo unser jämmerlich kleines Schaufensterchen ist, da will ich die Mauer durchbrechen und ein großes Fenster machen lassen, damit Licht wird in dem Gewölbe und die Waaren besser ausgelegt werden können, die wir führen. Ich hab’s dem seligen Vater immer und immer gesagt, aber er war nicht dafür; er meinte, die Kunden kämen so auch. Nun ja; aber ich hab’ ’mal meine Freude daran und der Friedrich soll sie auch haben. Und, Hans, da Du einmal hier bist – ich wollte schon immer mit Dir sprechen – könntest mir auch einmal einen Gefallen thun. Gelt? Einen einzigen!‘ Und sie sah auf zu mir mit den blizenden braunen Augen. ‚Willst?‘ fragte sie; ‚einmal könntest Du der ‚goldenen Elle‘ wohl etwas nützen! Schau, Du bist ja bekannt bei der Frau Fürstin; – ich meine, es würde sich gar fein machen, wenn auf dem Schilde draußen unter der Firma zu lesen wäre: ‚Hoflieferant‘. Gelt, das könntest Du ihr sagen? Sie hat ohnehin erst vor ein paar Tagen an die sechszig Ellen Vorhangszeug bei mir kaufen lassen.“

Ich antwortete nicht sogleich; mir war es ein peinlicher Gedanke, der hohen Frau mit dieser Bitte zu nahen, da ich ja doch außer beim Vorlesen meinen Mund zu keinem Worte zu öffnen wagte in ihrer Gegenwart. Vielleicht war es kleinlich von mir – aber wie man so ist in jenen gesegneten Jahren. Und ich fragte gepreßt:

‚Thäte es nicht eine schriftliche Bitte, Mutter? ich würde sie Dir aufsetzen und schreiben.‘

Sie antwortete nicht gleich; sie schob hastig die Papiere zusammen und erhob sich, eine Purpurröthe auf dem Antlitz. ‚Schon gut!‘ sagte sie kurz und schloß den Schrank.

‚Es ist ja keine Ungefälligkeit, Mutter – ich glaube nur, daß dieser Weg der richtigere –‘ sprach ich fast flehend.

,Schon gut – ja, ja,‘ erwiderte sie, ‚bemühe Dich nicht. Wolltest Du sonst etwas?‘ setzte sie hinzu.

‚Ja, ich kam Dir zu sagen, daß ich das Examen bestanden habe.‘

,So, so! Nun, ich gratulire!‘ – das klang kühl, und kühl wie ein Nordwind hauchte es mein warmes Herz an und ließ alles Gute, alles Liebe darin erstarren. – Ich stand noch eine Weile, meinte, sie müsse etwas sagen; aber sie schaute angelegentlich zum Fenster hinaus.

‚Guten Abend!‘ wünschte ich dann nicht allzu höflich und verließ die Stube.

Das war das Letzte; an sich klein und unbedeutend, baute es eine Riesenschranke auf zwischen Mutter und Sohn. Die Schwester kam wenige Tage später weinend in meine Kammer: ‚Hans, was hattest Du mit der Mutter? Sie hat dem Pathen erzählt, Du seist ein unleidlich hoffährtiger Geck geworden, der sich ihrer und unseres Hauses schäme.‘

,Habt nur Geduld,‘ erwiderte ich ruhig, aber voll innern Grimmes, ‚ich befreie Euch bald schon von meiner Gegenwart, ich gehe in acht Tagen nach Jena –‘

Mein alter Magister lag auf dem Krankenbette, als ich schied. Ich war den ganzen Tag um ihn, saß an seinem Lager und ließ mir von ihm berichten über das akademische Thun und Treiben und nahm dankbar einen Empfehlungsbrief an den Professor Reinhold in Empfang, der ein Freund von ihm war. Ich wollte Philosophie studiren.

Der Mondschein ruhte in voller Pracht auf der schlummernden Erde, als ich, von ihm gegangen, noch einmal diesen Garten durchschritt. Dort lag das Schloß schweigend und still, und ich starrte hinüber, als müßte ich noch einmal jene vornehme Frauengestalt erblicken, mit dem Zug geheimen Kummers um den feinen Mund, die von Kindheit an mein Herz erfüllte als das Schönste und Lieblichste, was es gab. – Wenn ich einmal ein Liebchen hätte, müsse es ihr ähnlich sein, meinte ich. Recht wie ein Schwärmer pflückte ich ein paar Vergißmeinnicht, die an der Pforte wuchsen, durch welche sie oft geschritten; dann ging ich heim durch die stillen mondhellen Straßen. Es flimmerte um die Linden, es zitterte auf den Wasserstrahlen des Ritterbrunnens und wob sich um die Zackengiebel des alten Rathhauses; es schien mir Alles so anders als sonst, so viel schöner; – oder machte es die weiche Abschiedsstimmung?

Leise schlich ich die Stufen hinauf in die Kammer. Mein Köfferchen stand gepackt, wohl versorgt mit Wäsche und Kleidern; in aller Morgenfrühe wollte ich mit der Post fort. Ermüdet warf ich mich auf mein Bette und konnte doch nicht schlafen, ich hatte der Mutter nicht Lebewohl! gesagt, nur der Schwester den Auftrag dazu gegeben. Nun flackerte die alte Sehnsucht nach einem herzlichen Wort mächtig auf in dieser Stunde; ich gedachte der Vergangenheit, besonders des Vaters und wie es ihn immer so herzlich betrübte, wenn ich der Mutter scheu auswich. ‚Sie ist eine so gute Seele, Hans‘, hatte er noch kurz vor seinem Tode zu mir gesagt.

Ich erhob mich und ging auf Strümpfen die Treppe hinab bis vor ihre Schlafstube. Ich war in der Stimmung, vor ihrem Bette niederzuknieen und sie für irgend etwas um Verzeihung zu bitten – nur um noch ein gutes Wort zu hören. Aber sie war noch nicht zur Ruhe; ich hörte Schritte drinnen, und jetzt die Stimme der Schwester: ‚ Mutter, besinne Dich doch, gieb ihm selbst das Geld!‘ – das war mein Reisegeld.

‚Nein!‘ klang die helle Stimme der Mutter, ‚so, wie wir Beide uns gegenüber stehen, ist’s besser, wir reden nicht mehr mit einander. Gieb Du ihm die Tasche!‘

‚Aber Mutter!‘ bat das Mädchen flehend.

‚Red’ mir nicht drein!‘ rief sie, ‚und wenn er noch zehnmal gelehrter wäre, seines Vaters Hantirung braucht er darum nicht zu verachten und uns dazu. Mag er hingehen, wo es vornehm ist; mein Trost wird auch kommen; wenigstens ist mir ein Sohn geblieben!‘

Am andern Morgen zog ich aus dem Vaterhaus, ohne Sang und Klang. Die Mutter schlief noch, ich sah sie nicht mehr; die Schwester stand bleich in der Hausthür und zerdrückte eine Thräne. Ich wandte mich noch einmal um an der Rathhausecke, ihr zu winken, aber sie schaute mir nicht nach, sie hatte schon den Kopf gewendet und sah nach der Löwenapotheke hinüber, drinnen ihr Schatz hauste. Ich mußte grimmig auflachen; ich ging fort wie ein Ausgestoßener, wie ein Verlorener!


Es ward ein wunderlicher Gesell aus mir in dieser Seelenstimmung, zur Hälfte voll der brennendsten Lebenslust, zur andern Hälfte grillig, schwermüthig, weltverachtend.

Ich brauchte mich just nicht zu eilen mit meinem Studium. Das Erbtheil, das ich zu erhoffen, sicherte mich vor des Lebens Noth zu jeder Zeit, und jetzt hatte ich von meiner Mutter einen fast zu reichen Wechsel. So stak ich bis über die Ohren in dem akademischen Treiben jener Tage, und nächst den Kneipereien und

[837]

Die heilige Nacht.
Originalzeichnung von Alexander Zick.

[838] Gelagen im Burgkeller und zu Lichtenhain, den Paukereien auf dem Fechtboden, schwärmte ich für Poesie, machte Gedichte und schrieb fleißig an den Herrn Magister, gewöhnlich in mehr oder weniger classischen Hexametern. Nach Hause ging ich nicht in dieser ganzen Zeit; während der Ferien machte ich Reisen mit einem oder dem andern Freunde im romantischen Stil; Alles zu Fuß; durch Thüringen, den Main hinunter, den Rhein hinauf, wobei alle an der Tour liegenden Universitätsstädte mitgenommen wurden. In Heidelberg blieb ich einst sechs Wochen liegen, weil ein dort studirender Landsmann, der mich Ritter von der ,Goldenen Elle‘ geheißen, bei der darauffolgenden solennen Paukerei mir die Nase beinah aus dem Gesichte hieb. Und auf diesem Schmerzens-Lager packte mich abermals die Sehnsucht nach der Heimath und der Mutter. Einmal schrieb mir die Schwester und berichtete, daß sie verheirathet sei, daß Friedrich das väterliche Geschäft übernommen habe, und daß der Mutter Wunsch erfüllt, der Bruder zum „Hoflieferanten“ ernannt worden sei. Die resolute Frau hatte sich eines Tages aufgemacht und eine Audienz bei der Fürstin nachgesucht. Es war noch in einem Postscriptum hinzugefügt: Friedrich gehe auf Freiersfüßen um die Minna Kerstens.

