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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[585]

No. 36.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.
(Schluß.)


Als Raban die beiden Melber verlassen hatte und nach eiligem Gange in Mariens Wohnung angelangt war, wurde er in dem Salon von Anna empfangen.

„Das Fräulein läßt Sie bitten, mir zu sagen, wie die Sachen abgelaufen!“ sagte diese aufgeregt.

„Gut - auf’s Beste,“ antwortete Raban, über Mariens Wunsch, seine Nachricht durch Anna zu erhalten, ein wenig erstaunt, „Herr Wolfgang Melber ist der Haft bereits entlassen, ist frei.“

„Es wird das Fräulein sehr freuen dann aber läßt sie Herrn von Mureck recht sehr bitten, erst morgen um Mittag zu ihr zu kommen, um ihr Alles zu erzählen ...“

„Fühlt sie sich kränker?“ fragte Raban erschrocken.

„Nein, nicht das - nur ein dringendes Bedürfniß, mit sich allein zu sein und vieles zu überdenken ...“

„Wie sie befiehlt!“ entgegnete Raban; „so will ich morgen zur Mittagszeit wieder erscheinen.“

Er ging, betroffen und enttäuscht, das Bedürfniß Mariens nach Einsamkeit nicht recht begreifend, da sie doch gespannt die Enthüllungen erwarten mußte, welche Raban ihr noch zu geben hatte: die Aufklärungen des Graveurs, die den Schlüssel zu allen Voraussetzungen im Briefe seines Vaters enthielten, die Mittheilungen über all diese Dinge, welche Marie so unmittelbar, so nahe betrafen.

Was gab es in ihrer Seele, was dies Alles ihr ferner rückte, sie gleichgültiger dagegen machte? Hatte Wolfgang’s Mißgeschick einen solchen Sturm darin erregt? Derselbe mußte nun doch vorüber gegangen sein: er war ja frei – der geliebte Vetter! Oder hatte ein solcher Sturm, wenn sie ihn für sich allein auszukämpfen hatte, einen andern Grund – war es der Gedanke, daß Wolfgang im Stande gewesen, ihr Geschenk fortzugeben, an eine Person, von deren Existenz sie vorher keine Ahnung hatte?

Es war ja auch das möglich!

In der Dämmerungsstunde dieses Tages sah Raban den jungen Bildhauer noch einmal. Dieser kam zu ihm in seine Wohnung, wo Raban eben die ersten Vorbereitungen traf, Wien zu verlassen. Er hatte mit einer gewaltsamen Anstrengung, einer Art Sieg über sich selbst den Entschluß gefaßt, in seine Heimath zurückzukehren. – Es that nicht gut für ihn, wenn er länger in Wien blieb, wenn er fortfuhr Marien zu sehen, oder sich nur in ihrer unmittelbaren Nähe zu fühlen. Verwundert sah er jetzt Wolfgang Melber bei sich eintreten.

„Ich komme,“ sagte dieser, „Ihnen noch einmal für Ihre Bemühung um mich zu danken, gründlicher und lebhafter, als ich es im ersten Augenblick heute gethan habe – ich war da noch ein wenig aus dem Gleichgewicht durch das Erlebte und durch das immerhin sehr angenehme Gefühl, wieder freie Luft zu athmen ...“

„Ich habe,“ versetzte Raban, ihm einen Stuhl hinschiebend, „weder etwas sehr Großes, noch etwas gethan, was nicht jeder Fremde für Jemand, der unschuldig in einen häßlichen Verdacht und in Ihre Lage gekommen, gethan hätte ... “

„Und doch,“ entgegnete Wolfgang sich setzend, die Beine behaglich von sich streckend und eine Cigarre aus dem Etui, das Raban ihm jetzt bot, nehmend und anzündend, „doch danke ich Ihnen besonders dafür, daß Sie nicht nur das Nothwendige thaten, sondern daß Sie es so schnell thaten! Ist Fräulein Marie ernstlich krank?“

„Nicht das – unwohl, angegriffen ...“

„Eine Damenkrankheit also!“ fiel Wolfgang ein; er sprach ungewöhnlich langsam, wie bedächtig heut, und ebenso waren seine Bewegungen – wie gedämpft, wie von einem eigenthümlichen Phlegma niedergehalten, während er sonst doch etwas Unruhiges, Unstätes in seinem Wesen zeigte.

„Eines kann ich Ihnen sagen, Herr von Mureck,“ fuhr er fort, aus seiner Cigarre sparsam die Rauchwolken ziehend und sie energielos, langsam ausstoßend, – „Eines kann ich Ihnen sagen, daß solch eine Haft in einer Verbrecherclause einen ganz wunderlichen Eindruck auf den Menschen macht. Sie kennen die Geschichte von dem Gelehrten, der im tiefsten Schlaf Nachts sich von seinem Diener wecken ließ, um das Bewußtsein vom Wohlgefühl dieses Schlafs und des Wiedereinschlafens zu haben. Es sollte Jeder, der auf freien Füßen umherläuft, einmal etwas Polizeiwidriges, irgend eine gemeinschädliche Dummheit begehen, um sich für einige Tage hinter Schloß und Riegel zu bringen und so zum Bewußtsein zu kommen, welches Glück er mit der Freiheit genießt. Man weiß es sonst wirklich nicht zu schätzen!“

„Ich glaube nicht, daß Sie mit diesem Vorschlag viel Gehör finden, Herr Melber,“ gab Raban lächelnd zur Antwort. „Besser wäre es dann wohl schon, wohlhabende und gesunde Menschen würden zuweilen in einen Zustand von Armuth und Krankheit versetzt, der ihnen neben dem Bewußtsein ihres Glücks das Mitgefühl für die, denen es fehlt, beibrächte!“

„Meinethalben auch das!“ sagte Wolfgang. „Aber solch eine Haft ist auch nach andern Richtungen hin von gar nicht zu verachtenden [586] Folgen und wohlthätigen Wirkungen. Eine wunderbare Schule der Vorsicht, sag’ ich Ihnen, der Gescheutheit . . .“

„Nun ja,“ erwiderte Raban – „man sagt ja, wenn auch ein ‚gescheuter‘ Mensch – das heißt vielleicht: einer, dem man, etwa durch eine Haft, wenn Sie wollen, Scheu beigebracht hat!“

„So ist es: Scheu, in die mancherlei uns rings umlauernden Lebensrisicos zu geraten.“

„Ich habe einmal bei einem Geschichtschreiber die Behauptung gefunden,“ fiel Raban lächelnd ein, „daß alle großen Kraftgenies der Geschichte, alle Weltstürmer, wenn sie einmal gefangen gewesen und in Kerkerhaft gerathen, nachher nur noch eine gebrochene Kraft gewesen. Selbst Franz der Erste, sogar Napoleon . . .“

„Der Mann mag Recht haben – obwohl ich dem kaiserlich königlichen Landgericht nicht gerade nachsagen will, daß es meine Kraft gebrochen habe. Freilich bin ich auch kein Kraftgenie. Es hat mich nur mit einem gewissen sanften Zwange über mancherlei nachdenken gemacht – zu dem man außerhalb jener stillen und stilvollen Harmonie von vier schmutzigen grauen Wänden so leicht nicht kommt.“

„Sie sind ‚gescheut‘ geworden!“ sagte Raban kopfnickend.

„Wenigstens zur Scheu gebracht vor dem flotten Trab, in dem ich mein Leben bisher so dahinschießen ließ. Es ist am Ende eine unsichere Gangart – wenigstens, so lang man nicht eine ganz offene Bahn ohne alle Hindernisse vor sich hat . . .“

„Das heißt? Was verstehen Sie unter dieser Bahn?“

„Das heißt, um kurz zu sein, eine ganz und völlig gesicherte Existenz, wie Unsereins sie nur gewinnt durch eine reiche Frau. Und wenn diese Frau noch dazu ein sanftes nachgiebiges Wesen, eigentlich ein Engel von einem Geschöpf ist und uns obendrein noch aus einer verzweifelten Lage rettet, so – nun, so müßte man doch ein Narr und Pinsel sein, wenn man nicht Gott dankte, sie gefunden zu haben. Sind Sie nicht auch der Meinung?“

„Freilich,“ versetzte Raban zögernd und innerlich heftig bewegt, „freilich bin ich dieser Meinung.“

„Natürlich,“ fuhr Wolfgang fort – „und sehen Sie, deshalb komme ich eigentlich zu Ihnen. Sie werden nun meine Bitte begreifen, dasjenige zu vergessen, was ich Ihnen unlängst von Fräulein Marie gesagt haben mag. Ich weiß nicht genau mehr, welches meine Aeußerungen über Fräulein Marie und über meine Art, ihr gegenüber zu empfinden, waren. Aber was ich auch gesagt haben mag, so hat es heute keine Gültigkeit mehr für mich. Meine Gedanken und meine Vorsätze sind ganz andere geworden – völlig verschieden . . .“

„Sie wollen sich also Fräulein Marie Tholenstein’s, der reichen Erbin von Arholt, Neigung gefallen lassen?“ sagte Raban mit bittrer Betonung.

„So – ungefähr so ist es,“ entgegnete Wolfgang – „und deshalb komme ich zu Ihnen, um es Ihnen mitzutheilen, obwohl ich gar nicht weiß und berechnen kann, wie Ihre Gefühle dabei sind. Aber wie diese auch sein mögen – ich weiß, daß Sie ein Ehrenmann sind, Herr von Mureck, und daß ich deshalb darauf bauen kann, daß Sie das, was ich zu Ihnen neulich gesprochen habe, vergessen werden; daß Sie nicht meine Aeußerungen, die im Vertrauen geschahen, etwa ausbeuten und benutzen werden, um Mariens Gefühle gegen mich zu erkälten . . .“

„O, darüber können Sie beruhigt sein,“ fiel Raban fast heftig ein – „ich werde Ihre Aeußerungen zwar nicht vergessen, denn unser Gedächtniß steht nicht in unserer Gewalt; aber daß ich nichts thun werde, um die Gefühle von Fräulein Marie zu erkälten, freilich auch ebenso wenig, dieselben für Sie zu erwärmen, davon können Sie sich überzeugt halten.“

Wolfgang sah mit seinem unstäten Blick zu ihm auf und schwieg eine Weile, wie um sich den Ton zu deuten, in welchem Raban geantwortet hatte.

„Nun ja – ich wußte das ja – Sie sind ein Ehrenmann; ich wußte es ja! Ich hätte es vielleicht gar nicht zu berühren gebraucht! Aber Vorsicht ist immer besser!“

Damit erstarb das Gespräch. Wolfgang ging zu anderen Gegenständen über, und da Raban ihm nur kurze und zerstreute Antworten gab, erhob er sich nach einiger Zeit; er wollte, sagte er, jetzt zu seinem Vater gehen und den Abend einmal „en famille“ zubringen. Es schien das ein ungewöhnliches Vorkommniß zu sein!

„Wunderlich,“ sagte, als er sich entfernt hatte, Raban zu sich selbst, „wunderlich, wie Menschen seiner Art, die charakterlosesten Menschen, immer auf’s Festeste auf die Ehrenhaftigkeit Anderer bauen, von dieser Ehrenhaftigkeit alles Mögliche verlangen und auf’s Unbefangenste von ihnen eine Großmuth voraussetzen, zu welcher sie selbst völlig unfähig wären!“

Was er von Wolfgang vernommen, das mußte ihn mit den düstersten Vorahnungen für Mariens Zukunft erfüllen. Wenn diese wirklich, von ihrem bösen Schicksal geleitet, verbunden werden sollte mit einem in seinen Entschlüssen so wankelmüthigen, unzuverlässigen Menschen ohne sittlichen Charakterhalt und am Ende doch auch ohne wahrhaftes, eine tüchtige Entwickelung zu großem Schaffen verbürgendes Talent! Denn das Talent jeder Art, das dichtende wie das Gebilde schaffende, besteht immer aus zwei Elementen: der Gabe, etwas machen zu können, und aus einer idealen, sittlich angelegten Natur.

Und so brütete denn Raban über diesen Charakter, über die Möglichkeit, ob Marie mit ihrer unendlichen Güte, ihrer Reinheit und ihrer Seelengröße, der Höhe ihres Denkens je einen leitenden, veredelnden und läuternden Einfluß auf Wolfgang gewinnen würde? Ob sie dieser modernen Menschenseele je zum Aufschwung in ihre eigenen reineren Aetherlüfte werde verhelfen können? Es war wenig Hoffnung dazu vorhanden. Marie mochte alle Gaben von der Natur empfangen haben – die, zu herrschen, ihrem innersten Wesen Widerstrebendes, Häßliches zu bekämpfen und zu besiegen, war wohl nicht darunter. Sie war nicht das Weib, einem Wolfgang Melber zu imponiren. Das Beste in ihr verstand dieser gar nicht – und würde er es verstehen, so vermochte er es nicht zu schätzen, zumal bei einer Frau, die er so leicht erringen sollte, die ihm halb entgegenzukommen bereit schien. Das war das Verhängnißvolle. Hätte Melber schwer und lange nach ihr zu ringen, große Hemmnisse ihretwegen zu besiegen gehabt, so hätte es vielleicht anders werden können. Das leicht Gewonnene, sich selbst Entgegenbringende schätzt auf die Dauer kein Mann.

„Wie der Menschen Loose seltsam vom Zufall des Begegnens, vom wirren Durcheinander der sich kreuzenden Lebenspfade bestimmt werden!“ sagte Raban sich schwermüthig und eine Centnerlast auf seinem Herzen fühlend. „Die Thiere sind besser berathen als die armen Menschen. Der Vogel gesellt sich nur dem, dessen Gefieder ihm verbürgt, daß er desselben Wesens ist, die Taube nur der Taube, die Nachtigall nur der Nachtigall. Uns sagt kein Gefieder, keine Farbe am Menschen, der uns begegnet, ob er von unserer Art und Natur oder ob ein uns fremdes Geschöpf und Wesen unter seiner Haut steckt.“

Raban beschloß, schon am folgenden Tage, nach seiner letzten Unterredung mit Marie Tholenstein, aus Wien abzureisen. Wien war ihm kein glücklicher Ort gewesen. Kein glücklicher Ort! Einen solchen gab es ja nun für ihn überhaupt und in alle Zukunft nicht mehr!


11.

Als er am folgenden Tage in Mariens Wohnung erschien, führte ihn Anna sofort und mit einem sehr sonnigen Lächeln auf ihrem Gesicht in das Wohnzimmer ihrer Herrin. – Raban sah bei seinem Eintreten gleich auch den Grund dieser erheiterten Miene – als ihm Marie wie verwandelt entgegenkam und ihm herzlich die Hand bot. Sie schien bereits völlig genesen, ihre Augen waren klar und strahlend wie früher, und auch der leise Anhauch von Röthe lag wieder auf ihren Wangen.

