Die Gartenlaube (1882)/Heft 45
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No. 45. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
Spätsommer.
Eine „rücksichtsvolle“ Ehe ist von allen nicht glücklichen Ehen vielleicht die verhängnißschwerste.
Arndt und Henriette waren seit vier Jahren verheirathet.
Jetzt konnte er sich den Gebieter jener Räume nennen, welche Henriettens Leben und Schaffen nach wie vor gewissermaßen mit dem feinen Wehen eines leisen Sommerwindes erfüllte, von welchem man nicht in jedem Augenblicke zu sagen weiß, von wannen er kommt. Aber woran lag es, daß das Wehen dieses Windes jetzt nicht mehr, wie einst, als er noch Gast in diesem Hause war, etwas unbedingt Anregendes und Erfrischendes für Arndt hatte? Sah Henriette ihm doch alle seine Bedürfnisse von den Augen ab; nie kam ein Wort der Ungeduld über ihre Lippen, und noch weniger stand jemals eine häßliche oder kleinliche Laune auf der Stirn dieser Frau. Sie war die Bescheidenheit und Anmuth selbst; sie verlangte nichts und war in jedem Augenblicke bereit, Alles und Jedes zu geben. Sie war auch nicht kalt. Nein, wenn es ausnahmsweise geschah, daß er sich ihr, von einer plötzlichen Aufwallung erfaßt, mitten im Drange der Geschäfte und ablenkenden Tagesfragen zärtlich nahte, nahm sie seine Liebesäußerung mit eben dem freundlich-sanften Lächeln hin, wie am Abende ihrer Verlobung. Wie kam es, daß er trotzdem nicht ganz zufrieden schien?
In den ersten zwei Jahren seiner Ehe war Arndt nicht frei von wieder und wieder auftauchender Eifersucht auf den Sohn gewesen, denn er hatte gemeint, daß Henriette ein Uebermaß von Liebe an den Knaben verschwende, während sie ihn, ihren Gatten, auf das Pflichttheil beschränkte. Aber je mehr sich der Knabe zum Jüngling umbildete, desto mehr zog sich jede Zärtlichkeit zwischen Mutter und Sohn in die tiefste Innerlichkeit zurück. Aus dem Kuß, den Henriette einst besänftigend auf das heiße Kindeshaupt gedrückt hatte, wurde nach und nach ein liebreich ermahnendes aber tröstendes Wort, aus dem Worte schließlich nicht selten nur ein kürzer, verständnißvoller Blick. Und an allem, was Curt anging, hatte Arndt als Vater seinen vollen Antheil. Wäre der Knabe sein leiblicher Sohn gewesen, er hätte sich kein schöneres Verhältniß zu ihm wünschen können. Curt, in dessen poetischem Schaffen sich mehr und mehr der allmählich reifende Kern einer bedeutenden Veranlagung zeigte, war recht eigentlich der Dritte im geistigen Bunde der Eltern.
Und doch war Arndt nicht glücklich, denn – etwas fehlte ihm.
Er wußte recht gut, was dieses Etwas war, vermied es aber, sich darüber Rechenschaft zu geben.
Ein Schmerz ist deshalb nicht weniger Schmerz, weil man ihn niederkämpft oder vor sich selbst verleugnet. Und während das Weh um ein Verlorenes, aber einst Vollbesessenes wohl eine heiligende Kraft in sich birgt, wird der Schmerz um ein Gut, nach dem die Seele ihr Leben lang hungert und dürstet, allzuleicht ein langsames, tückisch zerrüttendes Gift.
Arndt fühlte dieses Gift mehr und mehr sein Leben durchsickern – aber er trug es still; denn Eines hatte er seit seiner Verheirathung gelernt, das er früher nicht in diesem Maße besessen: Selbstbeherrschung.
Je harmonischer und ruhiger sich mit den Jahren das Verhältniß beider Gatten zu einander gestaltete, desto gelassener wurde Henriette in ihrem Herzen und desto weniger empfand sie es als eine Kränkung gegen sich selbst, daß sie diesem Manne, der nie ihr Geliebter gewesen, Leben und Freiheit geschenkt habe. Ebenso hoffte und glaubte sie auch, daß es ihr wirklich gelänge, ihn zu befriedigen, denn mehr und mehr schien so auch seine Liebe jenen Freundschaftscharakter anzunehmen, der ein volles Echo in ihrem eigenen Dasein fand – und so war diese Ehe von beiden Seiten eine durchaus rücksichtsvolle geworden. – –
Der Sommer war gekommen; in wenigen Tagen sollten wieder einmal Curt’s Ferien beginnen.
„Wohin?“ fragten die Gatten einander, und der fünfzehnjährige Sohn lauschte mit gespanntester Aufmerksamkeit. In Schweden und Norwegen, in der Schweiz und Italien war man in den Vorjahren gewesen.
„Wie wäre es, wenn wir wieder einmal nach Rügen gingen?“ fragte Henriette zögernd.
Curt fuhr lebhaft in die Höhe und blickte den Vater an.
„Gewiß,“ sagte Arndt, „gehen wir nach Rügen. – Warum sollen wir auch nicht?“
„Aber ist es Dir wirklich recht, Georg?“ warf Henriette ein. „Ich für meine Person lebe mich überall ein und finde es an jedem Orte schön, wo ich freien Himmel sehen kann.“
„O ja, ich weiß: Du schickst Dich in jede Lage – Du bist rücksichtsvoll,“ grollte es in Arndt’s Herzen, aber kaum, daß es flüchtig um seine Lippen zuckte. „Also nach Rügen! Was meint denn unser Dichter dazu.“
„Daß es nur ein Rügen giebt, Vater, trotz der Schweiz und trotz Italien!“ erwiderte Curt.
[742] „Gut!“ sagte Arndt. „Aber bekanntlich hat Rügen zwanzig Quadratmeilen. In welchem Ufernest wollen wir denn diesmal unser Zelt aufschlagen?“
„Lappes sind wieder auf Mönkgut in ihrem alten Lieblingsdorfe,“ meinte Henriette.
„Ah! die guten alten Wanderschwalben!“ rief Curt. „Auf Reisen sind sie noch netter, als in Berlin. Ich stimme für Mönkgut.“
„Und ich habe durchaus Nichts dagegen,“ sagte Arndt.
„Dann werde ich an Lappes schreiben und sie bitten, uns Quartier zu bestellen,“ bemerkte Henriette.
„Wozu?“ protestirte Arndt. „Es ist unbequem, sich zu binden. Wenn auf Mönkgut kein Quartier ist, gehen wir weiter.“
„Also eine Reise in’s Blaue!“ rief der Jüngling und schloß mit außergewöhnlicher Hast den Band Horazischer Oden, den er gerade in der Hand hielt.
Es war am ersten Tage nach Arndt’s Ankunft auf Mönkgut. In der kleinen nach Norden gelegenen Wohnstube der Schwestern Lappe stand eine junge Dame vor der Staffelei, beobachtete das darauf lehnende Bild, wiegte das Köpfchen hin und her, trat einen Schritt zurück und beobachtete von Neuem.
Es lag eine rehhafte Grazie in der Art, wie sie vor- und rückwärts trat. Doch nicht nur die biegsame Gestalt, auch den hübschen durchaus nicht alltäglichen Kopf umschwebte eine gewisse Waldpoesie. Aber es war nur die Sonnenseite des Waldes, nur das leichte, neckische Flüstern der Blätter und das heitere Zwitschern der Vögel, woran der Ausdruck dieses lieblich-frischen Gesichtchens mahnte; die Seufzer in den Gründen und das klagende Murmeln der Bäche fielen Keinem bei diesen Zügen ein.
Nach einer Weile trat Auguste Lappe in’s Zimmer und deckte zum Frühstück auf.
„Aber wo bleibt denn Adelheid? Wollen wir nicht auf sie warten?“ fragte das junge Mädchen, sich lebhaft umkehrend. „Sag’ ’mal, Auguste, was ist denn mit ihr? – Ich weiß nämlich, was mit ihr ist.“
„Warum fragst Du dann noch, Kind?“
„Ich muß immer Alles ehrlich heraussagen,“ erwiderte die Bespöttelte unbeirrt und warf sich in einen hinter ihr stehenden Stuhl, indem sie die Palette in den Schooß und den Malstock auf die Diele fallen ließ. „Ihr habt damals von der dummen Geschichte mit Arndt gehört, und nun denkt Ihr, wunder wie fatal es mir ist, ihn hier wieder zu sehen.“
„Wir? – Ich denke gar nichts. – Ich denke nie Etwas,“ versicherte Auguste halb lächelnd, halb ernsthaft.
„Etwas roth mag ich freilich bei seinem überraschenden Anblick geworden sein, aber das ist auch Alles,“ fuhr das Mädchen fort. „Und ich werde immer roth – bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten. Es ist mir wahrhaftig nicht fatal, ihn zu sehen. Im Gegentheil: ich freue mich schrecklich. Und nun gar seine Frau! – Ich habe ja vor fünf Jahren in Berlin darauf gebrannt, ihn und diese Henriette, für die ich schon als Kind schwärmte, zusammen zu sehen, aber Ihr ließt mich nie dazu kommen. Ich wußte recht gut, wie es stand; denn sie redete ja immer ganz unbefangen von ihm, wenn ich sie einmal allein bei Euch sah. Ich .... ich war wüthend auf Euch.“
„Hm, wir waren so frei, das zu bemerken,“ sagte Auguste und nahm der Sprechenden gegenüber Platz.
„Ja, ja!“ meinte diese und sprang auf. „Damals! – damals war das etwas Anderes. Arndt war meine erste Liebe.“
Sie lachte mit Thränen in den Augen und bückte sich, ihren Malstock aufzuheben.
„Ich war in dem Alter, wo man ‚Blumen und Sterne‘ und ‚Dichtergrüße an deutsche Jungfrauen‘ eifrig verschlingt,“ sprach sie dann leicht sprudelnd weiter. „Das Künstlerblut in mir war damals noch nicht recht in Fluß gekommen, aber seitdem ...“
„Seitdem? Ich will nicht hoffen ...“
„Seitdem habe ich begriffen. .... Siehst Du, ich habe einer Besseren weichen müssen. Ich würde mich schämen, daß Arndt meine erste Liebe war, wenn er so geschmacklos gewesen wäre, mich zu heirathen, nachdem er diese Frau kennen gelernt; sie ist eine bezaubernde Frau, diese Henriette. Ich weiß nicht, warum es so ist – denn ich sah schönere Gesichter – aber man möchte aufhören in ihrer Nähe zu athmen, um nichts zu thun, als sie anzusehen. Ich wollte, ich könnte Menschen malen, Auguste.“
Und sie lachte noch einmal, warf die langen kastanienbraunen Haare zurück, nahm Pinsel und Malstock zur Hand und trat wieder leichtfüßig an ihre Staffelei heran.
„Wie findest Du sie eigentlich?“ fragte sie nach einer Pause, indem sie aufmerksam ihr Bild betrachtete.
„Wen?“ fragte Auguste zurück, „Deine Robbe?“
„Natürlich! Meine Robbe.“
„O – recht hübsch, außerordentlich hübsch. Sie hat heute früh sehr an Ausdruck zugenommen.“
„Siehst Du, das finde ich auch. Der alte Putbrese wird glücklich sein.“
„Du erwirbst Dir ein unsterbliches Verdienst um sein Hôtel.“
„Das hoffe ich; ich werde mit großen Goldbuchstaben ‚Erna Lepel‘ darunter malen oder schickt es sich nicht, den Namen einer jungen Dame auf ein Gasthausschild zu setzen?“
„Nein, mein Kind; ich wenigstens würde mich in diesem Fall mit einem still genossenen Ruhme begnügen,“ meinte Auguste. „Aber ich will Deinen Gefühlen ...“
„Gut! Also keine öffentliche Profanirung meines Künstlernamens!“ fiel Erna ein, „das erhebende Bewußtsein, die alte Meerkatze durch einen anständigen Seehund ersetzt zu haben, bleibt ja auch dasselbe.“ Sie pinselte, während sie sprach, fortwährend emsig an ihrer schwarzen Robbe weiter.
„Ohne Schmeichelei: sehr gut!“ bemerkte Auguste, einen letzten Blick auf den Seehund werfend, „weißt Du, Erna, er hat jetzt wirklich eine frappante Aehnlichkeit mit – Arndt.“
„Ab ... scheulich! – Aehnlichkeit mit Arndt!
„Nicht? Dann hab’ ich mich also geirrt, obgleich Du in allen Schattirungen von Roth leuchtest, mein Kind.“
„Natürlich – ja! man kann in solchen Fällen Feuer an meinen Backen anzünden,“ rief Erna, leicht mit dem Fuß aufstampfend. Dann zuckte sie die Achseln: „Der letzte Tribut an meine Jugendliebe, Auguste! – Ein wundervoller Schnurrbart! Nicht? Ich mocht’ ihn immer so gern leiden.“
Und wieder lachte sie unter Thränen mit silberhellem, warmem Vollklang.
Unterdessen war Adelheid im „schwarzen Seehund“ gewesen, sie hatte nur Henriette zu Hause getroffen, da Arndt und Curt zum ersten Bade an den Strand hinabgegangen waren. Henriette kannte durch Arndt längst die unbestimmten Beziehungen, welche einst vor ihrer Verheirathung zwischen ihm und Erna Lepel bestanden hatten. Erna war ihr immer, so oft sie das junge Mädchen im Lappe’schen Hause gesehen, sehr angenehm und sympathisch gewesen, und seit sie wußte, daß man annähme, Erna habe eine Neigung für Arndt, war diese gelegentliche Sympathie natürlich in ein tieferes Interesse übergegangen. Als sie nun aber gestern gelegentlich eines Besuches, den sie mit Mann und Sohn bei Lappes machte, zu ihrer Ueberraschung mit Erna Lepel zusammentraf, da war ihr diese Begegnung doch einigermaßen peinlich gewesen. Ja, als sie hörte, daß Erna, die bis vor Kurzem mit ihren Eltern auf Jasmund gewesen, nach deren Abreise ganz hierher übergesiedelt sei und sich für die Dauer der Saison bei den Schwestern eingerichtet habe, erwog sie allen Ernstes, ob es unter diesen Umständen nicht tactvoll sein würde, wenn sie mit Arndt und Curt weiter reiste. Doch schon nach Verlauf einer ersten, gemeinsam verlebten Viertelstunde schwand ihre Unruhe, und sie fand keinen Grund mehr, auf das übersprudelnd heitere Mädchen, das sich so harmlos mit ihrem Manne unterhielt, irgend welche ernsthafte Rücksicht zu nehmen.
Auch Arndt schien Nichts dergleichen für nöthig zu halten; er verlor nach dem gestrigen Zusammentreffen bei Lappes kein Wort über eine etwaige Weiterreise, sondern machte, wie vorher verabredet, noch am nämlichen Abende mit dem alten Putbrese einen vierwöchentlichen Miethscontract. – –
„Ein überaus anmuthiges Mädchen,“ sagte nun heute Henriette zu Adelheid, „so warm und graziös und zugleich so frisch, aber immer noch wie ein geniales Kind. Ich glaube nicht, daß wir ein Unrecht begehen, wenn wir hier bleiben.“
[743] Adelheid schwieg. Ihre Gedanken nahmen eine seltsame Richtung, weitab von dem Gegenstande des Gesprächs. Schon seit Jahr und Tag wurde sie Henrietten gegenüber von einer bisher unausgesprochen gebliebenen Frage gequält, und setzt stieg diese plötzlich mit gar nicht mehr zu bewältigender Macht in ihr auf; eine ungewöhnliche Bewegung bemächtigte sich ihrer.
„Henriette,“ rief es in ihr, und sie mußte alle Selbstüberwindung aufbieten, um das nach Ausdruck ringende Gefühl von den Lippen zu bannen, „Henriette, sag’ mir, ob Du glücklich? Hast du meinen Bruder vergessen, wirklich ganz vergessen?“ Diese sich ihr lebhaft auf die Lippen drängende Frage blieb auch diesmal ungesprochen.