Minna Kerstens war die Tochter des Schloßmühlenbesizers, aber den Schmeichelnamen der ‚schönen Müllerin‘ konnte ihr Niemand geben. Groß, blond, von mächtigem Gliederbau, kam sie fast ungeschlacht daher; die Mutter hatte früher oft scherzhaft geäußert, wenn die Minna ein Kleid gebrauche, so sei ein Geschäft zu machen, denn sechs Ellen müßte das Mädchen nothwendig mehr haben, als andere Leute. Aber Gott hatte in seiner Gerechtigkeit einen Ausgleich ersonnen und ihr ein paar der ungewöhnlichen Natur entsprechende Geldsäcke, wohlgefüllt und schwer, verliehen, die sie dem Glücklichen, der sie heimführte, als Mitgift zubrachte. Nun, praktisch war Friedrich immer. Und richtig, als ich eines Abends in rosigster Stimmung von einem Commers aus Lichtenhain zurückkehrte, lag die goldengeränderte Verlobungskarte auf meinem Tische.

Ich faßte mich kurz und gratulirte ihm zu seinem kolossiven Glück. Und dieses „kolossive Glück“ verstand er denn auch, wie ich es gemeint und wie es ja nicht anders zu verstehen war. Darauf kam ein Brief, nicht von ihm, wohl aber von meiner Mutter, der mich wieder auf Wochen verstimmte, weil er mir in bittern Worten vorwarf, daß ich den Bruder ernstlich gekränkt, und mit ihm die ganze Sippschaft der neuen Schwägerin; es sei doch wohl genug des Kummers, den ich ihr draußen in der Welt bereite, ich möchte wenigstens mein Vaterhaus mit Aergernissen verschonen. Der Brief sprach deutlich zwischen den Zeilen: – man hielt mich für ein verbummeltes Genie, für einen wüsten Menschen, aus dem nie etwas Ordentliches werden würde.

Ja, sie maßen eben Alles mit ihrer Krämerelle; was konnten sie wissen, wie einem flotten Burschen zu Muthe?

Daß ich es ehrlich gestehe, der Brief war ganz darnach angethan, mich völlig wild zu machen. Ich kam nun nicht viel mehr heraus aus den Paukereien und Kneipereien, bei dem tollsten Blödsinn war ich fortan unter den Ersten, und das Geld spielte gar keine Rolle mehr bei diesen Verrücktheiten. Daß sie daheim Kunde von der tollen Wirthschaft erhielten, dafür brauchte ich nicht zu sorgen, auch bewiesen es schon ganz allein meine kurzen Briefe, die Geld um Geld verlangten. Ohne Anstand erhielt ich selbst namhafte Summen, und nur ein einziges Mal standen zwei Zeilen von der Hand der Mutter daneben: ‚Ich hab’s gehabt – ist ein armer Mann!‘

Nun will ich mich aber nicht schlechter machen, als ich war. Ein Wüstling ward ich nicht, und ganz gebummelt habe ich auch nicht, denn der Drang nach Wissen, die Lust zur Sache war mächtiger in mir, als alle Jugendlust; und wenn wir spät in der Nacht von einem Commers heimkamen, so fand mich doch schon der folgende Morgen im Hörsaal, und der Collegien, die ich versäumte, sind es eigentlich wenige gewesen. Auch verkehrte ich nicht allein in dem bunten Studententreiben, denn Dank des Magisters Empfehlungen kam ich in manch Professorenhaus und zu manchem wohlgesitteten Thee-Abend, zu mancher soliden Landpartie, wo ich ein blondes Professorentöchterlein unter den Bäumen herumschwenken durfte; aber freilich, das erfuhren sie nicht daheim.

Im Frühsommer des kommenden Jahres meldete sich ein unheimlicher Gast in Deutschland an, die Cholera. Erst nahm sie ihre Opfer hier und da, wie zum Spiel verschonte sie manche Orte ganz, dann verschwand sie in grausamer Neckerei ein Weilchen, um mit Herbstes Anfang sich wüthend auf viel blühendes Leben zu werfen. Von Arnstein hatte man bis jetzt wenig gehört – da, eines Tages theilte mir der Herr Magister mit, daß die Fürstin, durch den Tod ihrer so innig geliebten Hofdame auf’s Aeußerste erschreckt und betrübt, Arnstein verlassen habe, um sich auf ein Jagdschloß ihres verstorbenen Gemahls zu begeben, das, tief in den Wäldern versteckt, ihr Sicherheit gegen die schreckliche Krankheit und Einsamkeit für ihre Trauer gewähren solle, und daß er, der Herr Magister, ihr noch heute dorthin zu folgen gedenke. Es sei ein grausiger Reigen, den der Tod jetzt anhebe in unserem freundlichen Städtchen, hatte er hinzugefügt, und warum nicht er dahingerafft sei, anstatt dieser voll erblühten Rose?

Mir war gewitterschwül und bang zu Muthe; es ist so eigen, wenn man ein Paar leuchtende Augen gekannt hat und sie dann so jäh geschlossen weiß. Und von dem fröhlichen Schloß, von dem stillen Eckzimmer, an dessen Fenster ich so oft das schöne Mädchen gesehen, irrten meine Gedanken zu dem alten Giebelhause auf dem Markt und hingen sich an ein alterndes Frauenantlitz mit sehnsüchtig angstvoller Gewalt: – meine Mutter – wenn sie sterben müßte, und ich hätte sie nicht wiedergesehen! Es war ein Gedanke, der mich mit Folterqualen packte.

Ein paar Tage, ein paar schlaflose Nächte hindurch ertrug ich ihn. Da, am andern Morgen, körperlich fast krank, traf ich einen Mann auf der Straße; ich kannte ihn von Ansehn, er ging seit langen Jahren mit Schuhen hausiren, die er in meiner Vaterstadt aufzukaufen pflegte.

‚Kommen Sie aus Arnstein?‘ redete ich ihn an.

Er bejahte. ‚Sieht schlecht aus da, junger Herr,‘ setzte er hinzu, ‚die Cholera hat die Leute beim Schlafittchen, sie wissen selbst nicht wie; das ganze Nest stinkt von allerhand Räucherwerk und den Leichenträgern blüht der Weizen.‘

Ich wollte den Mund aufthun zu einer Frage und scheute mich doch.

‚Sie räumt diesmal recht auf unter den Vornehmen,‘ fuhr er geschwätzig fort. ‚Den Herrn von Niedeck aus der Weißgasse haben sie hinausgeschleppt, und den Herrn Bürgermeister brachten sie im Trab, just als ich aus dem Erfurter Thor schritt gestern beim Tagesgrauen. Die Frau Amtsräthin und das schöne Hoffräulein sind todt, und in der Löwenapotheke lebt nur noch die alte halbblinde Großmutter und das Sechswochenkindchen, das junge Paar haben sie mitsammen fortgeschafft –‘

‚Meine Schwester?‘ stieß ich hervor.

‚Ihre Schwester? O, die geborne Rüdiger – ja, ja – sie hat ihren Mann gepflegt, der starb zuerst, dann kam’s an sie – –‘

Ich stürmte fort, wie ich ging und stand, und löste mir ein Postbillet. In der nächsten Stunde schon schwankte das schwerfällige gelbe Fuhrwerk über die Höhe von Jena.

Am folgenden Morgen, um vier Uhr, langte ich in Arnstein an. Ein feiner Nebel hing an den Bergen und über dem Schloßpark und lagerte auf den Dächern der Stadt, als der Wagen durch das Thor rollte. Die Hausthüren waren noch alle fest verschlossen, als scheue man die Morgendünste; nur ein paar Ackerwagen begegneten mir, und am Ritterbrunnen, wo ich ausstieg, vier Männer; die trugen eilig einen unheimlichen Korb an langen Stangen und schienen, trotz der Morgenfrühe, nicht mehr ganz nüchtern, wenigstens ließen sie einen starken Duft von Wachholderbranntwein hinter sich zurück. Die Kirchthür stand offen, ein altes Weiblein schlich hinein; sonst war es unheimlich still, nicht einmal die zahllosen Sperlinge lärmten mehr in den Linden, die Morgens ein Geschrei zu machen pflegten, daß sich die anwohnenden Leute darüber beschwert hatten, und doch traf schon ein rosiger Sonnenstrahl die bekannten Giebel.

Ich schritt weiter. In der Thür des Backhauses stand die runde Frau Meisterin, die mir so manchen Kringel verkauft hatte. Auch sie trug ein Trauerband an der Haube.

Ich grüßte flüchtig und wollte vorüber.

‚Jesus!‘ schrie sie hinter mir auf, ‚Herr Rüdiger! Herr Rüdiger! Erschrecken Sie sich nur nicht. Da bei Ihnen –‘

Ich winkte mit der Hand ab, ich wollte es nicht hören; – ich wußte ja, meine Mutter war es – meine Mutter!

[839] Ich weiß nicht, wie ich den Marktberg hinaufkam und in die Hausthür; sie stand weit geöffnet, als habe man eben Jemand hinausgetragen. Einen Augenblick lehnte ich wie erschöpft in dem stillen Flur am Treppengeländer, dann schwankte ich vorwärts, der Ladenstube zu. Mit leisem Kreischen ging die Thür auf, die ersten Sonnenstrahlen lugten durch die weißen Vorhänge und erfüllten den trauten Raum, aber lautlos stille war es innen, die Uhr stand, das Vogelbauer war leer, und nun wußte ich es – die Mutter war nicht mehr!

