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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[569]

No. 35.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Raban war im höchsten Grade erstaunt, daß man Wolfgang des Diebstahls bezichtigte, und vermochte erst nach einer Pause den alten Graveur nach den näheren Umständen zu fragen.

„Ich will es Ihnen erklären,“ erwiderte Melber, „gerade deshalb komme ich zu Ihnen. Deshalb, und weil ich Ihren Beistand erbitten muß. Sehen Sie, das Fräulein von Tholenstein, das bei meinem Sohne Unterricht nimmt – sie ist ein wenig meines Sohnes Cousine, das Fräulein, doch das gehört nicht hierher – besaß solche Goldmünzen, die wohl sehr selten sein mögen, und hat sie eines Tages neben einigen anderen alten Sachen, alten künstlichen Schmucksachen, meinem Sohne gezeigt. Mein Sohn hat die Münzen besonders hübsch, von interessantem künstlerischen Gepräge gefunden, und sie hat sie ihm geschenkt. Vor zwei Tagen nun hat ihn der Böse verführt, diese Münzen weiter, einem Mädchen, zu schenken, einer Freundin, wie er ja leider deren mehrere hat, und das Mädchen ist am andern Morgen gleich gegangen, die goldenen Münzen in dem Laden eines Antiquitätenhändlers zu verkaufen. Der Mann hat die Münzen untersucht, gezögert, das Mädchen aufgehalten, und dann sind Polizisten erschienen, denen er erklärt hat, die Münzen seien aus dem kaiserlichen Cabinete gestohlen. Das Mädchen hat meinen Sohn als den genannt, von dem sie die Münzen erhalten. Man hat sie nun zu meinem Sohne geführt, der sofort durch seine Erklärung das unglückliche Geschöpf aus dem Spiele gebracht hat – selbst aber, da seine Angabe, er habe die Münzen von einem Fräulein von Tholenstein zum Geschenke erhalten, nicht genügend erschienen, verhaftet worden ist. Er hat auf der Polizei, wohin er zuerst geführt, stürmisch verlangt, daß man das Zeugniß des Fräulein von Tholenstein einhole; man hat auch einen Beamten in deren Wohnung geschickt, dieser ist aber mit der Meldung zurückgekehrt, das Fräulein sei krank und könne Niemand sprechen. Unterdeß ist auf der Polizei auch der Custos des kaiserlichen Cabinets erschienen und hat erklärt, die fraglichen, dem Antiquitätenhändler zum Kaufe angebotenen Goldmünzen seien identisch mit den der kaiserlichen Sammlung gestohlenen und von äußerster Seltenheit. Und darauf hin hat man meinen Sohn zur weiteren Untersuchung an’s Landgericht abgeliefert. Ich hab’s von einem Herrn von der Polizei bald darauf erfahren und bin zum Landgericht gegangen, man hat mir aber den Zugang zu Wolfgang verwehrt – dann bin ich selbst zur Wohnung des Fräulein von Tholenstein geeilt und bin da ebenfalls abgewiesen, weil sie Niemand sehen könne – und darauf bin ich hierher gelaufen, hierher in Ihre Wohnung, um – Sie nicht zu finden! Es war zum Verzweifeln Alles das!“

„Was hofften Sie von mir in dieser Sache?“ fiel Raban, der in größter Spannung diese Geschichte angehört hatte, ein.

„Von Ihnen, Herr von Mureck, hoffe ich, daß Sie uns aus dieser schrecklichen Fatalität retten. Sie sind – ich weiß es von meinem Sohne, mit dem Fräulein befreundet, sind auch mit der Stiftsdame befreundet, stammen ja aus einer und derselben Gegend – Ihnen wird man in einer so dringenden Sache den Zutritt nicht weigern, Sie werden mit dem Fräulein reden und, wie krank es auch sein mag, dieses bewegen können – es handelt sich ja um den Vetter des Fräuleins und dessen Existenz und Ehre – sogleich ein schriftliches Zeugniß auszustellen, daß sie die Münzen Wolfgang geschenkt, daß er unschuldig ist. – Wenn wir nur das erst vorlegen können, wird man ja Wolfgang sicherlich gleich entlassen, und dann, wann sie genesen ist, kann man sie ja, falls es dem Gerichte noch nöthig scheint, gründlicher vernehmen, für’s Erste handelt es sich ja nur um ein Zeugniß, das Wolfgang frei macht – denken Sie, wenn er länger sitzen müßte, wenn es ruchbar und kund würde ...“

Raban hatte Melber bei diesen Worten gedankenvoll angesehen, und sinnend schwieg er auch jetzt noch eine Weile, bevor er, den Graveur fest fixirend, antwortete:

„Sie haben Recht, Herr Melber, mit solch einem Zeugnisse ist sicherlich die augenblickliche Freilassung Ihres Sohnes zu erreichen – und ich verspreche es Ihnen, dieses Zeugniß zu besorgen, wenn Sie vorher eine Bedingung erfüllen. Erfüllen Sie dieselbe nicht, so werde ich verhindern, daß Sie das Zeugniß erhalten. Es kommt vor Allem darauf an, daß man Fräulein von Tholenstein, jetzt, wo sie krank ist, nicht die beunruhigende Aussicht, als Zeugin vor Gericht erscheinen zu müssen, eröffnet ... Ob Wolfgang noch heute frei wird, von allem Verdachte gerechtfertigt, oder ob er eine noch gar nicht zu bestimmende Zeit wird in seiner Zelle im Landgerichte sitzen müssen – das hängt ganz von Ihnen selbst ab ... von Niemand sonst!“

„Von mir – aber ich bitte Sie, welche Bedingung ...“

Raban, der klar durchschaut hatte, welche Handhabe sich ihm hier darbot, eine offene und rückhaltlose Auskunft von diesem Manne zu gewinnen, eine Aufklärung, wie er sie nie sonst von ihm zu erhalten hoffen dürfte, ging ohne Umschweife auf sein Ziel los und erwiderte mit fester Stimme: „Es handelt sich um [570] die Frage: ist Wolfgang in der That Ihr Sohn und ist Fräulein von Tholenstein die Tochter Ihres Bruders, des Gatten der verstorbenen Melanie von Tholenstein, oder – ist es anders, ist das Umgekehrte der Fall?“

Der Graveur sah ihn mit einem offenbaren Erschrecken, mit großen verwunderten Augen an.

„Aber – um Gotteswillen,“ fiel es dann von seinen Lippen, „wie kommen Sie zu der Frage?“

„Das ist meine Sache – ich habe meine Gründe zu dieser Frage. Und beantworten Sie dieselbe der Wahrheit gemäß, denn die Antwort, welche Sie mir geben, werden Sie mir auch beweisen müssen . . .“

„Der Himmel steh’ mir bei,“ erwiderte Heinrich Melber tief aufathmend, „es ist eine unglückselige Geschichte das, mit dem Jungen, dem Wolfgang – schon als er noch ein Kind war, habe ich mit meinem seligen Bruder mich um den Knaben zu zanken gehabt – und wäre nicht meine Frau gewesen, die mir ehrlich beistand . . .“

„Nun beantworten Sie aber meine Frage endlich klar und deutlich!“ unterbrach ihn Raban fast heftig – „ist Wolfgang Ihr Sohn oder ist er es nicht?“

„Freilich ist er es!“ rief der Graveur aus – „und daran soll mir Keiner zweifeln und Keiner soll mir mein Kind nehmen und mir ein falsches unterschieben, und wenn auch hundertmal diese adligen Menschen im Reiche da drüben einen männlichen Erben für all ihr Besitzthum nöthig haben und mit einer Tochter nichts anzufangen wissen, ich kann ihnen nicht helfen!“

Der Graveur hatte dies, sich in Zorn redend, ausgerufen und wischte sich jetzt die Stirn, während Raban auffahrend, aber halblaut, mit vor Bewegung zitternder Stimme sagte:

„Nun, dem Himmel sei Dank, dem Himmel sei Dank – also Wolfgang ist Ihr Sohn, – o, fürchten Sie nicht, daß irgend Jemand auf Erden Ihnen diesen Sohn rauben will – wahrhaftig nicht! Also Ihr Sohn ist er, und Alles war nur eine böse Chimäre, eine dämonische Eingebung . . .“

„Aber wie – wie kommen Sie, Herr von Mureck, zu dieser Frage – was wisseu Sie davon, daß mein verstorbener Bruder . . .“

„Ich weiß, daß Ihr Bruder in einer Unterredung mit meinem Vater diesem zu verstehen gegeben hat, Wolfgang sei sein Sohn – er habe der alten Frau auf Arholt nicht sein Kind übergeben, als er, um ein tüchtiges Jahrgehalt von ihr zu erhalten, ihr Verlangen nach der Auslieferung von Melanie’s Kind befriedigte . . .“

„Das hat er Ihrem Vater eingeredet? Damals, als er nach dem Tode des letzten Herrn von Tholenstein drüben bei Ihnen war? Ja, ja, kann mir’s denken – kann mir’s denken,“ sagte der Graveur, nachdenklich den Kopf wiegend. „Sehen Sie – um Ihnen Alles zu sagen, es war so: Wir hörten, daß dieser Herr von Tholenstein, Herr Martin von Tholenstein gestorben sei. ‚Jetzt,‘ sagte mein Bruder, ‚darf ich nicht säumen – ich muß hinüber. Jetzt ist die nächste, die alleinige Erbin das Kind, die Marie. Und ich bin Mariens Vater. Mir, mir allein kommt die Vormundschaft zu – der Nießbrauch vielleicht, der ganze Nießbrauch, jedenfalls die Verwaltung von Allem und Jedem, was da ist . . . ich bin der Vater, und das kann mir keine Macht auf Erden bestreiten.‘

‚Triumphiren Sie nicht zu früh,‘ sagte ihm meine Frau da – sie hat so viel mit den adligen Herrschaften verkehrt und von solchen Sachen reden gehört – ‚in vielen Familien,‘ sagte sie, ‚erbt ein Mädchen gar nicht die Güter, sondern sie fallen an den nächsten männlichen Verwandten, einen Vetter – und wenn er auch nur im zwanzigsten Grade verwandt ist, er geht doch der leiblichen Tochter vor!‘

‚Das kann nicht sein, das wäre ja himmelschreiend,‘ versetzte mein Bruder.

Meine Frau aber blieb dabei, und so fiel es wie ein böser Frost auf die blühenden Hoffnungen meines Bruders. Er hielt Nachfrage danach bei Leuten, die es wissen mußten, und hörte, daß dem wirklich so sei, in vielen Familien, aber freilich nicht in allen. ‚Was ist da zu machen?‘ sagte er endlich – ‚herrscht auch bei diesen Tholenstein eine solche infame Einrichtung, eine solche gotteslästerliche Ungerechtigkeit, so muß man ihnen einen Knaben als Erben liefern. Kann Dein Wolfgang nicht ebenso gut mein Knabe sein, als Deiner? Wer weiß etwas darüber auszusagen? Wir lassen einen Taufschein Mariens aus Ungarn kommen, die nöthigen Veränderungen darin machst Du, Heinrich – wozu bist Du Graveur, das ist Dir ein Kinderspiel – und die Folge ist, daß Dein Junge für seine ganze Lebenszeit versorgt und glücklich und ein großer reicher Herr ist.‘

Das waren nun sehr leichtsinnige Redensarten, diese und viele andere mehr, und wir, meine Frau und ich, waren weit entfernt, darauf einzugehen – er aber sprach ein Langes und Breites darüber, wollte in seiner Thorheit gar nicht die Schwierigkeiten und die Gefahren einer solchen unredlichen Handlung einsehen und bedrängte uns mit allen möglichen Vorschlägen. Endlich reiste er ab, voll schönster Voraussetzungen und Hoffnungen – um dann nach einiger Zeit sehr kleinlaut zurückzukehren.

‚Es ist da nichts, gar nichts zu machen,‘ sagte er verdrossen. ‚Eine ungerechte Weit ist’s – eine schmachvoll ungerechte Welt. Auch wenn mein Kind ein Knabe wäre, würde da nichts zu erben sein für ihn – es gehört Alles, Alles noch der alten Frau auf Arholt, Alles nur ihr! Ist gar nichts zu hoffen. Und was die Sache mit Deinem Wolfgang, verstehst Du, betrifft, so hätte sie auch einen ganz verdammten Haken gehabt – man hätte mich wegen der Unterschiebung eines Kindes beim Kragen genommen und eingesteckt – Du siehst, Heinrich, es ist für uns eben nichts zu machen in dieser ungerechten, niederträchtigen Welt, wo solch ein habgieriges altes Weib Alles, just Alles an sich reißt und Unsereins das Nachsehen hat! Reden wir nicht mehr davon. Kein Wort mehr davon!‘

Und es ist auch zwischen uns nicht mehr davon geredet worden, Herr von Mureck, bis zu dieser Stunde ist kein Wort mehr davon über meine Lippen gekommen, bis jetzt, wo Sie mich darnach fragen und ich Ihnen nun Alles gesagt habe, was ich weiß – Alles!“

„Ich glaube es Ihnen, und ich danke Ihnen,“ antwortete Raban hocherfreut – „haben Sie ein Taufzeugniß Ihres Sohnes?“

„Nein – aber ich könnte es beschaffen – aus Böhmen kommen lassen.“

„Bitte, thun Sie das – zur vollständigen Sicherheit; ich möchte es meinem Vater, um ihn völlig zu überzeugen, vorlegen.“

„Es soll geschehen – aber hängt von der Beschaffung des Taufscheines das Zeugniß ab, welches Sie mir zugesagt haben? Das Zengniß für Wolfgang’s Unschuld?“

„Nein – ich glaube nicht, daß es noch von irgend Etwas abhängen wird – kehren Sie nach einer Stunde hierher zurück, und ich hoffe, es in Ihre Hände legen zu können – harren Sie hier auf mich, falls ich noch nicht da sein sollte!“

„Ich werde pünktlich da sein,“ versetzte Heinrich Melber, erhob sich und ging mit offenbar großer Herzenserleichterung.


10.

Eine Viertelstunde später klingelte Raban an der Thür von Mariens Wohnung. Er gab dem Diener ein aus seiner Brieftasche gerissenes Blatt für das gnädige Fräulein. Es enthielt die Worte: „Ich muß Sie sprechen. Es handelt sich um Wichtiges für Sie, Wolfgang und mich.“ Der Diener kam zurück und führte Raban in den Salon mit der Bitte, zu warten. Bald nachher erschien Anna, um Raban zu ihrer Gebieterin zu führen. Er fand Marie in ihrem Zimmer auf dem Ruhebette ausgestreckt, sehr bleich und mit einem milden, verklärten Gesichtsausdrucke ihm entgegensehend, die eine Hand auf ihr Herz drückend, als ob sie dessen Schlag niederhalten wolle.