„Ich fühle mich gesund und fast ganz im Besitz meiner alten Kraft,“ sagte sie auf Raban’s erfreute Frage, „und wie Sie es sind, der mich krank gemacht, haben auch Sie mir – gestern – die Heilung gebracht! Aber nun setzen Sie sich hier, mir gegenüber, Herr von Mureck, und lassen Sie uns vernünftig und gründlich über Alles reden. Zuerst müssen Sie mir recht ausführlich erklären, was Sie berechtigt zu der Versicherung . . .“

„Daß der Brief meines Vaters, dieser unselige Brief . . .“

„Der vielleicht auch sein sehr, sehr Gutes hatte,“ fiel ihm Marie in’s Wort, mit einem ganz eigenthümlichen Lächeln . . . „aber,“ setzte sie, als Raban darüber verwundert ausschaute, hinzu, „fahren Sie fort.“

Raban setzte sich in den Sessel vor ihrem Ruhebett, auf den sie gedeutet, während sie auf dem letzteren Platz nahm. Er fuhr fort: „Daß der Brief meines Vaters völlig unrichtige Voraussetzungen [587] enthielt und Thatsachen annahm, die niemals geschehen sind; daß niemals ein solcher Betrug, wie er dort angenommen wird, verübt ist – kann ich Ihnen in einer Weise klarlegen, daß nicht der geringste Zweifel mehr übrig bleibt.“

Raban erzählte nun, wie die Noth um Wolfgang’s Verhaftung Herrn Heinrich Melber zu ihm getrieben, wie er, der ja durch eine zufällige Aeußerung der Tante Stiftsdame von den Münzen Martens gehört, sofort eingesehen, daß er im Stande sei, Wolfgang zu Hülfe zu kommen, daß er aber auch rasch entschlossen gewesen sei, die Situation zu benutzen, um von dem einzig competenten Zeugen die Wahrheit zu erfahren. Und dann berichtete Raban Alles, was Heinrich Melber über seinen Bruder und dessen Gedanken, dessen unreif gebliebene und bald wieder fallen gelassene Vorsätze erzählt hatte – genau und ausführlich, wenn er sich auch sagen mußte, daß er dabei in Marien schmerzliche Empfindungen wach rufe, da es sich doch immer um sittliche Verirrungen des Mannes, der ihr Vater war, handelte. Aber wenn Raban auch da nicht ganz schonen konnte, wo es galt, Marien die nöthige völlige Klarheit zu geben, so bestrebte er sich doch, die Sache im mildesten Lichte darzustellen.

Marie hörte ihm still zu, ohne ihn zu unterbrechen; als er schwieg, stand sie mit einem Seufzer auf und ging einige Male wie innerlich tief bewegt im Zimmer auf und ab – dann sich plötzlich wendend, legte sie die Hand auf seine Schulter, um nun über diese unwillkürliche Bewegung sogleich auch dunkel erröthend sich rasch wieder auf ihren Sitz niederzulassen und zu sagen:

„Ich danke Ihnen aus Herzensgrund für dies Alles, was Sie für mich gethan, und ich kann nicht anders, ich muß nun auch zu Ihnen reden, wie es mir heute um’s Herz ist – ich muß auch Ihnen eine Erklärung geben – über unsinnige Worte, die ich in einer Stunde, in welcher ich mich selbst nicht kannte, zu Ihnen gesprochen habe – ich erklärte Ihnen, ich dürfe Sie nicht anhören, als Sie mir sagten, daß . . . daß Sie mir gut seien, Raban, – und doch – mein Gott, weshalb hätte ich es nicht gedurft!“

„Marie!“ rief Raban tief erschüttert und mit einer Bewegung aus, als ob er ihre Hand ergreifen wolle . . .

„Still, still,“ sagte sie, „Sie dürfen mich jetzt durch kein einziges Wort erschrecken, – Sie müssen ganz still und ruhig mich zu Ende hören. Sehen Sie, damals, als ich es sagte, war ich in einer seltsamen Selbsttäuschung befangen – ich weiß nicht, ob andere Mädchen, Frauen sich so über sich selbst und ihre Gefühle täuschen könnten – aber ich habe es gethan, es ist so. Als ich meinen Vetter Wolfgang kennen lernte, da flößte er mir, weil er ja mein Blutsverwandter ist, ganz natürlich lebhaftes Interesse ein. Und dann imponirte mir sein ganzes, sich von den Lebensformen, in denen Unsereins sich bewegt, befreiendes Wesen, das mir als der Ausdruck einer freien Künstlerseele erschien; und endlich bewunderte ich sein großes schaffendes Talent, die bildende Kraft seiner Phantasie. Das fesselte mich, ließ meine Gedanken sich mit ihm beschäftigen, und das bald um so mehr, als ich bemerken und erfahren mußte, daß er ein ziemlich wildes Leben führte und mit nicht immer sehr verständigen Genossen dem Vergnügen nachjagte. Ich sorgte mich dabei um ihn, ich fürchtete, daß er sein Talent auf diese Art zu Grunde richten würde, ich ermahnte ihn, ich hatte ein Gefühl wie das einer für ihn verantwortlichen Schwester, es kam mir der Gedanke, als müßte ich, um ihn sicher einer großen und schönen Zukunft zuzuführen, sein Weib werden, ihn behüten, leiten, beherrschen.

Das, was ich für ihn empfand, wenn ich mir vorstellte, wie nahe ihm die Gefahr eines völligen Unterganges liege, eine Gefahr, die ich wohl mit den vergrößernden Augen eines unerfahrenen jungen Mädchens sah – dies Gefühl hielt ich für Liebe. Ich war so thöricht bis zu dem Augenblick, wo Ihre Enthüllungen mich trafen und wo die Nothwendigkeit an mich herantrat, auf mein ganzes Erbe zu seinen Gunsten zu verzichten. Der Gedanke daran brachte mir Offenbarungen über mich selber, brachte mir eine Erkenntniß, die in meiner Seele den Sturm hervorrief, welcher mich, wie Sie ja selbst sahen, völlig krank machte . . . Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was Alles in mir war und mir das ganze Herz umkehrte. Es widerstrebte mir zunächst auf’s Aeußerste, mich selbst blutarm zu machen, um alles, was ich als mein Erbe betrachtet hatte, Wolfgang zu überlassen! Ich gönnte ihm zur Ausbeutung für ein wildes Leben nicht das, was ich als mein betrachtet, und was ich für meine Armen bedurfte. Selbst arm zu werden, war mir ein schrecklicher Gedanke! Und war das nicht eine Offenbarung? Wenn ich ihn geliebt hätte, würde ich nicht mit Freuden Alles, was mein, ihm dahingegeben haben? Würde es mich nicht mit Jubel erfüllt haben, ihn für alle Zeit reich und mächtig machen zu können?

Und auf der andern Seite wieder hatte ich ein Gefühl der inneren Befreiung: wenn ich nun wirklich alle meine Rechte, meine ganze Hoffnung auf ein Leben, in welchem ich Gutes thun, Hülfe gewähren, Anderen beistehen kann, dahingab und Wolfgang, wie ich ja doch mußte, opferte, wenn ich Alles bedingungslos dahingab, hatte ich dann nicht vollauf genug für ihn gethan? Konnte ich dann nicht mit freiem Gewissen ihn sich selbst überlassen und mich damit begnügen, ihm, für den nun so reich gesorgt war, aus der Ferne nachzuschauen, wie er sein Leben nun zu führen und zu gestalten verstehe? Gewiß, ich durfte es und es lag für mich ein glückbringendes Gefühl, das mich wieder für Alles trösten wollte, in dieser Empfindung persönlicher Befreiung. Dabei blieb freilich ein dumpfer, mit Aufwallung tiefer Verzweiflung wechselnder Schmerz in mir – daß Menschen so schlecht sein können, wie es Ihr Vater von dem Manne annahm, der doch immer von mir als mein Vater betrachtet worden, und an dem ich im Stillen doch immer gehangen hatte, bei dem so oft meine Gedanken gewesen waren; und daß ich nun so völlig losgelöst mich fühlen sollte von der lieben alten Großmutter daheim, die mit so viel rührender Zärtlichkeit an mir gehangen, die meine Kindheit behütet, der ich Alles, Alles verdanke – o mein Gott, ich kann Ihnen nicht Alles sagen, nicht Alles deutlich machen, was mir durchs Herz ging und was mich krank machte! Ich brauche es Ihnen ja auch nicht zu sagen, es ist ja genug, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich im Sturm der Tage, die hinter mir liegen, vollständig eingesehen habe: es war eine große, wenn Sie wollen, mädchenhafte Selbsttäuschung, wenn ich glaubte, ich liebe Wolfgang. Ja, die thörichte Einbildung eines unerfahrenen jungen Mädchens. Ich liebe ihn gar nicht – jetzt, wo ich hören mußte, daß er etwas, was ich ihm geschenkt ... doch genug, genug – ich fühle nicht einmal mehr wie eine Schwester für ihn!“

Raban hatte dem Allen in äußerster Spannung zugehorcht; fast athemlos hatte er sie angeblickt, nur mit seinen Blicken ihre Reden beantwortet – jetzt ließ er sich, übermannt von all dieser Güte, mit der sie ihm ihr ganzes Herz erschlossen, auf die Knie vor ihr nieder, ergriff ihre Hand und sagte leise:

„O mein Gott, wie ich Sie verstehe, Marie! Die Empfindung, in welcher Ihnen am stärksten Ihr Wesen bewußt wird: das Mitleid mit einer gefährdeten, vom Untergang bedrohten Menschenseele, das Mitleid mit einem Menschen, der Ihnen so nahe stehen müßte – dies Mitleid in seiner Unbegrenztheit wurde von Ihnen für die Kundgebung eines andern Gefühls gehalten, das es nicht war, nicht sein durfte . . .“

„Das es nicht war,“ versetzte sie, ihm ernst und sinnend in’s Auge schauend, aber ihn ruhig in seiner Stellung zu ihren Füßen lassend, „und daß es das nicht war, fühlte ich ja schon, als Sie mich so erschreckten mit der Erwiderung, daß Sie nicht gebunden, nicht verlobt seien ... es war mir so schrecklich, nun auf die Freundschaft verzichten zu sollen, in der ich allmählich so viel Glück gefunden, die mir mit ihrem unbefangenen Vertrauen schon so unentbehrlich geworden . . .“

„Aber weshalb sollte denn dies unbefangene Vertrauen dadurch ein Ende gefunden haben?“

„Das begreifen Sie nicht? So lange Sie einer Andern gehörten . . . mein Gott, verstehen Sie denn nicht, wie nun Alles anders für mich werden mußte, wie die Unbefangenheit und Vertraulichkeit, in welcher ein Mädchen mit einem Manne verkehrt, dessen Herz einer Andern gehört, die Zuversichtlichkeit und Sicherheit, womit sie seiner Freundschaft vertraut, wie Alles das dahin sein mußte . . . War es mir doch schon ein Seelenbedürfniß geworden, so rückhaltlos, wie ich es gethan, mit Ihnen zu verkehren. Mit dem Gedanken, Ihnen nun kühl und fremd gegenüber treten zu müssen, kam mir das Gefühl eines bitteren Verlustes . . .“

„Aber jetzt, Marie, jetzt haben Sie das Gefühl eines Verlustes nicht mehr?“ fiel Raban halb flehend, halb mit dem Tone aufjubelnden Glückes ein. „Denn, bei Gott, ich gehöre zu Ihnen, mögen Sie mich auch als Fremden betrachten, mein Leben gehört Ihnen, auf immer und ewig – in welchem Zeichen, mit welchem Namen auch, mit dem eines Freundes, eines Bruders . . .“

[588] Sie schüttelte den Kopf und legte zärtlich die Hand auf seine Schulter. Leidenschaftlich fuhr er fort:

„Denn Sie sind eine Heilige, Marie, um deren Hand zu werben Niemand würdig ist, und wenn mein Herz auch ganz und für ewig Ihnen dahingegeben ist, und ich seine Gluth nicht auslöschen kann, so verlange ich für mich kein Glück, wenn Sie nur desselben voll theilhaftig werden . . .“

„Ich bin nicht so heilig, wie Sie denken,“ unterbrach sie ihn lächelnd. „Ich weiß recht gut, daß Sie ja doch mit einem solchen Glücke nicht zufrieden sein würden. Und glauben Sie, unter Dem, was ich in den durchkämpften schrecklichen Stunden empfand, sei nicht auch der Schmerz um die tiefe Seelenwunde gewesen, die ich Ihnen habe schlagen müssen – nein, nicht müssen, sondern die ich in meiner Selbsttäuschung, aus einem verkehrten und ganz verwirrten Pflichtgefühl gegen Wolfgang Ihnen zufügen konnte? Glauben Sie mir, auch durch den Gedanken an Sie – und dieser Gedanke wurde ja bald der herrschende, der ausschließliche – habe ich schwer gelitten, daß, wenn ich nun ein ganz armes namenloses Geschöpf sei, wir für ewig getrennt und uns fremd werden würden . . .“

„O, das würden wir nie – niemals geworden sein,“ rief in seinem Jubelsturm, ihre beiden Hände ergreifend, Raban aus.

„Sie sind gut, so gut, Raban,“ sagte sie, sich zärtlich zu ihm niederbeugend – „und bin ich auch lange nicht so edel, wie Sie denken, so glaube ich doch, daß . . . daß der Himmel uns für einander bestimmt hat . . .“

Ihre Stimme wurde von Thränen erstickt. So legte sie, leise das Haupt senkend, ihre Stirn auf seinen Scheitel.


Raban hatte, wie er es ja vorausgesehen, einige Schwierigkeit, seinen Vater wegen seiner Verbindung mit Marie Tholenstein zu versöhnen; der alte Herr drückte sich, auch nachdem ihm seine Zweifel über Mariens Geburtsrechte gehoben worden, anfangs sehr ironisch über Raban’s Vorhaben, ihm solch eine heilige Elisabeth – ebenfalls aus Ungarn wie die richtige – in’s Haus zu führen, aus, fand dann aber schließlich nur noch eine wunderliche Ironie des Schicksals darin, daß er nun doch just die Erbin von Arholt zur Schwiegertochter erhalte, vor der er so sorglich jahrelang seinen Sohn in Sicherheit zu bringen gesucht.