So einsam, so öde hatte ich es mir vorgestellt, wenn sie einst todt – aber nimmer so schrecklich, so mit wahnsinniger Angst und Reue die Seele packend. Wie ein verlorener Sohn, wie ein Verbrecher, dem die Pforten des Paradieses verschlossen sind auf ewig, so stand ich in dem verlassenen Raum.

‚Jahre meines Lebens gäbe ich, Alles, Alles, woran mein Herz gehangen, träte sie nur noch einmal in ihrer raschen Art durch die Thür dort,‘ stöhnte ich, ‚giebt es denn keine Barmherzigkeit im Himmel?‘

Da ging leise die Tapetenthür gegenüber, und da kam es herein, eine alte gebeugte Frau im Trauerkleide, die Haare, ehedem so braun, nun gebleicht von Herzeleid und Kummer.

‚Hans!‘ sagte sie leise.

‚Mutter!‘ schrie ich auf, ‚Du lebst, Du lebst?!‘

Und ich lag zu ihren Füßen und drückte ihre Hände an meine weinenden Augen.

‚Ich lebe,‘ sprach sie, ‚ich, die Alte, und die Jungen sind dahin – Alle, Alle!‘ Und nach einer Weile: ‚Du, mein Einziger noch!‘

‚Laß es gut sein, Mutter,‘ schluchzte ich, ‚laß mich Alles gut machen, laß mich bei Dir bleiben!‘ Und so im jähen Ueberschwang des Schmerzes und der Reue warf ich Alles hin, was mir des Lebens Lust und Wonne gewesen, in dem Wahne, ich habe eine schwere Schuld zu sühnen, die Schuld, daß Gott mir ein ander Temperament gegeben, als es die Mutter gemeint.

Als es Abend geworden, brachte sie mir das Hauptbuch des Geschäftes und ein Bund Schlüssel: ‚Gott segne Dich und Deinen Entschluß, Du mein Trost in der Verlassenheit!‘ Und aus den Thränen, die um den Sohn in ihren Augen standen, den ihr die verflossene Nacht geraubt, schimmerte ein Glücksstrahl über den verloren Geglaubten, den ihr der Morgen gebracht.“


Der alte Mann schwieg. Ich fühlte wohl, jetzt sei er im Begriff von dem zu reden, was ihn einstmals an den Rand jenes dunklen Abgrundes getrieben. Er saß, als habe er die Gegenwart vergessen. Der Mond war allmählich hinter den Bäumen emporgestiegen und streute seine silbernen Funken über den Garten aus; im Fliederstrauch hub eine Nachtigall an.

Er fuhr aufhorchend empor, strich sich das Haar aus der Stirn und griff zum Glase.

„Vom Hörsaal der Philosophie bis hinter den Ladentisch der ‚Goldenen Elle‘,“ begann er, „ein wunderlicher Weg, gethan unter der zwingenden Gewalt eines uralten heiligen Naturgesetzes; aber so rasch war ich diesen Weg gelaufen, in so kopfloser Eile, daß ich am Ziele ermattet zusammenbrach; doch, wer überlegt in der Angst, in der Erregung –?

Die kommende Zeit lebt in meiner Erinnerung verworren, unklar und dennoch so furchtbar lebendig!

Anfänglich stand ich noch völlig unter dem Banne der erschütternden Ereignisse, der herben Verluste; die opferwillige Liebe zu der schon verloren geglaubten Mutter schlug himmelhohe Wellen, und sie, sie lag schier anbetend vor ihrem ‚Einzigen‘ auf den Knieen. Wie oft am Tage kam sie, legte ihr graues Haupt an meine Schulter und sagte weinend: ‚Mein Einziger! Mein Sonnenschein!‘ – Mit welcher Todesangst sorgte sie sich um meine Gesundheit, mit welchem Aufwand von Festigkeit erzwang ich es, bei ihr bleiben zu dürfen in der verpesteten Stadt!

Daß ich heimgekommen, das Geschäft zu übernehmen, fand Jedermann natürlich; wer hätte es sonst thun sollen? Das alte schöne Geschäft, das für rentabler galt als ein Rittergut, würde man doch nicht verkommen lassen! Niemand redete mich darauf an, Keinem erschien es wie ein Opfer; im Gegentheil, es gab allerhand Leute, die da meinten, der leichtsinnige Studiosus habe doch mehr Glück als Verstand, denn es wäre schwerlich etwas aus ihm geworden auf der Universität, und heimlich habe die Mutter schon das Geld abgezählt in der Schublade liegen gehabt, um mich je eher je lieber nach Amerika zu spediren.

Mit den ersten Herbstfrösten erlosch die schreckliche Krankheit; der Bann, der auf allen Gemüthern lag, wich, Jedermann athmete auf – nur ich nicht. Bisher hatte ich in einem wunderlichen drückenden Halbtraum dahin vegetirt, aber plötzlich ward ich völlig wach: bin ich denn wahnsinnig gewesen an jenem entsetzlichen Morgen? Ein schrecklicher Tag, an dem ich diese Frage an mich selbst richtete. – Es war um Martini herum und in unserem Geschäfte drängten sich die Bauerweiber vom Lande, um die warmen Wintersachen einzuhandeln, ein Tag, der geschäftlich obenan stand bei uns. Draußen wirbelten die Schneeflocken über dem bunten Treiben des Marktplatzes, vom Thurme blies der Stadtmusikant einen Gassenhauer im Walzertact; es war ein Feilschen, Lachen, Schreien um mich herum, und ein Duft von Zwiebeln, nassen Kleidern und Tabak, der mich körperlich fast elend machte, erfüllte den Raum, und über Alles hinweg ertönte die Stimme der Mutter, nach Allem fragend, zuredend, angreifend, wie es das Geschäft verlangt.

,Sie sind krank, Hans‘, sagte eine Mädchenstimme hinter mir, ‚gehen Sie, ich werde der Mutter helfen.‘ Und meines Bruders hinterlassene Braut schob mich fürsichtig, als sei ich eine Puppe, zur Seite, und ein Paar blaue, von hellen kurzen Wimpern umrahmte Augen sahen mich mit zärtlich besorgtem Ausdruck an.

Ich ging. Ich ging immer, wenn sie kam und sie kam oft. Es war ein instinctiver Widerwille, den ich gegen dieses robuste grobfadige Mädchen hatte. Sie trampelte einher wie ein Percheron, und Nerven schien sie zu haben wie Seilerstricke; schon allein ihr derbes Lachen konnte mich zur Empörung bringen, und sie lachte oft in der letzten Zeit. Das Einzige, was ihr Ehre machte – sie hatte es längst heraus gefühlt, mit welchem Widerwillen ich in dem Laden thätig war, und sie erbot sich gern zur Ablösung, wie sie denn überhaupt Alles that, womit sie glaubte mir angenehm zu sein.

Die Mutter hielt große Stücke auf sie, das Minnachen war eine ‚so schneidige‘ Person. Ich hatte oft des Abends, vor einem Buche sitzend, mit halbem Ohre wie aus weiter Ferne eine Lobrede über sie angehört –. Nun, heute kam sie mir recht! – Ich trank in der Ladenstube ein Glas Wein, den die Mutter sorglich immer für mich bereit hielt, und stellte mich an das offne Fenster. –

‚Hans,‘ flüsterte da wieder die Mädchenstimme hinter mir, ,Hans, heut in aller Frühe ist die Fürstin zurückgekommen und auch der Herr Magister, von dem Sie soviel halten; ich sah es, als ich zum Backhause ging mit den Martinskuchen; – ich meine, es interessirt Sie?‘

Ich fuhr herum. Ohne ein Wort zu sagen, langte ich die Mütze von der Wand, schritt aus dem Hause und durch das Marktgewühl in die Zimmerstraße. Wie ich den Flur betrat, packte mich ein wunderliches Gefühl, etwas wie Scham, und dennoch ein altes seliges Erinnern; als ich aber drinnen stand in dem trauten Gemach, in dem nur leise die Uhr tickte und die Büsten Homer’s und Sokrates’ so still gemahnend auf mich herabschauten; als ich wieder das milde Antlitz sah und die Stimme des alten Mannes hörte, der mir in griechischer Sprache entgegenrief: ‚Sei mir gegrüßt, mein Sohn!‘ da war es, als schüttelte es mich, und eine innere Stimme schrie: ‚Bist Du denn wahnsinnig gewesen an jenem Morgen?‘

Er wußte von nichts. Er erkundigte sich nach meinem Studium und wie es komme, daß ich daheim. Und warum ich so lange nicht geschrieben? Und ich stand noch immer vor ihm, in stummer Verzweiflung:

‚Ich habe umgesattelt,‘ sagte ich, mich mühsam zu einem leichten Tone zwingend – ‚ich bin Kaufmann geworden.‘

Er sah mich schmerzlich an.

‚Der Bruder ist todt,‘ fügte ich hinzu, ‚und die Mutter schafft es nicht allein –.‘

Er antwortete noch immer nicht. ‚Hans, mein Junge,‘ nahm er endlich das Wort, ‚Ehre Deinem Entschluß, – Du wirst es wohl erwogen haben und – mögest Du Dich glücklich fühlen!‘

Mir schoß plötzlich das Wasser in die Augen – ich konnte nicht mehr bei ihm bleiben, ich hätte sonst geweint wie ein Schulbube.

[840]

Der Marienplatz in München vor Weihnachten.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[841]

Weihnachtsbescheerung auf dem Posten.
Originalzeichnung von Robert Haug.