„Erzähle mir doch von Curt!“ sagte sie statt jener Frage mit unruhiger Hast. „Er ist kein ‚Däumling‘ mehr – er ist in letzter Zeit sehr gewachsen.“
„Ja, er ist gewachsen,“ wiederholte Henriette mit besonderem Nachdruck; dann nahm sie Adelheid’s Hand und sagte geheimnißvoll lächelnd:
„Ich will Dir etwas anvertrauen: er ist seit gestern Abend verliebt. Ich wußte es sofort, weil er gar nicht von ihr sprach, während wir doch sonst immer über neue Bekanntschaften mit einander reden. Heute früh fragte ich ihn nun, wie ihm denn Fräulein Lepel gefalle? Und was glaubst Du – Adelheid, was sagte er? O, es war mir so rührend. ‚Ich weiß nicht‘ sagte er, ,ich hab’ sie noch gar nicht recht angesehen,‘ dabei wurde er so glühend roth, daß ich mich in Acht nehmen mußte, ihn nicht in die Arme zu schließen und zu küssen wie ein Kind.“
Adelheid hatte, ohne sich zu rühren, mit nervöser Spannung gelauscht.
„Aber es ist gar kein Grund, die Sache so tragisch zu nehmen“ hob Henriette wieder an. „Diese Dichterknaben lieben früh, doch gerade ihre Liebesgefühle gehen noch nicht an das Leben – aber was ist Dir, Adelheid, es geht etwas in Dir vor – Du bist nicht bei der Sache. Du denkst doch nicht an unser Gespräch von vorhin – Arndt – an – Erna –?“
„Ich dachte an Dich, Henriette,“ erwiderte Adelheid und sah fast verlegen zur Seite.
„O, denke nicht, daß ich traurig bin!“ sagte diese. „Ich habe mich vollständig darein gefunden, Curt früher oder später zu verlieren. Die Kinder sind uns wirklich nur geliehen, Adelheid, so sehr wir auch zu Zeiten meinen mögen, wir besäßen sie. Glaube mir, ich bin jetzt vollkommen dankbar und glücklich, daß ich einst das A und O seiner Gedanken sein durfte; ich sehe ruhig mit an, daß er nun täglich mehr und mehr über mich hinauswächst. Ach, ich fürchte fast, es wird Arndt schließlich noch schwerer werden, als mir, wenn der junge Dichter erst vollständig seine eigenen Wege geht.“
In diesem Augenblicke klopfte es an der Thür, und auf Adelheid’s „Herein!“ trat Arndt über die Schwelle.
„Pardon!“ sagte er, „daß ich die Damen störe! Ein Ereigniß, ein fröhliches, das ich gleich mittheilen muß! Curt hat sein erstes Drama vollendet, die letzten Scenen hat er seit gestern Abend geschrieben – in einem Zuge, wie er behauptet. Das will was sagen – weiß Gott! Er gab mir das fertige Manuscript vor einer Stunde, und ich hab’ es sofort gelesen.“
„Ah!“ machte Adelheid erstaunt.
„Ich wußte darum,“ sagte Henriette, „ich bat Curt, das vollendete Drama zuerst dem Vater vorzulegen. Wie ist es denn ausgefallen, Georg?“ fragte sie mit warmer Lebendigkeit.
„Ich bin überrascht,“ sagte er. „Dichten muß in der Sprache der Geister ,ahnen‘ heißen – sonst fände ich keine Erklärung für die Ideenwelt dieses Knaben, den – ich doch zu kennen meinte.“
„Und meinst Du,“ fragte Henriette, „daß das Drama aufführbar ist?“
„Gewiß nicht, Kind,“ erwiderte er mit freundlicher Ueberlegenheit. „Wenn das Werk dieses fünfzehnjährigen Knaben aufführbar wäre, stände Eines fest: daß er kein Dichter ist. Aber ich muß gestehen: diese beiden letzten Acte – –“
„Ich will Dir etwas verrathen, Arndt,“ sagte sie, „unser Sohn“ – ihre Stimme wurde unsicher – unser Curt,“ fuhr sie fort, „ist seit gestern kein Knabe mehr. Darum wundere Dich nicht über jene überschwängliche Fülle in Wort und Gedanken der letzten Scenen! Er ist zum ersten Male verliebt, die reizende Erna –“
„Meinst Du?“ warf Arndt nicht ohne Wärme ein. „Ja, sie ist ein reizendes Mädchen,“ fügte er mit Feuer hinzu. „Geradezu bezaubernd!“
„Findest Du das auch, Arndt?“ fragte Henriette ein wenig erstaunt mit plötzlich aufwallender Erregung. „Bezaubernd – sagst Du? Nun – –“
Sie wurde unterbrochen; denn es klopfte abermals, und einige Secunden darnach stand Erna Lepel im Zimmer.
„Wie wäre es, mein Fräulein,“ wandte sich Arndt mit einer Verbeugung an die Eingetretene, nachdem Henriette und Adelheid sie herzlich begrüßt hatten, „wie wäre es, wenn ich heute Abend mein Versprechen einlöste und die Gesellschaft um die hohen Ufer ruderte?“
„Eben deshalb komme ich,“ antwortete Erna fröhlich. „Schöne Seelen finden sich.“ Sie nahm unaufgefordert Platz und fuhr, achtlos mit dem Stuhle wippend, fort. „Aber wir müßten früh ausfahren, damit wir schon auf dem Wasser sind, wenn der Mond aufgeht – nicht wahr?“
„Gut!“ sagte Arndt ungewöhnlich lebhaft, „gehen wir gleich und rüsten wir uns zur Fahrt!“
„Prächtig!“ jubelte Erna und lachte hell auf.
Arndt betrachtete sie mit einem unverhohlenen Wohlgefallen, das Henrietten nicht entging.
Plötzlich schoß ihr eine ganze Kette von Gedanken durch den Kopf. Wenn sie doch die alten, ihr wohlbekannten Beziehungen Arndt’s zu Erna Lepel allzu leicht genommen hätte? Und Adelheid’s sonderbares, verschleiertes Benehmen von vorhin, als sie von Erna und ihrem Manne gesprochen? Sollte Adelheid etwas ahnen, etwas wissen, was ihr selbst unbekannt geblieben? Wenn Arndt’s Gefühle zu dem jungen Mädchen doch – –? Gefühle, dachte sie, sind wie die Gänge eines Labyrinths: die ersten Schritte scheinen völlig ohne Gefahr, und achtlos geht man weiter und weiter, bis man auf einmal das Thor des Ein- und Ausganges auf Nimmerwiederfinden verloren hat. Henriette schauderte in sich zusammen. All ihre Fassung, all ihre Ruhe war plötzlich hin.
Sie hatten das Zimmer verlassen; sie standen auf der Schwelle des Hauses.
„Adieu, Adelheid!“ sagte Erna.
„Adieu, mein Fräulein!“ rief Arndt.
„Adieu!“ sprach Henriette mechanisch den anderen Beiden nach. Sie war ganz in ihre einsamen, geheimen Gedanken versunken. Sie hatte ganz überhört, daß Adelheid bestimmt erklärt, sie und Auguste würden die Ruderfahrt nicht mitmachen. Nun sie draußen waren, erfuhr sie es von Arndt. Die Ruderfahrt nicht mitmachen? Warum denn nicht? Auch das befremdete sie.
„Lappes sind übrigens heute Abend merkwürdig zerfahren,“ sagte Erna dann plötzlich im Weitergehen „Sie haben vorhin eine Depesche bekommen, deren Inhalt mir nicht mitgetheilt worden ist. Ich weiß gar nicht recht, was ich daraus machen soll – etwas Trauriges, etwa ein Todesfall oder dergleichen, kann es nicht sein. Vielleicht haben die guten Seelen irgendwo Actien gekauft, die im Fallen begriffen sind, und nun wollen sie die Ruderfahrt nicht mitmachen. Das amüsirt mich.“
Henriette fühlte sich auf einmal gereizt. Etwas wie Ingrimm gegen dieses zungenfertige junge Geschöpf erfüllte sie.
„Ich weiß nicht, Fräulein Erna, warum Sie es so amüsant finden, wenn Jemandes Actien fallen,“ sagte sie plötzlich.
„O, verzeihen Sie, verehrte Frau! Ich wollte Ihre Freundinnen nicht kränken – sie sind ja auch die meinen. Gott weiß, ich hatte kein Arg bei meiner Actienbemerkung,“ vertheidigte sich Erna mit kindlicher Offenheit.
Henriette hatte nichts zu erwidern, als: „Ich weiß – ich weiß, daß Sie einen Scherz machten.“
Sie wurde von Secunde zu Secunde nachdenklicher, und als man nach kurzer Wanderung in der Arndt’schen Wohnung eintrat, lagen tiefe Schatten auf ihrer Stirn. – –
Eine Stunde später – Erna hatte sich einstweilen verabschiedet – rüsteten sich Arndt und Curt zum Fortgehen, und Henriette that das Gleiche, erklärte aber auf einmal, nachdem Curt vorweg das Haus verlassen hatte, ihr sei nicht ganz wohl sie wolle doch lieber von der Ruderfahrt zurück bleiben.
„Laßt Euch nicht stören!“ sagte sie beklommen. „Vielleicht ist mir morgen besser.“
[744] „Hoffentlich!“ antwortete Arndt und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hinaus; ja, er sah nicht einmal, daß sie eine Bewegung machte, um ihm zuletzt, wie immer, die Hand zu reichen.
Henriette war in ihrem kleinen Zimmer allein.
Wie so häufig, setzte sie sich an das niedrige, in den Garten hinaussehende Fenster, aber ihre großen, weitgeöffneten Augen hatten ihren gewohnten träumerischen Schmelz verloren und glühten wie in steigendem Fieber über den bleichen Wangen. Ihre Phantasie wuchs, wie draußen die Schatten der Bäume. Bloße Vorstellungen wurden zu Vermuthungen, und was sie anfangs nur als möglich dachte, aber für unmöglich hielt, nahm nach und nach die Züge der Wahrscheinlichkeit an. Sie stand auf und preßte die heiße Stirn gegen die kühlen Scheiben des Fensters.
Jetzt schaukelten sie wohl schon längst auf dunkler See in dem kleinen Boote, Arndt, Erna und Curt. Indem sie das dachte, ging der Mond über den Wassern auf; er stieg allmählich immer höher, bis er zuletzt mit zitternden Strahlen durch die Zweige des abendlichen Gärtchens schimmerte und ein unheimliches Zwielicht durch das kleine Gemach ergoß. Ihr war, als höre sie ein lautes, herzbethörendes Lachen, das immer ferner und ferner verhallte, das Lachen Erna’s.
„Mein Freund! – mein Freund!“ sagte sie fortwährend leise vor sich hin und betonte immer wieder das Wort „Freund“, als läge eine Beruhigung darin, daß er ihr niemals mehr gewesen war, als ein Freund. Aber sie sprach dieses Wort mit glühendem Athem, und die Eifersucht riß dabei ihr Herz von einem Gedanken zum anderen und grub und bohrte immer tiefer und wühlte sich immer heimtückischer in sie hinein. Wie gefoltert fiel sie auf die Kniee nieder, und sinnlose Gebete stürzten von ihren Lippen.
Plötzlich war es, als ob ein schwerer Stein von der Grabesthür ihres Herzens gewälzt würde, als sprängen alle zurück gedrängten heißen Quellen nun auf einmal auf und brächen in wildem Schmerz durch Seele und Körper.
„O Arndt! – Arndt!“ rief sie.
Und als sie endlich aufstand, wankte sie unsicheren Schrittes durch’s Zimmer. Sie wußte jetzt, daß sie zum zweiten Mal liebte – und sie fand keinen Halt mehr in ihrer Seele.
Auch das schwerste Schicksal kann seinen Trost in sich selbst haben. Wie ein in Felsen gehauenes Denkmal richtet es sich in der Brust des Menschen auf und predigt mit der Stimme der Ewigkeit, wenn die gelegentlichen Wellen der Alltagsempfindung durch die Seele wogen.
Ein solches Denkmal war das Schicksal ihrer todten Liebe zu dem Einst-Verlobten gewesen. In dem Bewußtsein, daß sie etwas erlebt hatte, das sie niemals wieder erleben konnte, hatte einerseits ihr persönliches Leben an Werth verloren, und es war ihr nicht schwer geworden, sich für Andere zu opfern – und andererseits war ihr jeder kleinste persönliche Genuß zu etwas unendlich Großem erwachsen, da sie jenes Bewußtsein, das Größte hinter sich zu haben, mit dem festen Willen verband, deshalb nicht zu verzagen und das Geringste hoch zu halten.
Nun aber trieb sie haltlos auf dem Meere ihrer Empfindung, wie ein Schiff ohne Masten und Steuer. Eine erste Liebe erfüllt das Weib unter allen Umständen mit Stolz – eine zweite erfüllt es mit Scham.
Und hier! Kein Stolz mehr, kein Trost mehr, kein Glück!
Ruhelos ging sie auf und ab.
Nur ein Gedanke erstickte sie: Arndt liebe – und daß es zu spät sei für diese Liebe. Eine Andere, Eine, die er vor ihr gekannt hatte, lebte jetzt in seinem Herzen. Eine „Andere“!
„O, mein Freund! mein Freund!“ rief sie wieder und wieder. Plötzlich hielt sie im Gehen inne. Ja, das war es. eine Strafe! eine furchtbare, aber – eine gerechte! –
Sie faltete die Hände und betete: sie hatte an seiner Seite gelebt und von seiner Liebe gezehrt, ohne den guten Willen, ihn wieder zu lieben. Ihre Freundschaft hatte sie ihm gegeben; denn die kostete sie nichts – ihre Gegenwart hatte sie ihm willig geopfert, aber ihr Bestes, ihre Vergangenheit, behielt sie ja zurück; ihre Dienste, ihr äußeres Dasein hatten ihm gehört, aber ihr innerstes Selbst, ihr Stolz, ihr Heiligthum waren ihr verblieben, und sie hatte nie, nie – auch nicht ein einziges Mal nur den leisesten Wunsch gehabt, daß es anders sein möge. Sie hatte geglaubt, das Räthsel eines selbstlosen Daseins gelöst zu haben, und ihr Leben war ein großer Selbstbetrug gewesen.
Henriette schluchzte laut auf, aber sie wurde doch ruhiger für den Augenblick; es tröstete sie, daß sie verdiente, was sie jetzt litt; ja sie empfand es plötzlich wie einen stillen Genuß, zu büßen, was sie an Dem verbrochen hatte, den sie jetzt liebte.
So wankte sie mit dumpfer Seele hinaus in den Garten, und die großen Thränen, welche brennend aus ihren Augen tropften, waren keine Thränen der Verzweiflung, keine Thränen der Eifersucht mehr – sie galten dem schweren Irrthume ihres Lebens. Ohne weitere Ueberlegung, nur von der unbezwinglichen Sehnsucht getrieben, Arndt aufzusuchen, verließ sie den Garten und schritt wie eine Nachtwandlerin über die stillen wüsten Straßen des mondscheindurchleuchteten Dorfes.
Die Wohnung der Malerinnen war bald erreicht; sie blieb vor der Thür derselben stehen; von hier aus konnte sie deutlich sehen, wenn die Gesellschaft vom Wasser heraufkommen würde.
Aber was war das? Im Wohnzimmer der Schwestern brannte noch Licht. Gewiß waren Arndt, Erna und Curt schon zurück und lachten und plauderten nun hier mit den Freundinnen – – ohne sie! O, er hatte sich nicht losreißen können von der holdseligen Gegenwart des Mädchens, dessen erste Liebe er gewesen war.