Wie Wolfgang Melber die Verlobung eigentlich aufnahm, erfuhr man nicht; Marie hatte sie ihrem Vetter und dessen Eltern brieflich mitgetheilt, erhielt aber nur einen kurzen schriftlichen Glückwunsch von Herrn Heinrich Melber zur Antwort. Daß dieser vorher mit seinem Sohne eine stürmische Scene gehabt, worin Wolfgang seinen Zorn über Raban ausgetobt, weil dieser trotz seines Versprechens ihn schmählich verrathen und bei Marie verleumdet habe, worin er gedroht, Raban fordern und erschießen zu wollen, erfuhr weder dieser noch Marie. In der That hatte Wolfgang sich von seinem Vater beruhigen lassen und den Gedanken an eine Forderung bei kälterem Blute selbst unbehaglich gefunden. Aber um seinen empörten Gefühlen wenigstens in irgend einer Weise Luft zu schaffen, hatte er am andern Morgen das ganze Thonmodell der Gruppe, zu welcher Marie Tholenstein ihm gesessen, in Stücke zerschlagen – und am zweiten Tage hatte er in nicht ganz consequenter Weise die Arbeit an der Büste Mariens so fördern lassen, daß sie baldmöglichst an Raban abgegeben werden konnte – mit dem dafür erhaltenen Gelde reiste er in der nächsteil Woche nach Italien.




Amerikanische Kirchen und Kanzelredner.

Von Theodor Hermann Lange.


Die Union ist und bleibt nun einmal das classische Land der Gegensätze und eigenartigsten Ueberraschungen. Das in Europa schier Unglaubliche ist in den Vereinigten Staaten oft das Alltägliche und Gebräuchliche. Nichts aber verblüfft den frischen Einwanderer und selbst den weitgereisten Touristen mehr, als das kirchliche Leben, welches jenseit des atlantischen Weltmeeres in einer Weise sich entwickelt hat und in Bahnen sich bewegt, die hier in Deutschland geradezu unverständlich erscheinen müssen. Der Yankee ist bekanntermaßen ausgesprochener Materialist. „Erwirb Geld, wenn Du kannst auf ehrenhafte Weise; wenn Du es nicht kannst – gleichviel, mache Geld!“ Diese Parole hört man tagtäglich aussprechen, sieht man stündlich befolgen. Aber trotzalledem werden in keinem Theile der Welt die Gotteshäuser zahlreicher und gewissenhafter besucht, als gerade in den Vereinigten Staaten, werden nirgends größere Summen für religiöse Zwecke, für Priestergehälter, Kirchenmusiken, Decorationen von Friedhöfen etc. verausgabt, als drüben in der Sternenbanner-Republik. Es ist nicht auffallend, wenn Städte mit einer Bevölkerung von nur 1500 Köpfen acht Kirchen und fünfzehn Geistliche aufzuweisen haben; es überrascht Niemand, wenn beispielsweise Prediger wie Henry Ward Beecher in Brooklyn 25,000 Dollars[1] festes Jahresgehalt beziehen und noch außerdem das Privilegium besitzen, über vier Monate Ferien zu verfügen, um gut bezahlte Vorlesungen in den südlichen und westlichen Staaten und Territorien halten zu können.

Dafür sind aber die amerikanischen Geistlichen in ihrer Existenz keineswegs so gesichert, wie in den europäischen Ländern, da sie überall auf halbjährliche, bezüglich ein- und zweijährige Kündigung angestellt werden. Sind die Predigten langweilig, geistlos, entbehren sie der Satire und des Witzes – nun, so kündigt der Kirchenrath ganz einfach dem Betreffenden und sieht sich nach einer neuen Kraft um. Und es wird ihm selten schwer, den gewünschten Ersatz zu finden, da die amerikanischen Geistlichen sich selbst anzupreisen wissen und die Zeitungsreclame keineswegs verschmähen. In doppelspaltigen Inseraten und in redactionellen Notizen der Sonnabend-Nummern pflegen sie sich und das Thema, über das sie Sonntags zu sprechen gedenken, anzukündigen. – „Gäste sind erbeten und genießen freien Eintritt“, lautet gewöhnlich die Schlußzeile der verlockenden Annonce.

Auch in deutsch-amerikanischen Zeitungen bürgern sich derartige Ankündigungen mehr und mehr ein. Da liest man: „Pastor Franz J. Schneider, ord. Geistlicher, 91 2. Ave., zw. 5. u. 6. Str., vollzieht Trauungen, Taufen in und außer dem Hause.“ Oder: „Billig, billig, billig ist Pastor Walter bei allen Ceremonien. Man spreche vor und überzeuge sich: 105 Delancey-Street etc. etc.“

Durchweg sind die amerikanischen Kirchen stattlich und stilistisch geschmackvoll. Alle Kosten für Neubauten bestreiten die Gemeindemitglieder durch Kirchensteuern, die sie sich selbst freiwillig und zwar nach deutschen Begriffen in einer enormen Höhe auferlegen. Sind dann die Kirchen fertiggestellt, so gewinnt man allerdings durch das Vermiethen der einzelnen Kirchenstühle hohe Summen. In der Plymouthkirche in Brooklyn löste man z. B. im Jahre 1881 48,000 Dollars, im Jahre 1882 42,000 Dollars und 1883 40,000 Dollars aus der Stuhlpacht. Die Versteigerung findet natürlich öffentlich und bei einem Freiconcert statt. In der Trinitykirche in New-York wurde 1879 der erste Stuhl für 2000 Dollars vermiethet.

Im fernen Westen wagen bei Gründung neuer Städte noch häufig Zimmer- oder Maurermeister den Bau eines Gotteshauses ganz auf eigene Gefahr. So kam ich vor zwei Jahren nach Flint in Montana. Der Ort stand erst seit sechs Monaten. Der Redacteur des dortigen Localblattes, das bereits auf eine Existenz von sieben Nummern zurückblicken konnte, theilte mir im Vertrauen mit, daß Flint dazu bestimmt sei, dereinst „die Königin des Westens“ zu werden. „Schon jetzt haben wir,“ fuhr der begeisterte Localpatriot in erhobenem Tone fort, „eine brillant redigirte Zeitung, einen Bahnhof“ – ich glaubte das Wort Grand Central-Depôt zu vernehmen – „zwei Töchterpensionate, einen Galgen, neun Pianinos, ein Gefängniß, elf Lagerbierstuben, einen ältesten Einwohner von 46 Jahren, und dies Alles nach kaum sechsmonatlichem Bestehen, nur die Kirchen fehlen noch . . .“

Aber auch sie kamen, wenigstens die erste, und zwar auf die folgende Weise. Nach Flint zog ein Architekt – diesen Titel hatte sich der Mann gegeben. Ohne irgend welchen Auftrag seitens einer Religionsgemeinschaft baute er ein wirklich schönes Gotteshaus, verschrieb auf seine Kosten einen jungen gewandten Prediger,

[589]

Fingal’s „erstes Feld“.
Nach dem Oelgemälde von Edmund Herger.

[590] sowie einen geschulten Organisten, und plötzlich vernahm man an den Sonntagen Glockengeläute, Orgelklang und bekam eine thatsächlich gediegene Predigt zu hören. Der Baumeister hatte ein bedeutendes Capital riskirt, aber seine Berechnungen erwiesen sich als richtig. Der junge Geistliche fesselte zunächst die Besucher, bildete dann aus dem Kreise seiner Anhänger eine Gemeinde, die sich rasch vergrößerte, alsbald officiell constituirte und dem Erbauer die Kirche abkaufte, der sich selbstredend Gebäude wie innere Einrichtung gut bezahlen ließ, um wahrscheinlich in einem anderen westlichen Territorium das gleiche Geschäft noch einmal zu versuchen.

Aber auch in dem civilisirteren Osten experimentiren die Geistlichen mit den seltsamsten Mitteln, um sich einen zahlreichen Anhang und volle Kirchen zu sichern. Im Februar dieses Jahres führte mich mein Weg nach Syrakus, der großen Salzstadt unweit des Ontario-Sees. In der Hauptstraße, der North-Saline-Street, befinden sich drei Gotteshäuser in unmittelbarer Nähe beieinander. Jede der drei Gemeinden, welchen diese Kirchen gehören, ist bestrebt, die höchste Mitgliederzahl zu gewinnen. Um dieses Ziel zu erreichen, verfährt man nicht gerade sehr wählerisch. Einer der drei Geistlichen schlug aber doch dadurch die „Concurrenz“ aus dem Felde, daß er eines Tages den Rabbiner in Syrakus bewog, in der christlichen Kirche eine Predigt über die Person Jesu Christi zu halten, während der Geistliche in der Synagoge über dasselbe Thema vom protestantischen Standpunkte aus predigte. Das ist eben nur in Amerika möglich, aber der Vorfall machte seiner Originalität halber gerechtes Aufsehen weit über den Platz Syrakus hinaus und trug den Namen des geistlichen Arrangeurs durch das ganze Land.

Fast mehr noch als Sänger und Künstler sind die amerikanischen Geistlichen von der Gunst und dem Wohlwollen der Presse abhängig. Nimmt man an einem Montage früh in New-York den „Herald“ oder in Philadelphia den „Public Ledger“ zur Hand, so sind ganze Spalten dieser hervorragendsten Organe der Tagespresse mit Recensionen über die Sonntags stattgehabten Predigten angefüllt, eine durch ganz Amerika verbreitete Sitte, die in vielen deutschen Kreisen nicht sonderlich sympathisch berühren dürfte, an der aber der Yankee nicht das Geringste auszusetzen findet. Das Amt eines Geistlichen ist eben in Amerika ein Geschäft wie jedes andere, und ein sogenannter geistlicher Stand, wie hier bei uns, ist schon der zahlreichen Secten wegen unbekannt. Heute Lehrer oder Redacteur, das nächste Jahr Kaufmann, fünf Jahre später Prediger, das ist nicht selten die Carrière, die der Einzelne durchläuft. Darum ist auch die Vorbildung der amerikanischen protestantischen Geistlichen eine so verschiedene. Der Eine war wohl früher in der alten Heimath, in England oder Deutschland, Theologe, der Andere genoß vielleicht auf einem amerikanischen „College“ und Priesterseminar eine wissenschaftliche Erziehung, aber vielen Geistlichen, besonders denen im Westen, geht die akademische Schulung völlig ab.

Das schließt natürlich nicht aus, daß auf der andern Seite auch Geistliche angestellt sind, die, mit der ganzen Bildung unseres Jahrhunderts bewaffnet, als Philosophen, Historiker und Linguisten des besten Renommée’s genießen. Drei Namen besonders sind es, die in dieser Hinsicht einen Weltruf erlangt haben: Henry Ward Beecher, Thomas Talmage und John Hall, Letzterer in New-York, Erstere in der „Kirchenstadt“ Brooklyn.

Beecher ist der Oberpfarrer an der Plymouthkirche in der Orangestreet. Es ist mir stets ein hoher Genuß gewesen, Sonntags an dem von ihm geleiteten Hauptgottesdienste theilzunehmen. Kurz vor zehn Uhr Morgens füllen sich die zahlreichen Gallerien und Emporen, die über 6000 Personen zu fassen vermögen und die, so oft ich anwesend war, sich stets bis auf den letzten Platz besetzt zeigten. Die Orgel ertönt in weichen Melodien, dann stärker und lauter, bis sie in mächtigen Accorden erbraust. Die Uhr zeigt 15 Minuten nach Zehn. Beecher erscheint auf der ungemein geräumigen Tribüne im schwarzen Gehrocke und ohne jedwedes priesterliche Abzeichen. Trotz seiner 71 Jahre ist er eine stattliche Erscheinung, und nachdem er mit einem flüchtigen Blicke die Menge gestreift, nimmt er auf einem einfachen Rohrstuhle Platz. Auf einem, bisweilen auf zwei und mehr Tischen, denen gegenüber er sich niedergelassen, liegen herrliche Blumenspenden für ihn, die vielfarbigsten, die duftreichsten besonders im Januar und Februar, wo man vor Schnee und Eis nur mit Mühe den Weg zum Gotteshause sich bahnen kann. Zarte Hände brachten sie als Zeichen der Verehrung dar, denn Beecher ist der größte „Damenpastor“ von den Gestaden des atlantischen Oceans bis hinüber zum Pacific.

Jetzt nimmt der Gefeierte das Wort, und wir haben Gelegenheit, ein Organ von seltener Klangfülle bei einer Rhetorik zu hören, die geradezu classisch genannt werden muß. Ob er mit effectvollem Pathos, mit beißender Satire redet, ob er die weiblichen Zuhörer zu Thränen rührt, um zehn Minuten später das herzlichste Lachen auf die Mienen seiner Anhänger zu zaubern, er bleibt stets der große Sprecher trotz gewisser rednerischer Kunststücke, trotzdem er fast unaufhörlich von einem Ende der Tribüne zum andern mit Riesenschritten sich hastig bewegt, die Hände wie die Flügel einer Windmühle hin- und herwirft, um schließlich, nicht selten in Schweiß gebadet, seine Predigt zu beenden. Beecher ist nur in Amerika möglich, und darum erscheint es weiter erklärlich, wenn der unerschrockene Rationalist zugleich als ein ausgesprochener Frauenrechtler und Wasserapostel sich uns präsentirt. Das geflügelte Wort der Anhänger der Frauen-Emancipation: „Ich glaube, daß die Ehe ein vollständiges Compagniegeschäft ist; daß die Frau jedes Recht hat, welches der Mann besitzt – und noch eins mehr nämlich das Recht, beschützt zu werden“ – rührt von Beecher her.

Am 24. Juni 1813 im Staate Connecticut geboren, hatte Beecher ursprünglich die Absicht, sich dem Dienste in der amerikanischen Kriegsmarine zu widmen. Indessen studirte er später fleißig Theologie, Philosophie sowie Naturwissenschaften und wurde 1847 an die Plymouthkirche in Brooklyn berufen. Anfänglich mit 4000 Dollars angestellt, bezieht er gegenwärtig, bedeutende Spesen ausgeschlossen, ein Fixum von 25,000 Dollars. Trotzdem veranstaltet er alljährlich, wie bereits erwähnt, Vortragstouren, die sich stets sehr lohnend für ihn erwiesen haben. Außerdem ist er als Schriftsteller ununterbrochen für zahlreiche Nevuen und Journale thätig. Sein Landhaus am Hudson weist eine geradezu fürstliche Einrichtung auf.