„Sie haben mir Wichtiges zu sagen – aber, bitte,“ sagte sie lächelnd, „geben Sie mir es tropfenweise, wie Anna mir ihre Medicin gegen meine Anfälle von Herzklopfen – auch wenn Ihre Mittheilung freudiger Art ist, wie ich an Ihrer Miene sehe . . .“

„Sie ist freudiger Art,“ versetzte Raban, sich gewaltsam fassend und zurückhaltend – „sehr freudiger Art sogar. Freilich zunächst nur für Sie und nicht für mich, der ich mit einer nur um so größeren Schuld bedrückt vor Sie treten muß. Ich habe Ihnen Enthüllungen gemacht, die auf ganz falschen Vorstellungen von den Thatsachen, auf völlig unwahren Voraussetzungen beruhten – auf rein aus der Luft gegriffenen Andeutungen, Aeußerungen eines Mannes, die völlig inhaltlos und leer waren. [571] Wenn ich mich nicht gewaltsam zu beherrschen hätte, weil Sie es wollen und mir auferlegen, so würde ich jetzt kniefällig vor Ihnen flehen: Vergeben Sie mir – was ich selbst mir nie vergeben kann – Sie in diesen Zustand gebracht, Sie unnütz, völlig unnütz in so schwere Sorge versetzt zu haben. Alle Schlüsse, die wir aus dem Briefe meines Vaters gezogen, sind unrichtig – es ist ein unseliges Verhängniß, daß dieser Brief je geschrieben wurde!“

Marie drückte ihre Hand stärker auf ihr Herz, mit der andern winkte sie Raban, als ob er schweigen, als ob er ihr Zeit lassen solle, sich zu fassen, und dann hochaufathmend sagte sie:

„Ist das möglich – möglich – Sie täuschen mich nicht? Nein, ich weiß, Sie, Raban, können mich nicht täuschen“ – und dabei streckte sie ihm glücklich lächelnd die Hand hin, die er ergriff und leidenschaftlich küßte. „Aber nun,“ fuhr sie fort, „erklären Sie mir . . .“

„Das bedarf einer langen Auseinandersetzung, der ganzen Mittheilung, die ich aus dem Munde des alten Melber erhalten habe. Für den Augenblick habe ich Ihnen etwas zu sagen, etwas von Ihnen zu erbitten, was mehr drängt als die Mittheilung der Enthüllungen Heinrich Melber’s. Es kommt darauf an, Wolfgang Melber einer sehr unangenehmen Lage zu entreißen, in welche ihn nicht just ein Verschulden, aber jedenfalls eine Handlung, die Sie selber beurtheilen mögen, gebracht hat.“

„Ah – und diese Lage ist . . .?“

„Ich hoffe, der Tropfen fällt nicht zu schwer auf Ihr Herz, Fräulein Marie, wenn ich antworte: diese Lage ist die eines Verhafteten, eines einer Schuld Verdächtigten, dessen sich das Gericht bemächtigt hat. Erschrecken Sie nicht darüber – Sie haben in der That nicht darüber zu erschrecken, liegt es doch in Ihrer Macht, seine Unschuld an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen darzuthun, da einige, nur schriftlich gegebene, Zeugniß für ihn ablegende Worte ihn aus seiner Lage retten . . . ihn ganz sicherlich sofort befreien werden.“

„Ich bitte Sie, was – o sprechen Sie rasch, was ist geschehen?“ rief Marie erregt aus.

„Erinnern Sie sich unseres neulichen Gesprächs über die auf Arholt gefundenen Münzen, von denen ein halbes Dutzend in das hiesige kaiserliche Cabinet gekommen, während in Ihren Händen noch drei derselben, welche Ihre Großmutter zurückbehalten, sich befänden?“

„Nun ja, nun ja . . .“

„Wohl – jene Münzen sind aus dem kaiserlichen Cabinet gestohlen und alle Antiquitätenhändler sind davon unterrichtet worden, aufmerksam gemacht für den Fall, daß dieselben ihnen zum Verkauf angeboten würden. Ihre Münzen dagegen haben Sie Wolfgang Melber geschenkt. Er aber hat sie einer Person, einer Bekannten geschenkt und diese sie zum Verkauf zu einem Händler getragen. Die weitere Entwicklung der Dinge können Sie sich denken: man hat Ihre Münzen für die aus dem Cabinet gestohlenen angesehen, man hat jene Person angehalten und dann Wolfgang verhaftet.“

„Ah – dann freilich,“ sagte Marie auffahrend, „muß ich für ihn zeugen, muß ihn retten. So rasch wie möglich! Was soll ich thun?“

„Fühlen Sie sich kräftig genug, schreiben zu können?“

„Sicherlich, wenn es sein muß. Holen Sie alles dazu Nöthige dort vom Schreibtisch herbei,“ antwortete Marie, indem sie zugleich klingelte und der eintretenden Anna befahl, etwas zu bringen, worauf sie schreiben könne. Anna legte ein großes Notenheft vor sie hin auf die Decke des Ruhebettes, und Marie sagte:

„Was soll ich schreiben – dictiren Sie mir, Herr von Mureck.“

Raban dictirte:

„Von den vor Jahren aus dem Gute Arholt bei H. gefundenen Goldmünzen aragonesischen Gepräges, welche dem dreizehnten Jahrhundert angehörig, sind sechs verkauft und später in das kaiserliche Cabinet dahier übergegangen. Drei dagegen sind im Besitz meiner Familie geblieben und mein Eigenthum geworden, und ich habe dieselben dem Bildhauer Wolfgang Melber dahier zum Geschenk gemacht. Im Augenblick unwohl, bin ich bereit, nach meiner Genesung dies Zeugniß persönlich abzugeben, auch eidlich zu erhärten.“

„So,“ sagte Raban, als Marie mit zitternder Hand dies Schriftstück zu Stande gebracht, „nun Ihre Unterschrift: Marie, Freiin Tholenstein zu Arholt, und dann, falls es zur Hand ist, Ihr Siegel.“

Anna brachte das letztere nebst Siegellack herbei. Endlich war das Schriftstück in aller Form vollendet, und Raban verabschiedete sich, um zu dem seiner sicherlich schon schmerzlich harrenden Vater Wolfgang’s zurückzukehren.

„Ja, eilen Sie,“ sagte Marie, „unterstützen Sie, indem Sie den Herrn Melber zum Gerichte begleiten, das Zeugniß durch Ihre Aussage und Versicherung, daß ich es in Ihrer Gegenwart geschrieben . . .“

„Gewiß, da Sie es wünschen, will ich Herrn Melber begleiten . . .“

„Und dann,“ fuhr Marie fort, „kommen Sie zurück, um mich zu beruhigen, daß dies Zeugniß hingereicht habe, um Wolfgang zu befreien – kommen Sie möglichst bald!“

„Jede Minute, die ich Sie noch besorgt weiß, wird mir schmerzlich sein,“ entgegnete Raban und eilte mit seinem Document davon.

In seiner Wohnung fand er den Graveur bereits vor, ungeduldig im Zimmer auf- und abschreitend. Hocherfreut nahm dieser die Schrift Mariens entgegen und beide fuhren nun zu dem großen und weitläufigen Justizgebäude. Der Graveur, der ja am vorigen Tage hier gewesen, wußte bereits, welche Wege hier einzuschlagen seien, und nach einigen vergeblich durchmessenen Corridoren, vergeblich an Unterbeamte gestellten Anfragen wurden sie endlich in das Zimmer eines der Untersuchungsrichter geführt, der ihr Anliegen anhörte, das Zeugniß Mariens entgegennahm und es sorgsam durchlas. Er fixirte dann scharf sowohl den Graveur wie Raban, prüfte des letzteren Paßkarte, die Raban zum Glücke in seiner Brusttasche bei sich trug, und sagte endlich:

„Sie sind also bereit, eidlich zu bezeugen, daß diese Erklärung in Ihrer Gegenwart von einer Ihnen persönlich als solche bekannten Marie, Freiin Tholenstein zu Arholt geschrieben und unterschrieben worden ist?“

Auf Raban’s Versicherung, daß er jeden Augenblick dazu bereit sei, begann der Richter den Vorgang zu protokolliren, ließ dann das, was er geschrieben, von Raban unterzeichnen und entließ die beiden Herren mit der Versicherung, daß er Wolfgang Melber’s Freilassung, der nun nichts mehr im Wege stehe, im Laufe der nächsten halben Stunde veranlassen wolle.

Raban wünschte, während sie sich nun entfernten, dem Graveur Glück zu der raschen und ohne Schwierigkeiten gelungenen Befreinng seines Sohnes, der nun von allem Verdacht gereinigt dastand. Er selbst wollte nun zu Marien zurückeilen, um ihr diesen Ausgang zu melden. Heinrich Melber aber bat ihn inständig, noch mit ihm während der halben Stunde zu warten, bis Wolfgang wirklich entlassen werde, damit dieser selbst ihm für den großen Dienst, den er ihm geleistet, danken könne. So schritten sie in der Nähe des Gebäudes, in welchem sich die Gefängnisse und Haftzellen befanden, auf und nieder – bis sie endlich, ehe noch die halbe Stunde verflossen, Wolfgang aus dem Portal hervortreten und ihnen entgegenschreiteu sahen. Er drückte Beiden mit einem erzwungenen Lächeln die Hand – und dankte nach seines Vaters Erzählung, wie Raban sich für ihn gemüht, diesem ohne viel Lebhaftigkeit mit kurzen Worten.

„Das war brav von Ihnen,“ schloß er, „und,“ fügte er mit erzwungener Scherzhaftigkeit hinzu, „Sie können fest und sicher auf meine Gegendienste bauen, falls Sie deren einmal bedürfen sollten. Man muß ja auch so etwas im Leben durchmachen; man ist dann immer um eine Erfahrung reicher. Für die zwei Tage, welche man mir von meiner Arbeitszeit geraubt hat, hätte man mir übrigens billiger Weise eine Entschädigung zahlen müssen! An so etwas aber denken sie da oben nicht. Man muß schon zufrieden sein, daß man nicht noch eine Logisrechnung ausgestellt bekommt, für Zimmer, Bougies etc.“

Raban wurde unangenehm durch diesen erzwungenen Humor nach solch einem Erlebniß berührt – er eilte nun, fortzukommen und ohne weiteren Aufenthalt Marien Bericht zu bringen.

(Schluß folgt.)

[572]
Ein Brief über die „Clavierseuche“.
Von Eduard Hanslick.

Geehrte Redaction!

Sie wünschen meine Ansicht über jene unbarmherzige moderne Stadtplage zu hören, die es heute glücklich bis zu der ehrenvollen Bezeichnung „Clavierseuche“ gebracht hat. Um Sie nicht etwa in Ihren Erwartungen zu täuschen, erkläre ich vor Allem feierlichst, daß ich dieser Epidemie gegenüber nur Patient bin und nicht Arzt; höchstens ein Doctorand jener Classe, welche, unfehlbar im Erkennen der Krankheit, doch kein Mittel weiß, sie zu heilen. Ja noch mehr: ich halte die herrschende Seuche für unheilbar und glaube, daß wir nur mittelbar, auf weiten ästhetischen und pädagogischen Umwegen dahin gelangen können, ihren verheerenden Fortgang allmählich einzudämmen.

Die Qualen, die wir täglich durch nachbarlich klimpernde Dilettanten oder exercirende Schüler erdulden, sind in allen Farben oft genug geschildert. Ich glaube allen Ernstes, daß unter den hunderterlei Geräuschen und Mißklängen, welche tagüber das Ohr des Großstädters zermartern und vorzeitig abstumpfen, diese musikalische Folter die aufreibendste ist. In irgend eine wichtige Arbeit oder ernste Lectüre vertieft, der Ruhe bedürftig, oder nach geistiger Sammlung ringend, müssen wir wider Willen dem entsetzlichen Clavierspiel neben uns zuhören; mit einer Art gespannter Todesangst warten wir auf den uns wohlbekannten Accord, den das liebe Fraulein jedesmal falsch greift, wir zittern vor dem Laufe, bei welchem der kleine Junge unfehlbar stocken und nun von vorn anfangen wird. In diesem psychologischen Zwang, dem verwünschten Clavierspiel mehr oder minder aufmerksam zu folgen, liegt wohl hauptsächlich die quälende Specialität gerade dieses Geräusches.

Die eben erschienenen Briefe von Berthold Auerbach enthalten hierüber noch eine andere, sehr feine Bemerkung. Auerbach klagt aus seinem Sommeraufenthalt Gernsbach, daß allerlei unruhige Nachbarschaft ihn in der Arbeit wie im Schlafe störe, und fügt bei: „Das Rauschen der Murg und auch des Sturmes (wie heute Nacht) ertrage ich leichter, als das Geräusch, von Menschen erregt. Warum? Unsere Nerven haben auch Verstand. Was wir hindern könnten, ertragen wir schwerer, als das Unabänderliche in der Natur draußen.“

Was wir hindern könnten? Ja, wenn wir das Recht und die Macht besäßen, es zu hindern! Aber darin liegt es eben, daß wir gegen den Tasten-Vampyr nebenan dieses Recht, diese Macht nicht haben, niemals haben können. Er ist, so gut wie wir, Herr im eigenen Hause, Herr am eigenen Clavier. Wann er da spielen darf, wie oft, wie stark, wie gut oder schlecht, das entzieht sich der gesetzlichen Einmischung, und die Polizeigewalt wird uns höchstens jenseit der Grenzlinie schützen können, wo das öffentliche Aergerniß, der Skandal beginnt.

Es sind mir im Moment nur zwei Arten erinnerlich von behördlichem Einschreiten gegen die Belästigung durch Clavierspiel. Die Pariser Polizei hat einzelne Beschwerden dahin entschieden, daß ohne Erlaubniß der Nachbarn nicht vor sieben Uhr früh und nach elf Uhr Nachts musicirt werden darf. Aehnliche Beschränkungen bestehen in manchen deutschen Städten, mehr noch durch Gewohnheitsrecht als gesetzlich. Dadurch ist aber blos unsere Nachtruhe geschützt, nicht die uns gleich wichtige Arbeitsruhe bei Tage. Nur „den heiligen Schlaf zu morden“, wie Macbeth so schön sagt, verwehrt das Gesetz den pianisirenden Unholden, – verwehrt es „im Princip“, denn eine wirklich strenge Handhabung würde alle Hausbälle, alle Privat-Abendconcerte u. dergl. unmöglich machen.

Eine zweite polizeiliche Fürsorge besteht, den Zeitungen zufolge, jetzt in Weimar, wo es gegen zwei Mark Strafe verboten ist, bei offenen Fenstern zu musiciren. Es ist dies eine wohlthätige Verordnung, – beschämend nur durch den Gedanken, daß eine Obrigkeit erst befehlen mußte, was das eigene Anstandsgefühl einem Jeden von selbst dictiren sollte.

Auf diesem Gebiet musikalischer Attentate darf ich mich der schmerzlichsten Erfahrungen rühmen. Es war eine angeblich „ruhige“, etwas enge Gasse, in welcher ich vor einigen Jahren das Glück hatte, ein „clavierfreies“ Haus zu bewohnen. Aber mir gegenüber stürmten aus drei Stockwerken alle bösen Geister zu den stets offenen Fenstern heraus. Während im ersten Stock mehrere musikalische Schwestern von schwachem Gehör und stets verstimmtem Clavier Beethoven, Strauß, Offenbach und Chopin bunt durch einander schüttelten, blutete über ihnen ein junges Opfer musikalischer Dressur stundenlang unter Tonleitern und Uebungen. Am frühesten begann die Sopran-Dame im dritten Stock ihr Tagewerk mit italienischen Arien aus „Lucia“ und der „Nachtwandlerin“. Es schien ihr Appetit zum Frühstück zu machen, wir Anderen verdienten keine Rücksicht und Donizetti war ja längst todt. So ging es des Morgens. Der Abend pflegte im anstoßenden Hause durch vierhändiges Abschlachten altersschwacher Ouvertüren gefeiert zu werden, und wenn gerade Vollmond war, so stöhnte überdies eine Physharmonika ihren Weltschmerz in das liebliche Ensemble. Und niemals, gar niemals kam diesen kunstsinnigen Gemüthern der Gedanke, es könnten ihre musikalischen Orgien uns wehrlose Leute in der Nachbarschaft belästigen. Liegt nicht in diesem rücksichtslosen Musiciren bei offenem Fenster auch eine Barbarei, ähnlich jener der Drehorgelmänner, die sich vor unsere Wohnung postiren? Musikalisches Faustrecht – oben oder unten. Die Weimarische Polizei-Verordnung schützt wenigstens das vis-á-vis des musikalischen Ungeheuers, indem sie diesem die Fenster verschließt. Den Nachbar vermag sie nicht zu retten, welcher durch die dünnen Wände Alles und Jedes mit anhören muß.