[842] Ich sagte kurz ‚Adieu‘! und ging. Aber in unserem Hause, in dem Mansardenstübchen saß ich dann und wühlte in meinen Bücherlisten, die noch unangerührt standen, wie sie von Jena gekommen; mein Cerevis-Käppchen hatte ich auf den Kopf gesetzt und in den Händen hielt ich die Tristien Ovid’s; und ich las und las, wie ein bald Verdurstender zu trinken pflegt. So saß ich noch, als die Dämmerung hereingebrochen war.

Als ich blaß und erfroren zum Abendessen in die Ladenstube kam, sah mich die Mutter über den Tisch herüber mit forschenden Augen an. Aber sie sagte nichts und legte mir nur sorglich vor; nachdem wir schweigend gegessen und der Tisch abgeräumt worden, nahm sie das klappernde Schlüsselbund und ging hinaus. Nach einer Weile kehrte sie zurück, eine verstaubte Flasche in der Hand und des Vaters Mundglas; sie stellte Beides vor mich hin. ‚Hans‘, sagte sie, ‚trinke, – der Vater hielt es immer so; wenn ein guter Tag im Geschäft gewesen, dann goß er sich das Glas voll Franzenwein und sprach: ‚Heut war Segen drin, Alte, da können wir uns das erlauben!‘ – Nun, Hans, Du kannst es auch haben, Du bist ja hier an des Vaters Statt!‘

Sie strich mir dabei leise über das Haar, ich aber sah das alte geschliffene Glas nur noch durch funkelnde Thränen; – daß sie heut, wo ich ihr im Herzen abtrünnig geworden, sie allein gelassen in dem Drang der Arbeit, kein tadelndes Wort für mich fand, das schlug mich fast zu Boden. Hastig schob ich das nun gefüllte Glas zurück und strebte nach der Thüre.

‚Hans‘! rief es hinter mir, ‚Hans, bleib hier!‘ Aber ich konnte es nicht, ich wußte selbst nicht, warum. Heftig schlug ich die Thüre hinter mir zu und warf mich in der Kammer auf mein Bette. – Wüst und wirr erhob ich mich am andern Morgen, und wüst und wirr war all mein Thun.

Das Haus des Magisters vermied ich gänzlich, – ich war noch längst kein Philosoph! – Bei Wind und Wetter ging ich nach Schluß des Ladens in Feld und Wald umher, nur um mein fieberndes Blut zu fühlen, denn meistens stand ich schlaflos wieder auf vom Lager; immer hatte ich nur den einen Gedanken: ‚Und das soll so fortgehen, lebenslang, ewig?‘

So hatte sich mittlerweile denn auch eine Meinung über mich im Städtchen gebildet, nämlich, daß ich ein hochfahrender unfreundlicher Geselle sei, der die Leute nicht zu behandeln verstehe. Es passirte sogar, daß ein paar Honoratiorenfrauen, die mich allein im Laden fanden, nach meiner Mutter fragten und, als ich sagen mußte, sie sei abwesend, meinten, dann kämen sie ein andermal wieder. Mir war es recht: aber die Mutter, der es der Lehrling berichtete, ward mächtig dadurch aufgeregt und klagte: ‚Mit gutem Willen könne man viel – und sie hätte nicht gedacht, daß es soweit kommen würde! Sie werde wohl nie die wohlverdiente Ruhe finden, um droben in der Stube mit dem Strickzeug und der Tasse Kaffee behaglich am Fenster zu sitzen, die Leute auf der Straße zu schauen und sich zu freuen, wie es drunten so fein ordentlich und regelrecht einhergehe.‘ Und das war immer ihr Ideal, ihres Lebens Traum gewesen.

Und hier macht mein Lebensweg wieder einmal eine Biegung, um aus ödem freudlosen Pfad in einen noch schlimmeren voll Nesseln und Dornen zu münden. Es war im Lenzesanfang, da das passirte, was ich eben berichtet. In dem Schaufenster hatte der Lehrling hellfarbige Frühlingsstoffe ausgelegt; die Thür des Gewölbes stand offen und ließ schmeichlerisch warmes Wehen herein. Allenthalben schimmerten die Sträucher in smaragdenem Grün und über den Schönauer Bergen lachte ein lichtblauer wonniger Himmel. Nun, das weiß ein Jeder, daß der Frühling da draußen auch sacht an das arme Menschenherz pocht und ihm zuflüstern will von einem neuen Leben, von einem Besserwerden, daß es sich dehnt und schwillt und klopft vor unsagbarer Sehnsucht. So ging es auch mir.

Ich stand am Pult und starrte auf die Zahlen. Da fiel auf einmal ein Schatten auf mein Buch und eine Frauenstimme rief ein schallend: ‚Grüß Gott, Hans!‘ Dabei legte eine keineswegs zarte Hand im Filethandschuh ein paar Maiblümchen auf das Papier, und als ich aufblickte, sah ich die Minna. Sie hatte das Trauerkleid abgelegt und trug ein kornblumenfarbenes Gewand und einen Strohhut mit gelben Bändern. Ihre Erscheinung kam mir so grotesk vor, daß ich sie einen Augenblick wie erstarrt betrachtete; sie nickte aber vergnügt und flüsterte näher tretend:

‚Ja, sehen Sie, Hans, ewig kann ich doch nicht so schwarz herumlaufen, – heute Morgen kam’s so über mich bei dem Sonnenschein; da nahm ich das Kleid aus dem Schrank. Das Trauern äußerlich thut’s ja nicht, den Friedrich vergesse ich doch nimmer, und ich dachte,‘ sie ward plötzlich roth, ‚es wäre Ihnen auch lieber so; Sie sagten neulich einmal, es müßte eigentlich gar nicht erlaubt sein, daß die Menschen schwarze Kleider anziehen.‘

Ich hörte sie verständnißlos an. Was hatte meine im Allgemeinen aufgestellte Behauptung mit ihr zu thun? – Ich war froh, daß die Mutter mich einer Antwort überhob. Sie kam eben in den Laden und stieß einen Ruf froher Ueberraschung aus, als sie das junge Mädchen sah.

‚So ist’s gut, Minnachen, so ist’s gut! Die Jugend will ihr Recht!‘ Und als nach langem fröhlichen Schwätzen das Mädchen endlich ging, trat die Mutter in die Ladenthür und schaute ihr nach. Und dann wandte sie sich zu mir:

‚Gelt, Hans, ein schneidiges Frauenzimmer? Und wie sie dahier Bescheid weiß!‘

Ich nickte zerstreut, und sie sagte nichts mehr und ging hinaus. Nach einer Weile kehrte sie zurück mit Hut und Tuch, eine kleine Gießkanne am Arm und ein Körbchen mit Gartengeräth und Pflanzen.

‚Ich gehe auf den Kirchhof, Hans, will die Gräber ein bischen zurecht machen. Und wenn das bestellte Brautkleid verlangt wird – der weiße Atlas liegt in dem Seidenkasten zu oberst.‘

Sie schritt quer über den sonnigen Marktplatz; wer sie sah, zog den Hut, und die Frauen winkten ihr zu.

(Schluß folgt.)

Zwei Weihnachtsabende.

Skizze von E. H.0 Mit Illustrationen von Prof. P. Mohn.
1.

Auf der festgefrorenen Chaussee, die nach dem Landstädtchen B. führt, rollte schwerfällig der Postwagen dahin. Die Insassen waren eine elegant gekleidete, sehr bleich und leidend aussehende Dame und ein kleines, etwa drei Jahre altes, reizendes Mädchen, dessen dunkellockiges Köpfchen aus einer weißen Pelzmütze guckte. „Sind wir noch nicht bald da, Mama?“ frug das Kind mit weinerlicher Stimme. Die Angeredete nahm die Kleine auf den Schoß, sie zärtlich an sich drückend. „Bald, mein Liebling, siehst du da unten die Lichter schimmern? Das ist B.“ sagte sie.

Während im Walde Dunkelheit geherrscht hatte, leuchtete im Städtchen eine wahre Lichtverschwendung.

Es war heiliger Abend. Aus all den großen und kleinen Häusern, an welchen die schwerfällige Postchaise vorbeihumpelte, strahlte der Lichterbaum und scholl fröhlicher Kinderjubel heraus. Die kleine Marie im Postwagen hatte sich an’s Fenster gestellt und tippte mit den rosigen Fingerspitzen an die gefrorenen Scheiben; wenn dann das Eis geschmolzen war, guckte sie hindurch und jauchzte auf, wenn sie einen geschmückten Tannenbaum erblickt hatte.

Die junge, bleiche Frau drückte zuweilen ihr Taschentuch an die Augen, die in Thränen schimmerten.

Endlich hielt der Wagen mit plötzlichem Ruck vor einem stattlichen Hause still, das friedlich aus den beschneiten Bäumen, die es umgaben, herausschaute. Der alte Postillon öffnete den Schlag, und die Beiden stiegen aus.