Beecher’s Concurrent ist Thomas de Witte Talmage, der Hauptprediger am Brooklyner Tabernakel. Am 7. Januar 1832 zu Boundbrock im Staate New Jersey geboren, besuchte Talmage das New Yorker Priesterseminar, wurde schon im Jahre 1856 ordinirt, kam 1859 nach Syrakus, 1862 nach Philadelphia und sieben Jahre später nach Brooklyn, wo er noch heute seelsorgerisch thätig ist. Bis 1870 mußte Talmage in einem bescheidenen Gotteshause predigen. Das neue Tabernakel war zu jener Zeit noch nicht gänzlich fertig gestellt, und obendrein lasteten etwa 50,000 Dollars Schulden auf dem der Vollendung nahenden Baue. Diese Summe wurde während eines einzigen Gottesdienstes durch die Initiative von Talmage gedeckt. Kaum hatte er nämlich seine Predigt beendet – Talmage spricht gleich Beecher im schwarzen Leibrocke und in weißer Cravatte – als er einen tiefen „Cylinderhut“ ergriff, eine kurze zündende Ansprache an die Versammelten des Inhalts richtete, das genannte Deficit von rund 50,000 Dollars freundlichst decken zu wollen, und sofort persönlich mit dem Hute in der Hand die Collecte vornahm. Talmage war selbst der erste Geber. Er legte eine Anweisung auf sein vierteljährliches Gehalt hinein, worauf er zu Gunsten des Tabernakels freiwillig verzichtet hatte, und rasch füllte sich seine Kopfbedeckung mit Checks, Diamanten aus zarter Hand, großem und kleinem Papiergelde, Golddollars etc. Nach zwei Stunden konnte der gewandte Sammler mit freudiger Stimme verkünden, daß die Collecte den Betrag von 48,000 Dollars ergeben habe. Die Orgel erbrauste, die Chöre jubilirten, und die stattliche Zahl der Kirchenposaunisten that das Uebrige, um den nöthigen Schlußeffect bei diesem Acte zu erzielen.

Man erbaut sich bei Talmage nicht nur, man amüsirt sich, man lacht auch. In Wortspielen, in derben Witzen ist Talmage unübertrefflich. Ein leibhaftiger transatlantischer Abraham a Santa Clara! Wie Beecher predigt er über alle möglichen Themen. Einmal über amerikanische Ehescheidungen, acht Tage später über die Arbeiterfrage, ein drittes Mal über Kindererziehung, aber stets in geistreicher, zündender Manier. Fast jeder Satz ist ein Gedanke, eine Wahrheit oder eine kühne Hypothese.

Das Tabernakel selbst ähnelt, wie so viele amerikanische Kirchen, im Großen und Ganzen einem Circus oder Theater. Kein Gemälde, nirgends eine Decoration, abgesehen von den kostbaren buntglasigen Fenstern. Vom Schiff aus steigen die [591] Sitzbänke amphitheatralisch empor, und bei der herrlichen Akustik ist jedes Wort von der Rednertribüne auch an den letzten und höchsten Thüren klar und deutlich zu vernehmen.

Mit Beecher und Talmage zusammen wird stets auch John Hall genannt. Hall ist der Prediger der Plutokratie und seine in New-York an der 5. Avenue und 55. Straße gelegene Kirche der Sammelpunkt der hervorragendsten „Monopolisten“, Eisenbahn- und Bergwerks-„Könige“, der Matadore der Börse, der „Fürsten“ des Handels etc. Als vor mehreren Jahren an einem Ostertage zufällig die verschiedensten Mitglieder der Familien Vanderbilt, Jay Gould und anderer im Hall’schen Gotteshause zusammentrafen, berechnete der gleichfalls anwesende Redacteur eines bekannten Finanzblattes, daß „700 Millionen Dollars der Hall’schen Predigt mit Aufmerksamkeit gelauscht hätten“. John Hall ist Schotte von Geburt (er erblickte das Licht der Welt am 31. Juli 1829) und kam erst vor 17 Jahren (1867) nach New-York, wo er sich schnell die Gunst der besten Kreise der Gesellschaft zu erwerben wußte. Seine Predigten, sorgfältig ausgearbeitet und fleißig memorirt, sind in würdigem, ernstem Tone gehalten.

Was deutsche Kanzelredner anbelangt, so verdienen unter ihnen Dr. Walther und Professor Mann in St. Louis (Missouri) in erster Linie Erwähnung. Auch Boston gilt als ein Platz, welcher durch Richard S. Storrs in dieser Hinsicht eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Unter den Methodisten befinden sich bisweilen selbst Predigerinnen. Eine solche, die sich vor einigen Jahren in Long Island City hören ließ, erfreute sich sogar eines ganz besonderen Zuspruches. Bei der farbigen Bevölkerung mangelt es nicht minder an Verkündigerinnen des Wortes Gottes. Miß Henrietta V. Davis, die indessen augenblicklich nur noch dramatische Recitationen und freie Vorträge veranstaltet, wirkte früher längere Zeit an einer der Negerkirchen im Süden, wo noch heutzutage die schwarzen Herren Pastoren mit Hut und Stock auf der Kanzel zu erscheinen pflegen.

Die zahlreicheren kleinen Secten und Congregationen weisen natürlich eine Anzahl mehr oder minder begabter Sprecher und Sprecherinnen auf. Die Atheisten haben in R. G. Ingersoll ihren Apostel, sogar die Chinesen haben in dem bekannten Hee-Sing eine talentvolle rednerische Kraft. Hee-Sing, der zehn oder elf Sprachen geläufig beherrscht, schuf sogar mit dem gegenwärtigen chinesischen Gesandten in New-York, Ah Yung Ming, die „himmlischen Brüderschaften“, eine Art Logen, bez. Unterstützungsgesellschaften, die in New-York, San Francisco und anderen größeren Städten der Union schon viel Gutes unter den bezopften und schlitzäugigen Gesellen des Reiches der Mitte gestiftet haben.

Alle derartigen und ähnlichen Sprecher, sowie die sonstigen Sectenredner überragt aber der jetzige Mormonenpräsident Johannes Taylor in Salt Lake City. Taylor spricht auffallend ruhig, nahezu monoton, er vermeidet Bilder, Phrasen, überhaupt jedweden rhetorischen Aufputz. Und doch begeistert er die Menge, fanatisirt er die Schaaren, die athemlos mit ihren Blicken an seinen Lippen hängen. Es ist die Logik der Thatsachen, die Kunst, Zahlen reden zu lassen, die ihm die Seelen der Menschen in so weitem Maße unterthan machen.

Uebrigens knüpft Taylor gleich seinem Vorgänger Brigham Young stets an das zunächst Liegende in seinen Predigten an. Vor der Erntezeit ertheilt er den neuangekommenen Colonisten praktische Winke von der Kanzel herab, Handwerker und Gewerbtreibende unterrichtet er oft über technische Neuheiten und Fortschritte, kurz seine Reden sind derartig, daß man ihnen in Deutschland das Prädicat „Predigt“ selten beilegen würde. Allerdings steht er damit unter den amerikanischen Theologen nicht allein da. Man will drüben durch eine Predigt nicht nur erbaut, sondern auch angeregt werden. Man wünscht ein klangvolles Organ, eine reine Aussprache, eine glatte angenehme Redeweise, wie nicht minder Belehrung über die großen Fragen, welche sowohl den Einzelnen als auch die Gesammtheit bewegen. Diesen Aufgaben muß ein amerikanischer Prediger in erster Linie gerecht zu werden versuchen, und darum erklärt es sich auch, warum jenseit des Oceans die Kirchen besser als hier besucht werden und gerade diejenigen, welche in der alten europäischen Heimath selten ein Gotteshaus betraten, in der transatlantischen Republik so fleißige Kirchengänger zu werden pflegen.




Die Perle der Sächsischen Schweiz.

Schandau an der Elbe.

Ein wunderbar lieblicher Flecken Erde ist es, den der deutsche Schriftstellerverband für den diesjährigen Schriftstellertag ausersehen hat, das Städtchen und der Badeort Schandau. Mit vollem Rechte wird die kleine Stadt als die Perle der Sächsischen Schweiz bezeichnet, denn wie eine Perle liegt sie da an dem Ausgange des lieblichen Kirnitzschthales, in ihrem Rücken prächtig bewaldete Berge, zu ihren Füßen den Elbstrom, der so majestätisch ruhig vorüber fließt und doch so viel Leben auf sich trägt. Rings von Bergen umgeben, ist ihre Lage eine ungemein geschützte, und durch den Fluß gemildert und geregelt, gleicht ihr Klima dem südlicher Gegenden. – Schandau hat als Bade-Ort durch seine Eisenquellen, durch die Eisen-, Sool-, Kiefern-, Moor-, Dampf- und Kaltwasserbäder und durch die vorzügliche Leitung all seiner Bade-Einrichtungen sich einen geachteten Namen erworben. Tausende suchen und finden dort alljährlich Heilung oder Linderung ihrer Leiden, aber unendlich wichtiger ist Schandau als klimatischer Sommercurort, als Zufluchtsstätte für abgearbeitete Geister und abgequälte Nerven, die zu ihrer Heilung nichts weiter bedürfen, als eine milde, reine Luft, eine erquickende Umgebung und ein aufheiterndes und doch nicht aufregendes [592] Leben. Das finden sie dort so, wie sie es nur wünschen können. Die kleine Stadt und die prächtige Umgebung erscheint wie geschaffen für das „dolce far niente“. Wer hierher auch kommen mag, mit Sorgen beladen und geistig ermüdet, die Luft weht die Last von der Brust, das Auge blickt frischer und die Nerven gewinnen neue Spannkraft zu dem Kampfe mit dem Leben und dessen Anforderungen. Es wirkt wunderbar beruhigend, wenn man auf erhöhtem Ufer vor einem der großen Hotels oder auf der Terrasse der prächtigen Villa Quisisana sitzt und hinblickt auf den breiten Strom, auf die am gegenüber liegenden Ufer sich hinziehende Eisenbahn und die noch etwas höher gelegene Fahrstraße. Das sind die Stränge der großen Verkehrsader, welche das Leben zwischen zwei Kaiserreichen, zwischen Deutschland und Oesterreich, vermitteln. Man sieht, wie die Schaufelräder der stromauf- und abwärts gehenden Dampfschiffe sich durch die Fluthen durcharbeiten, Eisenbahnzüge rollen in kurzen Zwischenräumen vorüber, große Frachtkähne werden langsam durch den Wind und die Strömung dahingetragen. Die Arbeit unzählbarer Menschenhände, die Schätze der Erde und Felder tragen sie aus dem einen Lande in das andere, wir glauben den Pulsschlag dieses großartigen Verkehrs zu fühlen und zu hören, und doch sind wir außerhalb seiner Strömung, wir sind nur die in behaglicher Ruhe dasitzenden Zuschauer, für kurze Zeit gleichsam losgelöst und befreit von dem Kampfe um’s Dasein.

Aussicht von „Villa Quisisana“ in Schandau.
Originalzeichnung von R. Püttner.

Wenige Orte erfreuen sich neben so prächtiger Lage so außerordentlich günstiger Verkehrsverhältnisse. Nach Norden und Schlesien hat Schandau Verbindung durch die Sebnitzer Bahn, nach Osten durch die böhmischen Anschlußbahnen und nach Westen durch die sächsischen Staatsbahnen. In wenigen Stunden Fahrzeit ist es von Prag zu erreichen, in fünfzig Minuten von Dresden, in vier Stunden von Leipzig und in fünf Stunden von Berlin. Inmitten der Sächsischen Schweiz gelegen, ist es zu Ausflügen vorzüglich geeignet, denn die schönsten Punkte des Gebirges lassen sich in wenigen Stunden oder in einer Tagespartie besuchen.

Ueberall hin führen bequeme gutgepflegte Promenadenwege zu wunderbaren, herrlichen Aussichtspunkten. Die Schloßbastei am Kieferichtsberg, das Zaukenhorn, die Schillershöhe, der Friedensplatz sind Punkte von entzückender Schönheit, die kaum von dem berühmten Plätzchen der Ostrauer Scheibe übertroffen werden.

Doch auch an erschütternden Erinnerungen, die sich an unglücksvolle Vorgänge in diesem lieblichen Thale knüpfen, fehlt es nicht. Feuersbrünste und Ueberschwemmungen haben zahlreiche Spuren hinterlassen, und manches Unglück ist in den Annalen der Steinbrüche mit blutigen Lettern verzeichnet, mancher Bericht aber auch von wunderbaren Rettungen aus der Gefahr. Unsere Leser werden sich noch des entsetzlichen Bergsturzes vom Jahre 1862 (vergl. „Gartenlaube“ 1862, S. 152 folg.) erinnern, der 24 Arbeiter unter seinen einstürzenden Trümmern begrub. 56 Stunden lagen die Verschütteten lebendig begraben, ehe die angestrengtesten Rettungsarbeiten sie alle wohlbehalten wieder dem goldigen Lichte des Tages zurückgaben, ohne daß auch nur einem Einzigen durch diese Felsenlast von über 200,000 Centnern ein Haar gekrümmt worden wäre.

Nicht weit von der Stadt ist dieser denkwürdige Punkt gelegen. Wandelt man gemächlich am rechten, waldigen Ufer der Elbe stromaufwärts, so erreicht man bald eine links in die Felswände hineinschneidende enge Schlucht, die wegen irgend eines bevorzugten besonders guten Stoffes, der in einem der naheliegenden Dörfer vielleicht vor grauen Jahren gebraut wurde, im Volksmunde den drolligen Namen „Zum guten Bier“ führt. Hier erheben sich hohe Wände von trefflichem Gestein, das in mächtigen Brüchen verarbeitet wird, und hier war es, wo 1862 eine mächtige Wand niederging und wo jene wunderbare Rettung stattfand, von der Kinder und Kindeskinder in alle Zukunft noch erzählen dürften.

Es ist unmöglich, an dieser Stelle die lohnenden Ausflüge in die Umgebung auch nur herzuzählen; jeder derselben lockt und fesselt den Besucher, an diesem köstlichen Erdenwinkel zu verweilen.

Dazu kommt, daß die Einwohner Schandaus Alles aufbieten, um den Gästen den Aufenthalt möglichst angenehm und bequem zu gestalten. In dieser Beziehung gebührt dem unermüdlich thätigen und unternehmenden Rudolf Sendig, dem Besitzer der sechs größten Hôtels: „Forsthaus“, „Deutsches Haus“, „Villa Königin Carola“, „Villa Quisisana“, „Curhaus“ und „Bad“, das größte Lob. Er allein bietet Raum für 500 Personen. Die beiden reizenden Hôtels „Villa Quisisana“ und „Königin Carola“ mit dem sie umgebenden prächtigen und in seiner ganzen Anlage großartigen Parke sind wohl unstreitig die schönstgelegenen in ganz Deutschland. Hier ist Alles der wunderbaren und großartigen Umgebung angepaßt. Beruhigt gleitet das Auge über große grüne Rasenplätze mit den prächtigsten Rosen zu dem still vorüberziehenden blauen Strome, und wenn es sich erhebt, schaut es auf grüne Berge. Rechts blicken der Königstein und Lilienstein grüßend herüber, links winken die Höhen des großen Winterberges. Hier treffen sich die Gäste aus allen Ländern. Wie an den Hauptpunkten der Schweiz klingen in die Unterhaltung deutsche, englische, französische, russische Laute. Der Ruf Schandaus und der prächtigen „Quisisana“ ist längst über das Meer gedrungen, denn auch Amerika sendet seine Gäste und Bewunderer.