In Oesterreich giebt es meines Wissens keinerlei gesetzliche Verordnung gegen nachbarliche Clavierinsulten, soweit diese nicht in das Gebiet des „öffentlichen Aergernisses“ überspringen. Vereinzelte Beschwerden, von denen ich erfuhr, wurden von der Behörde mit dem Bemerken abgewiesen, es bleibe dem Kläger kein anderes Mittel, als die Wohnung zu wechseln. Nun ereignete es sich, daß zur selben Zeit zufällig zwei ganz andere Beschwerden mit glücklicherem Erfolg bis vor Gericht kamen, Beschwerden, die im Zusammenhang mit unserem Thema sehr charakteristisch sind. Die Mutter einiger sittsamer Töchter führte Klage gegen einen ihr gegenüber wohnenden Schneidermeister, weil dessen Gesellen zur Sommerszeit in allerliberalstem Negligé bei offenen Fenstern arbeiteten. Der Klage wurde stattgegeben und den im Gladiatorencostüm befindlichen Schneidergesellen befohlen, ihre Fenster oder sich selbst zu verhängen. Ebenso erfolgreich verlief der zweite Fall: die Beschwerde mehrerer Miethsparteien gegen einen Seifensieder, dessen Laboratorium die Gasse verpestete; – er zog den Kürzeren und mußte das Feld räumen. Man sieht aus diesen zwei Beispielen, wie ganz anders das Auge und die Nase geschützt werden gegen verletzende Nervenreize, als das Ohr, dieser empfindlichste und wehrloseste der Sinne. Juristisch ist das freilich unanfechtbar. Eine Gesetzgebung, die es unternehmen wollte, uns vor dem Clavierspiel der Nachbarn zu schützen, müßte die Musik überhaupt verbieten. Denn im Wesen der Musik liegt es ja, daß man ihr nicht entfliehen kann, daß man sie hören muß, man wolle oder nicht, daß sie mit Einem Wort (es rührt von Kant her) eine „zudringliche Kunst“ ist.

Könnte und wollte man übrigens einige tausend Städter von den Qualen nachbarlichen Clavierspielens befreien, so müßte man eben so vielen Tausenden ihre beste, oft einzige Freude und Erholung rauben, den Fachmusikern oft geradezu ihre Existenz. Ja, das Merkwürdigste ist, daß in sehr vielen, vielleicht in den meisten Fällen, hier Kläger und Geklagter, Selbstspieler und Angeklagter in demselben Individuum zusammenfallen; denn gerade wir, die wir unter den unerbetenen nachbarlichen Klängen am empfindlichsten leiden, sind in der Regel selbst musikalisch und musicirend. Wir fangen selber an, wann der Andere aufhört, und so dreht sich die Klage in ewigem Kreise. Wie man sieht, vermag die Händ des Gesetzes hier nichts auszurichten, oder doch nur ein verschwindend Geringes. Auch wir, die Partei der Defensive, besitzen wenig schützende Mittel; dicke Wände und Geduld sind vielleicht die einzigen.

Viel mehr vermag schon die gegnerische, die offensive Partei für uns zu thun, wenn sie humane Bildung und einiges Mitgefühl mit dem Nebenmenschen besitzt, – heißt es doch, daß Musik die

[573]

Die Ankunft.
Nach einem Oelgemälde von A. Toulmouche.

[574] Sitten mildere und die Herzen veredele. Ueberdies ist anzunehmen, daß die Technik des Instrumentenbaues, die so riesige Fortschritte in der Verstärkung des Tones aufweist, auch noch Fortschritte in der beliebigen Abschwächung desselben machen kann und wird. Die erste Erfindung dieser Art ist mir 1862 in der Londoner Weltausstellung aufgefallen: eine gewöhnliche Militärtrommel, „Practice silent drum“ (stille Uebungstrommel) genannt, welche mittelst beliebiger Abspannung des Felles es ermöglichte, daß ein halb Dutzend Tambours sich in ihrer Kunst üben konnten, ohne die Nachbarschaft im Mindesten zu belästigen. Dieselbe Idee, auf das Clavier übertragen, tritt mir so eben in einer Annonce des Hamburger Pianofortefabrikanten E. Dührkopp entgegen; sein neu erfundener „Ton-Moderateur“ setzt den Spieler in den Stand, den Ton jedes Claviers beliebig abzudämpfen, „auf Wunsch bis zur Tonlosigkeit“. Ich weiß nicht, ob die neue Erfindung, die mir nicht zu Gesicht gekommen, ihren Zweck erreicht; die Idee selbst ist gut und ermöglicht wenigstens einen Schritt zum Besseren: daß man leise spielen kann.

Wer aber darf dem Nachbar befehlen, daß er leise spielen muß? Wer zwingt uns zum „Ton-Moderateur“? Die Macht eines Regiments-Commandanten, welcher seinen Tambours die „stille Uebungstrommel“ umhängt, sie erstreckt sich nicht über unsere claviertrommelnden Civilisten.

Die Klage über Belästigung durch nachbarlichen Clavierlärm ist keineswegs so alt, wie das Clavier selbst. Dieses war zur Zeit Haydn’s und Mozart’s ein schwächlicher, dünner Kasten mit zartem Ton, kaum bis in’s Vorzimmer hörbar. Die Klage entstand erst nach und nach mit dem immer stärker werdenden Ton und größeren Umfang des Pianofortes; sie ist zum Wehgeschrei, die Belästigung zur Landplage geworden seit den 30 bis 40 Jahren, da alles Streben der Clavierfabrikanten dahin zielte und noch immer dahin zielt, die Schallkraft dieses Instruments zu verstärken. Vor 100 Jahren war das Clavier nicht viel mehr als ein vergrößertes Hackbret (Cymbel), heute ist es ein verkleinertes Orchester. Der Klangfülle und schleudernden Kraft der heutigen Pianoforte entspricht der gewaltige Umfang und das durch die starke Eisen- und Metallarmatur bedingte colossale Gewicht derselben. Wie anders vor hundert Jahren! Der berühmte Wiener Clavierfabrikant J. B. Streicher hat mir oft erzählt, daß sein Großvater mütterlicherseits, Andreas Stein, als junger Mann sein Clavier oft stundenweit unter dem Arme getragen, wenn er in den benachbarten Ortschaften Sonntags zum Tanz aufspielen sollte. Und von Georg Benda, dem einst hochbeliebten Gothaer Operncomponisten, weiß man, daß er einmal spät Abends eigenhändig sein Clavier über die Straße trug, um seinem bereits zu Bette liegenden Textdichter eine eben componirte Arie in unabgekühlter Begeisterung vorzuspielen. Damals gab es Claviere genug, aber noch keine „Clavierseuche“. Erst in unseren Tagen gewann dieses Instrument offensive Kraft und leider auch offensiven Charakter. Mit dieser Qualität steigert sich auch fortwährend die Quantität der Clavierfabrikation; kaum giebt es in den Großstädten ein Haus, in welchem nicht ein bis zwei Pianos, auch mehr, zu finden wären.

Nothgedrungen sind wir bei dem wenig tröstlichen Resultate angelangt, daß die „Clavierseuche“ durch äußere Maßregeln nicht zu heilen oder zu vertreiben ist, daß wir vielmehr gut thun, sie wie manches andere unabwendbare Uebel unserer Civilisation mit möglichster Resignation zu tragen.

Nur mittelbar, so bemerkte ich gleich Eingangs, wird eine allmähliche Besserung dieser Zustände sich anbahnen lassen, nur mittelbar und auf weitem Umwege. Er besteht darin, daß wir in den heranwachsenden Generationen weniger Clavierspieler aufkommen lassen. Diejenigen, die heute bereits Clavier spielen – worunter wohl fünfzig Stümper auf Einen Künstler kommen – vermögen wir am Ausüben ihrer Fertigkeit nicht zu hindern; wir können aber – Jeder in seinem Kreise – dahin wirken, daß künftig nicht mehr so Viele Clavier spielen lernen. Nur dann wird weniger und wird besser gespielt werden. Es ist dies, meine ich, eine wichtige Angelegenheit, von einer weit über das Musikalische hinausreichenden Tragweite. Daß der Cultus der Musik, insbesondere des Clavierspiels, heutzutage übertrieben wird, auf Kosten höherer und dringenderer Interessen, gehört zu den nicht mehr bestrittenen Wahrheiten. Der pädagogische Werth des Musikunterrichts, den ich gewiß nicht verkenne, wird heute ohne Frage überschätzt und einseitig im Technischen gesucht. Jedes Kind zum Clavierlernen zu zwingen, es stundenlang an’s Piano zu schmieden, gleichviel ob es Lust und Talent dazu hat, ist ein Unsinn, eine Versündigung. Der unverhältnißmäßige Zeitaufwand, den unsere Jugend dem Clavierspiele opfert, wird zum Raube an der ernsteren wissenschaftlichen Ausbildung.

Wir sehen den Unterricht im Zeichnen auffallend vernachlässigt gegen das Musiciren, und in diesem wieder den Gesang vernachlässigt durch das Alles verdrängende Clavierspiel. Was Jeder lernen und können soll, ist: in einem Chor mitzusingen. Wie spärlich wird gerade dafür bei uns gesorgt![1] Ein hochgeachteter französischer Autor, Mr. de Laprade, macht in einer gegen das Ueberwuchern der Musik in Frankreich gerichteten Schrift unter Anderem folgende gute Bemerkung: „Die Opfer des Claviers sind nicht blos die Zuhörer der klimpernden Schüler, sondern diese Schüler selbst, vor Allem die zahllosen jungen Mädchen, welche ihre Nerven abnützen und so viel kostbare Zeit verlieren, um doch so selten gute Pianistinnen zu werden.“ Wie schön, wie werthvoll ist es, eine gute Pianistin in der Familie zu besitzen! Aber dieser glückliche Phönix findet sich äußerst selten. Möchte doch die Statistik folgende Aufgabe lösen: wie viele Millionen Stunden werden jetzt auf das Clavierspiel verwendet und wie viele Stunden wahrer, genußreicher Musik bringen sie zuwege? In der That, diese Menge dem Clavier gewidmeter Stunden sollte nur durch eine entschiedene, gebieterische Begabung gerechtfertigt werden.

Ist das Ueberhandnehmen des dilettantischen Clavierspiels, das obligate Zwangspiano in den Familien zu beklagen, so zeigt sich heute noch bedenklicher die maßlose, anschwellende Concurrenz der Pianisten von Fach, welche als Virtuosen oder als Lehrer das Clavierspiel zu ihrem Lebensberufe erwählen. Davon sollte allerorten so dringend als möglich abgemahnt werden. In erster Linie, glaube ich, wären die Conservatorien verpflichtet, dem Andrange von Clavierschülern entgegenzuwirken, aber gerade sie befördern im Gegentheil die massenhafte Drillung von Pianisten und dadurch das Anwachsen eines bedauernswerten musikalischen Proletariats. Die Musikconservatorien haben den Beruf, für die Ausbildung und den Nachwuchs von Orchestermusikern zu sorgen. Ehedem hielten sie auch fest an dieser Tendenz, gönnten dem Clavierspiele höchstens eine untergeordnete Stelle und überließen es in der Regel dem Privatunterrichte. Heute droht dieses Verhältniß sich umzukehren; die Zahl der Clavierschüler übersteigt in den meisten Conservatorien die der Geiger oder Bläser. Greifen wir die nächstbesten Jahresberichte des Wiener Conservatoriums heraus. Dasselbe war im Schuljahre 1875 besucht von 316 Clavierzöglingen, worunter 254 Mädchen; im Jahre 1876 von 448 Clavierschülern, worunter über 300 Mädchen; im Jahre 1880 hatte es an 400 zahlende Clavierschüler, davon 350 Mädchen! Als Beweis, daß dies nicht etwa so sein muß, oder allerwärts so ist, führe ich das Pariser Conservatorium an, das seine Aufgabe richtiger auffaßt. Im Jahre 1876 hatten sich daselbst 32 männliche und 160 weibliche Aspiranten zur Aufnahme in die Clavierclassen gemeldet; von Ersteren wurden nur sechs, von Letzteren nur elf angenommen. Im folgenden Jahre 1877 betrug die Zahl der für die Clavierclasse concurrirenden Herren 47, die der Damen 177; es fanden von jenen nur sieben, von diesen nur vierzehn die gewünschte Aufnahme. Das Pariser Conservatorium nimmt also in der Regel von hundert sich bewerbenden Pianisten kaum zehn auf; nur die allertalentvollsten, deren hervorragende Befähigung doch einige Gewähr leistet für ihre künstlerische Carriere. Das ist der richtige Standpunkt. Der absolvirte Geiger oder Bläser findet leicht sein festes Unterkommen bei einem der zahlreichen Theater-, Concert- oder Ballorchester; für den Pianisten existiren dergleichen sichere Asyle nicht. In Wien hat nach je drei bis vier Jahren stets ein neuer Schwarm [575] junger Pianisten und Pianistinnen mit guten Zeugnissen das Conservatorium verlassen; er überschwemmt zuerst erfolglos concertirend die kleinen Städte und Bade-Orte, um sich dann kümmerlich mit Lectionen fortzufristen.

Dem Leser wird bei obigen Zahlengruppen das unverhältnißmäßige Uebergewicht der weiblichen Pianisten aufgefallen sein. Ein schlimmes gesellschaftliches Symptom! In der That gebührt den Clavierspielerinnen eine eigene Strophe, und nicht die heiterste, in unserem heutigen Klageliede. Seit Jahren als ständiger Musikreferent an der Wiener „Neuen freien Presse“ thätig, kann ich in langem Rückblicke das stetige Anwachsen der weiblichen Concertgeber messen. Es geht mit der Claviervirtuosität in Deutschland jetzt ungefähr so, wie in England mit der Romanschriftstellerei – beide sind fast gänzlich in den Händen der Damen. Wenn wir englische Buchhändleranzeigen durchsehen, so kommt etwa auf ein Dutzend Romane von weiblichen Autoren einer von männlicher Herkunft; eine Heerschau über unsere Concertzettel ergiebt ungefähr dasselbe Verhältniß zwischen Pianisten und Pianistinnen. Ja, in mancher Saison verschwinden bereits die Claviervirtuosen völlig gegen die Uebermacht ihrer „tastenden“ Schwestern. Daß die jetzt überall etablirte Fräuleinherrschaft auf dem Clavier weder dem Fräulein noch dem Clavier zu großem Vortheil ausschlägt, wird jeder Kundige zugeben. Die Analogie mit den Romanschriftstellerinnen hört auch bezüglich der Qualität nicht ganz auf: wir haben viele tüchtige Pianistinnen, einige vorzügliche, nur hier und da erreicht einmal eine die Höhe ausgebildeter männlicher Kunst. Dies bleibt eine Ausnahme, welche die Regel nur bestätigt, die Regel, daß die Frauen durch ihre zartere physische wie geistige Organisation auf ein engeres Kunstgebiet, meistens das der Klein- und Feinmalerei beschränkt bleiben und selbst in ihrer glänzendsten Repräsentation ein Letztes, Entscheidendes in der Kunst vermissen lassen. Von den praktischen, socialen Nachtheilen des überhandnehmenden Virtuosenthums junger Damen möchte ich am liebsten ganz schweigen. Wer fühlt nicht das innigste Mitleid mit all diesen jungen Mädchen, die das Pianospielen zum Lebenszwecke erwählen und auf das bischen Virtuosität eine Existenz gründen wollen! Nur zu sicher kommt die Reue darüber, so unendlich viel Fleiß und Mühe auf eine Kunstfertigkeit verwendet zu haben, die als öffentliche Production sich nicht mehr lohnt, die ja kaum noch interessirt.

Vor Kurzem sprach Dr. Otto Gumprecht in Berlin in gleichem Sinne sehr eindringliche Worte, die gerade für den Leserkreis der „Gartenlaube“ nicht verloren gehen sollen.