Die Dame nahm die Kleine an der Hand und zog die Klingel. Bald öffnete eine freundliche Magd, welche die Fremden auf ihren Wunsch in des Herrn Pfarrers Zimmer führte. Die Thür zum Wohnzimmer stand offen, und da stand ja auch der schöne Weihnachtsbaum, um den eine muntere Schaar tanzte. Mariechen entwand sich rasch der Hand ihrer Mama und trat furchtlos auf die Schwelle. Die Jungen und Mädchen hielten [843] plötzlich inne und starrten mit offenen Mäulchen das fremde, schöne Kind an. Die Aelteste, Grethe, stieß den neben ihr stehenden Hans heimlich an und flüsterte: „Das Christkindchen!“ Dem feinen Ohr Mariechens war diese Bemerkung nicht entgangen, die Kleine hüpfte mit beiden Füßchen von der hohen Schwelle hinab in’s Zimmer und lachte die Kinder aus: „Ach, ich bin ja gar nicht das Christkindchen, ich heiße Marie, und das Christkindchen heißt doch nicht Marie!“ „Sie hat Recht, Grethe, das Christkind ist längst wieder im Himmel, es hat uns ja auch schon bescheert. Komm, Mariechen, setze dich einmal auf mein Schaukelpferd, ich lasse dich reiten!“ meinte großmüthig Hans, und das kleine Lieschen, ein Jahr älter als Marie, zupfte diese am Aermel und hielt ihr das Wickelkind hin, das die Augen bewegen und Mama schreien konnte und zwei kleine Zähnchen hatte. Mariechen war von all den Herrlichkeiten so hingenommen, daß sie gar nicht mehr an die Mama dachte, die an der offenen Thür lehnte und mit zärtlichem Blick jeder Bewegung des lieblichen Kindes folgte. –

Da trat zu einer anderen Thür die hohe Gestalt des Pfarrers herein. Er begrüßte erstaunt, aber freundlich die Fremde und führte sie in das Nebenzimmer. Dann fragte er nach den Wünschen der Dame, die sich ihm als Frau Elisabeth von Wehren aus D. vorstellte.

Sie begann: „Ich habe nur eine Frage an Sie, Herr Pfarrer, aber diese ist so schwer, daß mir fast der Muth fehlt, sie Ihnen vorzutragen. Nur der Gedanke, daß heute Weihnachten ist, das Fest der Liebe, läßt mich Muth fassen, zu sprechen. Könnten Sie sich entschließen, einem bald elternlosen Kinde eine Heimath in Ihrem Haus zu bieten für die Zeit seines Lebens?“

Ihre Stimme bebte, sie faßte mit ihren schlanken Händen die Rechte des Pfarrers, der nachdenkend vor sich hinsah.

„Ihre Frage überrascht mich,“ begann er nach einer kurzen Pause, „indessen, wenn die Verhältnisse es gestatten – ich habe selbst eine große Familie – wenn meine Frau damit einverstanden ist, so möchte ich gern Ihren Wunsch erfüllen,“ sagte er.

„Haben Sie Dank, innigen Dank, edler Mann! Ich wußte es ja, daß Sie meine Bitte erfüllen würden. Ich kenne Sie aus früheren Jahren, Sie sind mir kein Fremder, und ich zweifelte nicht, dass mein kleiner Liebling in Ihrem Hause eine Heimath finden würde! Die Kleine kommt auch nicht mit leeren Händen, ihr ziemlich bedeutendes Vermögen ist auf der Bank in H. deponirt, die Zinsen reichen hin, ihr eine gute Erziehung zu Theil werden zu lassen.“

Die Reden der jungen Frau wurden durch häufiges Husten unterbrochen, und auf den sonst aschfahlen Wangen begannen dunkle Fieberrosen aufzublühen.

Aus allen Häusern, an welchen die Postchaise vorbeihumpelte, strahlte der Lichterbaum.

„Sie werden vielleicht fragen,“ begann sie von Neuem, warum ich mein Kind nicht selbst behalte? Lassen Sie mich Ihnen kurz die Geschichte meines Lebens erzählen. Ich war die glückliche Gattin eines braven Mannes, den ich aber gegen den Willen meiner Eltern geheirathet hatte. Er war arm, und meine reichen Eltern hatten eine sogenannte gute Partie für mich im Auge. Aber ich konnte nicht von meinem Geliebten lassen. Das urewige Lied von der Liebe Freud und Leid ist auch in mein Leben geklungen. Ich verließ die Eltern, wir flohen aus der Heimath, und hier, in diesem kleinen Städtchen, wurden wir getraut.“ Sie ergriff die Hände des Geistlichen und fuhr mit bewegter Stimme fort: „Dieselben Hände, die nun mein Kind treu durch’s Leben führen wollen, sie haben damals unseren Ehebund geschlossen. Entsinnen Sie sich noch der abendlichen Trauung? Damals war die Braut jung und glücklich, kein Wunder, wenn Sie mich nicht wieder erkannten.

Wir zogen nach Amerika, nach einigen Jahren starb mein Mann an einem bösen Fieber, dem Hunderte zum Opfer fielen. Ich pflegte ihn, bis er die Augen schloß. Aber die namenlose Anstrengung und Aufregung, der nagende Schmerz um den Verlust des Theuren hat meine ohnehin nicht starke Gesundheit untergraben. Die Aerzte drüben sagten mir, auf meine inständige Bitte um Wahrheit, daß ich nur noch wenige Monate zu leben hätte. Nun aber hatte ich noch eine schwere Pflicht zu erfüllen, mein Kind zu versorgen. Ich habe Niemand auf der Welt, als eine alte, entfernte Verwandte hier im Städtchen, meine Eltern sind todt. Da erinnerte ich mich Ihrer und eilte hierher zu Ihnen. Nicht wahr, Sie rauben einer dem Tode nahen Mutter nicht den letzten Trost, sondern lassen mich mit der Gewißheit scheiden, daß mein Kind in Ihrem Hause eine Heimath gefunden hat?“

„Ich entsinne mich Ihrer jetzt wieder,“ sagte der Pfarrer weich, „aber freilich, damals waren Sie eine glückliche, jugendfrische Braut –“

„Von der nur noch ein fahler Schatten geblieben ist,“ vollendete sie, „sorgen Sie aber nicht um mich, ich bleibe die wenigen, gezählten Tage meines Lebens bei meiner alten Verwandten, ich weiß ja mein Kind in der Nähe, und bald werden Sie mir ein Plätzchen anweisen, in dem ich für lange Zeit Ruhe haben werde!“

Der Pfarrer sprach ihr Muth zu, sie aber schüttelte nur traurig und unter Thränen den Kopf.

„Lassen Sie mich jetzt gehen, ich will mein Kind, das unter den Ihren bereits heimisch geworden ist, nicht noch einmal sehen, der Abschied würde mich tödten!“ Sie übergab dem Pfarrer ein Schriftenpaket und einen Brief mit den Worten: „Wenn meine Tochter zwanzig Jahre alt ist, soll sie ihre wahre Herkunft erfahren, ich möchte, daß mein Kind noch einst an meinem Grabe betet. Der Brief enthält alles, was Marie wissen soll. O, der Gedanke ist so schwer, sein Liebstes hingeben zu müssen, aber es muß sein, seien Sie ihr ein gütiger Vater!“ Sie erhob sich zum Gehen.

„Aber wollen Sie so allein in die Stadt zurück?“ frug der Pfarrer, „das dulde ich nicht, ich werde Sie begleiten.“

Frau von Wehren wollte ablehnen, er aber hüllte sich in seinen Mantel, reichte ihr den Arm und führte sie hinaus. Noch einen schmerzlichen Blick warf sie nach den erleuchteten Fenstern, hinter denen der Weihnachtsbaum glänzte, dann schritt sie durch die dunkelnden Gassen stumm neben dem Geistlichen her.

Wenige Tage nach Anbruch des neuen Jahres hielt der Pfarrer eine tiefergreifende Rede am Grabe einer jungen, fremden Frau, am Grabe von Mariechens Mutter. – –

[844]

Auf dem Weihnachtsmarkt.
Originalzeichnung von Fritz Bergen.

[845] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[846]
2.

Zwanzig Jahre waren vergangen, seit die kleine Marie ihren Einzug in's Pfarrhaus gehalten hatte, und Weihnachten war wieder gekommen.

In einem behaglichen, von Geschmack und Wohlhabenheit zeugenden Zimmer saß am Fenster eine junge, hübsche Frau. Die dunklen Locken hingen, der Mode zum Trotz, gelöst den Nacken hinab, was der ganzen Erscheinung mit dem jugendfrischen Gesicht etwas Mädchenhaftes gab.

Wir erkennen unschwer in dem Gesichte die kindlichen Züge der kleinen Marie wieder. Der würdige Pfarrer und seine gutmüthige Ehehälfte hatten freundlich den Wunsch der Sterbenden erfüllt. Unter ihrer liebevollen Pflege war das Kind zur Jungfrau herangereift und dann einem geliebten Manne zum Trau-Altar gefolgt. Wohl hatte es sich damals wie ein Schleier auf ihr junges Liebesglück gesenkt, als ihr – wenige Tage vor der Hochzeit – ihr Pflegevater den Brief mit den von der sterbenden Mutter geschriebenen Abschiedsworten übergab, und sie hatte der theuren Todten heiße Thränen nachgeweint. Aber durch die Liebe ihres Mannes waren diese Thränen bald wieder getrocknet worden und Jahre des ungetrübtesten Glückes waren gefolgt. War es wohl neu erwachter Schmerz um die unglückliche Dahingeschiedene, was seit einiger Zeit die schönen Züge der jungen Frau mit einem Hauche der Wehmuth überzog? Die Mutter war doch lange todt, und ihre Abschiedsworte hatten der Tochter gesagt, daß sie beruhigt über das Schicksal ihres Kindes, beinahe glücklich gestorben war. Das konnte es nicht wohl sein. Was aber dann? – Man hatte eben noch einige Vorbereitungen für die Bescheerung vollendet, als die Frau Pfarrerin in’s Zimmer trat, um sofort allerlei niedliche Geschenke für ihr einziges Enkelchen, Grete’s wilden Jungen, auszupacken.