Ein undeutliches Gewirr von Stimmen schlug an Henriettens Ohr – und das – das war ein perlendes Lachen – und wieder ein Lachen wie von Arndt’s Munde. Nein! Die erregte Phantasie täuschte sie. Es war etwas Anderes. Oder war es nichts?
Das Blut pulsirte heftig in ihren Adern; ihre Füße wurden schwer wie Blei; müde lehnte sie sich einen Augenblick gegen den Thürpfosten. Dann stürzte sie vorwärts durch den niedrigen Flur und klopfte an die Thür des Wohnzimmers. Niemand rief „Herein!“, aber hastige Schritte klangen durch’s Gemach. Adelheid öffnete und schrak zurück, als sie Henrietten erkannte.
„Gleich!“ rief sie mit unsicherer, fast barscher Stimme, riß die Thür wieder zu und schloß von innen ab. Und nun erhob sich da drinnen ein sonderbares Reden und Raunen – eine Art heiseren Flüsterns, wie es den Schwestern eigen war, wenn sie leise sprachen.
Henriette preßte beide Hände gegen ihre tobenden Schläfen; plötzlich stieß sie einen Schrei aus und taumelte gegen die Wand zurück. Welch ein Gedanke: Arndt war ertrunken, und sie hatten ihn als Leiche hier im Zimmer. Eine entsetzliche Ahnung!
„Todt! todt!“ stöhnte sie verzweifelt, tastete durch Küche und Schlafzimmer und stand nach wenigen Secunden auf der Schwelle des Wohngemaches. Entsetzt fuhren Auguste und Adelheid bei ihrem Anblick aus einander. Aber Henriette sah es nicht; sie sah nur das erstarrte Gesicht des blassen Mannes, der im Hintergrunde des Zimmers neben Auguste und Adelheid stand und sie unverwandt mit großen, dunklen, schuldbewußten Augen ansah.
Gott! war es Traum oder Wirklichkeit? Henriette kannte diesen Mann – es war nicht Arndt; es war – der Geliebte ihrer Jugend. Aber er hatte keine Aehnlichkeit mehr mit dem geflügelten Götterjüngling am Felsenweg von Alt-Hellas. Ein dämonischer Faust-Kopf thronte auf den erschlafften Schultern eines weltmüden Menschen. Etwas in ihm – vielleicht sein Bestes – mußte wohl niemals aufgehört haben, Henriette zu lieben – das sagte deutlich die Gluth seines nach Vergebung ringenden Blickes in dieser Minute.
Aber Henriette war todt für die Sprache dieses Mannes. Sie starrte ihn an – unverwandt, wie er sie, und Nichts in ihr regte und bewegte sich; nur eine Art von Gespensterfurcht jagte eiskalt durch ihre Seele.
Sie liebte Arndt – nicht diesen.
„Ich glaubte, Arndt und Curt wären hier,“ sagte sie tonlos zu der herangetretenen Auguste.
„Nein, die sind noch mit Erna auf dem Wasser. Wir blieben hier, weil sich unser Bruder telegraphisch angemeldet hatte. Er ist vor einer Viertelstunde gekommen und reist morgen früh wieder ab.“
„Ich will nicht stören,“ antwortete Henriette. „Gute Nacht.“
„Henriette! ein Wort! ein einziges! O Henriette!“ rief eine heisere Stimme hinter ihr, als sie das Haus verlassen hatte.
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[746] Aber sie wandte sich nicht um; sie sah auf das blinkende Wasser und schauderte, weil noch immer kein Boot in Sicht war. Zögernd ging sie die Dorfstraße hinab. Ruhelos schritt sie durch den mondhellen Garten und horchte auf jeden Ton, der vom Dorfe her durch die Bäume und Hecken drang.
Ob sie ihn zurückgewinnen konnte. Ob sein Herz sich losreißen würde von dem bezaubernden Lachen der jungen Künstlerin? Nun hatte sie den Geliebten ihrer Jugend wiedergesehen – wie im Traume fuhr sie sich bei diesem Gedanken mit der Hand über die Stirn – und was hatte sein Anblick in ihr befestigt? Liebe zu ihrem Gatten! Liebe zu dem Freunde ihres Herzens! Sie hatte jetzt ein Recht auf diese Liebe.
„O mein Freund, mein Freund,“ sprach sie leidenschaftlich vor sich hin und streckte sehnsuchtsvoll die Arme in die leere Luft.
Sie lehnte sich gegen den Stamm einer alten Silberpappel und blickte, ohne zu sehen, in den märchenhaft funkelnden Baldachin empor, welchen der Baum über ihr wölbte.
Plötzlich knarrte die Pforte des Gärtchens.
„Geh hinein, mein Sohn! Ich habe mit Deiner Mutter zu sprechen,“ sagte Arndt zu dem verwunderten Jünglinge, der träumerisch gehorchte. Dann betrat er den Garten, in welchem er von der Straße her Henriettens Kleid hatte leuchten sehen.
Er kam sehr langsam auf sie zu; denn er wußte durchaus nicht, was er mit ihr besprechen wollte. Er war nur einer plötzlichen Regung gefolgt, als er sie so allein in dem hellen Zauberlichte zwischen den Bäumen stehen sah. War sie wirklich um des Knaben willen eifersüchtig auf Erna, so gab es einer Frau gegenüber, wie sie, nur eine Erklärung für dieses Gefühl: sie sah noch immer die Augen des Geliebten in den Augen ihres Sohnes.
Das hatte er sich wieder und wieder gesagt, während das Plätschern der Wellen und das Lachen der jungen Leute heute Abend seine Sinne umschmeichelte, und das sagte er sich auch jetzt. – Aber warum hatte sie sich heute Abend zum ersten Mal rücksichtslos ihren überspannten Empfindungen hingegeben? – Er war gewohnt, daß sie sich stets um ihrer Umgebung und insbesondere um seinetwillen bezwang. Er hatte ihr oft wegen dieser vollendeten Herrschaft über sich selbst gegrollt, und nun, da sie dieselbe einmal nicht übte, grollte er erst recht – aber zugleich erschien sie ihm neu, jünger und bestrickender, als je zuvor.
Mit seltsam klopfendem Herzen trat er auf sie zu.
Sie stand noch immer an dem Stamm der alten Silberpappel und ließ ihn dicht heran kommen, ohne sich zu rühren; gegen ihre Gewohnheit wurde sie glühend roth, als sie seinen vorwurfsvollen Blick über sich hingleiten ließ.
Er sah es trotz der blendenden Lichtwellen des Mondes, die unsicher durch das Gezweig herabzitterten, und vor seiner Seele wurde es auf einmal so tageshell, wie es noch nie zuvor darin gewesen war – er wußte plötzlich, daß es sich in diesem Frauenherzen um ihn handelte.
„That ich Dir Etwas zu Leid, Henriette? Habe ich Dich beleidigt?“ fragte er mit unendlich weicher, beinahe mitleidiger Stimme. Sie zuckte zusammen und sah zu Boden. Auch sie hatte plötzlich Alles begriffen.
„Nein,“ sagte sie – „ich selbst habe mich beleidigt;“ sie wandte sich ab. Er seufzte ungeduldig.
„Wohl damals, als Du mich ohne Liebe zum Altar geführt?“ fragte er mit ausbrechender Leidenschaft.
„Damals? O Arndt, ich denke an heut: ich war eifersüchtig auf Erna.“
Sie kehrte sich wieder zu ihm, aber ihre Kniee zitterten vor Scham. Wortlos führte er sie zu einer Bank und zog sie an seine Seite nieder.
„O Georg, was habe ich gelitten um Dich!“ flüsterte sie. „Und doch ... kannst Du es fassen? – trotz aller Qual, aller Verzweiflung hab’ ich mich lange nicht so frei gefühlt, wie heut.“
Sie athmete tief auf und sah in den fast lichtblauen Nachthimmel empor. Zwei weiße Wolken zogen langsam, wie eine große Botschaft des Friedens, über ihren Häuptern hin – die ganze Natur lag um sie her wie ein lautloses Gebet.
„Kannst Du es fassen?“ fragte sie noch einmal. „Nie fühlte ich mich so frei, wie heut.“
„Weil die Last Deiner Vollkommenheit von Dir fiel,“ sprach er in einer Art von Siegestaumel und preßte das feine, blasse Haupt der geliebten Frau an seine Brust. „Weil Du Mensch wurdest, wie wir.“
Was war das? ihre Seele horchte auf: klang nicht Etwas wie eine unsäglich herbe, Jahre lang angesammelte, aber immer zurückgedrängte Bitterkeit durch seine Worte? Etwas, das sich wie eine gewaltige Dissonanz plötzlich harmonisch in der Freude des Augenblicks löste? Sie senkte Haupt und Lider und hielt die gefalteten Hände starr im Schooß.
„Verzeih mir! – Und jetzt bin ich sehr unvollkommen. – Heute hab’ ich wirklich nicht gewollt – heute hab’ ich gemußt,“ sagte sie demüthig, und nach langem Sinnen setzte sie leise hinzu: „Noch einmal hab’ ich in der Liebe über mich selbst gesiegt. – Arndt, ich bin glücklich.“
Da fühlte sie ihre Hände von denen Arndt’s umklammert.
„Es ist wahr,“ stöhnte er, „Du hast mich alle diese Jahre nicht geliebt – aber jetzt – von heute ab gehörst Du mir.“
Sie antwortete nicht gleich. Nach einer Weile machte sie sich los und erhob sich.
„Ein klares Stück Ewigkeit!“ sagte sie, vor ihm stehend, und blickte gedankenvoll über sich. „So klein, wie heute Nacht, ist mir die Welt noch nie erschienen.“ Und sie reichte ihm die Hand, zum Zeichen, daß er mit in jene Ewigkeit gehöre, die sich vor ihr aufthat. „Ich fürchte nun Nichts mehr, nicht das Leben und nicht den Tod.“ Sie drückte seine Hand fester.
Noch immer zogen die beiden weißen Wolken durch die stille Mondnacht – an den Büschen funkelte das Licht wie tausend Edelsteine, und in breiten Strömen floß es über Haus und Garten bis tief in jeden verborgenen Winkel. Hoch über ihnen in den alten Baumkronen ward es lebendig, aber nicht in Tönen, nur in schwebenden, unaufhörlich zitternden Silberstrahlen, wie tausend Gedanken und tausend Träume huschte es von Zweig zu Zweig, floh es von Ast zu Ast und rieselte blendend an den dunklen Stämmen hinab.
Henriette empfand das Alles, ohne es zu sehen – und Arndt sah es wohl, aber nur, weil sie inmitten dieser Zauberpracht stand, und förmlich behutsam bog er die durchsichtigen Blätter einer nahen Akazie fort, welche sich licht, wie ein zarter frühlingsgrüner Schleier, um ihre Schultern gelegt hatten; denn er wollte Nichts sehen, als sie. – – –
„Und wo ist Curt?“ fragte Henriette eine halbe Stunde später, während ein dunkler Schatten der Unruhe über ihr Gesicht zitterte. Als sie aufsah, blickte sie in das strahlende Auge ihres Gatten.
„Henriette,“ sagte er, „Du darfst Dich nicht mit unnützen Sorgen quälen, denn ich weiß, daß es Dich quälen würde, zu denken, Curt hätte heute etwas verloren. Henriette, ich verspreche Dir: von heute ab soll er mehr denn je unser Sohn sein.“
„Ja,“ erwiderte sie fast angstvoll-hastig, „unser Sohn, unser Kind! Und wir lassen ihn nicht, bis die Muse ihn vollends aus unseren Armen hebt und ihm eine neue Heimath giebt.“
Sein Blick hing trunken an ihren erregten Lippen; Alles an ihr war heute neu und geheimnißvoll, wie an einer Braut.
„Komm jetzt!“ bat er. „Das ausgeblasene Licht ist wieder angezündet. Es ist hell in unserer Wohnung, wo wir auch hintreten. Ich bin nicht eifersüchtig auf unseren Sohn, aber Du sollst heute Abend nicht mehr um ihn weinen“
„Ich weine nicht um ihn – ich weine vor Glück,“ flüsterte sie. „Ich denke ja mehr – weit mehr an Dich, als an ihn. – O Arndt, ich frage nicht mehr, was recht ist und unrecht, was vollkommen ist oder unvollkommen.“
Er umschlang sie mit beiden Armen.
„Eine Frau, die liebt, ist vollkommen,“ sagte er ruhig, während er auf ihr gluthübergossenes Antlitz hinabsah, und ein schlichter Ernst lag in seinen Mienen. „Auch der Mann darf knieen, wenn er zum ersten Mal in seinem Leben glücklich ist,“ sprach er dann und warf sich vor ihr nieder.
„Du hast Recht,“ flüsterte sie traumhaft, „Glück ist ein welt-und-menschenüberwindender Erlöser.“
Esaias Tegnér
„Hier seine Wiege,
In Wexiö sein Grab,
Im Liede sein Andenken.“
So lautet die Inschrift auf dem Steine, den man bei der unansehnlichen kleinen Predigerwohnung in Kirkerud in der Landschaft Wermland zum Andenken an Schwedens größten Dichter errichtet hat, zum Andenken an Esaias Tegnér, der dort am 13. November 1782 das Licht der Welt erblickte. Wohl stand in Schweden seine Wiege, wohl hat er auch dort sein Grab gefunden, aber sein Genius gehört der Welt; denn der klanggewaltige und geisteshohe Sänger der Frithjof-Sage lebt in seinen Werken dauernd fort, nicht blos in seinem Vaterlande, nein überall da, wo man die Dichtkunst heute noch liebt und in Ehren hält.
Wie viele Herzen auf dem weiten Erdenrund schlagen höher bei dem Namen: Tegnér! Wie viele zumal in Deutschland! Die Gestalten des schwedischen Dichters, umweht vom eigenartigen, herbmilden Dufte nordischen Empfindungslebens, sind längst deutsches Nationaleigenthum geworden; mit der goldhaarigen Ingeborg weiß die deutsche Jungfrau sich eins im Fühlen und Denken; mit ihr schwärmt sie in „Nordens Hain“ von der Liebe, „die nimmer endet“; mit ihr hebt sie im Geiste „die herzbewegende Klage“ an um den Geliebten, der da draußen schweift auf der dunklen Salzfluth. Dem deutschen Jünglinge aber pochen die Pulse höher, wenn er von Frithjof’s Meerfahrten liest; mit ihm besteigt er Ellide, das flinke Schiff, um mit Wikingern und See-Ungeheuern zu streiten; mit ihm schwingt er Angurwadel, das tapfere Schwert, das dem Starken die Braut erkämpfen soll.
„Ja, Tegnér lebt kraft seines Genius im Herzen aller Culturvölker, und so darf denn auch heute, an seinem hundertsten Geburtstage, das Dichterwort auf ihn angewendet werden und ehrend und preisend von Volk zu Volke klingen: „er war unser“.
Esaias Tegnér, ein Predigersohn – wir können kurz über seine Lebensschicksale hinweggehen – ist im eigentlichsten Sinne des Wortes aus der Mitte des schwedischen Volkes hervorgegangen; sowohl von väterlicher wie von mütterlicher Seite stammt er aus echtem Bauerngeschlecht. Nach des Vaters frühem Tod nahm sich ein Jugendfreund des Letzteren seiner an. Esaias’ Pflegevater war Beamter, und da die guten Anlagen des Knaben schon früh eine vorzügliche Begabung für die Buchführung zeigten, wollte man ihn anfangs für die Comptoirgeschäfte ausbilden. Allein der brave Pflegevater erkannte sehr bald[WS 1], daß „Esse zu gut sei, um Zahlen bei ihm zu schreiben“, und als der Knabe das vierzehnte Jahr erreicht hatte, wurde der Entschluß gefaßt, ihn studiren zu lassen. Freilich reichten die Mittel zum Besuche einer Schule nicht aus, eine Familie aber, bei der einer seiner Brüder Hauslehrer war, nahm ihn bei sich auf und ließ ihn am Unterricht theilnehmen, und als der Bruder ein Jahr darauf eine andere Hauslehrerstelle erhielt, wurde auch Esaias mit hinüber genommen, und sein neuer Pflegevater, der Bergwerksbesitzer Christopher Myhrman, sorgte ebenso liebreich für ihn, wie es der vorige gethan.