Und an diesem herrlichen Orte wird der deutsche Schriftstellertag vom 6. bis 9. September tagen. In dem Saale des „Curhauses“ wird er berathen und Abends in dem herrlichen Königsparke der „Villa QUisisana“ sich des heiteren Zusammenseins erfreuen. Die Stadt Schandau, von der die Einladung zum Schriftstellertage ausging, wird die Männer der Feder auf das freundlichste empfangen, denn schon seit Wochen hat sie sich dazu gerüstet und seit Monaten darauf gefreut.

Möge denn der Schriftstellertag an dem schönen Orte ein geistig sonniger sein, und mögen diese Tage wiederum Bausteine liefern, um den großen nationalen Verband der deutschen Schriftsteller zu festigen; mögen die ernsten Berathungen, welche diesen Festtagen vorausgehen, auf’s Neue bestätigen, daß diejenigen, welche berufen sind, dem geistigen

Leben des deutschen Volkes Ausdruck und Leitung zu geben, voll und ernst ihrer Aufgabe sich bewußt sind, die edelsten Güter der Nation zu hegen und zu pflegen!
–h.     




[593]

Der Haarschneider.
Originalzeichnung von Professor N. Gysis.

[594]
Brausejahre.
Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)

In dem kleinen Garten am „Stern“ auf- und niedergehend, tauschten die beiden Herzensfreunde ihre Gedanken aus. Der Herzog kam wieder auf seine Einladung zur Jagd zurück.

„Ich trenne mich jetzt ungern von diesem lieben Erdenfleckchen,“ antwortete Goethe. „Es braucht meine Kraft. Auch der Wundermann, der Sie wahrscheinlich aufsucht, lockt mich nicht. Seine Sache mag nicht ganz bedeutungslos, noch ganz Betrug sein, aber die Menschen, die sich mit solchen Heimlichkeiten abgegeben, waren mir immer verdächtig. Sie sollten sich auch nicht zu tief darauf einlassen. Ich weiß nicht, was mir für Ahnungen gleich Spinnen über’s Herz krabbeln, möglich, daß man Ihnen allerlei Ungelegenheiten bereitet.“

„Ich spüre einen Drang und Trieb, Neues zu erfahren, meinem Leben Farbe zu geben! Luise ist ja seit dem verunglückten Vermittelungsversuche der reine Stein, kühler und steifer denn je; die winterlichen Freuden sind längst erschöpft, diese Aussicht, seltsamliche Faxen zu sehen, gaudirt mich. Ich bin doch neugierig, wie weit jener wunderbare Graf, der unsere stolze Sängerin zu zähmen verstand und der Herr des selbstbewußten Schweizers wurde, meinem Ich gewachsen ist. Sei überzeugt, daß ich ihm so skeptisch wie möglich entgegentrete.“

Während sie mit einander sprachen, hatten sie die Terrasse, auf der Goethe pflanzte, verlassen und waren vorwärts schlendernd der Eingangsthür nahe gekommen.

Stein und Wedel gingen mit einander vorüber; der Herzog rief sie herein und sagte ihnen, sie könnten mit auf die Wartburg kommen, er wolle ihnen einen Auerhahn gewähren. „Hier unser Dichter,“ fügte er hinzu, „klebt, wie Ihr wißt, an der Scholle.“

„Und doch möchte ich Eure Durchlaucht um ein paar Tage Urlaub bitten. Mir scheint nach einer brieflichen Meldung des Berggeschworenen über den Treufriedrichsschacht, daß ein Nachsehen in Ilmenau nöthig wäre,“ erwiderte Goethe.

Der Herzog lachte: „Urlaub her, Urlaub hin! Kneif’ aus, alter Junge, wann Du magst. Ich werde doch Dich nicht an die Kette legen?“

Mit einer vergnüglichen Abrede, sich heute Nachmittag bei dem Ostereiersuchen der Herzogin Amalie zu treffen, trennten sich die Männer.

Das Wittthumspalais, welches die Herzogin bewohnte, war von einem großen Garten umgeben. An der einen Seite reichte derselbe bis an die Erfurter Straße, an der andern bis an einen städtischen Markt. Rund herum lief eine lebende Hecke, die jetzt schon einen grünen Anflug zeigte. Ein Lusthaus mit Malereien von Oeser bildete den Endpunkt eines schönen Baumganges, der dasselbe mit dem Hause verband. Pyramiden von Taxus, Tannen, Buchsbaum und knospendes Laub gaben den Anlagen bereits eine recht einladende Frische.

Die Glasthüren des einfachen Gartensaals der Herzogin-Mutter standen geöffnet und ließen den Duft und Schimmer des Frühlingstages einziehen in die für ein kindliches Fest geschmückten Parterrezimmer. Treibhausgewächse und Tannenzweige füllten die Ecken, aus denen von Kuchenteig gebackene Störche, Füchse und Hasen, mit einem bunten Ei unter dem Schwänzchen, zwischen Fähnchen und Düten heraus leuchteten; aber auch im Garten, auf den Spalieren, zwischen den Hecken und Büschen, lugten die gelbbräunlichen, närrischen Gestalten hervor. Die Wege waren mit frischem Kiese bestreut, und die Beete sahen fett bräunlich aus.

Jetzt öffnete ein Lakai die Thür, welche aus dem Hause in den Gartensaal führte; die Herzogin Amalie mit ihrer Thusnelda trat ein. Die hohe Frau sah hausmütterlich nach allen Vorbereitungen zu ihrem Feste und sagte dann zur Göchhausen, die am Arme einen Korb mit gefärbten, bemalten, mit Sprüchen versehenen Eiern trug:

„Nun komm’ in den Garten, Thusel, wir wollen die Eier so gründlich gut verstecken, daß die großen und kleinen Kinder sich’s rechte Mühe kosten lassen sollen, sie zu finden.“

Beide schritten die paar Steinstufen vor der Glasthür hinunter und auf dem mittleren Kieswege entlang.

Eh bien, Spiritus familiaris!“ fuhr Amalie fort, „lang’ her und steck’ sie unter, Deine Schätze!“

„Ist das wieder ein Tag, um fröhlich und guter Dinge zu sein!“ lachte die Göchhausen. „Was meinen Durchlaucht, hier in diesen Stachelbeerbusch, der aussieht, als sei er mit grünlichen Moos angeflogen, stecken wir das mit dem Sprüchlein:

‚Durch Dornen und Chicanen
Mußt Du Dir Wege bahnen!‘“

„Ja, ja! Gieb mir ein Paar. Hier zwischen den dicken purpurfarbenen Schößlingen der Kaiserkronen kann man das rothe mit dem Spruche:

‚Heiße Triebe meiner Liebe
Drängt verwegen, ihr entgegen‘

kaum erkennen.“

„‚Wie ein frisches, reines Ei,
Mädchen, Deine Tugend sei!‘

Das hat Knebel gestern Abend geschrieben; ob er dabei an das Rudelchen gedacht hat?“

„Unter dem gelben Crocus ist ein gelbes Ei kaum zu finden!“

„Hier noch ein prächtiger Platz hinter dem schiefen Spalierbaume!“

So wurden sie immer eifriger, liefen durch den ganzen Garten und hatten bald ihren Vorrath an Eiern so gut versteckt, daß es ihnen selbst schwer geworden wäre, sie alle wieder zu finden.

Jetzt schlug es drei Uhr, man konnte die Gäste erwarten. Beide Damen kehrten in den Gartensaal zurück, der sich bald mit den nahestehenden Familien stillte. Heute waren auch die größeren Kinder eingeladen; Steins brachtet ihre drei Knaben mit, Wieland kam mit einer ganzen Schaar, und so schlossen sich kleine Gäste aus vielen Häusern an.

Die Herzogin, ganz Leben und Bewegung, Feuer und Fröhlichkeit zwischen den Ihren, plauderte mit Allen, vertröstete die Ungeduld der Kleinen, empfing hier, lachte da, neckte sich mit Jenem und gestattete endlich – obgleich noch die Herzogin Luise mit ihrem Hofstaate fehlte - daß man den begehrlichen Kindern zu Liebe das Eiersuchen beginne.

Die Thür des Saals wurde weit aufgerissen, und die Lust des Suchens, Naschens und Neckens bei Groß und Klein begann. Der Herzog, Goethe, die Steins, die Göchhausen, Wielands, kurz alle Genossen des fröhlichen Hofs, tollten und hetzten, lachten und spielten in rechter Kinderfestart bunt durch einander.

Nachdem das Treiben im Garten einige Zeit gewährt hatte, schlug die Herzogin Amalie eine Lotterie vor, um die appetitlichen Störche, Hasen und Füchse, die noch in den Büschen saßen, zu vertheilen. Man sammelte sich auf dem runden Grasplatze vor dem offenen Gartensaale, wo die Verloosung stattfand, und bald hatte jedes Kind sein Kuchenthierchen erhalten und fing an, die Rosinenaugen heraus zu pflücken und an den Ecken zu knabbern. Die Kleinsten wurden jetzt nach Hause geschickt. Die Größeren spielten mit den erwachsenen Personen auf dem Rasen.

Als dies harmlos luftige Treiben im besten Gange und Alles Gelächter und Fröhlichkeit war, erschien plötzlich auf den Stufen in der offenen Salonthür die Herzogin Luise mit Görtz und ihren Dienern. Sie stand da im weißen Kleide, lichtumflossen, ruhig und schön. Das Plötzliche ihres Daseins, ihr mit der herrschenden Stimmung völlig contrastirender Ausdruck erschreckte, ja erstarrte Alle.

Es war ihnen, als müßten sie sich schämen, sich schuldig fühlen, als seien sie auf einer Ungehörigkeit ertappt.

Die Herzogin Amalie faßte sich zuerst und ging ihrer Schwiegertochter artig entgegen; es lag aber auch aus ihren heiteren Zügen etwas wie Unbehagen.

Die ganze Versammlung verneigte sich, und die Kinder steckten, indem sie knixten, die angebissenen Kuchen hinter den Rücken oder unter die Schürze.

Niemand wurde aber mehr erkältet, als der Herzog; ihm schien es, als gehöre jene Erscheinung, die hier so störend dazwischen trat, einer fremden Welt an, als habe er seinem innersten Wesen nach nichts mit ihr gemein. Er vermochte es nicht über sich, ihr entgegen zu gehen, sondern wandte sich ab und murmelte ein Wort zwischen den Zähnen, das in der Erregung [595] des Augenblicks und bei der plötzlich herrschenden Stille ganz wohl verständlich Luisens Ohr traf. Sie trat eben von den Thürstufen in den Garten, ihrer Schwiegermutter die Hand reichend.

Dies eine harte Wort hieß: „Medusa!“

Erschreckt von seiner eigenen Stimme, wandte Karl August sich um; seine fragenden Augen begegneten denen seiner Gemahlin, in welchen eine Welt von Schreck, von Angst und Jammer lag. Es ward ihm sofort klar: sie hatte ihn verstanden! Aber er war bei aller Wärme und Güte ein viel zu arger Trotzkopf, um ihr zu weichen, um sein Unrecht einzusehen, wohl gar zu bereuen. Er grüßte sie kalt und sagte:

„Eure Liebden haben uns ein bischen gar zu lange schmachten lassen! Die armen Kinder würden vor Ungeduld in Krämpfe gefallen sein, wenn sie auf das Erscheinen meiner hohen Gattin hätten warten sollen. Es war gut, daß die Herzogin ein mitleidiges Einsehen hatte und ihr Fest inzwischen begann.“

Luise preßte die Lippen zusammen, öffnete sie, brachte aber kein Wort hervor; Graf Görtz dagegen rief:

„Verzeihung, Durchlaucht! Ein kleines Malheur mit dem Wagen, der fortgeschickt werden mußte.“

„So konnte man den kurzen Weg zu Fuß gehen!“ murrte der Herzog.

Luisens Damen traten auch in den Garten, und eine allgemeine Gesellschaftsunterhaltung begann, die fast den Charakter einer Hofcour annahm; man stand ehrfurchtsvoll im Kreise und die Herzogin beglückte Einen nach dem Andern mit ihrer Anrede.

Auf Anna Amaliens naturwüchsige Fröhlichkeit schien ein Rauhfrost gefallen zu sein; die herbe Berührung zwischen dem fürstlichen Paare war auch ihr nicht verborgen geblieben. Sie saß jetzt neben Wieland, den sie sich herangewinkt hatte, im Gartensaal und erwog mit dem Getreuen, dem Ex-Mentor des „Tollkopfes“, wie man aus Karl August einwirken, wie man das Ehepaar einander näher führen, wie man aussöhnen, verbinden könne.

Während Luise noch einen großen Kreis loyaler Seelen um sich versammelt hielt und mit innerlichem Weh den äußeren Formen genügte, bewegte sich ein anderer Theil der Gesellschaft wieder zwanglos im Garten.

Lange schon schritt Corona am Arme des ihr treu ergebenen Hildebrand von Einsiedel in einem halbversteckten Gange auf und ab.

„Wir sind nun so weit, herrliche, geliebte Krone der Schöpfung!“ sagte er bewegt, indem er seine schwarzen Augen mit durstiger Liebesgluth auf ihre regelmäßigen Züge heftete, „daß ich endlich offen, offen fragen darf: ist alles Dies, was mich hoffen und aufjubeln läßt, Schein und Selbstbetrug? Oder, Corona, soll ich es glauben, daß ich der glückliche Mensch bin, dem Sie Ihr Herz geben?“

„Wie oft habe ich Sie schon gebeten, Hildebrand, nicht in mich zu dringen!“ entgegnete sie stockend und versuchte ihren Arm aus dem seinigen zu ziehen.

„Ich kann Sie, die Edle, Reine, nicht für eine Kokette halten. Aber wo finde ich eine Erklärung für Ihr wechselndes Betragen? Bin ich ein eitler Narr, wenn ich zu sehen glaube, daß Sie gern, daß Sie am liebsten mit mir verkehren? Daß Ihre schönen Augen mir freudig entgegen leuchten? Wenn ich fühle, welch ein seltener Gleichklang zwischen unseren Ansichten, unseren Neigungen besteht? Wenn unsere fesselnden Erörterungen kaum ein Ende finden können? Sag’, Corona, ist dies Alles eitle, tolle Einbildung von mir? Sag’ es offen, demüthige mich, wenn es sein muß, aber laß uns Klarheit finden.“

„Ich kann es nicht, Einsiedel, ich kann nicht: nein sagen – Sie quälen mich entsetzlich!“

Der Weg endete in einer Laube, die, mit Tannen umstanden, ein verstecktes Plätzchen bot, hier trat das Paar ein und ließ sich auf der Bank nieder.