„Der wird lachen, der kleine Kerl!“ sagte die Großmutter vergnügt. „Aber was hast Du nur wieder, Marie? Weihnachtsabend und Thränen in den Augen!“

„Verzeih’, Mütterchen,“ klagte Marie, „aber das Herz ist mir zu voll! Ach, wir könnten ja so glücklich sein, mein Mann und ich, wenn nur das Eine uns nicht versagt wäre, ein – Kind! Du glaubst nicht, Mütterchen, wie einsam man sich fühlt, wie verlassen! Heinrich fühlt es mit mir, was uns fehlt, ich sehe es oft, wie sich ein Schatten über seine Stirn legt, wenn er Kinder sieht und Kindergeplauder hört. – Warum muß uns denn gerade solch ein Glück versagt sein? gerade uns, die wir ein Kind so glücklich machen könnten!“

Marie weinte bitterlich, die alte Frau hatte Mühe, sie zu beruhigen.

„Ihr werdet bei uns kein frohes Fest verleben, Mütterchen,“ begann sie von Neuem; „es ist nur ein Glück, daß Grete erst morgen früh bescheert, da kommt sie doch mit ihrem Jungen; kann es etwas Traurigeres geben, als Weihnacht und kein Kind im Haus?“

Mitten unter dem Weihnachtsbaum saß ein schönes blondlockiges Kind.

In dem Augenblicke kam Marie’s Gatte herein, er hatte offenbar den letzten Ausruf seiner Frau noch gehört. Aber während ihn sonst derartige Aeußerungen stets tief bewegten, schien er sie diesmal nicht zu beachten. Er warf seine vollgeschneite Mütze auf einen Stuhl, lachte heiter in sich hinein, die strahlenden Augen auf seine Frau gerichtet. Der alten Pfarrerin nickte er, ohne daß Marie es merkte, verstohlen zu.

„Du bist ja so heiter, wie noch nie zu Weihnachten, Heini, siehst beinahe aus, als ob Du das große Loos gewonnen hättest,“ sagte Marie.

„Habe ich auch, Schatz, habe ich auch!“ lachte er heiter, „und Du sollst nicht zu schlecht dabei wegkommen!“

Marie dachte: gewiß hat er mir irgend ein prachtvolles Kleid zum Geschenk ausgesucht, der Arme, er fühlt ja so gut wie ich, daß Weihnacht für uns ein stilles Fest ist und ohne Sang und Klang vorübergeht. –

Der heilige Abend war da. In allen Fenstern blitzten jetzt die Lichter am Baume auf. Schwester Grete war mit Mann und Söhnchen angekommen. Heinrich lief in fieberhafter Geschäftigkeit hin und her. Immer noch hatte er etwas zu ordnen; es war aber auch keine Kleinigkeit, mit der er sein geliebtes Weib heute beschenken wollte. Endlich war er fertig, die Lichter am Baume waren angezündet. Ganz feierlich kam er jetzt in’s Zimmer, wo Alle versammelt waren, faltete ein Taschentuch zusammen und band es der widerstrebenden Marie über die Augen mit den Worten:

„Hilft Dir kein Sträuben, mein Kind; dafür wirst Du eben überrascht!“

Er nahm sie an der Hand, öffnete die Thür und führte Marie dicht an den Tisch heran, auf dem der Weihnachtsbaum stand. Die Eltern und Grete hatten sich lächelnd bei Seite gestellt, um den Eindruck zu sehen, den Heinrich’s Ueberraschung hervorrufen werde. Dieser nahm ihr die Binde ab und trat bewegt zurück. Marie stand einen Moment starr da. Der Anblick, der sich ihrem entzückten Auge bot, war aber auch werth, daß eines Malers Hand das Bild festgehalten hätte. Mitten unter dem hohen Weihnachtsbaume, von dessen breiten Aesten halb verdeckt, saß ein schönes, blondlockiges Kind im weißen Kleidchen, einen Rosenkranz in die goldenen Locken gedrückt. Aus seinen blauen Augen schaute es Marie groß an, dann hob es die runden Aermchen, streckte sie ihr entgegen und rief: „Mama!“

Marie schrie laut auf vor Freude, die Thränen stürzten ihr aus den Augen, sie nahm das Kind in ihre Arme und küßte es stürmisch.

„Und das soll mein sein, Heinrich?“ rief sie in übergroßer Freude ihrem Manne zu.

„Dein für’s ganze Leben, das Kind ist eine arme Waise, kein Mensch hat ein Anrecht daran als Du, fortan sein kleines Mütterchen!“ Er umschlang Beide, Mutter und Kind.

Feierlich tönten von der nahen Kirche die Glocken und der Gesang des Liedes: „Stille Nacht, heilige Nacht!“

Aus den Zweigen des Lichterbaumes aber schien wie mit Geisterhauch die Stimme der seligen Mutter der Tochter zuzuflüstern: „Mache das Kind so glücklich, wie Du es geworden bist!“


[847]

Vom Weihnachtsbüchermarkt.

V.

Erzählungen in Prosa, Romane, Novellen. Es ist gute Sitte geworden, auch die hervorragenden Schätze der Romanliteratur als Festgaben zu Familieneigenthum zu erheben. Die Production auf diesem Gebiete wächst von Jahr zu Jahr mehr zur Sturmfluth an; aber auch hier schwimmen die zu Lieblingen gewordenen Autoren sichtlich obenauf, und auch hier drängen sich neue Auflagen vielgesuchter Werke zur Empfehlung vor.

Wenden wir uns wiederum erst den unserem Leserkreise am nächsten Stehenden zu, so müssen wir hinweisen auf die vielfach in neuen Auflagen erschienenen Werke unserer Dichterinnen: E. Marlitt, Elisabeth Werner, von welcher hier auch ein neuer, bei Richter und Kappler in Stuttgart erschienener Roman „Ein Gottesurtheil“ zu verzeichnen ist; ferner W. Heimburg, Stefanie Keyser und A. Godin. – Von Ernst Eckstein erschien der in neuerer Zeit spielende, fesselnde Roman „Das Vermächtniß“, von K. Th. Schultz die Novellensammlung „Nach dem Leben“ und von Victor BlüthgenDer Preuße“ (Berlin, A. Goldschmidt).

Auch eines Heimgegangenen müssen wir gedenken: Aus dem literarischen Nachlasse von Schulze-Delitzsch ging ein Roman „Die Philister“ hervor.

Georg Ebers hat abermals einen ägyptischen Roman vollendet, welcher das letzte Ringen des Heidenthums gegen das Christenthum behandelt und darstellen soll, wie aus den Trümmern der alten Welt eine neue erwächst. Der Roman führt den Titel „Serapis“ und erschien in der Deutschen Verlagsanstalt, vormals Ed. Hallberger, Stuttgart.

Mit großem Beifall ist Rudolf Baumbach’sTrug-Gold“, Erzählung aus dem 17. Jahrhundert (Berlin, A. Goldschmidt) aufgenommen.

Ferner liegen als neue beachtenswerthe Werke dieses Gebiets vor uns: E. Biller’sBarbara von Ittenhausen“ (Leipzig, Karl Reißner). Eine Augsburger Familiengeschichte im 16. Jahrhundert, meisterhaft erzählt.

Aus demselben Verlage: Louise Otto’s „Gräfin Lauretta“, historische Erzählung aus dem 14. Jahrhundert. Die Verfasserin, eine treue Volksfreundin seit 1848, ist der deutschen Frauenwelt bekannt genug, um für eine ihrer besten novellistischen Leistungen Aufmerksamkeit zu finden.

Der Amaranth-Dichter Oscar von Redwitz überrascht seine Verehrer mit einem Roman „Haus Wartenberg“ (Berlin, Wilh. Hertz [Besser]), und von Theodor Fontane ist ein zweibändiger Roman „Graf Petöfy“ (Dresden, F. W. Steffens) seinen vielen Verehrern sicherlich zum Fest willkommen.

Von den bei Breitkopf und Härtel in Leipzig erschienenen „Kleinen Romanen aus der Völkerwanderung“ von Felix Dahn hat „Bissula“ soeben die 6. und „Felicitas“ die 9. Auflage erlebt, in Deutschland ein Erfolg, welcher jede besondere Empfehlung überflüssig macht.

Mit einer sehr dankenswerthen Festgabe erfreut uns die Ed. Trewendt’ sche Buchhandlung in Breslau, indem dieselbe von Rudolf von Gottschall’s Roman „Im Banne des schwarzen Adlers“ als vierte Auflage eine Volksausgabe erscheinen ließ. Wenn ein dreibändiger historischer Roman, den doch nur wohlhabendere Käufer zu erwerben pflegen, seinen Leserkreis so rasch fesselt und erweitert, daß er in verhältnißmäßig kurzer Zeit drei Male gedruckt werden muß, so hat sicherlich der Dichter einen guten Griff in die Schatzkammer der Geschichte gethan.

Eine neue umgearbeitete Ausgabe von Ludwig Anzengruber’s Dorfgeschichte „Der Schandfleck“ ist bei Breitkopf u. Härtel in Leipzig erschienen.