„Der massenhafte Andrang des weiblichen Geschlechts zum Virtuosenthum,“ schreibt Gumprecht, „ist eine böse Krankheitserscheinung der Zeit. Alle Väter und Mütter sollten sich zwei- oder dreimal besinnen, bevor sie den höchst verantwortlichen Entschluß fassen, ihre Töchter zu Künstlerinnen oder auch nur zu Musiklehrerinnen zu erziehen. Die Frage, von deren Beantwortung hier Alles abhängt, die nach dem Talent, kommt dabei gewöhnlich gar nicht in Betracht. Köchinnen, Näherinnen, Verkäuferinnen sind ungleich nützlichere und fröhlichere Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, als jene bedauernswerten Geschöpfe, die ohne jeden inneren Beruf zu Pianistinnen gedrillt werden, um ihr Lebenlang nur sich und Anderen zur Last zu sein. Gerade das Clavier leistet mit seinen von Haus aus fertigen, von aller Unreinheit bewahrten Tönen der leidigen musikalischen Massendressur den verhängnisvollsten Vorschub. Genug des Unfugs wird auf den Tasten jahraus jahrein in den Familien und in den Salons getrieben. Zu verhindern, daß er sich nicht auch in der Oeffentlichkeit breitmache, ist eine gebieterische Pflicht der Tageskritik. Die Sache hat wirklich ihre sehr ernste Seite. Wie viel Zeit und Kraft wird nicht fort und fort an den Erwerb der danklosesten, unfruchtbarsten Fingerbravour verschwendet! Selbst dem Talente ist heutigen Tages die Claviervirtuosen-Laufbahn mit Dornen besäet. Von ihr gilt Wort für Wort, was Goethe einst von der dichterischen Production gesagt: ,Das ganze Unheil entsteht daher, daß die poetische Cultur in Deutschland sich so sehr verbreitet hat, daß Niemand mehr einen schlechten Vers macht. Die jungen Dichter, die mir ihre Werke senden, sind nicht geringer als ihre Vorgänger, und da sie nun jene so hoch gepriesen sehen, so begreifen sie nicht, warum man sie nicht auch preiset. Und doch darf man zu ihrer Aufmunterung nichts thun, eben weil es solcher Talente jetzt zu Hunderten giebt und man das Ueberflüssige nicht befördern soll, während noch so viel Nützliches zu thun ist. Der Welt kann nur mit dem Außerordentlichen gedient sein.‘“

Nur wenn einflußreiche Stimmen, wie die eben gehörte, nicht müde werden zu warnen, – wenn unsere Conservatorien der Ueberproduction an Pianisten und Pianistinnen entgegenwirken, anstatt sie leichtsinnig noch zu befördern, – wenn endlich Jeder von uns im eigenen Kreise seine Kraft dagegen einsetzt, dann und nur dann ist es zu hoffen erlaubt, daß die Geißel, die man schauerlich genug „Clavierseuche“ nennt, allmählich mildere Formen annehmen und künftighin weniger Opfer, auf der spielenden wie auf der hörenden Seite, fordern werde.




Eine „monumentale“ Geschichte.
Launiges aus der Zeit der schweren Noth.

Es war gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, der Corse begann Europa seine Gesetze zu dictiren. Die Heere der „siegreichen Republik“ hielten das linke Rheinufer besetzt und französische Behörden nisteten sich allerorten ein.

Es brach eine schwere Zeit an für deutsche Herzen!

Auch die alte Selbstständigkeit der „freien Haupt- und Kronstadt Aachen des heiligen römischen Reichs“ wurde zu Scherben vor dem gewaltthätigen Eroberer. Französische Generäle waren die Gebieter der Stadt.

Der ganze Apparat gallischer Volksbeglückung wurde sofort in Scene gesetzt – Wohlfahrtsausschuß, Jacobinerclub und Freiheitsbaum. Die neuen Gewalthaber räumten gründlich auf in dem Wesen der ehrwürdigen Stadt. Auch die alte Gerichtsordnung wurde umgestoßen und mit ihr deren äußere Zeichen – das peinliche Hochgericht vor dem Königsthor und der Pranger oder die Strafsäule, das Gerichtszeichen des Rathes.

Diese Schandsäule, im Volksmunde Kaaks, auch Kaatsch genannt, erhob sich, ein schwarzer Granitsäulenstumpf, über vier breiten Stufen von gleichem Material, auf dem hinter dem Rathhause gelegenen Gerichtshofe, wo das öffentliche Sendgericht zu tagen pflegte.

Unter Vorantritt des Wohlfahrtsausschusses, sowie der unentbehrlichen „Jungfrauen“ mit Phrygischer Mütze, zog die Menge, durch glühende Reden begeistert, dorthin, und unter dem unermeßlichen Jubel der Anwesenden wurde das unliebsame Zeichen der strengen Herrschaft des Rathes umgestürzt.

Der Säulenstumpf, sowie die Stufen wurden von den bei solchen Gelegenheiten stets vorhandenen arbeitslustigen Händen in das „Grashaus“ geschleppt. Der eiserne Halsring der Säule ging wohl bei diesem Transport verloren und so lag sie bald, ihres früheren Charakters gänzlich entkleidet, unter anderem städtischen Baumaterial, welches dort aufgestaut war. Draußen auf dem Platze aber erhob sich an ihrer Stelle der blumengeschmückte Freiheitsbaum, und um denselben begann die obligate Feier.

Andere Zeiten zogen herauf. Aus dem ersten Consul war der stolze Imperator geworden, und wenn Aachen in den ersten Jahren auch materiell mächtig aufblühte, so ruhte die Fremdherrschaft doch schwer auf der stolzen Stadt, welche, ihrer früheren politischen Bedeutsamkeit beraubt, als einfache Departementsstadt den Präfectenzügel unwillig ertrug, und den alteingesessenen Bürgern brannte die Fremdherrschaft in der Seele. Vergebens bemühten sich die Präfecten in späterer Zeit die Gemüther für die Napoleoniden zu gewinnen, wenn sie auch Alles aufboten, um in den jeweilig in Aachen weilenden Mitgliedern des Kaiserhauses den Glauben, daß die Volksliebe mit ihnen sei, zu erwecken. …

Ein ganz besonderes Gefallen hatte Napoleon’s Lieblingsschwester, die schöne Pauline Borghese, an Aachen gefunden und weilte gern in der leichtlebigen Badestadt, in welcher zu jener Zeit außerordentlich viel „Welt“ zusammenzuströmen pflegte. Hohes Spiel, vornehmer Cercle und reizende Umgebung waren für sie die mit den berühmten Bädern gleich anziehenden Reize des [576] Orts. Ihr Lieblingsaufenthalt war das noch jetzt nach ihr benannte Paulinen-Wäldchen, welches, im Nordwesten der Stadt auf den zur Wurm abfallende Höhen gelegen, einen weiten Blick in die wirklich entzückende Landschaft gewährte und mit seinen lauschigen Eichen- und Buchenhallen zur Rast in sommerlicher Zeit einlud. Gern ließ sie dort ihren Wagen halten und stieg aus, um, an den Waldrand gelagert, das bunte Farbenbild zu ihren Füßen, das wellige, von Soers und Wurm durchschlängelte Feld, die thurmreiche Stadt, umgrenzt von waldreichen Höhen, zu betrachten. Es ging ja überhaupt ein warmer Zug für die Natur durch jene widerspruchsvolle Zeit.

In’s Studium vertieft.
Nach dem Oelgemälde von M. Lebling.

Im Jahre 1809, als Pauline wieder einen Sommer in Aachen zubrachte, war der aalglatte, gewandte Ladoucette Präfect des Roerdepartements, und ihm gelang es, wie keinem Anderen, die einflußreiche Frau in Aachen zu fesseln. Nicht das unwirksamste Mittel dazu war sein Geschick, in der heiteren, leichtgläubigen Prinzessin den Wahn zu erwecken, als werde sie ganz besonders hier im Lande geliebt und verehrt, und sein erfinderischer Geist war in dieser Richtung rastlos thätig.

Potemkin zeigte ja einst seiner durch die verarmte Gaue Rußlands reisenden Kaiserin blühende Dörfer und in diesen Dörfern ein Feste feierndes „glückliches Landvolk“ – aber die Dörfer waren bekanntlich von Pappe und das „glückliche Landvolk“ von Ort zu Ort versetzte Schauspieler –. Herr Ladoucette bildete sich nach gutem Muster …

Wenn die Prinzessin in ihrem lieben Wäldchen weilte, dann kamen wohl oft festtäglich geschmückte Kinder aus den umliegenden Dörfern und Gehöften und brachten Waldblumenbouquets, auch Erdbeeren in zierliche Binsenkörbchen, oder ein paar niedliche Bauernmädchen erschienen, um unter Blumenspenden die „angebetete“ Fürstin glückwünschend zu begrüßen – lauter Ladoucette’sche Puppen à la Potemkin.

Aber die „liebe Prinzessin“ freute sich so sehr darüber – etwas Sentimentalität geht ja so oft Hand in Hand mit etwas viel Leichtsinn – und sie sprach dem Präfecten ihr Entzücken aus, daß ihr dies Plätzchen doch so lieb sei vor allen. Das rief in dem gewandten Höfling einen Gedanken wach – Stimmungen von Damen sind oft nicht von langer Dauer –, die Paulinen-Wäldchenlaune war heute bei der Gnädigen so recht in Blüthe – das mußte ausgenutzt werden!

Wie wär’s, wenn an dieser Stelle, wo die Prinzessin so gern weilte, sich über Nacht ein Etwas hinzaubern ließe, was neuen Reiz in sich schlösse? Doch was? Und schnell muß so etwas geschehen! Wo etwas zweckentsprechendes Fertiges finden? – Herr Ladoucette lächelt – er hat’s gefunden! Bei einer neulichen Revision der städtischen Bauten hat der Herr Präfect im „Grashause“ eine wohlerhaltene schwarze Granitsäule liegen sehen – wenn man die herbrächte? Etwas Politur, etwas Inschrift darauf und dann den Glauben erweckt, das „treue Volk“ habe der „verehrten“ Prinzessin diese Aufmerksamkeit bereitet – das wird Effect machen bei der erregbaren Napoleonidin – gewiß –! Charmante Idee! – – Im „Grashause“ arbeiten in der folgenden Nacht bei Laternenschein die Steinmetze, da wird gehämmert und geglättet, Wagen werden beladen und rollen dumpf über das Pflaster. Durch das Sandkantthor, welches dem vorgezeigten Passirscheine des Präfecten sich öffnet, ziehen die Fuhren in nordwestlicher Richtung davon.

Seltsam, wie nächsten Tags (durch den Präfecten geschickt dirigirt) bei dem ganzen Hofe der Prinzessin die „Wäldchen“-schwärmerei grassirt! Die Kammerfrauen, die Friseuse, die Hofdamen – Alle finden es entsetzlich schwül in der Stadt – welch kostbar erfrischende Luft war doch gestern da oben! Bei Tafel fächelt der ganze weibliche Hof – der Präfect weht sich Kühlung mit dem Taschentuch – eine Ausfahrt, Waldschatten – Hoheit stimmen zu – en route! – – – Sind da Feenhände thätig gewesen? Haben die Heinzelmännchen gearbeitet?

Auf der Prinzessin Lieblingsplatz erhebt sich eine einfache schwarze Granitsäule, sie trägt in goldenen Lettern die Inschrift:

„A la vertu de la princesse“.

Laubgewinde umgeben den Stein, und eben kommen ein paar von den „niedlichen“ Kleinen aus dem Walde gehuscht und streuen Blüthen von Buschrosen und Anemonen auf den Sockel – entzückend!

[577] Pauline, ganz beglückt, beschenkt das kleine Völkchen – und höher färbt der Freude Glanz ihr Antlitz, als Ladoucette, anscheinend nicht für der Fürstin Ohr berechnet, etwas flüstert, was so klingt wie: „Wirklich brav von den Leuten, guter Sinn im Volk!“

Also von ihrem lieben Landvolke rührt die Ueberraschung her – das setzt der Freude die Krone auf! Die Prinzessin ist aus dem Wagen gestiegen und nähert sich dem Denkmal, um die Inschrift noch genauer lesen zu können – à la vertu –!

Aber was sind das für ungezogene Burschen, die da unweit am Waldrande stehen und kichern, als ob etwas außerordentlich Spaßhaftes hier vorgehe; – und da kommen neue Spaziergänger, ältere Bürger, von Aachen her; mürrisch ziehen sie den Hut und wollen vorbei gehen. Aber kaum haben sie das Denkmal gesehen – da schallt aus ihrem Munde ein Lachen – ein so wenig respectvolles, urwüchsiges deutsches Lachen, wie es Pauline vielleicht noch nicht gehört hat, und es klingt der Ruf des einen alten Herrn: „Ma Göddet, dat es ja der Kaatsch!“

Es muß ein Bild von unbeschreiblicher Komik gewesen sein, dieser nun folgende Uebergang „vom Erhabenen zum Lächerlichen“. Pauline fordert mit der den Napoleoniden eigenen Heftigkeit Aufklärung – der Hof ist consternirt – der Präfect möchte vor Scham und Wuth in die Erde sinken, da er sofort den Zusammenhang erräth. Das eitle Weib muß nun die Schmach erfahren, daß die ihrer „Tugend“ gewidmete Säule der alte Aachener – Pranger ist, der echte, nur aufpolirte und „à la vertu“ frisirte Original-„Kaatsch“, an welchem die Hefe des Volkes – Landstreicher und Diebesgesindel – seit grauer Zeit, an den Halsring geschmiedet und der Verachtung preisgegeben, seine Strafe verbüßt hatte.

So enthüllte sich die ganze „Volksliebe“ als – Präfectenschwindel, und mit Hohnlachen begrüßten die deutschgesinnten Bürger der alten Kaiserstadt diesen Streich der Vergeltung, welchen sich die französischen Eindringlinge selber gespielt.

D.


Die Hamburger Ausstellung der Walfischjägerei.

Mit Illustrationen von Hans Petersen.

Im Laufe dieses Sommers wurde in Hamburg eine Ausstellung eröffnet, die wohl zu den seltensten gehört, welche jemals auf deutschem Boden veranstaltet wurden. Sie war ausschließlich dem Walfichfange gewidmet. Allerlei Geräthe, welche in den weiten Walgründen der Polarmeere gebraucht werden, ausgestopfte Thiere und Vögel jener Gegenden, seltsam geformte Knochen von Walen aller Art sollten dem Beschauer ein getreues Bild jener oft beschriebenen interessanten Jagd bieten. Vor allem aber fielen in dieser Ausstellung drei Riesengerippe nordischer Wale auf, die selbst in unserer an wissenschaftlichen Sammlungen so reichen Zeit als große Seltenheit bezeichnet werden müssen.

Bei der früheren Art des Walfischfanges war es außerordentlich schwierig, vollständige Skelete dieser größten aller Säugethiere zu erhalten. Der Fang wurde ausschließlich auf hoher See betrieben, die Thiere wurden harpunirt und zu Tode gejagt, um dann ziemlich oberflächlich abgespeckt zu werden. Den mächtigen Cadaver mit den kolossalen Fleischmassen ließ man einfach in den Wellen treiben, Raubfischen und Delphinen zum Fraß. Man schnitt höchstens vom frisch erlegten Thiere etwas von dem tief dunkelrothen Fleische aus, das im Geschmack dem Ochsenfleische nicht unähnlich ist, aber bis zum Skelete drang man mit dem Messer niemals durch.

Granat-Kanone für den Walfischfang.

Trieb im hohen Norden dann einmal ein todter Fisch an die Küste, den armen Strandbewohnern ein kostbares Geschenk, so wurde derselbe sofort in Stücke zerlegt und der Thran ausgekocht; um die Knochen kümmerte sich Niemand, höchstens nahmen fremde Schiffe einzelne Theile derselben, der Eigenthümlichkeit und ihres Riesenumfangs wegen, mit in ihre Heimath. Zu einem vollen Skelet brachte es kein Museum. – Wie aber die primitiven Werkzeuge und Geräthe, mit denen man vor Zeiten dem Boden die Producte abrang, durch sinnreich erdachte Maschinen und andere Hülfsmittel ersetzt wurden, so ersann man auch neue Fanggeräthe und Apparate für die Ernte im Meere und vervollkommnete die alten, um den Reichthum zu heben, den die See bietet. Diese Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit wurden auch bald von dem Walfischjäger verwerthet.