Eine besonders schwere Zeit hub indessen für den jungen Tegnér mit dem Beginne der Universitätsjahre, 1799, an. Kampf und Entbehrung war während seiner Studien in Lund sein Loos, bis er im Jahre 1805 zum Adjunct der Aesthetik und zum Vicebibliothekar an der Universitätsbibliothek daselbst ernannt wurde. Nun endlich war seine Lage eine gesicherte, und schon im nächsten Jahre führte er die Tochter seines Wohlthäters, Anna Myhrman, als Braut heim.
Tegner’s im Jahre 1810 beginnende Thätigkeit als akademischer Lehrer zu Lund war von außerordentlich großer Bedeutung: Seine glänzende Beredsamkeit, seine tiefe Kenntniß der Fächer, die er vortrug, und überhaupt seine hervorragende Begabung sowie der berühmte Name, den er sich schon damals als Dichter erworben, alle diese Eigenschaften machten ihn zu einer der vorzüglichsten Zierden der Hochschule. Durch seine große persönliche Liebenswürdigkeit erwarb er sich die Gunst der Studenten in hohem Grade, und vermöge seiner geistigen Ueberlegenheit ward er der Mittelpunkt des geistigen Lebens in Lund. So war es denn erklärlich, daß er nur mit schwerem Herzen aus dem ihm so liebgewordenen Wirkungskreise schied, als er 1826 einem Rufe nach Wexiö als Bischof folgte.
Die Thätigkeit, der er sich in dieser seiner neuen Stellung widmen mußte, lag ihm in jeder Beziehung fern. Als Bischof mußte er auf dem Reichstage erscheinen und sich am politischen Leben betheiligen, das ihn noch weniger ansprach, als seine geistlichen Geschäfte. Es ist tief zu beklagen, daß seine Dichtung, die sich während seines langen Aufenthaltes in Lund in reicher Fülle entfaltet hatte, in Wexiö mehr und mehr verstummte; seine Gesundheit wurde schwankend, und endlich zeigte es sich, daß seine Befürchtung, die in seiner Familie herrschende Anlage zu Gemüthskrankheiten habe sich auch auf ihn vererbt, nur zu wohl begründet war. Er folgte dem Rathe der Aerzte, sich ein Jahr (1839 bis 1840) auf der Irrenanstalt zu Schleswig aufzuhalten, und ward hier auch soweit hergestellt, daß er seine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen konnte. Bald indessen fiel er wieder in den alten Zustand körperlicher Schwäche und geistiger Schlaffheit zurück, bis ihn am 2. November 1846 der Tod von seinen Leiden erlöste.
Tegnér’s dichterische Thätigkeit fällt, wie schon bemerkt, wesentlich in die Zeit, die er als Universitätslehrer in Lund verlebte.
Es ist bezeichnend für die glänzende, allem Unfertigen und Halben abgeneigte dichterische Eigenart unseres Poeten, daß gleich in seinen ersten Erzeugnissen der große Dichter in seiner ganzen classischen Schönheit fertig dastand; mit hinreißender Macht in Sprache und Rhythmus, mit herzbezwingender Gluth der Empfindung und mit leuchtender Schöpferkraft der Phantasie trat er auf einmal siegreich vor seine Nation, vor die Welt. Der Stern seiner Dichtung ging zu einer glücklichen Stunde über Schweden auf; es war, als ob sein Volk auf den großen Dichter gewartet hätte, der all die Töne, welche damals im nordischen Dichterwalde noch ungeordnet, des inneren Haltes entbehrend, erklangen, zu einer schönen harmonischen Einheit meisterhaft zu verschmelzen wußte. Das neunzehnte Jahrhundert hatte, wie anderwärts, so auch in Schweden, vom achtzehnten eine Dichtung übernommen, die – welch gute Eigenschaften ihr auch sonst innewohnen mochten – weit davon entfernt war, national und original zu sein. Wohl brachte Schweden am Schlusse des achtzehnten Jahrhunderts einzelne Dichter hervor, deren Gesang ein inniger, tief gefühlter Wiederklang war von dem, was sich im Volke regte – einer von ihnen, Karl Wilhelm Bellman (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1878, S. 608), war sogar eine der originellsten und tiefsten Dichternaturen, die irgend eine Literatur aufzuweisen hat – allein diese Dichter waren ihrer geistigen Entwickelung und ihrem Gefühlsleben nach noch nicht über die unteren Schichten des Volkes, aus denen sie hervorgegangen waren, hinausgekommen und wurden darum von den in der Literatur und im Geistesleben tonangebenden Kreisen kaum beachtet; denn hier führte der französische Geschmack das Scepter der Alleinherrschaft. Der hochbegabte, kunstliebende König Gustav der Dritte hatte seine Bildung ausschließlich der französischen Schule zu danken, und von dem Dichterkreis, der ihn umgab, galt dasselbe. So war denn die von ihm 1786 gestiftete „Schwedische Akademie“ ganz und gar nach dem französischen Vorbilde zugeschnitten, und nur das, was sich in den steifen Regeln der pseudoclassischen französischen Poetik und Rhetorik bewegte, fand Gnade vor den Augen der Akademiker.
Gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts aber begann im Geistesleben Schwedens ein gesunder Wind zu wehen – und da geschah es, daß diese unnatürliche Richtung, die jeder echt nationalen Entwickelung hemmend im Wege stand, zu erlahmen anfing. Es erhob sich, aus dem erwachenden Geiste der Zeit geboren, ein flammender Kampf gegen die Ueberlieferungen der Pariser Literaturschule; man wollte das Flitterwerk höfischer Sentimentalität entfernen und etwas Gehaltvolleres, Wahreres und Echteres an seine Stelle setzen. Aber es liegt nun einmal in der Natur des Menschengeistes wie der allgemeinen Dinge der Welt, daß Großes und Neues, sofern es Dauer haben soll, nicht mit einem Schlage geschaffen werden kann. Ein Frühlingstag kann nicht die Früchte des Sommers reifen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: hald
[748] Man war sich im Allgemeinen wohl bewußt, von woher die Befreiung kommen müsse: die Kant’sche Philosophie, Herder’s Wiederaufnahme der Volksdichtung, Lessing’s und Winckelmann’s Studien über die Antike, Goethe’s und Schiller’s Dichtungen zeigten den Weg, und die neuen Anschauungen, welche dadurch überall hervorgerufen wurden, erregten auch in Schweden eine große Gährung, aber im Ganzen fehlte der Richtung jede zielbewußte Klarheit und kräftige Concentration – es tauchte aus dem gährenden Chaos irrlichterirender Bestrebungen keine geniale Kraft auf, welche aus den zerstreuten Elementen etwas Ganzes hätte schaffen können.
Die Opposition, unklar wie sie war, zerfiel in zwei Parteien, in die „Phosphoristen“ und in die „gothische Schule“. Die Ersteren, die ihren Namen von der von ihnen herausgegebenen Zeitschrift „Phosphorus“ erhalten und deren Führer der junge Peter Daniel Amadeus Atterbom war, repräsentirten die deutsche Romantik in ihrer auf die Spize getriebenen Einseitigkeit, während die gothische Schule unter der Führerschaft Erik Gustav Geijer’s das nationale Banner erhob und sich auf das nordische Alterthum stützte, um, durch seinen Geist gekräftigt, eine volksthümliche Dichtung zu schaffen.
Mitten in die Streitigkeiten hinein, welche zwischen der alten Schule auf der einen und den beiden neuen Richtungen auf der andern Seite entbrannt waren, leuchtete plötzlich der hell aufgegangene Stern Tegnér’s; mitten in das lärmende Kriegsgeschrei der Parteien hinein erscholl die gewaltige Stimme des Predigersohnes von Kirkerud; im Jahre 1809 warf Tegnér seinen „Kriegsgesang für die schonische Landwehr“ in die literarische Bewegung seines Vaterlandes, und mit einem Schlage war die Aufmerksamkeit der ganzen Nation auf ihn gelenkt – Schweden bewunderte seinen großen Dichter.
In der That spricht eine große Energie und Begeisterung, ein bedeutsamer und hoher Geist aus den geharnischten Strophen des Gedichtes, deren einige im Folgenden[1] hier Platz finden mögen:
„Wie die Räuber mit dem Dolche, schleichen
Die Verräther her in stiller Nacht;
Plötzlich weh’n die Kriegeszeichen
Ob dem Volk, noch unbewacht;
Unsre Ernten kamen sie zu mähen,
Treten auf der Ahnen bleich Gebein,
Unsre Weiber frech zu schmähen,
Unsre Söhn’ dem Tod zu weih’n.
Das Thal uns ernähre,
Der Fels mach’ uns stark!
Im Herzen lebt Ehre –
Die Knochen voll Mark.
Wir thun uns zusammen,
Zu schützen das Land;
Die Brust ist voll Flammen,
Von Eisen die Hand.
Manch’ gestohl’ne Krone setzte
Seiner Stirn’ der Sieger auf;
Schwache Völker blutig hetzte
In den Tod sein Henkerhauf;
Doch kein Zelt hat aufgestecket
Je der Feind an unsrem Strand,
und kein feindlich Roß gelecket
Einen Quell im Gotenland;
Unsre Mädchen zum Altare
Führt noch frei die eigne Hand;
Nordens Stern, der ewig klare,
Leuchtet auf ein freies Land.
Die Herzen sind muthig;
Der Wille bleibt warm.
Wir heben den Arm
Und rächen uns blutig. –
Wir werfen, mag ziehn
Der Däne, der Russe,
Dem Schicksalsschlusse
Den Handschuh hin.
– – – – – – – – – – –
Droh’n die Vermess’nen mit schmachvollem Eisen
Uns, die nichts fürchten, uns, die nicht flieh’n –
Eher vom Himmel die Sterne sie reißen,
Eh’ sie dem Lande ein Dorf nur entziehn.
Doch sie sind zahllos – die Erde mag schlürfen
Zahlloser Blut; frei bleibt ihr Schooß.
Zahllos? – die Streiter nicht zählen wir dürfen,
Die Erschlagenen zählen wir blos.
– – – – – – – – – – –“
„Diese kriegerische Dithyrambe,“ sagt mit Recht Tegnér’s Biograph, „hallte wie eine Sturmglocke in allen vaterländisch gesinnten Herzen wieder. Töne, die zugleich so trotzig und rein waren, hatte man noch nie von der schwedischen Lyra gehört. Dieser elektrisirende Gesang flog wie ein Lauffeuer durch Land und Reich, als ein Zeugniß dessen, daß der Norden seinen Tyrtäus habe.“
Noch mächtiger war der Erfolg des Tegnér’schen Gedichtes „Svea“, vor dem sich selbst die Akademie beugen mußte, indem sie ihm 1811 ihren Preis zuerkannte. Es ist dies eine ergreifende, großartige Dichtung, gleich ausgezeichnet durch mächtigen, phantasievollen Inhalt, wie durch die schöne, kühne Form. Mit gebietender Kraft wendet sich der Dichter an sein schwächliches Zeitalter, zeigt ihm wie in einem Spiegel das thatenreiche Leben der Vorfahren und fordert es mit feurigen Worten auf, in die Fußstapfen Jener zu treten, ihm als Lohn dafür eine große und herrliche Zukunft verheißend. In höchst charakteristischer Weise tritt in der Form des Gedichtes der Bruch mit den alten Regeln hervor. Es beginnt nämlich in den traditionellen Alexandrinern, denen Tegnér indessen einen ganz anderen Schwung zu verleihen versteht als seine akademischen Zeitgenossen und Vorgänger, weil sie bei ihm einen wirklichen Inhalt bergen und nicht wie bei Jenen nur die innere Hohlheit und Leere verdecken. Aber bald wird ihm die traditionelle Form zu eng. In schwellender Fülle sprudeln die mächtigen Gedanken hervor und machen sich Luft in freieren Rhythmen. Durch dieses Gedicht ward Tegnér’s Ruhm begründet, ja, es war sogar von entscheidender Bedeutung für die Entwickelung der gesammten poetischen Literatur Schwedens, indem es einerseits die Nation für die Vorzüge eines wirklich poetischen Inhalts, der mit der tiefsten Sehnsucht und den geheimsten Gedanken des Volkes im innigsten Zusammenhange steht, empfänglich machte und andererseits zeigte, daß es dichterische Formen gäbe, in denen ein großer und bedeutungsvoller Stoff in ganz anderer Weise zu seinem Recht gelange, als in den akademischen, die bisher als die allein zulässigen betrachtet worden waren. Mit „Svea“ hielt die neuere Dichtung, welche bisher meistens nur in den gedachten beiden Schulen eine Zufluchtsstätte gefunden hatte, einen glorreichen Einzug beim schwedischen Volke.
Ein Jahr nachdem Tegnér diesen großen Sieg errungen, kam er nach Stockholm, wo er außerordentlich gefeiert wurde; sowohl die Phosphoristen, wie auch die gothische Schule suchten ihn für sich zu gewinnen. Er schloß sich zunächst der letzteren an, wobei er jedoch unerschrocken und scharf sowohl die Einseitigkeit dieser Schule, wie diejenige der Phosphoristen kritisirte und andererseits es nicht unterließ, die Vorzüge, die er bei den Männern aus Gustav des Dritten Zeit fand, gebührend hervorzuheben; dies that er namentlich in einem seiner berühmtesten Gedichte, einer in Versen abgefaßten Rede aus Anlaß des fünfzigjährigen Jubiläums der Akademie. Diese seine Stellung zwischen den Parteien zog ihm natürlich oft literarische Streitigkeiten zu. Besonders energisch trat er dabei gegen die Phosphoristen auf, deren Einseitigkeit und Unklarheit er mit beißendem Witz geißelte.
Er trug in der That sehr viel dazu bei, daß die Phosphoristen allmählich ihre hyperromantischen und überspannten idealistischen Tendenzen aufgaben, was in erster Reihe seinen eigenen poetischen Erzeugnissen, namentlich seinen größeren Dichtungen zu verdanken war; denn diese, die vom Volke mit Begeisterung aufgenommen wurden, ließen die Schwächen und Verkehrtheiten, die der alten und den beiden neueren Schulen anhafteten, nur um so stärker hervortreten.
Die erste von Tegnér’s größeren Arbeiten ist die religiöse Idylle „Die Abendmahlskinder“, die 1820 erschien. Dieses Gedicht zeichnet sich ebenso sehr durch tiefen religiösen Ernst, wie durch schöne stimmungsreiche Naturschilderungen aus und ist wohl dasjenige von Tegnér’s Gedichten, in dem er die höchste Meisterschaft bewiesen, weil der Stoff so ganz besonders mit seinem eigenthümlichen
[749]Talent harmonirte, das hier reiche Gelegenheit fand, sich in seiner ganzen rhetorischen, aber von einem wirklich poetischen Inhalt getragenen Pracht zu entfalten. In den drei wunderbar ergreifenden Reden des alten Predigers, die den Hauptinhalt des Gedichtes bilden, erreicht dieselbe ihren Höhepunkt.
Noch größere Bewunderung und Begeisterung erregte das Gedicht „Axel“, das zwei Jahre später erschien und von den Zeitgenossen als das vorzüglichste Erzeugniß der schwedischen Literatur angesehen wurde. Die Nachwelt wird kaum dieses Urtheil zu dem ihrigen machen. In „Axel“ finden sich Stellen von großer Schönheit, aber als Ganzes betrachtet ist das Gedicht allzu sentimental.