Goethe hatte den ganzen Nachmittag vergebens ein gutes Wort von der geliebten Frau zu erhaschen getrachtet, aber Frau von Stein hielt sich im Kreise der Kinder oder spazierte mit andern Damen umher. Jetzt, nachdem Luise sie einer huldvollen Anrede gewürdigt und dann sich weiter gewandt hatte, versuchte er es, hinter ihr stehend, sie für sich zu gewinnen. Er flüsterte ihr viele gute Worte zu, erlangte, daß sie, sich umwendend, antwortete, und lockte sie, in ein Gespräch verwickelt, mit sich den Hauptweg entlang, dem Bassin und Gartenhause zu.

Auf sein drängendes Fragen nach ihrer Stimmung für ihn, entgegnete sie bekümmert:

„Nun ja, ich gestehe, daß ich ein Schwanken Ihrer Wärme, ein Ab- und Zunehmen schmerzlich empfinde; aber ich weiß es schon und bin resignirt: für mich giebt es kein dauerhaftes Glück!“

„O Zweiflerin!“ rief er innig. „Es ist gut, wenn ich nicht immer gleich stark fühle, wie lieb ich Dich habe! Meine übrigen Leidenschaften, Zeitvertreibe und Miseleien hängen ja mir an dem Faden der Liebe zu Dir; wendest Du den Rücken, fällt alles in den Brunnen.“

„Und dennoch glaube ich, daß seit einiger Zeit Vieles verändert ist,“ erwiderte sie mit einem Seufzer. „Ich will nur einen Namen nennen, der mir – ich gesteh’s offen – schon lange auf der Seele brennt: Corona!“

„O, die ist Dir nicht ähnlich genug, beste Frau; ja wenn sie ein halb Jahr um Dich sein könnte; hat aber auch ihre and’re amour.“

„Corona?“ fragte sie erstaunt.

Er nickte und lachte; zufällig hatte sein scharfes Auge das Paar aus dem Seitenwege in die Laube treten sehen. Er lenkte mit Frau von Stein vom Mittelwege ab, drückte mit schelmischem Blick den Finger auf die Lippen und führte sie still an die Tannen.

„Sieh, Ungläubige!“ raunte er ihr zu und bog einige Zweige zur Seite.

Fürwahr ein überraschendes, ein schönes Bild: Corona saß auf der Bank, Einsiedel lag zu ihren Füßen und bedeckte ihre Hand mit heißen Küssen; sie legte den andern Arm um seinen Hals und neigte sich zu ihm nieder.

„Corona!“ flehte er, „sei offen gegen mich, sage mir alles!“ „Laß mir Zeit, Ueberlegung, Geliebter!“ flüsterte sie dagegen. „Ja ich will, ich muß mich gegen Dich aussprechen, aber nicht jetzt, nicht bald. O, gönne mir nur Sammlung und zweifle nicht an mir!“

Goethe ließ die Zweige leise zusammen fallen und wandte den großen, fragenden Blick auf seine Begleiterin.

„Das ist überzeugend,“ flüsterte diese mit glücklichem Lächeln. Schweigend gingen sie von dannen. „Ich,“ fuhr sie fort, „hätte Dir ja auch ihre Liebe gegönnt. O, gewiß gönne ich Dir alles Gute; alles was ich Dir nicht sein und bieten kann!“

Sie verfolgten den Weg zur Gesellschaft zurück; Charlottens Gedanken richteten sich wieder auf das eben gesehene Paar.

„Kann das eine Heirath geben?“ fragte sie wie im Selbstgespräch. „Er hat nur seine Hofcarriere, sie ist arm und bürgerliche Künstlerin!“

„Sie praktische Rechnerin!“ lachte er. Und da man sich trennen mußte, flüsterte er ihr noch zu:

„Darf ich heut Abend kommen, den Kindern ein Märchen lesen, mit Ihnen essen und an Ihren Augen von mancherlei ausruhen? In einigen Tagen reise ich nach Ilmenau.“

Ein leises Bejahen und ein freundlicher Blick aus ihren schönen, sanften Augen erfüllte seine ganze Seele mit Glücksgefühl.

An dem bestimmten Tage zog man zur Jagd nach der Wartburg.

„Nun, wie steht’s, sind genug Hähne für uns verhört?“ fragte Karl August, mit seinen Begleitern und ein paar Stallknechten Abends vor der Wartburg vom Pferde steigend, wo ihn der Castellan und sein Oberförster, verschiedene Revierförster nebst dem Burgpersonal mit devoter Begrüßung empfingen.

„Durchlaucht zu dienen, jawohl,“ entgegnete der alte Oberförster. „Die Waldläufer und Forstwarte sind jede Nacht draußen gewesen und haben ihrer genug ausgemacht. Und es ist ein Glück für den Forst und die jungen Culturen, wenn Durchlaucht und die andern Herren ein paar Auerhähne abschießen, denn den Saaten haben sie im vorigen Sommer wieder arg zugesetzt, den jungen Herztrieb derart verschnitten, daß wenige von den Sämlingen zum Auspflanzen passen werden.“

„Sie sind und bleiben mehr Forstmann als Waidmann, alter Freund,“ lachte der Herzog. „Nun, das ist mir lieb; unsere Berge hier herum brauchen sorgfältige Pflege des Waldbestandes, und darum – nicht wahr, Wedel, nur darum? – schießen wir Ihnen hoffentlich morgen in der Frühe etliche der mißliebigen Gesellen herunter.“

Man ging in die Burg und begab sich in das Landgrafenhaus.

(Fortsetzung folgt.)
[596]
Das siebenhundertjährige Jubiläum einer deutschen Niederlassung.

Vor mehr als 700 Jahren erschienen ungarische Boten in Deutschland, welche auf den Märkten und Straßen laut verkündeten, daß ihr König Geisa tüchtige Leute brauche, die im Stande wären, die Grenzen seines Reiches zu schützen und große fruchtbare, aber bis dahin unbewohnte Striche Landes zu besiedeln. Was sie den Auswanderungslustigen versprachen, klang gar verlockend, denn Freiheit des Eigenthums, des Bodens und der Manneskraft, Leben nach deutschem Rechte und Gleichheit unter einander sollten den Ansiedlern gesichert bleiben. Vertrauend auf das königliche Wort zogen bald zahlreiche Auswandererschaaren vom Rheine und der Mosel sowie von der friesischen Küste nach jener fernen Ostmark, die man damals „Transsylvania“, „das Land jenseit des Waldes“ nannte, die, vom Pfluge noch unberührt, steten Einfällen wilder Barbarenvölker ausgesetzt war. Jahrhunderte sind seit jenen Tagen verflossen, und was deutscher Fleiß und deutsche Thatkraft aus jener Wildniß geschaffen, davon belehrt uns schon ein flüchtiger Blick auf das heutige Siebenbürgen, das im Schmucke seiner Städte, Dörfer und Felder einem blühenden Garten gleicht. Ein hartes Stück Arbeit war es, das die wetterharten Sachsen hier vollbracht haben, denn nicht im Frieden durften sie die Früchte ihres Fleißes genießen, gar zu oft mußten sie gegen die eindringenden Feinde, gegen die Kumanen, Mongolen und Türken zu den Waffen greifen. In dem ehrwürdigen Rathhause von Hermannstadt, dessen alterthümlicher Thurm seit vier Jahrhunderten in die weite Ebene am Zibiu hinausschaut, ruhen die Acten aufbewahrt, in denen die Geschichte jener Kämpfe, das tausendfache Leid der Einwohner getreu erzählt ist. Und die Zeit der Prüfung ist für das tapfere Volk bis heute nicht abgeschlossen; wie die Väter einst um die materiellen Güter mit dem Schwerte in der Hand kämpfen mußten, so ringen jetzt die Söhne um die heiligsten geistigen Güter, um ihre nationalen Rechte, die ihnen eine undankbare und kurzsichtige Politik verkümmern und entreißen will. Der Kampf, den sie jetzt führen, ist zwar ungleich, aber Verzagen und Furcht sind den Siebenbürger Sachsen fremd, und so dringt mitten aus der schweren Bedrängniß ein Jubelruf aus der fernen Ostmark zu uns herüber. dessen Klang überall freudig nachzittert, wo die deutsche Zunge klingt.

In den letzten Augusttagen dieses Jahres tagten die deutschen Vereine Siebenbürgens, welche die Erhaltung der deutschen Sprache und Sitte auf ihre Fahne geschrieben hatten, in Hermannstadt, der ältesten Siedelung und zugleich der geistigen Capitale des Sachsenlandes. Feierlicher als sonst verlief diese Zusammenkunft, denn man beschloß, bei dieser Gelegenheit das siebenhundertjährige Jubiläum der Einwanderung der Sachsen und der Gründung Hermannstadts festlich zu begehen. Ein historischer Zug wurde veranstaltet, der den erstaunten Zuschauern die rühmliche Geschichte des Landes vor Augen führte. Ein glänzendes, ergreifendes Bild! Sie waren noch einmal auferstanden, jene muthigen Bauern und Bürger, die zu dem Wohlstande und der Blüthe des Landes den Grundstein gelegt und die fruchtbaren Gefilde mit ihrem Blute gedüngt hatten.

Da ritt dem Zuge eine Bauerngruppe voran, 130 Reiter, welche die unweit Hermannstadt gelegenen Dörfer Stolzenburg, Neudorf und Burgberg gestellt hatten. Die Tracht dieser Reiter war eine verschiedene, aber am meisten fielen die Stolzenburger auf, die weiße Röcke und mit bunter Stickerei verzierte hübsche Mäntel und als Kopfbedeckung Mardermützen trugen; ihnen folgten die Herolde, die königlichen Bevollmächtigten und Hermann von Nürnberg, der Gründer von Hermannstadt, dann schlossen sich Züge der Einwanderer und der einzelnen Gewerbe an.

Da erschienen die Bauernfrauen und Mädchen in derselben Tracht, wie sie historisch nachweisbar noch vor 400 und mehr Jahren geherrscht und sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat. An einer Seitenwand des Chors der evangelischen Pfarrkirche in Hermannstadt befindet sich ein großes Wandgemälde von dem siebenbürgischen Maler Johannes von Rosenau (1445), welches die Uebereinstimmung der alten weiblichen Bauerntracht mit der heutigen merkwürdig constatiren läßt. Ein heute [597] gewiß seltener Conservatismus. Die Frauentracht ist ernst und schlicht, die Kleidling der Mädchen bunter. Besonders charakteristisch sind ihr Sonntags- oder Kirchenhut, eine einem Cylinder ohne Krempe und Deckel gleichende Kopfbedeckung aus schwarzem Sammt mit herabwallenden bunten Bändern, ferner das gestickte Hemd und der um die Hüfte getragene, mit bunten Steinen gezierte breite Metallgürtel.

[Bürgergruppe (aus der Gruppe der Handels- u. Gewerbetreibenden)]

Dann kam der Festwagen für Handel und Gewerbe. Vor ihm ritt ein Fähnlein, bestehend aus 12 Hermannstädter Bürgern in ihrer Bürgertracht, wie sie als Fest- und Sonntagskleid bis zum vierten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts üblich war. Der kurze braune, mit Silberknöpfen verzierte Rock in der Mitte zusammengehalten durch einen silberdurchwirkten, reichen Gürtel, die ebenfalls aus braunem Tuche angefertigte enge Stiefelhose, der Kalpak aus Luchs- oder Marderfell, dann der pelzverbrämte, mit durchbrochenen Silberknöpfen besetzte Mantel gemahnen an den benachbarten magyarischen Edelmann, wie diese luxuriöse Tracht überhaupt den Trägern ein patricisches Gepräge verleiht. Freilich wurde früher diese kostbare Tracht vom Großvater auf den Sohn und Enkel vererbt, was bei dem modernen Kleiderunwesen nicht leicht mehr vorkommen dürfte. Der stattliche Bürger mit der Hellebarde in dem Bilde (S. 596) ist eine Figur aus dieser Gruppe, der 24 berittene Männer aus dem sächsischen Markte Agnetheln in ähnlicher Galatracht folgten. Um die bepackten Reisewagen der deutschen Einwanderer schaarte sich das Volk der Handels- und Gewerbsleute mit ihren Frauen und Kindern. Männer und Bursche trugen die Embleme der verschiedenen Zünfte und mannigfaches Geräthe und Handwerkzeug. Die aus etwa 130 Köpfen bestehende Gruppe war selbstverständlich im Stil des 12. Jahrhunderts costümirt. (Vergl. die obenstehende Illustration.)

Der Jagdzug war besonders glänzend ausgestattet. Jäger mit Armbrust und Speeren, auch kühne Jägerinnen zu Pferde belebten die Gruppe, von welcher leider in unserer am Fuße dieser Seite stehenden Illustration nur ein kleiner Theil veranschaulicht werden konnte. Es fehlte nicht der reich beladene Wildwagen, der Falkner, die Hundemeute, gehalten von dem Rüdenmeister. Unter der erlegten Beute ist der Wolf und der Bär vorherrschend, womit so recht die Wildheit des Waldlandes charakterisirt wird, zu dessen Cultivirung die deutschen Colonisten berufen worden waren. Bezeichnend für die Rauhheit des „Bärenlandes“, wie Siebenbürgen heute noch genannt wird, ist auch die folgende Episode, die sich thatsächlich ereignet hat. Ein Mitglied des Festzugscomités äußerte einige Tage vor dem Feste gegenüber dem als wetterharter Tourist und Wildtödter in Siebenbürgen

[598] bekannten Oberlieutenant A. Berger seine Unzufriedenheit mit dem für den Wildwagen bestimmten Exemplar eines ausgestopften Bären. Der Oberlieutenant versprach ein besseres Exemplar zu liefern, da er am nächsten Tag eine Treibjagd auf Wölfe und Bären in einer vier Stunden von Hermannstadt gelegenen Gebirgswaldung mitmachen werde. Weniger als 48 Stunden später löste er sein Wort glänzend ein, indem er den von ihm erlegten Bären, ein beiläufig 12 Jahre altes, riesiges männliches Exemplar, dem Festzugscomité großmüthig zur Verfügung stellte. In dem Körper des erlegten Ungethüms fand man bei der Abhäutung außer den zwei tödlichen Kugeln, die ihm Oberlieutenant Berger beigebracht hatte, nicht weniger als 11 in den Muskeln und Geweben gänzlich eingekapselte Kugeln, die Meister Braun wohl schon eine lange Reihe von Jahren mit sich getragen hatte. Die von demselben Nimrod angebotenen beiden Bärenjungen, die er im heurigen Frühjahr lebendig gefangen hat, konnten im Festzug nicht benutzt werden, weil man von dem Brüllen der jungen Unholde das Scheuwerden der Pferde befürchtete.