An Stelle der Segelschiffe traten schnelle, eigens für den Walfischfang ausgerüstete Dampfer. Die Wurfharpune wurde durch eine Kanone ersetzt. Von fast fünf Fuß Länge, aber von verhältnißmäßig nur kleinem Caliber, wird dieselbe auf dem vorderen Theil des Schiffes aufgestellt. Ihr Geschoß besteht aus einem eisernen Stiel, der genau in den Kanonenlauf hineinpaßt, und an dessen mit Widerhaken versehenem Vordertheile eine Granate befestigt ist. Auf große Distanz wird natürlich niemals, und überhaupt nur dann geschossen, wenn ein Treffen des Walfisches sicher ist. Die Granate bohrt sich tief in das weiche Fleisch des Thieres ein und tödtet letzteres gewöhnlich sehr schnell; man hat den todten Wal sofort in der Gewalt, da das Geschoß vom Schiffe aus ein starkes Tau hinter sich herzieht und der Stiel vermittelst der mächtigen Widerhaken sich im Thierkörper festsetzt. – Anstatt das Thier, wie früher, auf hoher See abzuspecken, bringt man es jetzt an die Küste, wo Einrichtungen getroffen sind, dasselbe zu zerlegen und abzufleischen, sowie auf rationelle Art den Thran zu gewinnen. Der mächtige Cadaver aber, den man früher auf See unbenutzt treiben ließ, giebt jetzt dadurch, daß man ihn zur Düngerfabrikation verwendet, einen bedeutenden Gewinn. Durch diese Art des Fanges und namentlich dadurch, daß man die mächtigen Fische auf dem Lande zerlegt, ist man erst im Stande, vollständige und gute Skelete dieser Meeresriesen zu erhalten.

Altes Wirthshausschild aus einem Walfischknochen und ein Narwalschädel.

Dem Naturhistorischen Museum in Hamburg wurden drei solcher Skelete zum Kaufe angeboten, es waren Skelete der nordischen Wale: des Riesenwales, mehr als 75 Fuß lang, dann des Finnfisches, circa 58 Fuß lang, und endlich des Buckelwales, etwa 43 Fuß lang. Durch den eigenthümlichen Umstand aber, daß die reiche Hansastadt bis jetzt keine Räume für ein Museum hat, das auch nur annähernd der Würde der Stadt entspricht, geschweige denn Räume für solche Kolosse, wie es diese Skelete sind, war es dem Museum unmöglich, dieselben zu erwerben. In Anbetracht aber, daß der Bau des neuen, in großartigem Stile projectirten Museums wohl schon im nächsten Frühjahre beginnen wird, entschloß sich die Zoologische Gesellschaft zum Ankaufe dieser werthvollen Stücke und erwarb dieselben für 8000 Mark, um sie später im neuen Museum aufzustellen.

Diese drei Skelete gaben Anlaß zu der gegenwärtigen Ausstellung im zoologischen Garten zu Hamburg. In der schönen Halle des Gartens wurde eine Landschaft im Charakter des gletscherreichen Südgeorgiens bildlich dargestellt und außer den drei Riesengerippen unter Leitung des Directors des Gartens Alles zusammengebracht und aufgestellt, was sich auf den Fang der Wale und Robben bezieht und denselben illustrirt. [578] Die Ausbeute der Polarexpedition, welche im vorigen Jahre von Südgeorgien zurückkehrte, hat dieser Ausstellung noch einen besonderen Reiz verliehen. Von den gewaltigen Dimensionen des größten der Walskelete (siehe die vorstehende Illustration) erhält man erst dann den richtigen Eindruck, wenn man sich in unmittelbarer Nähe vor demselben befindet. Mit schwerem Eisenwerke sind die kolossalen Rippen und Knochenstücke in einander gefügt. Starke Eisenstangen tragen das Gerippe, und zum Aufstellen der mächtigen Kinnknochen bedurfte man schwerer Krähne und Winden. Alle drei Skelete wurden vor der Aufstellung durch schwieriges und umständliches Aussieden vom Thran gereinigt, was in der großen Meyer’schen Thransiederer bei Hamburg geschah, und bei Fachkennern erregt die reine weiße Farbe und die Schönheit der Knochen Aufsehen.

Das Skelet des Riesenwals im zoologischen Garten zu Hamburg.

Neben diesen Skeleten erweckt das schön erhaltene und gearbeitete Exemplar eines männlichen See-Elephanten das größte Interesse. Ein weit hervorstehender dunkler Rüssel überragt das furchtbare Gebiß. Es soll einen prächtigen Anblick gewähren, wenn in den Polargewässern das mächtige Thier zwischen blinkenden Eisblöcken auf der Jagd nach Fischen mit großer Gewandtheit dahinschwimmt. Welchen unbegreiflichen Reichthum an kleinen Fischen und Thieren niedriger Gattung die nordischen Gewässer besitzen müssen, wird uns beim Anblicke der Thierkolosse, die in demselben Wasser und von jenen leben, klar; vom See-Elephanten beispielsweise, der doch im Vergleiche zu einem großen Wale nur ein kleines Thier ist, wissen wir, daß er täglich etwa 400 Fische zum Lebensunterhalte braucht.

Originell ist ferner ein auf der Ausstellung vorhandenes, sehr altes Wirthshausschild, welches aus einem Walfischschulterblatte besteht (vergl. die umstehende Illustration). Das Wirthshaus, vor welchem dieses Schild einstmals hing, hieß „Zum Schulterblatt“ und mag namentlich von Walfischfängern frequentirt worden sein.

Schließlich müssen wir noch eine ganz besondere Seltenheit, wie sie in der Welt nicht zum zweiten Male existirt, erwähnen, einen Narwalschädel mit zwei gewaltigen, gleich gut ausgebildeten Stoßzähnen von etwa 10 Fuß Länge (siehe S. 577). Bekanntlich unterscheidet sich der Narwal von allen übrigen Walen durch die eigenthümliche Bildung seines Gebisses. Das Männchen besitzt nämlich zwei Stoßzähne, die wagerecht im Oberkiefer stehen, und von denen der rechtsseitige in der Regel nur schwach entwickelt ist, während der linke eine Länge von zwei bis drei Metern erreicht. Beim Weibchen bleiben diese Zähne fast immer sehr schwach entwickelt. Nun ist aber das in Hamburg ausgestellte Exemplar eigenthümlicher Weise der Schädel eines weiblichen Narwals. Derselbe wurde nach sicheren Nachrichten im Jahre 1684 durch Capitain Dietrich Petersen mit dem Schiffe „Goldener Löwe“ nach Hamburg gebracht und wird jetzt, nach verschiedenen Schicksalen, in dem Hamburger Naturhistorischen Museum aufbewahrt.

Vor Zeiten maß man den Narwalzähnen hohe Wunderkraft bei und hielt sie für die Waffe des fabelhaften Wunderthieres, welches Einhorn genannt wurde und schon in der Bibel erwähnt wird. Da diese „Wunderhörner“ nur selten nach Europa gebracht wurden, so war auch ihr Preis ein sehr hoher.

„Kaiser und Könige,“ sagt Fitzinger, „ließen sich oft mit dem zierlichsten Schnitzwerke versehene Stäbe daraus verfertigen, welche ihnen nachgetragen wurden, und die kostbaren Bischofsstäbe waren aus solchen Zähnen gefertigt. Noch im 16. Jahrhunderte bewahrte man im Baireuther Archive auf der Plassenburg vier Narwalzähne als außerordentliche Seltenheit auf. Einen derselben hatten zwei Markgrafen von Baireuth von Kaiser Karl V. für einen großen Schuldposten angenommen, und für den größten wurde von den Venetianern noch im Jahre 1559 die ungeheuere Summe von 30,000 Zechinen angeboten, ohne daß es ihnen gelungen wäre, in den Besitz desselben zu gelangen. Der dritte wurde als Arzneimittel, jedoch nur für die Angehörigen des Fürstenhauses, verwendet; man hielt ihn für so kostbar, daß immer Abgeordnete beider Fürsten zugegen sein mußten, wenn ein Ring von ihm zum Gebrauche abgeschnitten wurde. Ein Zahn, welcher in der kurfürstlichen Sammlung zu Dresden an einer goldenen Kette hing, wurde auf 100,000 Reichsthaler geschätzt.“

Mit der Ausbreitung der Schifffahrt verloren diese Zähne mehr und mehr im Werthe, und gegenwärtig betrügen, wie Brehm in seinem „Thierleben“ bemerkt, die Holländer blos noch Chinesen und Japanesen mit den früher so gesuchten Hörnern, denn bei uns wird das Stück höchstens mit 20 bis 30 Mark bezahlt.


Brausejahre.

Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)
20.

Nach jener Abfertigung durch die verletzte junge Herzogin hatte Goethe eine unruhige Nacht unter Selbstvorwürfen zugebracht.

Er konnte nicht sagen, wie der Herzog, dem er sogleich Luisens Aeußerungen mitgetheilt: „Das ist ja eine verflucht sensible Närrin!“

Er sagte: „Die Frau hat Recht, und ich begreife meine Verblendung nicht!“

Am andern Tage in aller Morgenfrühe wanderte er, um sich Rath und Trost zu holen, durch den knisternden Schnee am „Stern“ nach Stein’s Hause hinüber.

Er fand die Freundin noch mit Mann und Kindern am Frühstückstische und ward von allen herzlich als Hausfreund empfangen. Karl trug ihm einen Stuhl an den Tisch, der kleine Fritz kletterte auf seinen Schooß, Charlotte reichte ihm die Hand zum Kuß und ließ ihm eine Tasse Chocolade bringen, da er den Kaffee stets verschmähte.

Der Oberstallmeister, welcher sich in seiner Rolle als Graf Altenstein und später in seiner Verkleidung als Oger recht wohl gefallen hatte, rief vergnügt:

„Na, Doctor, schon ausgeschlafen? Wohl geruht auf den Lorberen?“

Charlotte dagegen fand kein lobendes Wort für ihn, und Goethe fühlte, daß sie eine Kritik im Rückhalt habe, die sie ihm für eine ruhige Stunde des Alleinseins spare.

Der Hausherr besorgte die Unterhaltung in seinem Sinn und plauderte nach Herzenslust: „Unsere verehrte Frau Herzogin sah reizend aus in der weißen Toilette, mit dem geschmackvollen Cadeau des Herzogs, dem Türkisen-Collier! Herzog Ferdinand, unser hoher Gast, der sie noch nicht kannte, äußerte sich nach dem Souper vertraulich zu mir: ‚Bester Oberstallmeister,‘ sagte Höchstderselbe, ‚das ist ja eine merveilleuse Person; distinguirt, voll Contenance und Schick.‘ Heute wird die maskirte Schlittenpartie den hohen Gast angemessen unterhalten. Ich habe die Ehre, die Herzogin Mutter zu fahren. Durchlaucht der Herzog fährt die Gräfin Werthern, blauer Schlitten, die Kohlfüchse davor. Herzogin Luise mit Prinz Ferdinand, silberne Muschel mit den neuen Schwarzen. Du hast Dein Costüm doch parat, Frau? Janitscharenmusik voraus, wir alle als Türken hinterdrein, ein ganzer Harem entschleiert, süperbe! In Belvedere nehmen wir eine Chocolade, darauf giebt’s ein kleines Concert. Nach dem Souper Rückfahrt mit Fackeln. Auf Ihr Penchact ist auch Rücksicht genommen, Doctorchen! Excellenz von Witzleben hat die feinste Spürnase [579] für ein kleines Herzensfaible; Sie kommen mit der Schröterin und anderer Jugend in einen viersitzigen Schlitten. Es giebt aber noch tausend Dinge im Stall zu arrangiren,“ fügte er aufstehend hinzu. „Welchen Schlitten bevorzugst Du, Charlotte? Der Oderhofmarschall von Witzleben wird Dich fahren. Es ist der mit dem Schwan für die kleinen Schimmel, der rothe mit der Tigerdecke und der Mohrenkopfschlitten mit dem großen Dunkelbraunen noch zur Verfügung; überlege Dir, was zu Deiner Toilette paßt.“

Er grüßte leicht und eilte, um seine Geschäfte zu besorgen, hinaus.

Der Hauslehrer folgte gleich darauf mit den beiden älteren Knaben. Frau von Stein nahm Fritzchen an die Hand und lud den Freund ein, mit in ihr Zimmer zu kommen. Während Fritz mit seinen Bauhölzern und Soldaten in der einen Fensternische spielte, saß Charlotte mit Goethe gewohnter Weise in der andern.

„Ich sehe es deutlich in Ihren bewegten Mienen, lieber Wolf,“ hob sie teilnehmend an, „es ist etwas geschehen, was Sie quält; reden Sie, berichten Sie mir, was vorgefallen ist, dann will ich auch sagen, was ich für Sie auf dem Herzen habe.“

Aufathmend theilte Goethe der vertrauten Seele sein Mißgeschick mit. Er gestand ihr, daß er wisse, wie sehr er die Herzogin verletzt habe, statt sie – wie er nie anders gewollt und gedacht – in mildester Weise über ihre selbstgewählte trübe Lage aufzuklären und sie wie Lila versöhnt und beglückt in den Kreis der Ihren zurück zu führen. Warm, hinreißend, bilderreich sprach er sich über sein Mißgeschick aus. Und wieder gewann die ruhig lauscheude Freundin einen tiefen Blick in das glühende, nach hohen Zielen ringende Herz des Dichters.

„Du siehst, liebe Seelenführerin,“ fahr er fort, „daß ich wieder einmal Deiner bedarf. Ich gebe ja sollst nichts auf das Gerede der Leute, wenn es mit meinem für recht Erkannten im Widerspruch steht, und packe die Sticheleien geduldig auf, weiß ich doch, daß alles nur Versuche und Vorbereitungen sind. Hier aber, wo es sich um eine Andere handelt, wo ich verletzt statt versöhnt habe, quält mich das Geschehniß auf das Bängste.“

Sie hatte ihn mit keiner Silbe unterbrochen; als er sie nun, wie nach einem Urteilsspruch verlangend, mit fragenden Augen ansah, reichte sie ihm voll Theilnahme die Hand und seufzte: „Armer Freund!“ Daun fuhr sie fort:

„Wenn Ihr Männer nicht gar so sicher gewesen, wenn Ihr zu uns gekommen wäret, Rath zu holen! Vorher war das unter Euch eine geheime Wichtigkeit, eine Selbstgewißheit. Als ich nun aber das Spiel sah, erkannte ich den ungeheuren Mißgriff! Ich wußte ganz genau: das vertrug Luise nicht; das hätte auch ich nicht vertragen! Ich konnte Luisens Gesicht nicht sehen, aber aus der Art, wie sie hastig und zitternd den Fächer bewegte, wie sie sich eifrig und gezwungen in den Pausen unterhielt, erkannte ich ihre tiefe Gemüthserregung. Mit Bedauern fühlte ich, daß auf lange hinaus viel verdorben sei.“

„Wenn ich sie nur allein sprechen, ihr erklären könnte – wirke mir das aus, Charlotte!“

„Das gerade wird die Herzogin ängstlich vermeiden. Es würde auch nichts helfen. Sie ist, zwanzig Jahre alt geworden, in ihrer einmal fest geprägten Eigenart schwer zu ändern. Daß sie Dir gestern Abend ihre Seele einen Augenblick erschlossen hat, schmerzt sie heute vielleicht mehr als alles Uebrige; sie ist ja eine so tief innerliche Natur! Sie lebt ganz einsam in der Welt und findet alle Formen, allen Verkehr zu leicht; sie besitzt keine Freundin und sehnt sich, wie ich glaube, nach keiner, weil sie die Wonne, ihr Herz aufzuthun, nicht kennt.“

„Ja, wenn ich nicht in ihre Seele sähe und so warm für sie fühlte, hätte sie mich schon oft erkältet!“ rief er zustimmend.

„Aber Du kannst uns bei ihr heraushelfen, liebste Lotte; sag, was wir thun können!“ fuhr er erregt fort.

„Versuchen kann ich’s diesen Abend in Belvedere,“ entgegnete Charlotte nachdenklich, „aber mir ahnt, daß es nichts helfen wird.“

Goethe küßte mit dankbarer Innigkeit ihre Hand, klagte, daß er bei der Schlittenfahrt wenig von ihrer lieben Gegenwart genießen werde, und verließ sie, wie immer, mit der Empfindung, daß etwas in ihm in’s Gleiche gerückt sei.