Den Gipfel seines Ruhmes erklomm alsdann Tegnér mit seiner „Frithjof’s-Sage“, einer Dichtung, welche so große Vorzüge hat, daß es sich leicht begreifen läßt, wie sie sofort auf die Zeitgenossen eine förmlich bezaubernde Wirkung üben konnte und noch heutigen Tages sowohl in Schweden wie auch anderswo lebhafte Bewunderung erregt; ohne Zweifel ist die „Frithjof’s-Sage“ dasjenige Werk Tegnér’s, durch welches sein Andenken am längsten bewahrt bleiben wird. Sie besteht bekanntlich aus einem Romanzencyclus, der seinen Stoff der altnordischen Sage desselben Namens entnimmt. Der Dichter erhält dadurch Gelegenheit, eine Mannigfaltigkeit wechselnder Bilder vorzuführen, welche alle mit blendender Farbenpracht gemalt sind und von den schönsten Rhythmen getragen werden.
Es lassen sich viele, an und für sich berechtigte Einwendungen gegen diese Dichtung erheben, aber alle müssen sie verstummen, wenn man sich in dieselbe vertieft und sich von den wunderbar schön gebauten Versen und der bald kernigen, bald weichen und schmelzenden Sprache wiegen läßt. Aber nicht darin allein ist der Zauber zu suchen, den die „Frithjof’s-Sage“ seit ihrem ersten Erscheinen und bis auf den heutigen Tag ausgeübt hat; denn daß tiefer liegende Ursachen der allgemeinen Anerkennung vorhanden sein müssen, dafür spricht der Umstand, daß die Dichtung auch in der Uebersetzung, also wenn ihr das einschmeichelnde Gewand der Ursprache genommen ist, denselben oder doch annähernd denselben Effect ausübt, wie im Original. Das ist begreiflich: hat doch der Dichter bei seiner idealisirenden Schilderung von der Liebe Frithjof’s und Ingeborg’s in allgemein menschliche Stimmungen so tief hineingegriffen, daß Niemand das Gedicht zu lesen vermag, ohne in seinem innersten Herzen den vollsten Wiederklang der angeschlagenen Saiten zu empfinden.
Die „Frithjof’s-Sage“ ist es, die Tegnér’s Ruhm über die ganze civilisirte Welt getragen hat, aber außer dieser und den von uns besprochenen größeren Dichtungen hat er eine große Menge ausgezeichnet schöner lyrischer Gedichte geschaffen, unter [750] denen die Gelegenheitsgedichte, namentlich aber seine in Versen abgefaßten Reden, die vorzüglichsten sind; hier erzielt die unserm Dichter eigenthümliche rhetorische Bilderpracht eine große und gewaltige Wirkung.
Bis zu einem gewissen Grade mag der durchgängig rhetorische Charakter der Tegnér’schen Dichtweise ein Erbe der alten schwedischen Schule gewesen sein, allein andererseits wurzelte er tief in der eigenen Persönlichkeit des Dichters und trug wesentlich dazu bei, daß sein Volk mit so großer Liebe an seinen Werken hängt; denn es ist eine Eigenthümlichkeit der schwedischen Nation, die hier ihren schönsten und vollsten Ausdruck gefunden hat.
Tegnér schloß sich, wie gesagt, keiner der bestehenden schwedischen Literaturschulen unbedingt an. Es war keiner von seinen geringsten Vorzügen, daß er es verstand, sich das Gute und Tüchtige, was er bei jeder derselben fand, anzueignen und es mit seinem eigenthümlichen geistigen Wesen zu verschmelzen. Eben dadurch ward er, ohne eine eigentliche Schule zu gründen, der hervorragendste Führer der schwedischen Literatur.
Aber auch in seinem Verhältniß zur Literatur des übrigen Europa bewährte er die Gabe eines feinsinnigen geistigen Aneignungsvermögens. Auf vielen Punkten zeugt seine Dichtung von seiner seltenen Empfänglichkeit für das Gute und Schöne, das er bei den Fremden fand, und von der großen Geschmeidigkeit seines Geistes. So verrathen die „Abendmahlskinder“ ein gründliches Studium Goethe’s, namentlich von „Hermann und Dorothea“; „Axel“ zeigt unverkennbar Byron’schen Einfluß und die „Frithjof’s-Sage“ die Einwirkung der Oehlenschläger’schen Dichtungen. Aber stets ist bei ihm das Fremde so völlig und selbstständig durchgearbeitet und von seiner Individualität so tief und warm durchdrungen, daß es ganz und gar sein Eigen geworden ist. Kein Dichter ist so ausgeprägt schwedisch wie Esaias Tegnér.
Zwei Spätherbstrosen an meinem Bett.[2]
Zwei Spätherbstrosen an meinem Bett,
Eine weiße und eine rothe –
Grüßt mich das Leben oder der Tod?
Sagt an, weß’ seid ihr Bote?
Da winkte die weiße geheimnißvoll:
„Von längst verschollenen Tagen,
Gestorbener Liebe, verlorenem Glück
Soll ich dir Grüße sagen.
Ich weiß in der Ferne manch’ einsam’ Grab,
Dort harrt man dein schon lange;
Ich kenn’ auch ein stilles Plätzchen für dich –
Laß küssen mich deine Wange!
Dann bist du befreit von des Lebens Pein,
Kannst schmerzlos träumen und schlafen.
Fernab tobt weiter Haß und Streit –
Du aber, du bist im Hafen.“
Sie schwieg; schon wollt’ ich in Todeslust
An’s Herz die Sprecherin drücken –
Da hub die rothe Rose an:
„O laß dich nimmer berücken!
Zwar kann ich dir nicht, wie die Schwester mein,
Den ewigen Frieden geben –
Ich bringe die Blüthe nicht ohne den Dorn –
Ich bin das ringende Leben.
Von rosigen Lippen künd’ ich dir Gruß,
Die ohne dich müßten erblassen;
Ich bin die Liebe und rufe dir zu:
Du darfst von Liebe nicht lassen.
Du darfst nicht feige entfliehen dem Kampf,
Ob schmerzen die klaffenden Wunden;
Zu neuem Leben, zu endlichem Sieg
Noch einmal mußt du gesunden.“
Da schrak ich empor vom Fiebertraum:
Die weiße Rose verwehte –
Die rothe küßt’ ich mit bebendem Mund
In stillem Dankesgebete.
- ↑ Diese Strophen wurden einer dankenswerthen deutschen Festgabe zu dem hundertjährigen Jubiläum des Dichters entnommen, dem soeben erschienenen kleinen Buche: „Esaias Tegnér, sein Leben und Dichten nebst einem Blüthenkranz aus seinen lyrischen Gedichten von Eugène Peschier“ (Lahr, Schauenburg). Wir ergreifen mit Vergnügen die Gelegenheit, die Aufmerksamkeit unserer Leser auf diese Publication hinzulenken, welche ihnen neben einer gehaltvollen Biographie und Charakteristik des nordischen Sängers eine Reihe seiner schönsten Gedichte in gewandter und stilvoller Verdeutschung bietet.
D. Red.
- ↑ Aus Ernst Scherenberg’s soeben erschienenen „Neuen Gedichten“ (Leipzig, Ernst Keil), welche wir schon jetzt der Beachtung für den Weihnachtstisch bestens empfehlen. D. Red.
Fiel Gustav Adolf durch Mörderhand?
Das ernste Fest, welches vor Monatsfrist zum zweihundertfünfzigsten Gedenktage von Gustav Adolf’s Tode auf dem Lützener Schlachtfelde gefeiert wurde, ist verklungen und in unserer raschlebigen Zeit schon halb vergessen. Man beging jene Feier einige Kalenderwochen vor Eintritt des geschichtlichen Gedenktages, um eine mögliche Störung desselben durch die Unbilden der rauhen Novemberwitterung zu verhüten. Wir haben damals (vergl. Nr. 37 dieses Jahrgangs) das für Deutschland so überaus folgenschwere Ereigniß in Bild und Wort unseren Lesern in die Erinnerung zurückgerufen. Wenn wir trotzdem heute noch einmal auf die Lützener Schlacht und den schwedischen Heldenkönig zurückkommen, so geschieht es, um den wirklichen Gedenktag der Schlacht nicht vorübergehen zu lassen, ohne unsern Lesern etwas zu bieten, was auf Gustav Adolf Bezug nimmt. Wir geben daher im Nachstehenden eine gedrängte, aber fesselnde Skizze, welche die Entstehung und die Entwickelung jener Sage darthut, nach welcher der Schwedenkönig von der Mörderhand eines Verräthers auf dem Schlachtfelde getödtet wurde.
Wie weit wir auch in die Weltgeschichte zurückblicken mögen, stets begegnet uns ein in der Menschheit tief wurzelnder Hang zum Ungewöhnlichen, Wunderbaren. So oft eine Gestalt über die Bühne der Geschichte schritt, gewaltig und groß, imponirend durch ihre Erscheinung und durch ihre Thaten, immer war die Mitwelt geneigt, beim Abtreten dessen, zu dem sie staunend aufgeschaut, daran zu zweifeln, daß er in derselben Weise wie die gewöhnlichen Sterblichen der Natur seinen Tribut gezollt. Die Apotheosen einer Semiramis, eines Romulus – was sind sie anders als eine Manifestirung dieser menschlichen Eigenthümlichkeit? Und – um Näherliegendes zu erwähnen – wer denkt hier nicht an die schöne Kyffhäusersage, die das Fortleben des glänzenden, prächtigen Hohenstaufenkaisers Friedrich des Zweiten im Volke repräsentirte, eine Sage, die später erst mit Friedrich Barbarossa’s Andenken verwebt wurde? Wer erinnert sich hier nicht der Erzählungen, die sich um den Tod eines Joseph des Zweiten rankten, von dem die Bauern, denen er ein Vater gewesen war, die Ueberzeugung hatten, er würde von den Pfaffen, seinen Feinden, irgendwo verborgen gehalten, und an dessen glückbringendes Wiedererscheinen sie noch Jahrzehnte hindurch hoffend glaubten? Wem ist endlich der romantische Mythus fremd, der Napoleon des Ersten tragisches Ende umkränzte, des gewaltigen Schlachtenkaisers, den viele in dem furchtbaren Aegypter Ibrahim wiedererkennen wollten, dessen Hand man noch bei Louis Napoleon’s Auftreten zu verspüren meinte?
Einem ähnlichen, wenn auch weniger kindlichen Ausflusse dieser Hinneigung zur Sagenbildung begegnen wir in der Mythe, welche sich um den Tod Gustav Adolf’s webt und ihn durch Mörderhand fallen läßt. Lange Zeit wurde die Meinung gang und gebe, daß der Herzog Franz Albert von Sachsen-Lauenburg verrätherisch seinen Arm wider den König erhoben habe, und noch Schiller vertheidigt ihn in seiner poesiedurchwebten Geschichte des Dreißigjährigen Krieges auf eine Weise, daß man eher an seine Schuld, als an seine Unschuld glauben möchte. Schiller, dem [751] freilich nur Quellen zweiten Ranges, die Bearbeitungen und Compilationen von Zeitgenossen zu Gebote standen, meint noch, daß das Dunkel von Gustav Adolf’s Tod niemals werde gelichtet werden.
Die neuere Forschung aber, die in den nunmehr geöffneten Archiven Schätze aufgefunden hat, wie sie Schiller nicht kannte, hat diese Aufklärung erbringen können: es steht uns jetzt von Augenzeugen eine reiche Anzahl handschriftlicher Berichte zur Verfügung – von höheren Befehlshabern und Leuten, welche die Sache genau kannten, und es ist interessant, zu beobachten, wie die unmittelbar nach dem verhängnißvollen Ereigniß geschriebenen Berichte ganz knapp und sachlich den Soldatentod des Königs melden, wie sich dagegen erst die späteren Mittheilungen in anekdotenhafter Weise auf Einzelheiten ausdehnen; es geht aus ihnen klar hervor, daß sich, wie es ganz natürlich ist, allmählich Lagerlegenden ausbildeten, die mit des Königs Fallen immer mehr phantastisches Detail, Vorzeichen etc. verbanden.
Noch vom Tage der Schlacht selbst, dem 6. November a. St., sind zwei außerordentlich wichtige Berichte datirt. Der eine ist von Joachim Camerarius sofort nach Beendigung der Schlacht, der er „den ganzen Tag beigewohnt“, abgefaßt und an seinen Vater, den berühmten schwedischen Gesandten Camerarius, gerichtet worden; er enthält über den schwedischen Verlust nur die lakonischen Worte: „Auf unserer Seite ist Rex geblieben und zweimal geschossen worden.“
In dem anderen Berichte, einem kursächsischen, den der Graf Brandenstein an den Kurfürsten Johann Georg aus Naumburg schrieb, wird „aus höchst betrübtem Gemüthe berichtet, wie die Königl. Maj. zu Schweden höchstseliger Gedächtniß … in Arm und Kopf und durch den Leib geschossen worden, daß Sie alsbald darüber geblieben und dero Leben geendet.“
Etwas lebhafter ist schon eine Relation vom folgenden Tage, die der schwedische Secretär Schwallenborg an den Feldmarschall Horn, der am Rhein stand, sandte, worin er schrieb:
„Die victoria ist cruenta (blutig) und gar luctuosa (mit Trauer verbunden) gewesen, in dem Ihr. Kön. Maj. bald zu anfangs der bataglie, als Sie die Avantgarde geführt, von einer Musqueten und Pistolen todtlich verwundet worden, auch alsbald darauf Todes verblichen; und hat also dieser incomparabilis Heros (unvergleichliche Held), für dessen langes Leben so viel tausend Seelen ohnzweifelich geseufzet, und dessen Tod von männiglich beseufzet und betrauert wird, Germaniae libertatem et Religionem (Deutschlands Freiheit und Religion) endlich mit seinem Blut bezahlen müssen.“
Von höchstem Werthe sind die in Weißenfels am 8. November geschriebenen Berichte des Generalmajors Kniphausen und des Herzogs Bernhard von Weimar, die zusammen nach Gustav Adolf’s Tode das Obercommando der Armee führten. Beide Gewährsmänner, denen die einzig-besten Informationen zu Gebote standen, sprechen von dem Tode des Königs als von dem einfachen Fallen im Gewühle der Schlacht.
„Es hat aber Ihre Majestät das Unglück auch mit getroffen,“ heißt es in Kniphausen’s Briefe, „indem dieser tapfere Held diesmals mit zwei Schüssen gefährlich verletzt worden und also in der That erwiesen, daß Sie Ihr königliches Blut bei Gottes heiligem Evangelio aufzusetzen gewillet.“
Bernhard theilte diese Nachricht seinem Bruder in folgenden kurzen Worten mit:
„Daß Gott der Allmächtige in vorgestriger, bei Lützen gehaltener Schlacht Ihre königliche Majestät zu Schweden durch den zeitlichen Tod von dieser Welt abgefordert.“ Aus diesen und noch einigen andern Berichten schwedischer Officiere kann man mit Sicherheit constatiren, was der wahre Kern, was spätere Erfindung ist.