Die Gruppe der Schwerbewaffneten (vergl. S. 597) bildete den Schluß des Zuges. Sie wurde dargestellt von 80 bis 90 berittenen Männern des Dorfes Heltan nächst Hermannstadt, welches wegen seiner reizenden Lage am Fuß des Gebirges ein beliebtes Ziel für Sommerausflüge der Hermannstädter ist. Die Heltauer Männer sind wahre Hünengestalten und durch ihre Größe, aber auch durch ihren Unternehmungsgeist und ihre rastlose Thätigkeit im Lande weithin bekannt.

Der im Ganzen aus 800 bis 1000 Personen bestehende Festzug nahm seinen Weg durch einige Gassen der Stadt zu dem etwa eine halbe Stunde entfernten hochstämmigen Eichenwald, wo auf dem abgegrenzten Festplatz Lagerung und Morgenimbiß stattfand. Nachmittags leitete eine Ansprache des Anführers Hermann ein Festspiel ein, welches mit der Uebergabe des Bodens seitens der königlichen Gesandten begann und mit der Besitzergreifung, die durch Einstecken der gekreuzten Schwerter Hermann’s und des Plebans in den Boden symbolisirt wurde, endigte.

So war der historische Festzug der Sachseneinwanderung beschaffen. Indem er der Urväter Einwanderung in das schöne Waldland allem Volke vor Augen führte, hat er in ihm sicher auch das Bewußtsein seiner deutschen Stammeszugehörigkeit gestärkt. Hierin liegt des Festzugs tiefe ethische Bedeutung. Und wenn das Sachsenvölkchen rückblickt auf seine mehr als siebenhundertjährige, ehrenvolle Vergangenheit in diesem Lande, so mag es hieraus getrost frohen Lebensmuth schöpfen für die Tage seiner Zukunft. Möge es stets jener mannhafte Geist erfüllen, der auch aus der letzten dichterischen Darstellung der Sachseneinwanderung („Die Flandrer am Alt“. Historisches Schauspiel in fünf Acten von Michael Albert, Leipzig, Otto Wigand, 1883) so herzstärkend erklingt.

Wer gräbt, wenn wieder ein Jahrtausend ging,
Denkzeichen aus von uns, den deutschen Wandrern?“

so fragt sinnend Hermann, der Gründer von Hermannstadt, seinen muthigen Genossen Wolf, der ihm voll stolzen Kraftgefühls antwortet:

„Was sagt Ihr vom Jahrtausend, lieber Bruder?
Laßt’s kommen! Fegt in diesem Lande je
Das letzte Weiblein mit dem letzten Männlein
Der Sturm hinweg, dann schlagen unsre Knochen
Wie alte Wurzeln aus der Erde aus
Und treiben neue Schößlinge an’s Licht.
Hier stirbt der Deutsche nicht, darauf vertraut!
Wir kamen nicht zu flücht’ger Rast in’s Land.
Und liegt die Wildniß uns zu Füßen, gleich
Dem grimmen Wolf, den man zum Hund gezähmt,
Und der jedwedem Winke folgt des Herrn,
Dann sind die Höfe sicher, und wir lassen
Nicht mehr vom selbsterworbenen Besitz.
Mit Schweiß und Blut, mit Herzeleid und Wagniß
Verpflichten wir zur Heimath uns die Scholle.“




Der Kommabacillus.

Ein Nachtrag zu dem Artikel „Die Cholera-Gefahr“ in Nr. 30.

Wir glauben den Wunsch vieler unserer Leser zu erfüllen, wenn wir ihnen heute den vielbesprochenen und vielgefürchteten Kommabacillus in getreuer Abbildung vorführen. Als wir vor einigen Wochen an dieser Stelle eine kurze Schilderung dieses neuentdeckten gefährlichen Feindes der Menschheit zu geben versuchten, waren jene Abbildungen nicht zu beschaffen. Erst vor Kurzem hat sie Dr. Koch in der „Berliner klinischen Wochenschrift“, dem Hauptorgane der deutschen Aerzte, veröffentlicht.

Fig. 1. Kommabacillen auf feuchter Leinwand.
Vergrößerung 600 Mal.

Der Laie, der diese Zeichnungen zum ersten Male sieht, wird wohl schwerlich glauben wollen, daß jene gekrümmten Striche, die im wirren Durcheinander auf der ersten Figur gruppirt sind, organisirte, mit eigenartiger Bewegung ausgestattete Wesen darstellen. Und doch sind es reine Kommabacillen, und das Bild, welches wir vor uns haben (Fig. 1), ist die 600malige Vergrößerung eines Schleimflöckchens, das einer auf feuchter Leinewand ausgebreiteten Choleradejection nach zwei Tagen entnommen wurde. Wir sehen unter ihnen (bei a) auch S-förmige Gebilde, die aus zwei an einander hängenden Individuen bestehen. Die zweite Figur zeigt uns Kommabacillen in der Schleimhaut des erkrankten Darmes. Eine der kleinen schlauchförmigen Drüsen (a) ist schräg durchschnitten, und wir sehen, daß die Bacillen in ihr Inneres (bei b) gelangt und in die Umgebung der Drüse (c) eingedrungen sind. Die wichtigsten Erscheinungen, die sich auf das Leben und die Verbreitung dieses Organismus beziehen, haben wir bereits in unserem Artikel „Die Choleragefahr“ hervorgehoben. Als interessanten Nachtrag zu jener Schilderung geben wir heute noch die Beantwortung der Frage, auf welche Weise diese im menschlichen Darme entstehenden Bacterienvegetationen einen Menschen tödten können.

Fig. 2. Kommabacillen in der Schleimhaut des Darmes.
Vergrößerung 600 Mal.

Um dies zu erklären, wollen wir unsere Leser zunächst an die allgemein bekannte Erscheinung der Gährung erinnern. Jedermann weiß heute, daß zahlreiche mikroskopische Organismen in den Nährlösungen, in denen sie leben und sich fortpflanzen, gewisse eigenartige Substanzen erzeugen, die als Producte ihres Stoffwechsels angesehen werden müssen. So zersetzt z. B. die Hefe die Zuckerlösung, in welche man sie hinein gethan, in Alkohol, den berauschenden Bestandtheil unserer Biere und Weine, und in die schäumende Kohlensäure; so ist bekanntlich auch der Essig das Product mikroskopischer Wesen, die wir unter dem Namen „Essigbacterien“ kennen. Auch die Kommabacillen erzeugen im Darme einen Stoff, der giftig wirkt, der von dem Körper aufgesogen wird und die schweren allgemeinen Erscheinungen heftiger Cholera-Anfälle bedingt. Entwickeln sich die Kommabacillen rasch und in großen Mengen im menschlichen Darme, sodaß man die Entleerungen und den Darminhalt der Franken mit denselben gefüllt findet, dann werden auch große Mengen Gift entwickelt, welche tödlich auf unseren Organismus wirken, dann verläuft der Cholera-Anfall rasch und mit tödlichem Ausgange. Oft wird diese Vergiftung von dem Kranken überstanden und alsdann tritt Genesung ein oder auch, wenn bereits größere Zerstörungen der Darmschleimhaut vorhanden sind, erfolgt der Tod unter typhösen Erscheinungen erst im späteren Verlaufe der Krankheit.

Wir schließen unsere Mittheilungen über die epochemachende Entdeckung Koch’s mit einer von ihm entworfenen Schilderung der indischen Heimath des Kommabacillus: Im unteren Gangesdelta befindet sich ein unbewohnter Landstrich, Sundarbans genannt, der ein Areal von 7500 englischen Quadratmeilen umfaßt und sich auf der Karte durch eine scharfe Linie von dem dicht bewohnten nördlichen Theil des Delta scheidet. Hier lösen sich die großen Ströme Ganges und Brahmaputra in ein Netz von Wasserläufen auf, in denen bei Ebbe und Fluth das mit dem Flußwasser sich mischende Meerwasser hin und her wogt und zur Fluthzeit weite Strecken der Sundarbans unter Wasser setzt.

[599] Eine üppige Vegetation und ein reiches Thierleben hat sich in diesem unbewohnten Landstrich entwickelt, der für den Menschen nicht allein wegen der Ueberschwemmungen und wegen der zahlreichen Tiger unzugänglich ist, sondern hauptsächlich wegen der bösartigen Fieber gemieden wird, welche jeden befallen, der sich auch nur ganz kurze Zeit dort aufhält. Man wird sich leicht vorstellen können, wie massenhaft vegetabilische und thierische Stoffe in dem Sumpfgebiet der Sundarbans der Zersetzung unterliegen und daß hier die Gelegenheit zur Entwickelung von Mikro-Organismen geboten ist, wie kaum an einem anderen Platz auf der Erde. Ganz besonders günstig ist in dieser Beziehung das Grenzgebiet zwischen dem bewohnten und unbewohnten Theil des Delta, wo die Abfallsstoffe aus einem außerordentlich dicht bevölkerten Lande von den Flußläufen herabgeschwemmt werden und sich mit dem hin und herfluthenden, bereits mit Zersetzungsstoffen geschwängerten Brackwasser der Sundarbans mischen. Unter eigenthümlichen Verhältnissen muß sich in diesen eine ganz eigenartige Fauna und Flora von Mikro-Organismen entwickeln, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Cholerabacillus angehört. Von hier aus wird er in die benachbarten indischen Ansiedlungen gebracht und durch Menschen von Ort zu Ort verschleppt, bis besondere Einflüsse seine Entwickelung hemmen und das Erlöschen der Seuche in den von ihr ergriffenen Ländern zur Folge haben.

Valerius. 




Blätter und Blüthen.

Fingal’s „erstes Feld“. (Mit Illustration S. 589) Der alte Oberförster Wolff – so erzählte kürzlich der Baron von S… im Kreise einiger Bekannten – war, wie dies bei einem Forstmanne nur selbstverständlich ist, ein vortrefflicher Jäger und galt allgemein als eine Autorität in der Abrichtung und Führung der Hunde für die Zwecke des edlen Waidwerks. Sein „Feldmann“ genoß darum eines gewissen Rufes und Ansehens in der Jägerwelt, sodaß neben ihm kein anderer Hund etwas gelten oder gar mit Feldmann verglichen werden konnte. Nun hatte ich mir einmal einen jungen Hund von vortrefflicher Rasse und Abstammung eingethan und ließ ihn bis zu seiner Gebrauchsfähigkeit bei einem mir bekannten Förster, Namens Maier, ebenfalls einer Autorität in der Hundedressur, erziehen. Dieser Tag, an welchem mein junger Fingal unter meiner persönlichen Führung zeigen sollte, was er gelernt hatte, der Tag „seines ersten Feldes“, war nun gekommen, und ich nahm ihn mit zu einer von Oberförster Wolff veranstalteten kleinen Jagd, auf welcher einige Hasen geschossen werden sollten.

Mit Kennerblick musterte der alte Hunde-Erzieher alsbald Bau, Behäng, Gebiß und Ruthe Fingal’s und sprach mir unverhehlt seinen Beifall aus. Als er jedoch hörte, daß Maier ihn abgerichtet und geführt habe, rümpfte er die Nase und sprach nur das eine Wort: „Schade!“ Natürlich bat ich ihn jetzt um Erklärung und Begründung dieses mir unverständlichen Mißfallens, worauf Wolff, der – wie ich später erfuhr – dem genannten Förster nicht gut stand, kurz erwiderte: „Maier versteht nichts von der Abrichtung, – alle von ihm geführten Hunde ‚schägern‘ und ‚schneiden an‘, – Sie werden sehen, das Hundchen ist verdorben, total verdorben. Schade, Sünd’ und schade dafür!“

Dies war mir natürlich eine höchst unangenehme Eröffnung, aber im Stillen hoffte ich doch, daß es nicht gar so arg sein werde und daß, wenn Fingal wirklich die genannten schlechten Eigenschaften haben sollte, diese ihm „durch energische Korallen“ abgewöhnt werden könnten. Dieses Trostes voll, koppelte ich Fingal von der Leine und ließ ihn ein Stück Feld absuchen. Er machte seine Sache ganz gut, aber – es mußte mir vor Abgang zur Jagd ein altes Weib über den Weg gelaufen sein: ich kam nicht zum Schuß. Endlich aber, schon fast zu Ende der Jagd, zog mein Fingal an; ein Hase stand auf und wurde flüchtig. Blitzschnell hatte ich da die Flinte am Backen und – ließ schnappen. Aber ich hatte entschiedenes Pech: der Hase machte einige Kreuz- und Quersprünge und – verschwand im nächsten Kornfelde. Fingal aber a tempo auf und, die Nase am Boden, ihm nach. Alles Rufen und Pfeifen half nicht – laut kläffend jagte er dem Hasen, den ich gefehlt zu haben glaubte, nach und verschwand wie dieser.

„Nun, was habe ich gesagt?“ rief da der Oberförster etwas schadenfroh zu mir herüber, „Sie sehen, daß ich Recht hatte: er schägert und schneidet sicher auch an, – das Vieh ist keinen Schuß Pulver werth!“

Mißmuthig warf ich die Flinte über den Rücken und wandte, neben dem Oberförster einhertrollend, meine Schritte heimwärts. Einmal noch kam ich unterwegs zum Schuß auf einen Hasen, den mir der „unfehlbare“ Feldmann apportirte, dann traten wir den Weg zum nahegelegenen Dorfe an, um daselbst gewohntermaßen den „letzten Trieb“ im „Adler“ abzuhalten. Aber kaum hatten wir uns daselbst niedergelassen, so schritt gravitätisch hinter dem Adlerwirth – mein Fingal zur Thür herein, einen Hasen regelrecht apportirend.

Ein allgemeines „Ah!“ entfloh da den Lippen meiner Jagdgenossen bei diesem unerwarteten Anblick, und der Oberförster nahm das eben angesetzte Deckelglas wieder vom Munde und rief sichtlich erstaunt: „Bei Sanct Hubert – ich glaube gar, der Fingal bringt Ihren Hasen, Herr Baron!“

Es war wirklich so. Der vermeintliche „Schäger“ hatte die Fährte des nur leicht angeschossenen Hasen aufgenommen und hatte diesen, der nur wenig am Hinterlauf schweißte, in seinem Feuereifer auf eine weite Strecke verfolgt und endlich gefaßt. Durch regelrechtes Schütteln, nicht durch Anschneiden, hatte er ihm den Garaus gemacht und unternahm es sodann pflichtgemäß, mir die gemachte Beute stolz zu überbringen. Aber der starke Hase war dem jungen Hund offenbar viel zu schwer. Wohl zwanzigmal mochte er ihn unterwegs abgelegt und wieder aufgenommen haben, weshalb er mit seiner Last erst dann zu der Stelle gelangte, wo er mich zu finden hoffte, als ich sie gerade verlassen hatte. Aber der wackere Hund ließ sich hierdurch nicht abschrecken: mit dem Hasen im Maul nahm er nun sofort meine zum Dorfe in den „Adler“ führende Fährte auf, wo er mich endlich glücklich fand und mir – ich möchte sagen – „stolz“ seine Beute ablieferte.