Zu Hause angelangt, hörte er, daß oben der Herzog auf ihn warte, er sprang hinauf und fand Karl August ungeduldig im Zimmer hin- und hergehend.

„Kommst Du endlich!“ rief er ihm entgegen. „Mir läßt diese dumme Geschichte mit Luise keine Ruhe. Ich bin gewiß kein Poltron, aber zu ihr sprechen, sie begütigen, dafür fehlt mir absolut die Courage. Noch vor ihrer Stubenthür würde ich auf der Schwelle Kehrt machen! Ich bin auch gründlich erbost auf sie. Dies Versöhnungsspiel von gestern war das Aeußerste, was ich noch für sie thun konnte! Weist sie die vergünstige Auffasssung meines guten Willens ab, so ist unsere Trennung ihre Schuld. Irgend Jemand kann ihr in meinem Auftrage ein Ultimatum stellen! Entweder oder! Ich werde sie laufen lassen, wenn sie nicht andere Saiten aufzieht; nur soll sie dann nicht mir unser Zerwürfniß in die Schuhe schieben.“

Goethe erzählte ihm, daß er von der Stein komme, deren Vermittelung er in Anspruch genommen und deren Zusage, einen Versuch wagen zu wollen, er empfangen habe.

„Es ist eigentlich viel zu viel Mühe, die man sich um sie giebt,“ brummte der Herzog halblaut. „Uebrigens, wenn die Stein es einmal unterninmt, kannst Du ihr sagen, daß sie auch für mich rede.“

Am Nachmittage fand die Schlittenfahrt, bei hellem Wintersonnenschein, der in bläulichen Lichtern über den Schnee glitzerte, statt.

Voran fuhr die herzogliche Capelle in phantastisch türkischem Ausputz; dann kamen zwei Vorreiter. Zunächst folgte die Herzogin Luise mit dem Gast in der Silbermuschel, Beide in buntem, türkischem Costüm, sie fast undurchsichtig verschleiert; die beiden herzoglichen Mohren standen in reicher Livree hintenauf; darauf kam der Herzog mit seiner Dame, seine Läufer zu beiden Seiten des Schlittens mit schellengeschmückten Stäben, dann die Herzogin Anna Amalie, mit zurückgeworfenem Schleier und einem brillanten-funkelnden Turban, von dem ein Reiherbusch keck ausstrebte. Sie selbst frisch, lachend und oft munter mit dem Oberstallmeister plaudernd.

Hieran schloß sich nun dem Range nach die ganze Hofgesellschaft, in kleineren einspännigen oder mehrsitzigen Schlitten. Die Musik spielte ihre lustigsten Weisen, die Schellen klingelten, die Peitschen knallten, die Zuschauer jauchzten, wo der prächtige Aufzug vorüberkam, und die helle Sonne brach sich mit Regenbogenfarben in dem schillernden Gemisch von frischem Schnee, bunten Stoffen und glänzendem Geschmeide.

So ging es lustig die gerade Kastanienallee zum Belvedereschloß hinauf!

Bald trat das im italienischen Stil ausgeführte zweistöckige Hauptgebäude deutlich hervor, vom tiefblauen, lichtdurchflutheten Frosthimmel sich scharf abhebend.

Zahlreiche Lakaien und Stallbediente unter Führung des Castellans empfingen die vorfahrenden Schlitten und leiteten die Gäste in den Speisesaal, wo eine dampfende Chocolade die Gesellschaft an den Marmorkaminen mit loderndem Holzfeuer versammelte.

Nach einer durch zwanglose Unterhaltung belebten Ruhestunde begann im angrenzenden Gemach die Musik; Corona, sowie die Rudorf, dann Beide zusammen, trugen unter lebhaftem Beifall beliebte Arien vor.

Man brachte Licht und der Tanz fing an. Anna Amalie sagte lachend zur Göchhausen:

„Spring Dich warm, Thusnelda, um für den Rückweg einzuheizen! Wir wollen keine Neige im Glase lassen!“ und eilig trat sie mit Stein zum Contretanze an.

Die Herzogin Luise konnte dem Erbprinzen, dem Vetter ihres Gemahls, den Ehrentanz nicht weigern; auch mit dem Herzoge ging sie zum folgenden Menuett. Sie gab sich Mühe, den Allschein einer zwischen ihnen waltenden Mißstimmung zu vermeiden, und das Ehepaar unterhielt sich in den Pausen über oberflächliche Dinge mit der besten Miene von der Welt. Karl August fühlte dabei aber ganz gethan, wie er mit ihr dran sei; sie waren anderthalb Jahre verheiratet, und wenn im eigenlichen Sinne auch nicht durch Liebe verbunden, doch klar über ihre beiderseitige Charakterrichtung und die Art sich zu geben.

Nach diesem Menuett erklärte die Herzogin gegen ihre Umgeebung, sie scheue wegen der kalten Rückfahrt im offenen Schlitten die Erhitzung und wolle nicht mehr tanzen.

Sogleich fanden sich einige ältere oder ihr besonders ergebene Personen, die sich um sie schaarten; zu diesen gehörte Frau von Stein, der es gelang, den Lehnsessel dicht am Sopha neben der Herzogin einzunehmen.

[580] Goethe sah, während er Corona zum Walzer holte, wie günstig sich seiner Fürsprecherin die Gelegenheit darbot. Er warf der angebeteten Frau einen flammenden Blick hinüber und mußte sich zusammennehmen, um nicht zerstreut zu erscheinen.

Aber auch Charlotte von Stein, so bereitwillig sie jene Aufgabe übernommen, so lebhaft sie gewünscht halte, das Ungeschick der Männer auszugleichen, fühlte sich plötzlich zerstreut, als sie Goethe in seiner türkischen Tracht, prächtig wie ein Pascha, mit der schönen Sängerin zum Tanze gehen sah. Eine Bitterkeit stieg im ihr auf, die ihr empfinden dem Luisens ähnlich machte. Sie bekämpfte jedoch dies Unwillkürliche, das sie völlig zu lähmen drohte, und begann, sich aufraffend, eine oberflächliche Unterhaltung mit der Herzogin. Als die Umsitzenden bemerkten, daß für sie augenblicklich das Ohr der hohen Frau nicht zugänglich sei – man hielt ohnehin Frau von Stein für die nächste Freundin – stand Einer nach dem Andern auf und trat, um dem Tanze zuzusehen, in die offene Flügelthür des Saals.

Diese Wendung der Dinge hatte die Parlamentärin erwartet und kam zur Sache:

„Durchlaucht haben einen Unglücklichen gemacht,“ flüsterte sie, sich der Herzogin zuneigend. „Der Legationsrath Goethe hat mir gestanden, daß er unter Qualen der Reue und des Bedauerns die Nacht schlaflos hingebracht habe und nichts inständiger begehre und von HöchstIhrer Gnade erflehe, als seinen Mißgriff ausgleichen, irgend etwas thun zu dürfen, um Eurer Durchlaucht Vergebung zu erlangen!“

„Geschehenes läßt sich nicht ändern. Ich wüßte nicht, wie hier etwas gut zu machen wäre,“ entgegnete die Herzogin, sich straffer ausrichtend und bleicher werdend.

„Läßt sich auch nichts ungeschehen machen, so ist Begnadigen doch das schönste Vorrecht der Fürsten. Darf ich dem reuigen Dichter, welchen sein Genius auf Irrwege lockte, den Trost der Vergebung im Auftrage meiner Gebieterin spenden?“

„Ich denke, der Herr Legationsrath wird sich gern mit der Gnade meines Gemahls begnügen.“

„Warum soll dies zweierlei sein? Warum trennen Eure Durchlaucht Ihre Getreuen in zwei Heerhausen? Goethe ist HöchstIhnen ebenso ergeben wie Seiner Durchlaucht dem Herzoge. Er beklagt schmerzlich das Vorurtheil, als wirke er ungünstig auf seinen hohen Herrn; er möchte versöhnen, in’s Gleiche rücken, die ihm verehrungswürdigsten Menschen innig verbinden –“

„Stößt aber auf Schwierigkeiten, die“ – Luise schwieg und wandte sich mit schmerzlich zuckender Lippe ab.

„Durchaus nicht, Herzogin! Keineswegs; auch Seine Durchlaucht der Herzog beklagt vorgefallene Störungen, verletzende Berührungen und wünscht nichts lebhafter –“

„Ah, Parlamentärin!“

„Ja, Eure Durchlaucht; nennen wir es so; ich spreche in doppeltem Auftrage, und aus der Fülle meines betrübten Herzens dazu. Seien Sie versöhnlich, seien Sie gnädig und gütig für zwei Herzen, die in Liebe und Verehrung für Sie glühen –“

„Liebe? – Liebe bieten Sie in seinem Auftrage? Weil er die kokette Werthern entbehrt, keinen interessanten Ersatz findet, deshalb, als Lückenbüßer, als Almosen – sein Weib! – Großer Gott, was sage ich? Aber mag’s sein. Meine Liebe kann ebenso wenig aus ihrem Grabe erstehen, wohinein er sie gebettet hat, als seine tiefbetrauerte ‚Liebste‘. Ich bin deshalb nicht wahnsinnig wie Lila, aber ich bin eine Frau, die ein feinempfindendes Herz hat und auf ihre weibliche Würde hält. Ich bin und bleibe sein Weib, sein gehorsames Weib; ich werde ihm nie, was er von mir, von meiner Stellung zu fordern hat, versagen; melden Sie ihm das auch, aber mein Herz, das nicht begehrte, das bleibt ihm für alle Zeit verloren!“

Sie stand rasch auf, trat vor nach dem Salon, gewann in kürzester Frist Beherrschung ihrer bebenden Glieder, ihrer schmerzlich verzogenen Mienen und folgte wenige Minuten später, als der Walzer zu Ende war, dem Erbprinzen von Braunschweig zum Souper.

Kleinere Feste stillten die folgenden Tage. Unterdessen war der Gründonnerstag herangekommen.

„Willst Du übermorgen mit zur Auerhahnjagd nach der Wartburg, Wolfgang?“ fragte der Herzog Karl August Goethe, indem er in dessen Garten trat, wo der Dichter eifrig mit Spaten und Hacke ackerte. Der fleißige Naturfreund stellte seinen Spaten zur Seite, klopfte sich die Erde von den Fingern und blickte aus leuchtenden Augen den Freund herzlich an.

„Sie wissen, mein lieber gnädiger Herr,“ erwiderte er, „das Gründen und Auferbauen ist mehr meine Sache, als das Zerstören. Wenn da im dämmerigen Morgengrauen, im reinen Gottesfrieden der Natur, solch ein prächtiger, großer Vogel seine Liebestöne ausstieße, das ganze Geschöpf eitel Lust und Freudigkeit, würde ich meine Büchse herunter thun und sagen: lebe und genieße! so unwaidmännisch das auch wäre.“



Stelldichein.
Nach einem Oelgemälde von Robert Aßmus.

[581]

Steyr in Oberösterreich.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[582] „Schändlich unwaidmännisch!“ lachte der Herzog, „unpraktisch poetisch, kurz, schade um den edlen Sport, Dich dazu zu laden. Ich habe aber noch ein anderes Reizmittel in petto. Ich gehe nämlich zu dieser Jagd, um eine andere abzusagen. Als persönlicher Ueberbringer einer Jagdeinladung meines geehrten sogenannten Vetters, des Landgrafen Adolf von Hessen-Philippsthal-Barchfeld, war eben da – rathe wer?“

„Nun?“

„Na, ich will Dich nicht quälen! Denke Dir, Christoph Kaufmann, der Wunderthäter, jetzt sogenannter Doctor Kaufmann. ‚Wie, in aller Welt, kommen Sie denn dazu, landgräflicher Briefträger zu werden?‘ fragte ich, höchlich ergötzt den seltsamen Kauz wieder zu sehen. Er schnitt sein allerwürdigstes Gesicht, verdrehte die Augen wie ein fromm gewordener Auerhahn und flüsterte geheimnißvoll: ‚Er sendet mich!‘ - ‚Wer?‘ fragte ich, da ich mich seiner Schnurren im Augenblick nicht erinnerte. ‚Er!‘ wiederholte er mit Emphase. ‚Der Meister!‘ - ‚Den Kukuk auch, Graf Saint Germain?‘ rief ich. ‚Was hat denn der mit den landgräflichen Jagden zu thun?‘ ‚Mit der Jagd gar nichts,‘ erwiderte er gravitätisch, ‚aber die Stunde ist gekommen, in der Du den Strahlenkranz des Sturmsternes betreten mußt.‘ ‚Ah so,‘ sagte ich, ‚das ist ja famos! Ihr wollt Euch meines miserabelen Lichtkernchens erbarmen und das arme Ding in Schwung bringen? Wie war doch die Theorie Ihres interessanten Seelenfeuerwerks?‘ Er aber ließ sich nicht irre machen, sondern predigte mir wieder die ganze Geschichte vor. Ich entgegnete auf seine Einladung, welche mir allerdings zwei sehr heterogene Späße in Aussicht stellte, daß Graf Saint Germain mich aufsuchen könne wo er wolle, daß ich aber vorläufig noch nicht nach seiner Pfeife tanze. Ferner möge er Seiner Liebden, meinem Herrn Vetter, meinen schönen Dank zurücksagen und melden, ich hätte selber etliche Auerhähne in den Eisenacher Forsten zu verhören und könne diesmal nicht seiner Einladung folgen. Nun bin ich da, Dir Deinen Theil an dem Wartburgsritt auzubieten.“

(Fortsetzung folgt.)


Amalie Haizinger.

Sie war die Letzte von jener „alten Garde“, welche den Ruhm des Wiener Burgtheaters begründen und festigen half. Und nun ist auch sie dahingegangen, wenige Tage nach Laube, und die glänzende Vereinigung, die wir ehedem bewunderten, lebt jetzt nur noch im Reiche der Erinnerung. Amalie Haizinger wandelte unter uns als lebendiges Zeugniß dafür, daß die Kunde von dem Zusammenwirken jener seltenen schauspielerischen Begabungen keine bloße Mythe, sondern volle, preisenswerthe Wirklichkeit gewesen, eine Wirklichkeit, die Niemand berührt hat, ohne ihm unvergeßlich zu werden für alle Tage des Daseins. Laube und die Haizinger waren noch die einzig vorhandenen persönlichen Documente für die herrlichste Zeit des Burgtheaters; nach dem Beide von uns geschieden sind, gehört jene ruhmreiche Epoche ganz und gar der Tradition an, und vielleicht in einigen Fällen mag die von der „alten Garde“ auf eine jüngere Künstlergeneration geübte Nachwirkung davon Zeugniß liefern, daß Heinrich Anschütz, Ludwig Löwe, Karl Fichtner, Friedrich Beckmann, Karl La Roche und Julie Rettich im Burgtheater ein leuchtendes Beispiel gegeben, wie die Schauspielkunst geübt werden müsse, um sich den anderen Künsten ebenbürtig an die Seite stellen zu dürfen.

Amalie Haizinger.
† am 11. August 1884.

Wir Wiener, die nicht dem Greisenthum nahe stehen, haben Amalie Haizinger nicht anders gekannt, denn als „komische Alte“, und nicht nur, daß wir sie nicht anders gekannt, wir konnten sie uns kaum anders vorstellen. Für meinen Theil – um ein Beispiel zu nennen – habe ich die Haizinger nie anders gesehen, als wie sie in dem nebenstehenden Portrait wiedergegeben ist: in der Matronenhaube, deren reiche Spitzengarnirung das faltenreiche, aber stets gutmüthig in die Welt blickende Antlitz so angemessen umrahmte. Wie, die behäbig drollige, gutmüthig geschwätzige Frau, die als Amme in „Romeo und Julia“ so erheiternd ängstlich zu rufen verstand: „Wo steckt das Kind nur? Julchen, hörst Du nicht?“ – sie soll selbst einmal die schöne, sinnberückende Julia gewesen sein, welche liebeglühend ihrem Romeo sagte: „Es war die Nachtigall und nicht die Lerche“?