Des Königs Tod wurde selbst in der Armee erst an den Tagen nach der Schlacht allgemein bekannt, und nun bemächtigte sich die Phantasie der Katastrophe, um sie mit allem Möglichen auszuschmücken, und gläubigen Ohres nahm Jeder für wahr auf, was der oder jener wissen wollte, und erzählte als Gewißheit weiter, was er als Vermuthung gehört. Einige Berichte, nur wenige Tage später verfaßt, lassen den Gang dieser Mythenbildung deutlich erkennen. In einem Schreiben des schwedischen Secretärs Grubbe vom 13. November aus Grimma, wohin das schwedische Heer zur Vereinigung mit den Sachsen gezogen war, heißt es:
„Um 1 Uhr ist anfangs Ihr. Mj. in dem dicken Nebel, so unvermuthlich eingefallen, das linke Armrohr rein abgeschossen, also daß man das rohr aus den Kleidern hangende sehen können. Darauf hat einer I. Mj. die Pistohl vf den Rücken, und Sie durchschossen. Und ob zwar dazumahl I. Mj. sich noch salviren wollen, hat gleichwohl der feind allzuhart angedrungen, und I. Mj. des Pferdes galouppe nicht ausstehen konnen, sondern aus Ohnmacht vom Pferde gefallen, Vnd nachdem I. Mj. noch etwas vom Pferde geschleift worden, sein Sie unterm feind beliegen blieben. I. Mj. haben dennoch etwas gelebt, Aber endlich ist einer darzu kommen vnd gefragt, wer I. Mj. wehre? Soll I. Mj. geantwortet haben, Sie wehren der König von Schweden. Darauf I. Mj. dieser wegkschleppen wollen, Aber weil vnsere Reuter ankommen, hat Er I. Mj. mit einer Pistolkugel durch den Kopf geschossen. Nach diesem ist I. Mj. bis aufs Hemd ausgezogen und spolijrt worden, Und vber das haben I. Kon. Mj. noch einen thödlichen stich empfangen in den Leib von pedarden, haben auch einen stich in das Haupt bekommen. Vber eine halbe Stunde oder mehr haben die Vnsrigen den Corpus salviret.“
Der Auszug eines Schreibens aus Berlin vom 14. November an den Vertreter des Kurfürsten Georg Wilhelm stützt sich schon deutlich auf circulirende Gerüchte wie folgt:
„Ihre Majestät haben bald zu Anfang einen Schuß bekommen in den linken Arm, darauf Sie zum Herzog Franz Albrecht, Herzog zu Sachsen, der um ihn gewesen, gesagt haben: ‚Vetter, bringet mich bei Seite!‘ – Ihre Majestät wären aber in der Eil engagiret worden, daß die anderen Sie hätten müssen verlassen, nach solchem Schuß wäre ein Reuter kommen, der Ihre Majestät gekannt und gesagt hätte: ‚Das ist der rechte Vogel, den wir meinen‘ – und darauf Sie mit einer Pistole durchgeschossen; ein anderer hätte Ihr einen Stoß mit einem Degen gegeben; Ihre Majestät wäre unter den Todten liegen geblieben und ausgezogen worden, den Daumring soll einer genommen und dem Wallenstein gebracht haben.“
Den weiteren Fortgang der Legendenentstehung zeigt ein ferneres Schreiben aus Grimma vom 18. November, von demselben Verfasser, worin eine Menge mittlerweile neu entstandener romantischer Einzelnheiten enthalten ist. Unter Anderem finden wir hier die bekannte Geschichte, daß der König unter der Motivirung, daß er seinen Schutz auf Gott gestellt, keinen Harnisch habe anziehen wollen, daß seine Pferde aus Trauer sich freiwillig zu Tode gehungert etc. Es ließen sich noch viele interessante Stellen anführen, welche diese Geschichten variiren und ausdehnen, auf denen die noch heute oft wiederholten Erzählungen beruhen. Wir erinnern nur an die Erzählung von Gustav Adolf’s sittlicher Entrüstung über die ihm dargebrachte, gleichsam göttliche Verehrung, an seine Ansprache an die Deutschen und Schweden seiner Armee vor Beginn der Schlacht (aus „Jons Manson’s Memoiren“) und an manches Rührende aus dem Berichte Leubelfing’s, des Vaters des mehrfach erwähnten jungen Pagen, der als letzter bei dem Könige aushielt und bei ihm die Todesstunde empfing. In allen diesen handschriftlichen Aufzeichnungen ist keine leise Spur davon zu finden, daß man an Verrath oder Mord dachte. Dieses Gerücht entstand erst viel später. Nur ein einziger handschriftlicher Bericht existirt mit der unverblümten Anklage des Verraths gegen den lauenburger Herzog, ein Bericht, dem jedoch die Lügenhaftigkeit und Renommisterei so klar auf die Stirn geschrieben stehen, daß es zu verwundern ist, wie er zahlreichen historischen Darstellern als Quelle dienen konnte. Verfaßt ist er von einem Hans von Hastendorf am 16. Juni 1633 in Lützen, also erst beinahe dreiviertel Jahre nachher, in Knittelversen, die spaßhaft wären, wenn sie nicht ein so tragisches Ereigniß behandelten und wenn man nicht das Unheil bedauern müßte, welches sie bei der Kritiklosigkeit der späteren historischen Auffassung anrichteten.
Die markantesten Stellen in demselben lauten:
„Wir waren fünf, die mit dem König aus dem Lager ritten,
Zu eilen dem Feind nach und sehen, wie sie stritten.
Zwey schickt der König weg, mit Ordre zu den Finnen,
Sie sollten nicht so hart auf die Feinde dringen.
Der Dritte war König Gustavus, den wir den Großen nennen,
Das verdroß den Kayser, doch must er ihn davor erkennen.
Der vierte war ein großer Herr, des Nahm ich nicht will nennen,[1]
Er ist in Deutschland wohl bekannt, und alle thun ihn kennen.
Der fünfte war ich selbst, Hans von Hastendorff also genandt.
Ich war mit dem König allezeit; denn ich war hie allweg bekandt.
Der Feind schoß unerhört auf allen Seiten,
Daß man nicht sicher war auf eine Seit zu reiten.
Da kam eine Kanonenkugel, nahm mich mit sampt dem Pferd;
Mein Bein verlohr ich bald, mein Leben war nicht viel werth.
Gustavus eilet weiter fort, kaum funfzig Schritt von mir –
Da blieb der Held geschossen von einem Verräther, das sag’ ich Dir.“
Der vom Uebelthäter geschossene König blieb liegen, und das Blut floß ihm über das Gesicht, daß er nicht sehen konnte, erzählt Hans von Hastendorf in seinen Knittelversen weiter; der König schoß nach dem Verräther seine beiden Pistolen ab, in der Meinung ihn zu treffen, aber fehlte. „Der König taumelte sich mit seinem Pferde,“ heißt es alsdann, „etliche zwanzig mahl herum, der Verräther saß von ferne, und sah es an, wie es sollte ablauffen mit dem König. Als aber der König nicht länger kunte zu Pferde sitzen, stieg er von dem Pferde ab, und ließ ihn loß, und leget sich auf die Erde und befahl Gott seine Seele mit heller Stimme, und befahl, die neben ihm lagen, auch so zu thun. Da kam der Verräther, der das alles hatte gesehen, und hauet und stoßet dem König noch drei Wunden. Da rief der König dem Verräther mit Nahmen: ‚Gott bekehre Dich und vergebe Dir Deine bösen Thaten, wie ich Dir sie vergebe! Schauet alle, die Ihr noch das Leben habet, wie ich für meinen guten Glauben bin umgebracht.‘ Da reitet der Verräther hinweg. Der König hatte seinen Degen aus; mit Blut war er besprenget, wie auch sein Collet, Sattel und Pferd, daß man ihn kaum kunte kennen.
So lang’ ich leb’ thut mir das wehe;
Ich darf nicht sagen, was ich hab’ gesehen
Den 6. November[2] bei Lützen.
Ich sterbe darauf und zweifle nicht:
Gott ist ein Richter, das versichere ich Dich,
Du Mörder und Verräther!
Es geschieht hier, wie David spricht:
Der mein Brodt isset, mit Füßen mich tritt.
Das begegnete hier auch König Gustavo von dem Vierten,
Der mit ihm aus dem Lager ritte.“ …
Diese Erzählung, deren historische Werthlosigkeit sofort in die Augen springt, fand ebenso wie die anderen zum Theil mitgetheilten Lageranekdoten Eingang in die damals sehr florirende Flugschriftenliteratur, die Mutter des modernen Zeitungswesens, und dadurch eine ungeheure Verbreitung; mit diesen Flugschriften gingen sie dann in die großen zeitgenössischen und späteren Geschichtswerke über und erhielten sich unangezweifelt in der Geschichte fast bis auf unsere Tage, wo es der archivalischen Forschung gelang, den Hergang documentarisch festzustellen, die verdunkelte Wahrheit in das rechte Licht zu rücken und unter Anderem auch den vielgeglaubten Mythus von der Ermordung des Schwedenkönigs Gustav Adolf endgültig als eine leere Erfindung hinzustellen und so zu beseitigen.
Im Hydepark zu London.
Schneller, als man glauben sollte, gewöhnt man sich an das großartige Treiben in den Straßen Londons. Einige Wochen nach seiner Ankunft in der britischen Hauptstadt geht der Fremde über London Bridge, ohne den Mastenwald auf der Themse eines Blickes zu würdigen oder zur stolz aufragenden Kuppel von St. Paul empor zu schauen. Er fährt an Whitehall vorbei und denkt nicht mehr daran, daß aus einem jener hohen Fenster Karl der Erste auf das Blutgerüst trat. Die Nelson-Säule erinnert ihn nicht länger an den Sieger von Trafalgar. Westminster-Abtei erweckt in ihm ein abgeblaßtes Wohlgefallen, und das Parlamentsgebäude, welches ihn zuerst durch Größe und Wucht der Verhältnisse zum Staunen, zur Bewunderung hinriß, fordert nun vielleicht seine herbe Kritik heraus. Nur der Hydepark verliert niemals den ursprünglichen Reiz; im Gegentheil – er gewinnt bei näherer Bekanntschaft. Denn seine Physiognomie ist immer neu, wechselnd nach Stunden, nach Tagen, nach den Jahreszeiten.
Aber lassen wir uns durch unseren Enthusiasmus nicht zur Uebertretung der gewöhnlichen Höflichkeitspflichten verführen! Vergessen wir nicht, Hydepark unsern Lesern vorzustellen! Es ist zwar keine leichte Aufgabe, da er an 160 Hectare groß ist, doch wer einiges Interesse an ihm nimmt, wird sich die Mühe nicht verdrießen lassen, in Oxford Street, einer der größten von Osten nach Westen führenden Verkehrsadern Londons, mit uns einen Omnibus zu besteigen und in langsamem Tempo die Häuserzeilen entlang zu fahren, welche in der schönen Morgensonne des Maimonats fast reinlich erscheinen.
Da sehen wir ihn vor uns. Die rechte Häuserreihe strebt unabsehbar weiter, auf unserer Linken sind wir eben an dem letzten Gebäude vorübergerollt, und in südlicher Richtung dehnt sich der Park aus, eine weite grüne, von spärlichen Bäumen bedeckte Rasenfläche, die von breiten Wegen durchschnitten wird. Gerade vor uns, wo der hohe Staketenzaun eine Ecke bildet, erhebt sich ein prächtiges Eingangsthor in der Form eines Triumphbogens. Das ist Marble-Arch. Indem wir auf der breiten Straße vorwärts fahren, haben wir rechts die manchmal schönen Häuserfaçaden eines vornehmen Stadttheiles, links den etwas eintönigen Hydepark neben uns. Wenn wir aber rückwärts schauen, erblicken wir die Straßenfronte von Park Lane, welche ihn im Osten begrenzt.
Doch nun verändert sich die Scenerie. Baumgruppen und zu Spaziergängen einladende Alleen erheben sich über dem Rasengrund. Dies sind Kensington Gardens, welche die westliche Fortsetzung von Hydepark bilden. Wir verlassen den Omnibus, treten durch eines der Thore und schlendern unter dem Schatten majestätischer Ulmen auf einen blinkenden runden See zu, welcher mit unauslöschlichen Zügen in dem Herzen Londoner Knaben eingegraben ist. Dort lassen nämlich täglich Hunderte von Vertretern der jüngeren Generation eines seefahrenden Volkes kleine Segelboote über die leicht gekräuselten Wellen dieses Binnenmeeres gleiten.
Als Vorboten der jungen Welt, die dort ihr Wesen treibt, kommen uns Kindermädchen mit dem freundlichsten Kindermädchenlächeln und Gouvernanten in correcter Haltung entgegen. Man kann sicher sein, von einigen Knaben gefragt zu werden, wie viel Uhr es ist, und wenn wir besonderes Zutrauen erwecken, tritt vielleicht ein junger Teichfahrer mit der Bitte um etwas Bindfaden an uns heran, um sein Takelwerk wieder in Ordnung zu bringen.
Wir schreiten in südlicher Richtung vorwärts über den in allen Farbenschattirungen des grünen Sammet spielenden Rasen. Menschen kommen uns entgegen; Menschen liegen auf dem Boden ausgestreckt; Menschen sitzen auf Stühlen; Menschen wandeln auf den Wegen und neben den Wegen, was einen an schimpfende Schutzmänner und donnernde Gensd’armen gewöhnten Deutschen zuerst sehr in Verwunderung setzt. Man glaubt sich auf dem Lande zu befinden – so idyllisch ist es hier. In Wirklichkeit sind wir auf allen vier Seiten von dem Häusermeere Londons eingeschlossen. Doch jetzt schlägt der Lärm der Wagen, der in jener Stelle verstummt war, wieder an unser Ohr. Wir stehen vor der Fortsetzung einer andern großen Verkehrsstraße, nämlich von Piccadilly. Diese Straße läuft parallel mit Oxford Street und begrenzt den Park im Süden. Der kreisrunde Bau auf der andern Seite der Straße, um welchen ein Terracottenfries läuft, ist Albert Hall und enthält den größten Concertsaal Londons, ja vielleicht der Welt. Links von uns steht das mit unbeschreiblicher Pracht geschmückte, an fünfzig Meter hohe Albert-Denkmal. Eine gothische Spitze erhebt sich über der in sitzender Stellung modellirten Figur des Prinz-Gemahls.
Gehen wir an diesem Denkmal vorüber, so gelangen wir bald durch ein eisernes Thor wieder in den Hydepark. Bäume und Sträucher liegen hinter uns; wir erblicken wieder den grünen Rasen. Was uns allerdings zuerst in die Augen fällt, ist ein fast eine halbe Stunde langer, wohlgepflegter Reitweg, der wie ein breites Band auf das Wellington-Denkmal zu aufgerollt ist. Dies ist die berühmte Rotten-Row, deren Name aus dem französischen Route de Roi (Königsweg) entstanden sein soll und die auf beiden Seiten von reinlichen Fußwegen begrenzt wird.
Noch ist der Reitweg leer. Aber es fehlt nicht an Reitern; denn rechts vor uns, in einiger Entfernung, vor einer großen Caserne ist eine Schwadron Gardecavallerie mit Exerciren beschäftigt. Das Schmettern der Hörner hallt zu uns herüber; wir sehen ein rasches Aufsitzen und Absitzen schöner, schlanker, stattlicher, über sechs Fuß hoher Männer mit regelmäßigem, oft kühnem
[753][754] Gesichte. Es sind dies wohl die schönsten Männer, welche ein europäisches Heer aufweisen kann, und mit Recht nennt sie Taine, ein französischer Geschichtsschreiber der englischen Literatur, „les beaux colosses“ (die schönen Kolosse).