Von der Verfasserin der „Brausejahre“, A. von der Elbe, bringt die Grote’sche Sammlung von Werken zeitgenössischer Schriftsteller als jüngstes Werk „Der Bürgermeisterthurm“, eine Erzählung aus dem 15. Jahrhundert.

Durch Inhalt und Ausstattung empfehlen sich ferner: „Auf der Schneide. Ein Geschichtenbuch von Ludwig Hevesi“ (Stuttgart, Ad. Bonz und Comp.); „Der Liebe Müh’ umsonst. Drei Novellen von Julius von der Traun“ (Wien und Teschen, Karl Prochaska); „Die alte Mühle. Roman aus jüngstvergangener Zeit von C. W. E. Brauns“ (Leipzig und Berlin, W. Friedrich); aus dem Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin: „Im Lande der Phäaken, Novellen von Hans Hoffmann“; „Das selbe Lied, Novelle von Clara von Sydow“, und „Zur Chronik von Grieshuus von Theodor Storm.“ Bei Johannes Lehmann in Leipzig erschien eine 2. Auflage von August Becker’s großem und beliebtem Roman „Des Rabbi Vermächtniß“.

Vor zwei Jahren begann Traugott Teutsch in Kronstadt die Herausgabe eines „Cyclus historischer Erzählungen aus der Vergangenheit der Siebenbürger Sachsen“ unter dem Gesammttitel: „Aus sieben Jahrhunderten“ (Kronstadt, Heinrich Dreßnandt). Die erste Erzählung „Schwarzburg“ trägt die Widmung: „Meinem Volk zur Selbstschau und Selbsterhebung im Spiegel seiner Vergangenheit zu eigen“. Die in jüngster Zeit immer wärmer gewordenen Beziehungen zwischen uns und jenem Bruderstamme rechtfertigen wohl den Hinweis auf dieses deutsche Buch.

Gustav Michell, der Dichter und Maler, hat seinem bekannten „Buch der Katzen“ nun „Das Buch der Esel“ (Jena, Fr. Mauke [A. Schenk) nachfolgen lassen, abermals geschmückt mit 25 Zeichnungen von ihm selbst. Dieses Buch zeugt nicht nur von dem gelehrten Wissen, sondern auch für das redliche Streben des geistreichen Verfassers und wird sich Bahn brechen. In demselben Verlage erschien: „Eva’s Töchter. Sieben Capitel aus der Geschichte der Weiblichkeit. Unterhaltungen für den häuslichen Herd. Von Professor Dr. Hermann Semmig“, eine Gabe für die Frauenwelt, wie desselben Verfassers jüngstes Werk: „Fern von Paris. Erzählungen und Novellen aus der Schweiz und dem Innern Frankreichs“ (Leipzig, Rudolph Linke.) Da der Verfasser sich bemüht, uns ein richtigeres Bild von den französischen Frauen aufzustellen, als dies von den Pariser Autoren geschieht, so verdient jenes dankenswerthe Bestreben auch die Beachtung der deutschen Frauenwelt.

Der Empfehlung werth sind endlich auch die vortrefflichen Romane von Ludwig Nonne: „Georg Dipold“, „Georg von Frundsberg“, „Aus vergangenen Tagen“, „Der Bürgermeister von Rothenburg“ (Gotha, F. A. Perthes) und „Ein Zug nach Rom“ (Stuttgart, A. Bonz und Comp.). Man wird es nicht für kosmopolitischen Mißbrauch erklären, wenn wir auch auf eine neue Bearbeitung und geschmackvolle Ausgabe eines englischen Lieblings der Deutschen, H. Charles Dickens, deutsch von A. Scheibe, hinweisen. Die uns vorliegenden Bände sind von der Verlagshandlung Hermann Gesenius in Halle in das Gewand der Festgaben gebracht.

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Nach dem Schluß der obigen Zusammenstellung empfehlenswerther Festgaben gingen noch einige ein, die wir hier kurz erwähnen möchten:

In erster Linie „Deutsche Künstler des 19. Jahrhunderts. Studien und Erinnerungen von Friedrich Pecht. Vierte Reihe“ (Nördlingen, C. G. Beck’sche Buchhandlung). Ein beachtenswerthes, hoch interessantes Buch, das neben seinem fesselnden Inhalte einen quellenmäßigen Werth für den Kunstbiographen besitzt. Friedrich Pecht, der geistreiche Kritiker und Aesthetiker, der mit der künstlerischen Entwickelung, dem ganzen Kunstleben der Nation auf’s innigste verknüpft ist, der zu den lebenden Meistern der bildenden Künste fast ausnahmslos in Beziehungen steht, der die verstorbenen Größen der letzten Jahrzehnte fast sämmtlich gekannt hat, liefert manchen bisher unbekannten, wichtigen Beitrag zur Charakteristik der Künstler des 19. Jahrhunderts. Ist er doch wie selten Einer berufen und in der Lage, aus dem frischen Born des Selbsterlebten, Selbstgeschauten zu schöpfen und das sorgfältig gesichtete Material in trefflicher Form dem Leser darzubieten.

Ferner nennen wir: Moritz Ottmann’s „Deutsches Heldenbuch, hervorragende Kriegsthaten deutscher Officiere und Soldaten in dem Kriege 1870 und 1871. Aus Berichten der einzelnen Truppentheile zusammengestellt. Mit 34 Illustrationen in Holzschnitt und einer Karte des Kriegsschauplatzes“ (Breslau, E. Morgenstern). Ein Soldaten-Ehrenbuch, das warmer Beachtung werth ist.

Zu Festgaben eignen sich trefflich auch die Gedächtnißwerke für unsere Lieblings-Autoren, wie: „Emanuel Geibel. Ein Gedenkbuch. Herausgegeben von Arno Holz“ (Berlin und Leipzig, Oscar Parisius); – „Gustav Freytag. Sein Leben und Schaffen, von Conrad Alberti. Mit einem Bildniß des Dichters“ (Leipzig, Edw. Schloemp); – „Heinrich Schaumberger. Sein Leben und seine Werke. Nach authentischen Quellen dargestellt von Hugo Möbius. Mit Schaumberger’s Bildniß“ (Wolfenbüttel, Julius Zwißler); – „Geistesheroen Deutschlands und Englands. Literarische Studien von Bayard Taylor“ (Leipzig, S. Glogau und Comp.). Hierher gehören auch Wilhelm Goldbaum’s „Literarische Physiognomien“ (Wien und Teschen, Karl Prochaska).

Wenn auch einem früheren Jahre angehörig, aber nach Inhalt und Ausstattung zur Festgabe geeignet ist Dr. Friedrich Sehrwald’s „Geschichte der deutschen Literatur für Schule und Haus“ und das dazu gehörige, mit Holzschnittportraits versehene Sammelwerk: „Deutsche Dichter und Denker in Proben, Mottos, Selbstbekenntnissen und Urtheilen der Zeitgenossen und Nachwelt. Bearbeitet von Dr. Friedrich Sehrwald“ (Altenburg, Oscar Bonde).

Ferner möchten wir noch auf die „Gedichte von Guido Santamar“ (Hirschberg i. Schl., A. Heilg); – „Dämmerstunden. Gedichte von Caroline Häußer“ (München, Staegmeyr) und auf die altindischen Märchen und Sprüche „Der Hitopadesche aus dem Sanskrit von J. Schoenberg“ (Wien, Karl Konegen) hinweisen, aus welch letzterem Aeltere manches Hübsche und Lehrreiche für ihre kleine Welt herauslesen können.

Schließlich glauben wir noch zu Weihnachtsgaben empfehlen zu dürfen: J. Löwenberg’s „Geschichte der geographischen Entdeckungen“, ein klar und interessant geschriebenes und mit vielen belehrenden Illustrationen geschmücktes Werk, dessen zweiter Band soeben (Verlag von Otto Spamer in Leipzig) erschienen ist, Richard Oberländer’s „Deutsch-Afrika“ und „Von Ocean zu Ocean“ und die nach französischer Vorlage von H. Masius frei bearbeiteten „Luftreisen“ von J. Glaisher, Flammarion, Tissandier etc. (F. Brandstätter, Leipzig), deren originelle Illustrationen mit phantastischen Wolkenbildern und Ansichten der Erde aus der Vogelperspective Jeden zum Lesen des Textes herausfordern.


Blätter und Blüthen.