Schier unglaublich will solche Nachricht uns klingen, und doch, wir dürfen sie nicht bezweifeln, sie ist beglaubigt, verbrieft und besiegelt. Ja, die Zeitgenossen von Amalie Haizinger’s Jugend können sich nicht fassen vor Entzücken über den Liebreiz der Künstlerin, wofür wir vollgültige Zeugnisse von Goethe und Heine besitzen.

Sie entging dem Schicksale, den Wienern als gealtert zu gelten, weil sie gleich zu Beginn ihres Wiener Engagements dem jugendlichen Fache entwachsen erschien. Einstens freilich ist sie in Wien als Liebhaberin aufgetreten, aber vor einem Geschlechte, das, seiner Mehrzahl nach, nicht mehr existirt. Vor neunundfünfzig Jahren spielte sie am Burgtheater gastweise die Preciosa in Wolff’s gleichnamigem romantischen Schauspiele. Im Mai 1838 erschien sie wieder als Gast. Sie gab damals Rollen, wie die Schiller’sche Maria Stuart.

Neben ihr zeigten sich ihre Töchter Louise und Adolphine. Letztere, geboren 1819, starb 1844 in der Blüthe ihrer Jahre und ihres Könnens. Louise, geboren 1817, wurde noch vor der Mutter in Wien engagirt und zwar im Frühling 1839; sie gehörte dem Burgtheater bis 1856 an, zu welcher Zeit sie sich mit dem Grafen Karl Schönfeld vermählte. In den Jahren 1839, 1842 und 1845 erschien die Mutter abermals als Gast; dann endlich trat sie als Mitglied in den Verband des Burgtheaters ein, dem sie vom Januar 1846 bis an ihr Lebensende angehörte. Bei Gelegenheit ihres dritten Gastspieles zeigte sie sich bereits in dem Fache, in welchem sie dann ein Liebling jenes Publicums geworden, das ihr das letzte Geleite gegeben. Sie theilte mit Laube das Schicksal, daß eine bedeutsame Hälfte ihrer Wirksamkeit vorüber war, als sie sich in Wien dauernd niederließ: bei Laube der Politiker, bei der Haizinger die reizvolle Liebhaberin. Laube haben wir als Dramaturgen kennen gelernt, die Haizinger als Matrone. Aber wir haben uns gern erzählen lassen, wie Laube sich in der Paulskirche in Frankfurt geberdet und wie die Haizinger als Schönheit gefeiert wurde.

Noch mochte die Haizinger eine stattliche Frau gewesen sein, als sie sich in Wien niederließ, aber ihre angeborene Lebensklugheit veranlaßte sie, sich von Anfang an hier als „Mama Haizinger“ zu gehaben. Ihre Collegen nannten sie „Mama“, und sie liebte es, das ganze Personal des Burgtheaters zu bemuttern. In einem ähnlichen Verhältnisse stand sie zu dem Publicum. Sie hatte seit neun Jahren nicht mehr gespielt, und doch betrachtete man sie als vom Burgtheater unzertrennlich. Sie und La Roche wurden weder pensionirt noch zu Ehrenmitgliedern ernannt; eines wie das andere hätte sie bitter gekränkt. Sie blieben eben engagirte Mitglieder, die sich mit Plänen von baldigem Wiederauftreten trugen, bis der Tod sie abberief. Dem alten La Roche schickte die Direction, um ihm eine harmlose Freude zu bereiten, bis in seine letzten Tage Rollen zum Memoriren; er hat sie natürlich nie gelernt, versicherte aber stets, er werde „nächste Woche“ wieder spielen. Die Haizinger trug sich mit der Hoffnung, seinerzeit im neuen Burgtheater bei der festlichen Eröffnung wenigstens stumm zu statiren, wie sie in den Jahren 1876 und 1877 in der melodramatischen Darstellung von Schiller’s “Glocke“ jauchzend bejubelt als Großmutter erschienen war, ohne etwas sprechen zu müssen. Ihre letzte eigentliche Rolle spielte sie am 2. December 1875 als Katharina Ausdorf in Benedix’ Einacter „Eigensinn“. – Zu den größten Genüssen gehörte es, sie als Partnerin von La Roche zu sehen. Die Beiden hatten auf dem Kothurn begonnen; aber die mit den Jahren wachsende Selbsterkenntniß führte sie auf das Gebiet des Bürgerlichen, auf das Familienstück, auf das Drama des häuslichen Herdes, und innerhalb dieses Gebietes konnten sie mit souveräner Willkür erheitern oder rühren. Ihre Gestalten waren so ziemlich von gleicher Größe; sie sprachen Beide einfach und natürlich, und bei der Haizinger erzeugte das „Schwäbeln“ einen Beigeschmack von naiver Weichheit. In Benedix’ „Störenfried“ hatten die Beiden eines ihrer köstlichsten Duette. Die Haizinger gab die störende Schwiegermutter, La Roche den bei dem Schwiegersohne eingelebten alten Leberecht, der ihr mit seinen ungeschminkten Manieren und mit seiner Tabakspfeife so unangenehm ist. Und wenn sie mit einander spielten, äußerten sich ihre intimen Beziehungen zu dem Auditorium. Jede Wendung, die sich mit Freundlichkeit auf sie deuten ließ, wurde mit Jubel oder mit der Heiterkeit des Einverständnisses aufgenommen. Die Beiden hinwieder setzten sich durch ein Augenzwinkern, durch eine leise Bewegung mit den Zuhörern in Verbindung wie mit der eigenen Familie. Die Haizinger konnte sich vom Burgtheater noch schwerer trennen, als La Roche. So lange es ihr möglich war, kletterte sie die drei steilen Treppen zur Theaterloge allabendlich empor, blieb voll Antheil bis zum Schlusse jeder Vorstellung, und gar manches Mitglied fühlte sich angeeifert, weil es vor der „Burgtheater-Mama“ zu spielen die Ehre hatte. Als es mit dem Steigen ein Ende hatte, wohnte sie hinter den Coulissen den Aufführungen bei, und als sie überhaupt nicht mehr ausgehen konnte, machten die [583] Collegen ihr Besuche. Sie kam nicht zum Burgtheater, so kam das Burgtheater zu ihr.

Die trockenen Daten ihrer Lebensgeschichte fasse ich in Kürze zusammen, denn sie sind oftmals mitgetheilt worden. Am 6. Mai 1799 in Karlsruhe als Tochter des badischen Kammerfouriers Morstadt geboren, betrat sie, zehn Jahre alt, zum ersten Male die Bühne, und zwar in Wranisky’s Oper „Oberon, König der Elfen“. Alsbald widmete sie sich gänzlich der Bühne und heirathete 1816 den Schauspieler Neumann. Aus der Ehe mit ihm stammen die oben erwähnten Töchter Louise und Adolphine. Auf längeren Reisen begründete sie ihren Ruf und galt, noch ehe sie zwanzig Jahre zählte, als berühmte Künstlerin. Im September 1823 starb ihr Gatte; vier Jahre später schloß sie eine zweite Ehe mit dem Sänger Anton Haizinger. Mit Letzterem ging sie nach Paris, London, Petersburg und in die bemerkenswerthesten deutschen Städte. Ueberall entzündete sie lichterlohen Enthusiasmus. In Leipzig gründete man ihr zu Ehren einen Rosenorden, zu dessen Großmeisterin sie ernannt wurde. Im Jahre 1824 sagte Goethe von ihr: „Man sehe die Darstellungen der Frau Neumann; sie thun sich so zierlich und liebenswürdig hervor, als die Schauspielerin selbst.“ Unwillkürlich erinnert man sich daran, daß auch La Roche das Glück genossen hatte, Goethe zu kennen und von ihm beurtheilt zu werden.

Im Jahre 1836 erschien ein starker Band „Erinnerungsblätter aus dem Leben und Künstlerwirken der Frau Amalie Haizinger“, eine genaue Zusammenstellung aller Triumphe, die sie von 1810 bis 1836 gefeiert, aller Huldigungen, die sie innerhalb dieser Zeit erfahren. Sie hatte in Paris mit großem Erfolge gespielt, und man glaubte sich deshalb bemüßigt, sie mit der und jener französischen Künstlerin zu vergleichen. Mit Recht schrieb damals ein süddeutsches Blatt:

„Sie ist nicht gemacht, wie uns Deutschen eine Mars erscheinen müßte, nicht mit ihrer Genialität über die Schnur hauend wie die Dorval; nicht groß und dämonisch wie die Rachel. Amalie Haizinger war als Prototyp eines deutschen Mädchens geboren, sie war eine deutsche Schönheit ganz und gar mit ihrer lieblichen Fülle, ihren blonden Flechten, ihren Veilchenaugen, ihrem weichen Tone; ihr Herz war voll deutscher Empfindung. Trotz erweiterter Ausbildung und eines ausgedehnten Rollenkreises in verschiedenen Fächern ist die reine Unmittelbarkeit eines scharf ausgeprägten süddeutschen Naturells der Künstlerin geblieben. Sah man sie früher als Margarethe in den ‚Hagestolzen‘, hörte man sie singen: ‚Was frag’ ich viel nach Geld und Gut?‘, sah man sie herzige Kußhändchen zum Fenster des alten Hofrathes hinaufwerfen, so war’s das Mädchen aus Weinheim oder tiefer aus dem Odenwalde, wie es leibt und lebt. Sah man sie als Baronin in der ‚Lästerschule‘, so war es keine Puppe, komödiantisch aufgesteift, à peu près eine Salondame repräsentirend, wie man sie sich vorstellt, wenn man davon gelesen hat; die Baronin der Haizinger war eine durchaus deutsche Frau der höheren Gesellschaft, ganz in ihrem eigenthümlichen Sichgehenlassen, und zwar allereigentlichst, wie sie aus eigener Erfahrung dieselbe kannte, mit Einem Worte, wie sie selbst eine war…“

Zu solchen Citaten muß Unsereins seine Zuflucht nehmen, will man sich ein Bild von ihr machen aus der Zeit, da sie noch weit entfernt war von der „komischen Alten“, aus der Zeit, da noch das Gretchen in „Faust“, die Thekla in „Wallenstein“, die Melitta in Grillparzer’s „Sappho“ ihr zufielen. Was sie in Wien an besonders festlichen Gelegenheiten erlebte, das hing mit ihrem vorgerückten Alter zusammen. Ihr fünfzig- und ihr fünfundsechszigjähriges Künstlerjubiläum, ihr siebzigster und ihr achtzigster Geburtstag gaben Anlaß zu rauschenden Ovationen, wie die Leipziger „Rosenkönigin“ sie nicht rauschender erlebt haben konnte.

Die Rollen, mit denen sie in Wien so lange nachhaltig gewirkt, liegen alle in der Richtung ihrer Lieblingsrolle: der alten Bärbel in „Dorf und Stadt“. Es war etwas Herzbezwingendes, wenn sie sang: „Ueber’s Jahr, über’s Jahr, wenn i wiederum komm“ – und wohl niemals ergriff sie mit diesem Liede die Zuhörer so tiefinnig, wie an jenem 19. December 1856, als ihre Tochter Louise als Lorle in „Dorf und Stadt“ Abschied nahm von der Bühne und die Haizinger die Bärbel gab. In dieser Rolle trat ihr ganzes künstlerisches Wesen zu Tage, ein Wesen, an dem absolut nichts Unklares, nichts Räthselhaftes war. Amalie Haizinger besaß jenen Theaterinstinct, der sicherer geleitet als alle Reflexion; sie traf immer das Richtige, weil sie immer einfach, wahr und natürlich sein wollte und weil sie immer viel mehr sich selbst spielte als die Rolle, und weil sie selbst eine liebenswürdige, heitere, kreuzbrave, humorvolle und dabei tiefempfindende Frau war, eine allerliebste „Mama“. Es hat größere Darstellerinnen gegeben als sie, aber kaum eine stärkere Natur, geboren für die theatralische Vertretung der bürgerlichen Wirklichkeit. Es überkam Alle, die ihr Grab umstanden, ein wehmüthiges Gefühl, als der Oberregisseur des Burgtheaters, Herr Adolf Sonnenthal, ihr nachrief: „Nimmer wird das Lied der treuen Bärbel ertönen: ‚Wann i kumm, wann i kumm, wann i wied’rum kumm‘, denn nimmer wirst du wieder kommen…“

Ferd. Groß.

Blätter und Blüthen

Das vierhundertjährige Jubiläum eines Allbekannten. Ein in allen Kreisen Wohlbekannter, in allen Kreisen Wohlgelittener und Hochwillkommener, der sich seit Jahrhunderten überall im Palaste wie in der Hütte solch ungeheuchelten, allseitigen Wohlwollens zu erfreuen hat, daß Jeder wünscht, er möge tausend-, ja hunderttausendfach bei ihm einkehren, feiert heuer sein vierhundertjähriges Jubiläum. Hoch und Nieder, Reich und Arm, Jung und Alt, alle Kreise der Bevölkerung, die Angehörigen aller Stände, die Anhänger aller Confessionen, die Männer aller politischen Parteien bringen dem Jubilar in gleichem Maße ihre Verehrung entgegen.

Trotz dieser im wahrsten Sinne des Wortes allgemeinen Sympathien, deren sich der Jubilar erfreut, wird sein Jubiläum doch recht ruhig vorübergehen. Von einer Jubelfeier wird sehr wenig zu merken sein; es werden keine Fahnen deswegen herausgehängt, es finden keine Festzüge und keine musikalischen Aufführungen statt, obgleich die Musik, welche der Jubilar macht, Vielen die angenehmste und lieblichste der Welt ist; es werden ihm zu Ehren keine Zweckessen gehalten, wenn auch gerade nur er gewöhnlich die Abhaltung solcher ermöglicht, kurz, der ganze Apparat, der sonst bei diesen Feiern in Bewegung gesetzt zu werden pflegt, wird diesmal ruhen. Der Jubilar wird wahrscheinlich damit einverstanden sein; vielleicht hat er sich selbst jede Feierlichkeit verbeten, nachdem das deutsche Reich ihn, einen echt deutschen Sohn, von sich gestoßen und ihn zu einem Dreimarkstück degradirt hat, ja zu einem Dreimarkstück, denn von dem „Thaler“, dem altehrwürdigen Thaler, nach welchem wir und unsere Voreltern so lange Jahre gerechnet, der uns sozusagen an’s Herz gewachsen war, den aber die neue Reichswährung nicht mehr kennt, ist die Rede!

Er hat vor genau 400 Jahren, im Jahre 1484, als im Münzwesen des heiligen römischen Reiches deutscher Nation große Unordnung eingerissen war, das Licht der Welt erblickt. Den Anfang zur Verbesserung dieses Zustandes machte Erzherzog Sigismund von Tirol, der letzte selbstständige Fürst dieses schönen, damals silberreichen Landes, indem er im Jahre 1484 die ersten größeren Silbermünzen fertigte, die nach kurzer Zeit auch von anderen Münzstätten, besonders aber in der zu jener Zeit sehr silberreichen böhmischen Bergstadt Joachimsthal von den Grafen Schlick hergestellt wurden.

Nach diesem Hauptfabrikationsorte sollten die großen Silbermünzen mit dem sehr umständlichen Namen „Joachimsthaler Gulden-Grosch-Pfenning“ genannt werden, welche langweilige Bezeichnung das Volk in Joachimsthaler, Jochimsthaler abkürzte. Der ehrwürdige erste evangelische Prediger von Joachimsthal, Joh. Mathesius, berichtet hierüber: „Wie man heut’ fast aller Herrn Schlag (Gepräge), so zwei Loth halten sollen, Jochimsthaler zu nennen pfleget, weil sie hie, wiewol nicht am ersten (denn die dreiköpfigen Annaberger sind älter) mit (in) Haufen geschlagen seien.“ Auch der wackere Schuhmacher und Poet Hans Sachs kennt diese Münze; er singt in einem seiner Gedichte von ihr:

„Dem gab er einen Jochimsthaler,
Daß er wär der Sackpfeif’ ein Zahler.“

Doch kam den Leuten das Wort Jochimsthaler noch immer zu lang vor, obgleich man damals die Zeit noch nicht als Geld betrachtete; sie halfen sich durch eine neue Kürzung, schickten den Joachim heim und nannten die große Silbermünze ganz einfach einen „Thaler“!