Von der Uhr der Caserne schlägt es einhalb Zwölf. Setzen wir uns auf eine der Bänke, welche am nördlichen Fußwege angebracht sind! Wir sind hier allein und werden in der Betrachtung eines schönen Schauspiels, welches nun bald beginnen wird, nicht gestört. Vereinzelte Reiter und Reiterinnen erscheinen von ferne. Mit jeder Minute wird die Schaar dichter, welche einzeln, zu zweien, in Reihen, in ganzen Zügen, im Schritt, im Trabe, im Galopp auf schönen, feurigen Pferden an uns vorüberreiten. Da sind Herren und Damen, echte und imitirte Lords, Officiere und Sonntagsreiter, die oft genug, wie unser Bild zeigt, aus der Rolle fallen. Sollte Jemand daran zweifeln, daß England schöne Frauen aufzuweisen hat, so möge er sich nur eine Stunde auf eine der Bänke niederlassen. Wer einen schönen Gesammteindruck reizenden Einzelheiten vorzieht, wem Frische und Einfachheit des Wesens mehr gelten als der Reiz der Affectation, wer vom Weibe einen Eindruck verlangt, der sich nicht blos an seine Sinnlichkeit, sondern weit mehr an sein Gemüth und seine Phantasie wendet, der wird vielleicht lächeln, wenn man ihm – gegenüber der Engländerin – von der Schönheit der Frauen des Südens spricht. Kant sieht mit Recht das Merkmal des Schönen in demjenigen Eindrucke des Wohlgefallens, der uns zugleich die Ruhe des ästhetischen Schauens vergönnt. Ich kenne Niemand, der die englischen Damen wegen der Anmuth ihrer Bewegungen gepriesen hätte, aber ich muß gestehen, daß ich in keinem Lande so viele, ich möchte sagen, dianenhafte Grazie gesehen habe als eben in England. Die Haltung der Engländerin, mag sie schreiten, fahren oder reiten, ist bisweilen von königlicher Schönheit. Von hinreißendem Reize ist manchmal der kräftige, freie Schritt jugendlicher Gestalten und ihre eigenartige Anmuth bei heftigen Bewegungen. Was ist alle Grazie der Französin, der Spanierin verglichen mit der anmuthigen Meisterschaft, mit der die junge englische Reiterin im wildesten Galopp an uns vorüberfliegt!
Nun ist es auch auf dem Fußwege lebendig geworden. Die Brücken füllen sich; Damen und Herren stehen am Geländer, um das Leben in Rotten-Row in nächster Nähe anzusehen. Wir gehen langsam hinab. Je mehr wir vorwärts schreiten, desto mehr verdichtet sich die Menschenmenge, und jetzt, da wir uns am Ende von Rotten-Row und Hydepark-Corner dem an der Südwestecke des Parkes befindlichen Thore nähern, sehen wir Stühle und Bänke von Hunderten von Herren und Damen in den elegantesten und manchmal geschmacklosesten Toiletten besetzt. Wir sehen die crême der englischen Gesellschaft vor uns, die sich dort täglich sieht, bewundert, beneidet, verlacht, Fußgänger und Reiter an sich vorüberziehen läßt und auch etwas mit einander spricht; denn die englische Sprache ist eine schweigsame Sprache, und wer „Auh“ und „Hauh“, „Yes“ und „No“, „All right“ und „well“ zu sagen im Stande ist, der kann schon eine längere Conversation führen. An’s Geländer lehnen sich nachlässig young swells and old bucks (junge Stutzer und alte Roués), beide außerordentlich gut gekleidet, beide mit einem „Monocle“ bewaffnet, beide mit einem ungeheuren Blumenstrauß im Knopfloch, beide in Lackstiefeln und Cylinder, die Jüngeren manchmal mit dem Ausdrucke, daß sie gar nichts gelernt haben, die Aelteren, daß sie eine Kunst gründlich verstehen: die Kunst, sich zu conserviren.
Alles Irdische ist vergänglich, und da das Leben in Rotten-Row auch irdisch ist, so muß es vergänglich sein. Die Probe auf diesen regelrechten Schluß kann man jeden Tag gegen zwei Uhr machen. Um diese Stunde ist die reitende und spazierengehende Gesellschaft verschwunden und widmet sich zu Hause dem ganz gewöhnlichen, vom Weisen gering geschätzten Hantiren des Essens und Trinkens. Gegen halb drei Uhr zeigt sich in Rotten-Row auch im Monat Mai eine solche Leere, wie den größten Theil des Jahres hindurch zu allen Tageszeiten; denn das gestalten- und farbenreiche Leben, dessen Zuschauer wir soeben gewesen sind, pulsirt in London nur drei Monate. Es besteht der große Unterschied zwischen England und Deutschland, daß die deutschen Familien, welche wohlhabend genug sind, um sich einen Land- und Stadtaufenthalt gestatten zu können, im Winter in der Stadt leben und den Sommer auf dem Lande zubringen, während in England der Stadtaufenthalt gewöhnlich in den Frühling und Sommer fällt. Der Adel und die reiche Welt vertauschen im Anfange des Frühlings ihr Landhaus mit ihrem Hause in London, wo im Mai die „season“ beginnt. Die oberen Zehntausend sehen sich alsdann und gönnen ihren Söhnen und Töchtern Muße, einander kennen zu lernen und Heirathen zu schließen.
Aber auch in der stillen Jahreszeit fehlt es dem Hydepark nicht an Reiz. Das berauschende, saftige Grün der Rasen und Bäume, welches die englische Vegetation charakterisirt, verblaßt in Hydepark natürlich früher, als auf dem Lande. Aber wenn sich ein schwerer gelber Nebel über die Straßen Londons gelagert hat, die Laternen selbst am Tage die nächste Dunkelheit nur nothdürftig zu durchbrechen vermögen, wenn die Gestalten der uns Entgegenkommenden plötzlich auftauchen, Farbe und bestimmtere Gestalt annehmen und an uns vorüberschreitend sich wieder in allmählich verblassende Schattenbilder auflösen, dann ist es manchmal in Hydepark verhältnißmäßig klar und nebellos. Wer müde und des Lärms der Stadt überdrüssig, ländliche Stille genießen möchte, der wendet das ganze Jahr hindurch seine Schritte gern nach dem schönen Parke.
Von zwölf bis zwei und von vier bis sechs Uhr rollt in Hydepark ein ungeheurer ununterbrochener Strom von Wagen auf dem Fahrwege an einander vorüber, Europäer und Amerikaner, Perser und Hindus, die als asiatische Touristen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen pflegen und zu dem ihnen als Mentor dienenden englischen Rosselenker oft einen grellen Contrast bilden. Die Damen erscheinen wieder in Toiletten, die von ihrem Reichthume oder Credit, und manchmal auch von ihrem Mangel an Geschmack das unwiderleglichste Zeugniß ablegen. An einer gewissen Stelle nahe Hydepark-Corner, wo Reitweg und Fahrweg, einander schneidend, eine schmale Zunge bilden, sitzen wieder Hunderte von Damen und Herren und lassen mit größerer oder geringerer Gedankenlosigkeit die Reihe von Wagen an sich vorüberfahren. Die Stühle sind billig; denn man bezahlt für einen Sitz einen Penny (achteinhalb Pfennig).
Wer von hier auf Marble-Arch zuschlendert, sieht plötzlich die Fläche eines breiten, flußartigen Sees zu seiner Linken aufblitzen, der in der Nähe von Kensington Garden unter den Bohlen einer stattlichen Brücke verschwindet. Dies ist die berühmte Serpentine, eine der größten Zierden des Parkes. Gewöhnlich nur von Schwänen freiwillig und von Hunden unfreiwillig durchfurcht, bietet die Serpentine zuweilen Morgens und Abends der Londoner Bevölkerung, welche den Preis eines kalten Bades nicht erschwingen kann, eine Aufmunterung zur Reinlichkeit. Soll dieser Vorgang stattfinden, dann wird eine Flagge aufgehißt. Jung und Alt stürzt sich nun in die Fluthen des Sees und verweilt dort, bis die Flagge wieder herabgelassen wird.
Aber es ist nöthig, den Hydepark nicht nur an einem Werktage zu besuchen; man muß ihn auch an einem Sonntage sehen. Dann entfaltet sich dort ein buntes Volksleben. Die Arbeiter strömen schon am Morgen hinein, manche noch krankend an den Nachwirkungen der vorhergehenden lustigen Nacht. In stillen Winkeln geht die Flasche herum. Auf den grünen Rasenflächen liegt hier und da Einer dahingestreckt und liest sein Wochenblatt, mit welchem er nach beendigter Lectüre sein Gesicht bedeckt, um einen gesunden Vormittagsschlaf darunter zu halten. Wie praktisch die Engländer sind!
Doch erst am Nachmittage wird der Hydepark ein großer Volksgarten. Dann drängen sich auf den Wegen geputzte Köchinnen, hübsche Dienstmädchen, wohlgenährte Diener, elegante Kellner, mit Geschmack gekleidete Ladenmädchen, junge Commis, ernste Handwerker, die besseren Classen von Arbeitern, prächtige Gardisten, auf Urlaub befindliche Matrosen – alle im Sonntagsstaat. Die Soldaten, besonders natürlich die „schönen Kolosse“, verfehlen auch in diesem Lande nicht den Eindruck, den sie in anderen Ländern auf weibliche Herzen machen. Man erzählt sich sogar, daß manche der Damen, welche wir soeben vorzustellen die Ehre hatten, die Garde für ritterliche Begleitung bezahlen. Wie wohlhabend muß die Schöne auf unserer Illustration sein, die sich nicht nur das Heer, sondern auch die Flotte dienstbar macht!
Doch das englische Militär bethätigt sich noch auf eine andere, praktische Weise in dem weit ausgedehnten Hydepark. Unser[WS 1] Künstler hat eine Gruppe Soldaten dargestellt, welche ihre Fahnen schwenken. Es ist dies eine Zeichenverständigung zwischen zwei größeren Truppenabtheilungen, die einander nicht sehen können. [755] In gewissen Entfernungen zwischen den beiden Truppen sind Posten von je drei bis vier Mann aufgestellt, und dieselben vermitteln die Signale, welche der Führer der einen Abtheilung dem Commandanten der anderen zugehen lassen will.
Nicht wenig interessant sind auch die „Herbstfeuer“, welche die englische Jugend hier abzubrennen pflegt. Man duldet diese Belustigung, weil die Wiesen und freien Plätze des Hydepark so groß sind, daß der Rauch der Herbstfeuer das übrige Publicum kaum belästigt und eine Feuersgefahr vollständig ausgeschlossen ist.
Eine Hauptanziehung bilden aber seit zwei Jahren die freilich nicht kunstgerechten Concerte, die an Sonntagnachmittagen im Hydepark stattfinden – zum Entsetzen aller frommen Gemüther, welche in dieser Sonntagsentheiligung eine große Sünde erblicken, wie denn eine alte Dame dem Schreiber dieser Zeilen kürzlich alles Ernstes mittheilte, daß die ägyptischen Unruhen von der Einführung der Sonntagsconcerte her datirten.
Ein Spaziergang am Nachmittage im Hydepark ist in mancher Beziehung interessant: überall sehen wir auf dem Rasen Gruppen von Menschen zusammen stehen, die einem in ihrer Mitte befindlichen Redner lauschen. Der uns zunächst Stehende ist ein irischer Katholik. Unter dem lauten Gelächter seiner Zuhörer nennt er Luther einen Wüstling, Calvin einen Lügner, Kant einen Schurken und fordert seine Zuhörer auf, zur alleinseligmachenden Kirche zurückzukehren. Der Andere drüben ist ein Jude. Er greift das Wohlleben und die Sittenlosigkeit der christlichen Geistlichkeit in der heftigsten Weise an; er nennt das Christenthum eine schmutzige Institution und behauptet, daß das Evangelium die Menschen tief unglücklich gemacht habe. Ein anderer Haufen umsteht eine fromme Gruppe, welche unser Künstler mit großer Treue gezeichnet hat. Auf einer Fahne, welche von einer frommen Engländerin gehalten wird, lesen wir die Worte aus der Offenbarung: „Der Geist und die Braut sagen: ‚Komm!‘“
Siehe da – ein anderes Bild! Dort steht eine kampfbereite Compagnie der „Erlösungsarmee“ (salvation-army), welche man das aggressive Christenthum nennen könnte. Die Leutchen sind um einen Redner, ein Harmonium und eine blaue Fahne versammelt. Wir lesen auf der Fahne die Worte: „O Mensch, wo willst Du die Ewigkeit zubringen?“ Wir nähern uns der Gruppe und horchen auf die Worte des Redners. Er spricht von der Sündhaftigkeit irdischer Vergnügen an Sonn- und Feiertagen.
„Oft,“ sagt er, „sind auf dem Continente Häuser niedergebrannt, während die Besitzer derselben in einem Sonntagsconcerte sich an den lustigen Weisen eines Walzers ergötzten.“
Das ist unstreitig wahr. Da aber auch Häuser niederbrannten, während die Besitzer derselben sich in der Kirche befanden, so vermuthen wir, daß der Redende kein Apostel, sondern ein verkappter – Feuerversicherungsagent ist – wir verlassen ihn enttäuscht.
Nachdem die Engländer uns soweit auf der Bahn der Civilisation gefolgt sind, daß sie an Sonntagen das Spielen von profaner Musik gestatten, werden sie uns vielleicht bald auf die höchsten Höhen der deutschen Cultur nachfolgen. Was vermißt heute noch der biedere Deutsche, wenn er von den Höhen und Klippen der Insel Wight aus das tiefblaue Meer sich in duftige Ferne hinaus entrollen sieht? Was vermißt er, wenn er sich an dem herrlichen Laube weidet, welches den von Wellen umrauschten Saum der Insel umzieht? Ach, er vermißt den Klang eines soliden deutschen Biergartenconcertes. Er sehnt sich nach dem melodischen Klappern heimischer Kaffeetassen, dem lieblichen Klirren von Löffeln an einem gemüthlichen, deutschen Spießbürger-Gartentische.
Ja, wenn nach Jahrzehnten ein Anderer einmal wieder für die „Gartenlaube“ über das Leben im Hydepark zu berichten hat, dann wird er vielleicht gerührt die Thatsache verzeichnen, daß er überall die Inschrift gelesen habe: „Hier können Familien Kaffee kochen.“ Wilhelm Hasbach.
Blätter und Blüthen.
König Ludwig der Zweite von Baiern auf dem Schachen.[3] Lustig klapperten die Hufe einer Koppel feiner Rassepferde, welche, von königlichen Bediensteten in geschmackvoller blau mit Silber gestickter Livrée geritten, auf der Straße von Farchant einherzogen und im weiten Thorbogen des Gasthauses „Zur Post“ in Partenkirchen verschwanden. – Schon in der Nacht waren der Küchen- und der Bergwagen Seiner Majestät daselbst eingetroffen, um über das Mittenwalder „Gesteig“ nach der Elmau gebracht zu werden.
Hohes Interesse und mitunter recht abenteuerliche Vermuthungen erregte bei den zahlreichen Sommerfrischlern der große, finstere, wohl verschlossene Wagen, welcher die königliche Küche enthält, mehr aber noch der einsitzige, niedere, ledergepolsterte Bergwagen, der, nur auf zwei Rädern laufend, von einem starken Ardennenpferd in der Scheere gezogen wurde.
Der König ließ lange auf sich warten. Erst gegen halb zwölf Uhr Nachts hörte man den Galoppschlag eines Pferdes in der Hauptstraße des stillen Gebirgsfleckens ertönen, um gleich darauf, einem Schemen vergleichbar, einen Reiter vorüber sausen zu sehen, dessen im Bügel getragene Wachsfackel die reiche Silberstickerei seines Kollers beleuchtete; er war schnell in der Dunkelheit verschwunden.
Das war der Vorreiter des Königs, welch letzterer nun eine Secunde später in einem offenen Wagen in raschestem Laufe vorbeifuhr. Für jeden Begegnenden hat derselbe einen freundlichen Gruß. Man vergißt es nicht leicht, das männlich schöne Gesicht des Königs mit den dunkel blitzenden, so menschenfreundlich schauenden Augen: ein ideales, vom Hauche der Poesie durchgeistigtes Antlitz auf einem reckenhaften Körper.
In finsterer Mitternacht gelangt der Königszug, am Weiler „Klais“ von der alten Römerstraße abbiegend, zu dem romantisch am Fuße des Wetterstein gelegenen Einödhofe „Elmau“. Düstere Nebelschleier flattern gespenstig an den Wänden der Dreithorspitz, geisterhaft beleuchtet vom Vollmond.
Bei Fackelschein besteigt der König den Bergwagen, den das starke Pferd zwar im Schritt, aber doch in rasch förderndem Tempo auf den Serpentinen des vom königlichen Forstamte stets im besten Stand erhaltenen Steigs aufwärts zieht. Ein Führer und Fackelträger voran, geht es lautlos unter den Wipfeln der im Gewitterwind seufzenden Tannen der Höhe zu.