Die heilige Nacht. (Mit Illustration S. 837.) „Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Es war der Gruß der Engel an die Hirten auf dem Felde – es ist der Gruß, der heute noch die Herzen der Menschen froh bewegt und erhebt. Der Moment aber, in welchem dieser Gruß den bethlehemitischen Hirten wurde, ist es, den der feinsinnige Künstler Alexander Zick in Berlin zugleich mit der Ankunft der Weisen aus dem Morgenlande in dem Bilde „Die heilige Nacht“ darzustellen gesucht hat, und es ist nicht nöthig, noch zu sagen, mit welchem Glück: ein einziger Blick genügt, die herrliche Tiefe und Stimmung des Bildes zu erfassen. – th.     
[848] Der Marienplatz in München vor Weihnachten. (Mit Illustration S. 840.) Der Verkauf der Christbäume findet in München wie an den meisten Orten auf offener Straße statt, und wo es die Verkehrsverhältnisse einigermaßen gestatten, entstehen kleine Waldanlagen, die einen lebhaften Gegensatz zum winterlichen Gepräge der Umgebung bilden. Mit dem frühesten Morgen finden sich die meist ärmlichen Verkäufer bei ihrer Waare ein und bieten unermüdlich jedem Vorübergehenden „an schöna Christkindlbaam“ an. Je näher der Festtag heranrückt, desto lebhafter gestaltet sich der Handel, besonders in Centrum der Stadt entfaltet sich ein eigenartiges Treiben, das bis in die Nacht hinein dauert, und dies hat unsern Künstler wohl veranlaßt, einen der belebtesten Handelsplätze der bayerischen Residenzstadt bildlich darzustellen. Wir sehen vor uns den Marienplatz, also benannt nach der in Mitte dieses Platzes befindlichen Mariensäule, die an sich schon ein sehr hübsches monumentales Bildwerk darstellt, dabei aber auch der Gegenstand beständiger gläubiger Verehrung ist; es finden sich vor der Umfriedigung dieser Säule stets Andächtige beiderlei Geschlechts ein, um Hülfe zu erbitten, die von den Menschen nicht gewährt werden wollte oder konnte. Das große Gebäude in der Ecke links stellt das prächtige neue Rathhaus dar, das nach den Entwürfen des Architekten Hauberisser im gothischen Stile erbaut ist und ein wahres Juwel der Architektur genannt werden kann. Ganz im Hintergrunde des Platzes steht das alte Rathhaus mit seinen reizenden Spitzthürmchen, dessen historische Vergangenheit allerdings bedeutender als diejenige des neuen Gebäudes ist.

Vor dem neuen Rathhaus befindet sich der figurenreiche denkwürdige Fischbrunnen, der in den Zunftannalen der Münchener Fleischer eine so große Rolle spielt, denn dies ist der Brunnen, bei welchem der originelle Metzgersprung vor sich geht. Das zwischen den beiden Rathhäusern liegende stattliche Gebäude mit dem Erkerthürmlein ist ein Privathaus, wohl eines der ältesten dieses Platzes, der so viele bedeutende Momente der bayerischen Geschichte gesehen hat. Der Platz trug noch vor einigen Decennien die Bezeichnung Schrannenplatz, weil damals der Getreidemarkt auf demselben abgehalten wurde; ältere Abbildungen zeigen auch stets die im Freien lagernden Säcke nebst den dazu gehörenden Verkäufern. Jetzt ist ein Theil desselben von den Fiakern besetzt, die mit scharfem Blick die hier einmündenden Straßen beobachten, ob nicht etwa aus einer derselben ein „Pataschehr“ angesegelt komme.

Im Erdgeschosse des neuen Rathhauses befinden sich die Localitäten der Hauptwache, vor denen Mittags die Wachtparade abgehalten wird. Der Künstler hat seinem Bilde die effectvollste Stimmung gegeben: schöner präsentirt sich der Platz kaum, als bei Mondbeleuchtung, und die angezündeten Gaslichter genügen gerade, um die schattengleich hin- und herhuschenden Figuren zu beleuchten. Das Geschäft blüht eben außerordentlich, wahrscheinlich geht der Markt schon seinem Ende zu; der Abend ist ferner eine außerordentlich günstige Einkaufszeit, denn der Christbaum läßt sich unbemerkt in die Wohnung prakticiren und die kleinen Neugierigen werden sich in den meisten Fällen den Kopf darüber zerbrechen, wie wohl das Christkind den großen Baum mit den schönen Sachen durch das kleine Fenster hereingebracht haben mag. B. R.     


Weihnachten auf dem Posten. (Mit Illustration S. 841.)

„Steh’ ich in finstrer Mitternacht
So einsam auf der stillen Wacht,
Dann denk’ ich an mein fernes Lieb,
Ob mir’s auch treu und hold verblieb,“

hat der Soldat auf dem hübschen Bilde von Rob. Haug wohl doppelt Ursache vor sich hinzusummen, wenn er am Weihnachtsabend – wie der Christbaum hinter dem Fenster beweist – gerade vor dem Hause zu schildern hat, in welchem seine Herzallerliebste „dient“. Wird sie sein „fernes“ Lieb bleiben oder ihm wieder „treu und hold“, wie so oft schon, erscheinen als Spenderin „einiger Brosamen von des Herrn Tische“? Schon steigen leise Zweifel in seiner hoffenden Seele auf, da – klingt’s wie Schritte – sie ist’s: die Geliebte naht mit einem heute absonderlich umfangreichen Paket in der Hand. Lüstern ist er schon zur Empfangnahme desselben bereit, da – klingt es nochmals wie Schritte, diesmal die Straße herab, und – urplötzlich muß er der Frage gedenken, die noch heute Morgen sein Unterofficier in der Instructionsstunde an ihn richtete:

„Was darf der Soldat auf Posten nie nicht?“

„Rauchen, – sich in Gespräche einlassen, – Geschenke annehmen,“ lautete die Antwort.

Und jetzt? Jetzt war er im Begriff, gegen diese Vorschrift der grauen Theorie zu sündigen! Wehe, wenn er in flagranti ertappt würde, wenn es ein Officier war, der die Straße herabkam!

Doch er hat sich umsonst geängstet: die Schritte verhallen. Etwas beruhigter streckt er die Hand aus und nimmt die „fromme Liebesgabe“ in Empfang. Mehr aber, namentlich sich in ein Gespräch mit der geliebten Spenderin einzulassen, wagt er nicht. Ein flüchtiges „danke!“ flüstert er ihr zu, dann schildert er weiter und

„Schnell war ihre Spur verloren,
Sobald das Mädchen Abschied nahm.“


Auf dem Weihnachtsmarkt. (Mit Illustration S. 844 und 845.) Kein schönerer Gang als „unter den Buden“ für Alt und Jung im ganzen Jahr! Da beherrscht nur ein Gefühl all die da Wandelnden, die reinste und lohnendste Lust: für die Freuden Anderer und vor Allem der Kinder zu sorgen. Und wie herrlich führt unser Bild uns in die Erinnerung an all die Zeiten ein, in denen wir selbst „unter den Buden“ herumschwärmten! Da fehlt nichts von dem, was uns als Kinder entzückt und beglückt hat. Nur wem alle Kindlichkeit des Herzens entwichen, wer sich nicht mehr wie ein Kind freuen kann, dem bleibt das Paradies der Weihnacht verschlossen. Gottlob, sind deren so wenige, daß unser Weihnachtsmarktbild Augen genug finden wird, die sich an ihm erquicken.


Auflösung der Räthsel-Geschenke in Nr. 50: I. „Otto“ (Lotto). – II. Bezeichnet man die Buchstaben des Wortes „Adelheid“ der Reihe nach mit den Zahlen 1-8, so giebt die Signatur der Kiste: „Kleid“. – III. „Papagei“ (Papa – Geis).


Kleiner Briefkasten.

Marlitt-Verehrerin in M. Wir können Ihnen zu Ihrer Beruhigung die bestimmteste Versicherung geben, daß der neue Roman von E. Marlitt schon in Nr. 1 des neuen Jahrgangs zu erscheinen beginnen wird.

Alter Abonnent in Essen. Da uns die Zusammensetzung der beiden von Ihnen erwähnten Tincturen nicht bekannt ist, so können wir über die Wirksamkeit derselben kein Urtheil fällen. Trau, schau, wem!

T. T. J. In einem kleinen Theile der Auflage unserer Nr. 48 ist durch ein Versehen des Setzers Emil Pasqué als Verfasser des „Urbild des Fidelio“ gesetzt. Es soll natürlich wie in den frühern und spätern Nummern Ernst Pasqué heißen.


Eine neue Einbanddecke zur „Gartenlaube“. Von der Absicht geleitet, unseren Lesern bei nun bald vollendetem Jahrgang für den vollständigen Band ein elegantes, den Anforderungen des heutigen Geschmackes entsprechendes Gewand zu bieten, ließen wir nach der Zeichnung von Prof. Fr. Wanderer in Nürnberg eine neue Einbanddecke anfertigen, von welcher wir nebenstehend eine Abbildung in verkleinertem Maßstabe geben.

Diese Decke ist von olivenbrauner Farbe, in Gold- und Schwarzdruck ausgeführt und dürfte wohl bald von der Mehrzahl unserer Leser mit Vorliebe zum Einband der Gartenlaube gewählt werden. Sie ist durch jede Buchhandlung zu dem billigen Preise von Mark 1,25 zu beziehen. Mit Benutzung derselben ist jeder Buchbinder im Stande, zu verhältnißmäßig billigem Preise einen soliden und eleganten Einband herzustellen. Auch die früheren Decken können zum Preise von Mk. 1,30 noch bezogen werden.


Inhalt: Christnacht. Gedicht von Victor Blüthgen. Mit Illustration S. 833. – Ein Weihnachtsgruß. Von P. K. Rosegger. S. 834. – Am Abgrund. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 835. – Zwei Weihnachtsabende. Skizze von E. H. S. 842. Mit Illustrationen S. 843 und 846. – Vom Weihnachtsbüchermarkt. V. S. 847. – Blätter und Blüthen: Die heilige Nacht. S. 847. Mit Illustration S. 837. – Der Marienplatz in München vor Weihnachten. S. 848. Mit Illustration S. 840. – Weihnachten auf dem Posten. S. 848. Mit Illustration S. 841. – Auf dem Weihnachtsmarkt. S. 848. Mit Illustration S. 844 und 845. – Auflösung der Räthsel-Geschenke in Nr. 50. S. 848. – Kleiner Briefkasten. S. 848. – Eine neue Einbanddecke zur „Gartenlaube“. S. 848.



Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift, wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

manicula Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.
Die Verlagshandlung.

Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Erst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.