Die Zahl der verschiedenen Prägungen von Thalern seit vierhundert Jahren ist Legion; dicke Werke sind mit Verzeichnissen, Beschreibungen und Abbildungen derselben angefüllt und fortwährend veröffentlichen die numismatischen Werke Mittheilungen über bis dahin unbekannte Gepräge. Seit der Einführung der neuen Währung werden in Deutschland keine Thaler mehr hergestellt, nur die Wiener Münze prägt noch fortgesetzt Maria-Theresia-Thaler mit der Jahreszahl 1780, die für den Handel im Orient und in Afrika bestimmt sind und merkwürdiger Weise das beliebteste Zahlungsmittel halbcivilisirter oder ganz wilder Völker bilden. Wenn er auch officiell abgesetzt und verstoßen, sowie genöthigt ist, den Wilden sein wahres Alter zu verschweigen, wird das deutsche Volk doch seines „Thalers“ nicht vergessen. Wie der oberbayerische Bauer heute noch gern nach Kronenthalern rechnet und handelt, die schon längere Zeit eingezogen sind, so wird auch der Norddeutsche noch lange nach Thalern rechnen, sodaß die Hoffnung nicht unbegründet ist, daß der Thaler von unsern Nachkommen ebenfalls nach Verdienst geschätzt und noch sein fünfhundertjähriges Jubiläum im Jahre 1984 in angenehmer Weise verbringen wird. Uebrigens wird sein heuriges doch nicht ganz vorüber gehen, ohne Erinnerungszeichen zu hinterlassen; wie wir hören, wird die Wiener numismatische Gesellschaft das „vierhundertjährige Jubelfest des Thalers“ durch Veröffentlichung einer Monographie und wenn möglich auch durch ein Gepräge verherrlichen. B.     


Steyr in Oberösterreich. (Mit Illustration S. 581.) Rauschende, tiefgrüne Alpenflüsse, am Horizonte die funkelnden Spitzen des Hochgebirges, ringsum die schattigen Hallen der Buchenwälder, hoch über der Stadt thronend ein ehrwürdiges Schloß und ein gothischer Dom, – drunten am rauschenden Wasser das großartigste industrielle Leben der Gegenwart, und dieses Alles vom elektrischen Strahle zauberhaft beleuchtet, – das sind die Elemente, aus denen sich das Bild der Stadt Steyr zusammensetzt.

Alt und bedeutsam ist ihre Geschichte, denn seit sechs Jahrhunderten blüht hier die Eisenindustrie, deren Erzeugnisse sich in der weiten Welt des besten Rufes erfreuen. Die Sensen und Messerklingen der steyrischen Meister bildeten in früheren Zeiten vielbegehrte Handelsartikel, die selbst nach dem Oriente versendet wurden, und in neuester Zeit ist der Ruf Steyrs noch durch treffliche Gewehre und Stichwaffen mehr verbreitet worden. Vor etwa zwanzig Jahren wurde hier eine Waffenfabrik gegründet, die bald zu einer der bedeutendsten dieser Art heranwuchs. In ihren großartigen Etablissements werden heute 5000 Arbeiter beschäftigt, und nicht allein zahlreiche Dampfmaschinen, sondern auch die rauschenden Wellen der vorbeiströmenden Steyr wurden in den Dienst der Fabrik gestellt. Mehr als zwei Millionen Gewehre hat die berühmte Anstalt bis jetzt an die Regierungen verschiedener Länder geliefert und blickt mit schaffensfrohem [584] frohem Muthe der Zukunft entgegen. Im eisernen Jahrhunderte ist sie entstanden und groß geworden, jetzt aber scheint sie auch dazu berufen, in dem anbrechenden elektrischen Zeitalter eine hervorragende Rolle zu spielen.

Am 2. August wurde in der kleinen, 15,000 Einwohner zählenden Stadt eine Ausstellung eröffnet, die im Großen und Ganzen ein Werk jener Fabrik genannt werden kann. Diese Ausstellung soll verschiedenen Zwecken dienen. In der einen ihrer Abtheilungen spiegelt sich die Geschichte der Stadt und ihrer Umgebung in treuester Weise wieder, in der andern sehen wir die Erzeugnisse der Forstwirthschaft vereinigt, aber von ihnen redet man in der Welt weniger. Nur die dritte Abtheilung, welche für die Darstellung der Fortschritte auf dem Gebiete der Elektrotechnik bestimmt ist, bildet den Hauptanziehungspunkt für Fremde und den Stolz der einheimischen Bürger. In der That möchte man erstaunt fragen: wie konnte das kleine Steyr wagen, nach dem Vorgange von Paris, München, London und Wien eine elektrische Ausstellung zu veranstalten? Erst seit vorigem Jahre hat ja die Waffenfabrik auch die Herstellung elektrodynamischer Maschinen, elektrischer Lampen etc. in den Kreis ihrer Thätigkeit gezogen. Was konnten da die Steyrer, die auf die Unterstützung berühmter Firmen wenig rechnen konnten, der verwöhnten Welt bieten? Nun, sie haben sich eine beschränktere, aber um so wichtigere Aufgabe gestellt, sie wollten das, was z. B. auf der Wiener Ausstellung nur in Modellen zu sehen war, in’s Große, Wirkliche übertragen. Sie beschlossen, zu zeigen, wie man die in unseren Flüssen vorhandenen Wasserkräfte mit Hülfe der elektrischen Kraftübertragung für die Industrie verwerthen kann. Und die Lösung der Aufgabe ist ihnen zu großem Theil wenigstens gelungen.

An den Ufern der Steyr sind vier Kraftstationen errichtet. Eine Turbine oder ein unterschlächtiges Wasserrad setzt hier je eine dynamoelektrische Maschine in Bewegung, welche die bewegende Kraft des Flußwassers in Elektricität verwandelt. Von diesen Stationen zweigen sich Leitungsdrähte, deren Gesammtlänge 60 Kilometer beträgt, nach allen Richtungen ab, um den elektrischen Strom in weit entfernte Werkstätten zu führen. Diese Einrichtungen sind einfach, aber was kann der kleine Fluß mit ihrer Hülfe leisten! Werfen wir nur einen flüchtigen Blick auf das bewegte Treiben an seinen Ufern!

Ein Meer von Licht überfluthet in der Nacht die Straßen der alten Eisenstadt, aber dieses Licht liefert die Steyr, denn die Kraft ihrer Wellen ist in Elektricität verwandelt worden und speist die Hunderte von elektrischen Lampen. Hier in dem Ausstellungspavillon arbeitet rastlos eine Sägemaschine, dort werden Apparate für Gewehrfabrikation in Betrieb gesetzt. Auch für sie liefert derselbe Fluß die treibenden Kräfte, die in den Leitungsdrähten aus dem Thal auf die Höhen der Hügel steigen.

Der menschliche Geist hat in der That den Wassergott des Stromes überlistet und seinen Zwecken dienstbar gemacht. Wer noch vor wenigen Jahren in die dunklen rauschenden Wogen hinabschaute, konnte er ahnen, daß aus ihrem Schooße in naher Zukunft so viel treibende Kraft und so viel Licht gewonnen werden sollte? Nun, diese Ausstellung kann Jeden belehren, was Wasserkräfte bedeuten. Die Fachleute werden die praktischen Ergebnisse dieser Versuche mit Sorgfalt prüfen und Vieles noch unvollkommen finden, wie aber auch ihr Urtheil ausfallen mag, die Ausstellung selbst wird der strebsamen Stadt stets zum Ruhm und zur Ehre gereichen.



Die Ankunft. (Mit Illustration S. 573.) Heute ist der Tag der Rückkehr! Die Schöne ist so freudig erregt, daß sie ganz vergessen hat, wie schmerzlich einst die Trennung war und wie sie, als der Wagen davonrollte und den Mann ihres Herzens auf unbestimmte Zeit von ihr wegführte, mit ihrem „Schicksale“ haderte und mit den Worten des Dichters klagte:

„Das ist im Leben häßlich eingerichtet,
Daß bei den Rosen gleich die Dornen steh’n,
Und was das arme Herz auch sehnt und dichtet,
Zum Schlusse kommt das Voneinandergeh’n.“

Aber die Zeit der Trennung war vorübergegangen, langsam zwar, doch glücklich, und jetzt war die Stunde gekommen, wo der so lang Entbehrte zurückkehrte. Wie beim Abschiede das Rollen des Wagens das letzte Zeichen seiner Entfernung war, so ist es jetzt das erste, welches an das Ohr der Lauschenden schlägt und das Nahen des Geliebten verkündet. Schnell steht sie am Fenster; der Wagen hält, und der Ankommende blickt hinauf – ein freudiges Lächeln verklärt Beider Antlitz, sie aber zieht sich etwas hinter den Vorhang zurück, denn drunten sind noch andere Menschen, und es brauchen nicht alle ihre Freude zu sehen.


In’s Studium vertieft. (Mit Illustration S. 576.) Für den Naturfreund bietet Feld und Wald einen unerschöpflichen Born der Belehrung und des Genusses. Jedes Pflänzchen, jeder Baum, jede Blüthe, jeder Halm ist ein kleines Wunder für sich und verdient die aufmerksame Betrachtung und das eifrige Studium dessen, der in Gottes herrlicher Natur nicht mit geschlossenen Augen einherwandelt, sondern in jedem Geschöpf den Schöpfer erkennt und preist. So sitzt auch der alte Herr des Lebling’schen Genrebildes sinnend da, eine einfache Feldblume in der Hand, dieselbe betrachtend und vergleichend mit den Aufzeichnungen, welche ihm das Buch berühmter Forscher bietet. Er ist so in’s Studium vertieft, daß seine Sinne abgestumpft sind für die Dinge der Außenwelt, er hört und sieht nicht, was um ihn herum vorgeht, er merkt es nicht, daß er mittlerweile Gesellschaft erhalten, zwar keine gelehrte, aber ebenfalls wahre, echte Naturfreunde von richtigem Schrot und Korn. Voran natürlich die schnelle Jugend, hinterher mit bedächtigem Wesen und etwas mißtrauischem Blicke das vorsichtige Alter, überraschen die wollespendenden Geschöpfe der Weide, denen man im Allgemeinen allzu große geistige Fähigkeiten beizulegen nicht geneigt ist, den in sein Studium ganz versenkten alten Herrn. Und wahrscheinlich wird dieser erst dann in die Wirklichkeit zurückkehren, wenn der „Besuch“ ihm über die der Botanisirkapsel entquellenden Pflanzen geräth – dann dürfte das Schmetterlingsnetz wohl plötzlich für seinen handfesteren Theil eine ganz andere Bestimmung erhalten, und verwundert werden sich die Wolleträger zurückziehen vor dem Menschen, der ein Naturfreund zu sein scheint und ihnen – den privilegirten Pflanzen- und Kräuterfreunden und -Kennern – gegenüber sich doch so wenig freundlich benimmt.


Stelldichein. (Mit Illustration S. 580.) Der Ort, den die Beiden für ihr „Stelldichein“ gewählt haben, entspricht sicher allen Anforderungen, die man an einen solchen nur stellen kann. Zwar ist keine romantische Quelle in der Nähe, deren Murmeln traulich das Gespräch der Liebenden begleiten könnte, und auch ein Bach nicht, in dessen klarer Tiefe sie sich neckend zu spiegeln vermöchten, für beides aber entschädigt das dichte schöne Strauchwerk, welches dem Paare vor allen unberufenen Späherblicken Schutz gewährt und somit dem Orte des Stelldicheins diejenige Eigenschaft giebt, nach welcher stets am meisten gesucht zu werden pflegt. Der Zweck der Zusammenkunft ist leicht zu errathen, und unschwer auch der Gegenstand der Unterhaltung. Es ist das alte Lied „von Liebe und von Sonnenschein“, welches Beider Herzen bewegt und unwiderstehlich zu einander hinzieht – sie, die Tochter des wohlhabenden Bauern, und ihn, den kecken Wallensteinischen Reiter, der, nach dem Tode seines großen Feldherrn des unstäten Soldatenlebens müde, in die Heimath zurückkehrt und jetzt nur noch eine „Eroberung“ im Auge hat, eine friedliche und gleichzeitig eine solche, die ihm nicht allzu schwer werden dürfte. Ob sich aber dann die ungestüme Wanderlust, die noch vor Kurzem seine Brust bewegte, mehr und mehr verliert und aus ihm ein ebenso tüchtiger Bauer wird, wie er vorher ein tapferer und braver Soldat war, das wird erst die Zukunft lehren müssen.


Zweite Quittung. Auf die in Nr. 18 der „Gartenlaube“ ausgesprochene „Bitte“ für einen verdienten und dennoch bedrängten Schriftsteller sind ferner eingegangen:

A. W. in Gera M. 5; Ungenannt in Norderney M. 30; M. G. in Pirna M. 5; Dr. G. Krause in Köthen M. 5; R. J. in Penig M. 3; Aus Oberschlesien, Poststempel Kattowitz M. 10; J. R., Pragerstraße 26 in Dresden M. 40; Frau E. Steinheil in München M. 6; I. in Wiesbaden M. 5; Frau Schlapp in Darmstadt M. 3; Frl. Bonhard in Darmstadt M. 4; von einem Abonnenten der „Gartenlaube“ durch Helmich's Buchh. in Bielefeld M. 5; E. K. in Batavia M. 84; Stadtrath Ballin in Gandersheim M. 2.

Weitere Gaben werden gern entgegengenommen.


Allerlei Kurzweil.



Räthsel-Bilderbogen

Zwei Räthsel.

1.

Mit „i“ denk’ stets dabei an Gott!
Mit „n“ wünsch’ ich es deiner Noth.
Mit „r“ erhältst du’s nach dem Tod.

2.

Viel Aergerniß schon hat’s erregt –
Zumal zu Luther’s Jahren.
Kopf ab! – bist du es schmerzbewegt,
vor Neid und bei Gefahren.
Kopf wieder ab! – ein Mahnruf klingt’s,
Bald bittend und bald herrisch.
Noch mal geköpft! – selbst Könige zwingt’s! –
Ist das nicht pudelnärrisch?


Kleiner Briefkasten.

M. Z. in Stuttgart. Sie haben Recht, und wir werden bestrebt sein, Ihren Wunsch, sobald es die Umstände gestatten, zu erfüllen.

E. I. in Jefr., Tula. Die kleinen Beiträge sind nicht geeignet. Die Erz. wollen Sie einsenden.

A. N. stud. theol. in K. Vergleichen Sie gefl. den Artikel von Daniel Sanders in Nr. 21, Jahrgang 1888.

I. O. in S. Wir haben schon so oft betont, daß wir auf anonyme Anfragen keine Antwort ertheilen.

Frau J. M. in I. Vergl. Sie gefälligst die „Blätter und Blüthen“ in Nr. 8 des laufenden Jahrganges


[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht übernommen.]



  1. In diesem Punkte übertreffen wir allerdings weit die Franzosen, könnten aber Manches von den Engländern lernen. So hat die „Bristol Musical Festival Society“ in London (eine Privatgesellschaft, welche alle drei Jahre große Musikfeste veranstaltet) in verschiedenen Theilen der Stadt Singclassen etablirt, in welchen im letzten Winter z. B. 794 Zöglinge im Chorsingen und besonders im prima vista-Lesen ausgebildet wurden; von den Schülern passirten 260 die Prüfung mit Auszeichnung. Das Honorar für den Unterricht beträgt 25 Pfennig für die Stunde. Welchen vorteilhaften Einfluß eine derartige Pflege des Gesanges auf die Leistungsfähigkeit des Chors ausüben muß, ist unschwer einzusehen.