Nach zweimaligem Pferdewechsel erreicht der Bergwagen, die unter der gigantischen Schachenplatte gelegene Wettersteinsennalpe links lassend, den nun an der Seite des Gebirges auf Almboden meist eben hinlaufenden Weg. Geisterhaft wogen die Wetterwolken rechts unten über dem Thalkessel von Partenkirchen, hier und da von Blitzen durchschnitten; nur leise grollt aus der Tiefe der Donner. Hier oben, sechstausend Fuß über dem Meer, beleuchtet der Mond eines der großartigsten Alpenbilder. Links die jäh aufsteigenden Wände der Dreithorspitz; gegenüber rechts Alpspitz und Hochblassen, wie Brüder in fast gleicher Kegelform aufragend. Unten in schattiger Tiefe flimmert der Schachensee. Die Schachenalp selbst ist übersäet mit mächtigen Felsblöcken, auf und zwischen welchen unzählige Alpenrosen, Genzianen und Vergißmeinnicht in üppigster Fülle wuchern. Mächtige Wettertannen, vornehmlich aber die selten gewordene Zirbelkiefer, stehen in Gruppen umher, tiefschwarze Schlagschatten im Mondlicht werfend. Zwischen denselben ruhen bleiche Baumleichen, die ihre kahlen Aeste wie Erlösung heischende Knochenarme zum Nachthimmel emporstrecken, und sie wird ihnen, die Auferstehung aus Tod und Moder; denn fröhlich und lebenskräftig wuchern aus den halbverfaulten Stämmen ganze Generationen junger Tannen, Kiefern, Zirbeln und Blumen aller Art. Solcher Art sind die Bilder, wie sie König Ludwig liebt.
Gegen zwei Uhr erreicht er das Königshaus. Pferd und Wagen verschwinden in dem tief unten am See gelegenen Stallgebäude. Das Königshaus auf dem Schachen erhebt sich in einfacher Gebirgsarchitektur auf einem aus dem sogenannten Teufelsgesaß vorspringenden Hügel, größtentheils in Holzconstruction, deshalb aber nicht weniger fest, und fest mußte es auch gebaut werden; denn gewaltig sind die Föhnstürme und der furchtbare Schneedruck, dem das Gebäude den langen Winter über ausgesetzt ist. Den unteren gemauerten Stock nehmen außer den wenigen Räumen für die nächste Dienerschaft die Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer Seiner Majestät ein, sämmtlich einfach, aber höchst geschmackvoll eingerichtet.
Das obere Stockwerk, ein Giebelaufsatz, enthält lediglich einen großen Saal im maurischen Stil. Die Decke, unter welcher eine Fontaine ihr klares Wasser in eine große Schale ergießt, bietet ein schönes Oberlicht. Das Ganze, aus reichem Gußwerk, kann von innen verschiedenfarbig beleuchtet werden. Die Wände sind in maurischen Dessins blau, roth, weiß und golden gemustert, und längs denselben laufen blauseidene, reich mit Gold gestickte Divans hin. Von hier liebt es der König hinauszutreten auf die Terrasse und sich zu erfreuen und zu erfrischen an den herrlichsten Bildern einer ewig schönen, ewig jungen Natur. Hier geht er seinen verschiedenen Studien nach, namentlich der Geschichte der Renaissance, welche Bauweise, besonders die Spätrenaissance, er in seiner Residenz, im Schloß Linderhof, und neuerdings in Herrenchiemsee so wunderbar veranschaulicht hat.
Hier feiert König Ludwig häufig seinen Namens- und Geburtstag, den 25. August. Bis herauf zum Königshaus krachen dann die Böllersalven vom Partenkirchner Keller, wo, wie auch in Garmisch, die Bevölkerung mit den verschiedenen Vereinen an jenem Tage ein fröhliches Fest feiert mit Scheibenschießen, Musik und Tanz und allen Arten von Volksbelustigungen.
Auf der Post zu Partenkirchen sind am 25. August der „Fräulei Expeditorin“ noch ein Telegraphenbeamter und ein Schreiber beigegeben, um die zahllosen Gratulationstelegramme abzulesen und aufzuschreiben, welche dann zum Schachen getragen werden.
Den Abend seines Geburtstages pflegt der König gern in einem [756] auf jäh in’s Hinterrainthal abfallender Klippe errichteten Belvedere zuzubringen. Links vom wildzerklüfteten Oberrainthal und dem Hundstall, rechts vom Jochblassen, der Alpspitz, Bernarden und den schönen Gängen eingerahmt, zieht sich in fast gerader Richtung der Lauf der Partnach zum Schneeferner, dessen Abfluß sie ist, erst den Partnachwasserfall, dann die blauen Gumpen bildend, zwei durch einen Bergsturz entstandene tiefblaue kleine Seen. Von dieser Höhe bietet sich dem Auge ein Gebirgsbild, so wildromantisch und großartig, wie es wohl selten in den Alpen gefunden werden mag.
Es war ein herrlicher Abend am letzten 25. August. Schon deckte Dämmerung das Thal; hoch oben verglühte der letzte Abendsonnenstrahl am Platt, um nach seinem Verlöschen die wilden Schroffen mit gespensterhaftem Platinagrau zu färben; dies verwandelte sich noch einmal in ein schwaches gelbröthliches Nachglühen, um sodann die Nacht in ihre Rechte treten zu lassen, eine Nacht, so weihevoll ruhig, so hochpoetisch schön, daß das Menschenherz sich zum Frieden gestimmt fühlt. Da plötzlich leuchtet es wie wilde Lohe über die Fläche des Schneeferner, wirft farbige Lichter auf die nackten Schroffen, und läßt dieselben bald roth, bald grün und zuletzt blauweiß, also in Baierns Landesfarben, erstrahlen. Es ist dies ein Gruß der auf der Knorrhütte zum Nachtlager eingetroffenen Zugspitzbesteiger, welche, nachdem sie das Kreuz auf der höchsten Grenzwarte Deutschlands aufgerichtet, daselbst das Namens- und Geburtsfest des Königs feiern.
Erloschen sind die Flammen, längst verstummt Volksjubel und Böllersalven; stille heilige Nacht deckt Berg und Thal. Auf dem dunklen Spiegel des unergründlich tiefen Schachensees lauscht König Ludwig in leise dahin gleitender Gondel dem Flüstern der Tannenwipfel, dem Rauschen des Bergwindes über dem Grate des Wettersteins und dem hier und da melancholisch den nahenden Morgen verkündenden Rufe der Bergdrossel.
Völker ohne Brod. Unter diesem Titel verstehen wir nicht etwa hungernde Völker, sondern solche, die sich ganz wohl satt essen, aber ohne – Brod. Das mag vielleicht bei uns und in den übrigen Civilisationsmittelpunkten wunderlich erscheinen und unsere Leser auf die Vermuthung führen, daß wir ihnen etwas von der Lebensweise und den Nahrungsmitteln eines hinterasiatischen Volksstammes erzählen wollen – fehlgeschossen! Jene Völker ohne Brod sind unsere nächsten Nachbarn: die Südösterreicher, Italiener und Rumänen. Selbstverständlich gilt dieses „ohne Brod“ nur von den großen Volkskreisen jener Länder, nicht von der dortigen besser situirten Gesellschaft, wie auch nicht von den großen Städten.
Schon wenige Meilen von Wien, in den Bergen der Obersteiermark, wird in den Dörfern nur wenig Brod, ja in manchen ländlichen Haushaltungen gar keines gegessen. Das tägliche Hauptgericht der Leute, das übrigens gleichzeitig ganz gut das Brod ersetzt, ist nämlich der sogenannte Sterz, der aus Buchweizenmehl bereitet wird. Der Buchweizen, in Oesterreich „Heiden“ genannt, gedeiht in den Alpenthälern der Steiermark, Krains, Kärnthens, sowie in einem Theile Tirols in ganz vorzüglicher Weise.
Die Bereitung des Sterzes geschieht, indem man in eine tiefe Casserole Buchweizenmehl thut und dieses auf dem Feuer unter fortwährendem Rühren mit einem hölzernen Löffel warm werden läßt. Alsdann gießt man etwas kochendes, gesalzenes Wasser zu, was, während man zu rühren fortfährt, so lange wiederholt wird, bis das Buchweizenmehl in Verbindung mit dem Wasser eine Menge bröckeliger Theilchen bildet. Wenn die ganze Masse in der Casserole stark dampft, ist dies ein Zeichen, daß jene gar gekocht ist. In den Haushaltungen der Landbevölkerung der Steiermart, Krains und Kärnthens wird der Sterz zum Frühstück mit süßer, oder im Sommer mit sauerer Milch vermischt, zu Mittag mit Fleischbrühe oder geröstetem Specke und Abends wieder mit Milch genossen. Bei dieser kräftigen Nahrungsweise verlangt der Bewohner jener Alpenländer nur selten oder gar nicht nach Brod. Selbst in den feineren Städtehaushaltungen ist der Sterz ein gern gesehenes Gericht und somit die Nationalspeise eines großen Theiles von Südösterreich.
In dem jenen Ländern benachbarten Italien wird im Volke bekanntlich auch wenig Brod, desto mehr aber Polenta gegessen. Die Bereitung derselben ist der des Sterzes ganz ähnlich; nur wird zur Herstellung der Polenta Maismehl genommen, von dem zumal das lombardische als vorzüglich geschätzt wird. Auch wird die Polenta nicht, wie der Sterz, zu bröckeligen Theilchen gerührt, sondern man formt aus der ganzen Masse einen großen Kuchen, der mit einem Draht oder Bindfaden in kleine Portionen geschnitten wird. Der gewöhnliche Italiener genießt die Polenta auch kalt statt des Brodes, während sie auf dem Tisch der wohlhabenden Classe etwas verfeinerter erscheint.
Die Rumänen endlich, welche entweder der Rest einer großen römischen Colonie oder romanisirte Slaven sind, haben, was culturhistorisch jedenfalls sehr bemerkenswerth, eine der italienischen Polenta ganz ähnliche Nationalspeise, die gleichfalls aus Maismehl bereitet und Mamaliga genannt wird. Nur genießt man diese nicht, wie die Polenta, in festem, sondern in mehr breiartigem Zustande.
Jedes dieser drei hier genannten Nahrungsmittel läßt das Brod unschwer entbehren, weil es viel kräftiger und schmackhafter als dieses ist. Namentlich vermag der gewöhnliche Italiener mit einem Stück Polenta und einem halben Liter Wein einen vollen Tag schwer zu arbeiten. – In culturhistorischer Beziehung kann man fast mit Gewißheit schließen, daß die drei Nationalgerichte: Sterz, Polenta und Mamaliga, weit in die vorchristliche Zeit zurückreichen.
Ernst von Bandel’s Nachlaß. Zum Capitel deutscher Nationalschulden. Wenn ein Fremdling, wenig vertraut mit der Entwickelung von Deutschlands innerem Leben, uns früge: „Wer war Ernst von Bandel?“ so würden wir ihm mit gerechten Stolze erwidern: Er war jener reichbegabte deutsche Künstler, der im Jahre 1819 die Idee faßte, in der Gegend des Schlachtfeldes, auf welchem einst der Cheruskerfürst Hermann mit seinen tapferen Schaaren die römischen Legionen schlug und die Freiheit des Vaterlandes rettete, ein Denkmal zu errichten, das jenes großartigen Sieges würdig; wir würden weiter sagen: er war jener thatkräftige Mann, welcher durch zwei Menschenalter trotz unendlicher Schwierigkeiten an der Vollendung seines Planes arbeitete, bis endlich am 16. August 1875 unter den Augen eines der größten Führer Deutschlands, des siegreichen Schöpfers der deutschen Einheit, die letzte Hülle von dem fertigen Denkmal gehoben wurde; wir würden schließlich hinzufügen: er war jener selbstlose Mann, welcher diesem Wahrzeichen der nationalen Idee, das nunmehr stolz auf der Höhe des Teutoberges sich erhebt, sein ganzes Vermögen und die Arbeit seines langen Lebens opferte.
Wir brauchen unsere Leser wahrlich an die Verdienste Ernst von Bandel’s nicht zu erinnern, wohl aber müssen wir das deutsche Volk an die Tilgung einer Schuld mahnen, zu welcher es dem Andenken des Künstlers und seinen hinterlassenen Kindern gegenüber verpflichtet ist; denn für seine aufopferungsvolle Thätigkeit erhielt Ernst von Bandel von dem deutschen Volke keinen Ehrenlohn.
Gerade jetzt bietet sich die Gelegenheit, diese Schuld, wenigstens zum Theil, abzutragen.
Zu dem Nachlaß Bandel’s, welcher von den Nachkommen des Meisters mit treuer Pietät bewahrt wird, gehört bekanntlich ein großer Theil der künstlerischen Schöpfungen des Verstorbenen. Unter den siebenzig Arbeiten, welche den Nachlaß bilden, befinden sich auch einige, die zur Geschichte des „Hermann“ in engster Beziehung stehen, wie z. B. das Original der Hermann’s Figur, nach welchem die große Gestalt auf dem Denkmal selbst gearbeitet wurde, etc.
Wie wir jetzt erfahren, sieht sich die Familie des Künstlers gezwungen, die Sammlung zu veräußern. Soll nun dieses theuere Erbe in alle vier Windrichtungen zerstieben? Sollen die Originale des „Hermann“ und der „Thusnelda“ nach England oder Amerika wandern, um fremde Museen zu schmücken? Das wäre wirklich unerhört; das wäre eine Schmähung der Manen des Künstlers, der sein Gut und seine ganze Lebenskraft dem nationalen Denkmal geopfert hat – unwürdig wäre es des deutschen Volkes selbst.
Wir kennen nur eine Lösung dieser Frage: Die Nation möge den Nachlaß Bandel’s als Eigenthum erwerben und in der Nähe des Hermann-Denkmals, dem Schöpfer desselben zur Ehre, ein Bandel-Museum errichten. An den deutschen Reichskanzler und an den deutschen Reichstag richten wir zunächst die Bitte, diese Angelegenheit baldigst in die Hand zu nehmen, und wir hoffen fest, daß dieselbe nicht ungehört verhallen wird.
L. L. in Durlach. Ihrem Zwecke dürfte am besten das von unserem verehrten Miterbeiter Dr. Kalthoff redigirte „Correspondenzblatt für kirchliche Reform“ dienen. Dasselbe tritt mit sicherer Klarheit und mannhafter Entschiedenheit für die Grundrechte des Protestantismus ein und macht gegen Dogmenzwang und Priesterherrschaft energisch Front. Das thut in den heutigen Tagen der Reaction wahrlich noth. Das „Correspondenzblatt für kirchliche Reform“ erscheint monatlich ein Mal; der Preis beträgt pro Jahr 2 Mark pränumerando.
S. K. in Leipzig. Die mit so vielem Beifall aufgenommene Erzählung „Ketten und Verkettungen“ von B. Oulot finden Sie in Nr. 10 u. f. d. Jahrg. unseres Blattes.
Aelteste Abonnentin in Mosbach. Geben Sie gefälligst Ihre volle Adresse an!
E. B. Anonyme Anfragen werden in der Regel nicht beantwortet.
H. H. in M. Die von Ihnen erwähnte „Cur“ ist reiner Schwindel. Wenden Sie sich an einen tüchtigen Specialarzt!
A. S. Sie werden das Gesuchte im „Deutschen Reichs-Anzeiger“ finden.
Z. in Kassel. Unbedingter Schwindel!
Zur Beachtung!
der „Gartenlaube“ vorübergehend im Preise herabzusetzen.
abgelassen und können durch jede Buchhandlung bezogen werden.
- ↑ Franz Albert von Lauenburg.
- ↑ Alten Stils.
- ↑ Vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1873, Nr. 13.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Uuser