Von diesem Tage an war mein Fingal, der solchermaßen auf „seinem ersten Feld“ sein Meisterstück gemacht hatte, dem unfehlbaren Feldmann ebenbürtig. Sogar der Oberförster mußte dies zugestehen, jedoch jeweils mit dem Beifügen, daß dies nur Fingal’s eigenes Verdienst vermöge seiner Rasse und Begabung, nicht aber das des Försters Maier sei, denn dieser verstehe nichts von der Hunde-Abrichtung.

So schloß der Baron seine Jägern gewiß interessante Mittheilung. Ob er in dieselbe einiges „Latein“ verflocht, vermag ich allerdings nicht zu beurtheilen.



Der Haarschneider. (Mit Illustration S. 593.) Auch eine Kunst, das Haarschneiden, und keine, die man so aus dem Aermel schüttelt. Ich hab’ es versucht, wahrhaftig, ich hab’ es versucht, und es ist mir schlecht bekommen. Es war der complicirteste Treppenbau geworden, den man sich vorstellen kann, denn außer den Hauptstufen gab es noch die verzwicktesten Nebenstufen von einer zur andern. Man konnte auch an Cascaden dabei denken, in denen ein Bergwasser über Steingerölle herunter purzelt. Was war zu thun? Mein armer Bruder mußte zum „Künstler“, und dieser schor ihn bürstenkahl, denn der „Schnitt war gänzlich verhunzt “. Erst wieder wachsen, und dann Façon hinein bringen.

Kein Zweifel, es ist eine Kunst. Man muß die Technik weghaben, und man muß ein Ideal haben, das man verwirklicht. Die einfachste Technik besteht darin, daß man dem Opfer eine Mütze aufsetzt und rund um den Rand alles kahl schneidet. Etwas genialer ist die eines berühmten Freundes, welcher seinen Lockenkopf in drei Theile theilt. Erst das Hinterhaupthaar zusammen genommen: erster Schnitt. Dann das Haar um das rechte Ohr: zweiter Schnitt. Nun um das linke: dritter Schnitt. Welch ein weiter Weg führt von diesen primitiven Verfahren zu jenen Höhen der Kunst, wie sie auf dem alljährlich in der Reichshauptstadt veranstalteten Wettschneiden mit vollendeter Sicherheit erstiegen werden!

In der That, wer daran denkt, wird sich von der Kunst des alten Herrn mit der Riesenbrille und der Zipfelmütze auf unserem Bilde nicht viel versprechen. Kürzer wird das Haar des Lockenkopfes, der sich zum Opfer seiner Scheere hingab; aber wie?

Ein verzweifeltes Gefühl, wenn die dumpfe Scheere oder die unsichere Hand da über unserem Haupte arbeitet und jeder Augenblick mit Raufen droht! Ein noch verzweifelteres, ja ein Martyrium, wenn es da zwickend in unserem Nacken herumgleitet. Zwick – zwack – jetzt eine Spur weiter, dann ging es in die Haut. O, jeder Nerv prickelt. Man hat ein Gefühl, als ob die Scheere auf einer ausgeprägten Gänsehaut herum führe.

Nun – was den Buben auf unserem Bilde betrifft, so ist anzunehmen, daß er ohne Blutvergießen wohl nicht davonkommen, und daß der Schmerz, den er mit zugekniffenem Auge erwartet, mit ziemlicher Sicherheit eintreffen wird, denn der alte Herr da wird wohl nicht so ganz genau die Spitzen seiner Scheere in der Gewalt haben.

Immerhin, solch eine Schramme heilt wohl bald, aber es ist leichter gesagt als gethan: „Still zu sein, wie ein Lamm vor seinem Scheerer.“

V. B. 


Alexander Jung. †. Der Veteranen des „Jungen Deutschland“ werden immer weniger. Unbarmherzig lichtet der Tod die Reihen der Männer, die einst mit der Begeisterung des Idealismus ihre liberalen Reformbestrebungen verfolgten. Nicht lange ist es her, daß man in Wien Heinrich Laube begrub, und bereits am 20. August folgte ihm im Tode Dr. Alexander Jung in Königsberg in Preußen in dem hohen Alter von sechsundachtzig Jahren. Er war 1799 zu Rastenburg in Ostpreußen geboren und trat in den vierziger Jahren als Schriftsteller auf literarhistorischem und socialem Gebiete hervor. Besonders beeinflußte er das damals in Königsberg erwachende politische Leben und vertrat als Redacteur des „Königsberger Literaturblattes“ den jungdeutschen Geist mit glühendem Eifer und glücklichem Erfolge. War er auch in den letzten Jahren dem literarischen Horizonte ein wenig entrückt und war seine Wirksamkeit ohne hervorragenderen Einfluß geblieben, so wird man doch seiner stets in Ehren gedenken müssen als eines jener selbstlosen Männer, die in dem geistigen Kämpfe um Freiheit und Aufklärung in erster Linie standen.*     




Engelhorn’s „Allgemeine Romanbibliothek“. Eine Auswahl der besten modernen Romane aller Völker.“ Preis pro Band 50 Pfennig. Elegant in Leinwand gebunden 75 Pfennig (Stuttgart, J. Engelhorn). – Die Kenntniß der Literatur anderer Völker ist in Deutschland weit weniger verbreitet, als man allgemein annimmt, und wie man aus den mehr oder minder geringschätzenden Urtheilen der deutschen Tagespresse über

[600] die Unkenntniß fremder Nationen betreffs deutscher Literatur schließen sollte. Wir Deutschen haben allen Grund, uns mehr in den fremden literarischen Erzeugnissen umzusehen und namentlich die bessere auswärtige zeitgenössische Romanliteratur kennen zu lernen, um nicht auf den einseitigen Standpunkt der Selbstgenügsamkeit und der – Selbstüberhebung zu gelangen. Jedes Bestreben, uns davor zu bewahren, ist lobenswerth, und darum zollen wir der bekannten Stuttgarter Verlagsfirma J. Engelhorn für die Herausgabe der „Allgemeinen Romanbibliothek“ alle Anerkennung und wünschen ihrem Unternehmen die weiteste Verbreitung. Steht der letzteren auch die Unlust des Deutschen, Bücher zu kaufen, entgegen, so wird der beispiellos billige Preis der elegant ausgestatteten Bände, die sich durch deutlichen, klaren Druck und große Schrift ganz besonders empfehlen, das wirksamste Mittel sein, dieser Romanbibliothek Eingang in’s Volk zu verschaffen.

Der uns vorliegende erste Band enthält den ersten Theil des zweibändigen Romans „Der Hüttenbesizer“ von Georges Ohnet, dem bekannten französischen Romancier, der zu den gelesensten Schriftstellern seines Vaterlandes zählt – hat doch „Der Hüttenbesitzer“ 150 Auflagen in kürzester Zeit erlebt. Aus der Wahl dieses Romanes, der den derben, widrigen Realismus eines Zola meidet und dabei doch lebenswahr und überzeugungsvoll das Leben widerspiegelt, kann man auf den Plan des Verlegers schließen, die schmutzigen und giftigen Auswüchse fremder Romanliteratur auszuschließen, ein Plan, der der „Allgemeinen Romanbibliothek“ die Unterstützung aller Gebildeten sowie Popularität sichert. Der Prospect kündet Romane aus dem Englischen, Spanischen und Italienischen für die zunächst folgenden Bände an, und die hierbei getroffene Auswahl der Autoren läßt das Beste erwarten.

Es ist also hier die Gelegenheit geboten, sich für den Preis von 50 Pfennigen einen Roman in guter Ueberseztung anzuschaffen, der sonst – und zwar oft in recht herzlich schlechter Uebertragung – 3 bis 5 Mark kostet. Der Einband ist geschmackvoll und kann jeder Bücherei zur Zierde gereichen.


Ein kaiserlicher Eisenbahn-Baumeister. Der österreichische Ingenienr Gerstner, Erbauer der im Jahre 1838 eröffneten ersten russischen Locomotivbahn von Petersburg nach der kaiserlichen Sommerresidenz Zarskoje-Selo, war von dem Kaiser Nicolaus von Rußland mit der Ausarbeitung des Planes für eine Eisenbahn beauftragt worden, welche die beiden Hauptstädte des Reiches Petersburg und Moskau mit einander verbinden sollte. Nicolaus war gerade in ein Project zur Unterwerfung der aufrührerischen kaukasischen Stämme vertieft, als Gerstner ihm den sorgfältig ausgearbeiteten Plan über die neue Bahn vorlegte.

“Ist das der nächste Weg nach Moskau?“ fragte der Kaiser, nachdem er sich die Karte flüchtig angesehen hatte.

„Der nächste gerade nicht, Majestät, aber der rentabelste; denn die neue Bahn wird volkreiche und handeltreibende Städte berühren; sie wird fruchtbare Gegenden durchschneiden.“

“Ich brauche,“ unterbrach ihn Nicolaus, „den nächsten Weg, auf dem man in einem Tage von Petersburg nach Moskau kommen kann. Geben Sie einmal die Karte her.“ Damit zog er seinen Degen aus der Scheide, legte ihn quer über die Karte und zog mit der Feder zwischen den Endpunkten Petersburg und Moskau einen dicken geraden Strich. „So,“ sagte er, Gerstner die Karte zurückgebend, „das ist mein Plan, und danach soll gebaut werden.

Und es wurde danach gebaut. Schnurgerade, mit alleiniger Umgehung einiger größerer Moräste wurde der eiserne Schienenweg allen Hindernissen zum Trotz durch eine unwirthliche, meistens mit versumpften Waldungen bedeckte Gegend hindurchgeführt, auf einer Länge von 87 deutschen Meilen nur 8 größere Orte berührend! 50,000 Soldaten und zahlreiche zum Frohndienst commandirte Bauern arbeiteten 8 Jahre lang an den ungeheuren bis zu einer Höhe von 60 Fuß erforderlichen Erdaufschüttungen, welche das sumpfige Terrain erforderte; Tausende von Bauhandwerkern schafften an den zahlreichen Ueberbrückungen und Durchlässen, und keine Kosten wurden gescheut, um diese Bahn zu einer der solidesten, zu einer Musterbahn zu machen. Man hat die Kosten der Bau-Ausführung auf 78 Millionen Thaler geschätzt. Aber der Kaiser hatte erreicht, was er wollte die neue Bahnstrecke war noch 14 Meilen kürzer als die alte geradlinige Heerstraße, welche man bis dahin für die kürzeste Verbindung angesehen hatte, und mehr noch: der erste im August 1851 auf der Strecke abgelassene kaiserliche Extrazug durcheilte die ganze Route in der kurzen Zeit von nur 20 Stunden. R. B.     


Allgemeiner deutscher Schulverein. Nach dem Muster des „Deutschen Schulvereins“ in Oesterreich bildete sich im Sommer 1881 in Deutschland ein „Allgemeiner deutscher Schulverein“, dessen Ziel es ist, alle außerhalb des Reiches lebenden Landsleute in ihrem Bestreben, Deutsche zu bleiben, energisch zu unterstützen. Die Verbände des Binnenlandes suchen besonders gegen die in Böhmen, Südtirol, Siebenbürgen und Ungarn drohende Bedrängnis anzukämpfen; die im Frühjahr 1883 gebildete Ortsgruppe Hamburg-Altona faßt dagegen mehr die in überseeischen Ländern lebenden Deutschen in’s Auge und sucht denen, die sich und den Ihrigen deutsche Bildung erhalten wollen, thatkräftig in Allem beizustehen, was zur Pflege deutscher Sprache und Bildung förderlich sein kann. Es braucht wohl nicht betont zu werden, wie ersprießlich der Verband wirken dürfte. Beitrittserklärungen sind an den Schriftführer der Ortsgruppe Hamburg-Altona (Dr. Hugo Toeppen, Hamburg-Borgfelde) zu richten.


Kleiner Briefkasten.


L. O. in D. Freilich, solche Bücher giebt es, sogar in größerer Anzahl, wenn auch alle mehr oder minder von einander verschieden sind. Besonders empfehlen wollen wir Ihnen „Die Kunst des Vortrags von Emil Palleske“ (2. Aufl. Stuttgart, C. Krabbe, 1884). Der durch seine vortreffliche Schiller-Biographie bekannte Verfasser dieses Buches giebt in überaus lebendiger Schilderung ebenso geistvolle wie allgemein verständliche und erfahrungsgemäß bewährte Winke, die Jedem, der für Schönheit eines Vortrages Sinn hat, sehr zu Statten kommen.

Ein Buchhalter. Ein Mittel wünschen Sie, durch welches man „Fliegen, Schwaben, Spinnen, überhaupt alles Ungeziefer, welches sich in Wohnräumen aufhält, radical vertreibt“? Wir kennen keines; ob aber vielleicht einer unserer Leser Auskunft geben kann? – Ihre zweite Frage kann Ihnen nur ein mit den Verhältnissen genau vertrauter Rechtsanwalt beantworten.

V. G. Witten. Eine Lebensbeschreibung Fr. Rückert’s finden Sie im Jahrgange 1863. Zur Erledigung ähnlicher Anfragen empfehlen wir Ihnen das 1882 von Dr. Fr. Hofmann herausgegebene „Vollständige Generalregister der Gartenlaube vom 1. bis 28. Jahrgang“, welches in jeder Buchhandlung zu haben ist.

S. in H. Ihre Frage finden Sie beantwortet in dem einen instructiven Buche A. Dreger’s: „Die Civilversorgung der Militär-Anwärter im Reichs- und Staatsdienste“ (Leipzig, C. A. Koch, 1884), welches Sie durch jede Buchhandlung beziehen können

A. H. in F., Lieblings Glück: ungeeignet.


Allerlei Kurzweil.


Schach.
Problem Nr. 7.
Von Fr. Dubbe in Rostock.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Scherz-Arithmogryph als Kryptonym.

Es ist zu ermitteln, was die Stahlfeder und der Gänsekiet in Liebesentzücken geschrieben und was die Tintenflasche dazu sagt. (Anmerkung: ä und ch sind je als ein Buchstabe zu betrachten.)

Auflösung der zwei Räthsel in Nr. 35. Nr. 1: Beeidigung, Beendigung, Beerdigung. – Nr. 2: Ablaß. – Blaß. – Laß. – Aß.

Auflösung
des
Räthsel-Bilderbogens in Nr. 35:



[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht übernommen.]


  1. Ein Dollar = 4,25 Mark.