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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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No. 34.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der Krieg um die Haube.

Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)

Kaum hatte sich die Rotmundin entfernt, so kam in Meister Stoß der Künstler wieder zu seinem Recht. „Wozu strebt man nun nach dem wahrhaft Schönen?“ fragte er sich zornig. „Geht das Sinnen und Trachten der Menschen nicht immer dahin, zu verunstalten, was unser Herrgott schön gemacht hat? Da zieren sie einmal mit Schnäbeln und Ohren, die an den Kopf gehören, ihre Fußbekleidung, und ein andermal begehren sie, ihren Haarschmuck unter einem Thurm zu begraben. Aber ich will sie mit der Nase auf die wahrhaftige Schönheit stoßen.“

Er faßte einen fast vollendeten Engel scharf in’s Auge. Hoch bäumten sich die Locken desselben über dem reizenden Gesicht; die Flügel waren gefaltet wie bei einer ruhenden Taube; die Hände hob er anmuthig empor und schien so Ruhe zu erbitten, wie es seiner Bestimmung als Schmuck eines Kanzelfußes entsprach; ein langes Gewand flatterte ihm bis zu den Füßen herab, deren feine Zehenspitzen unter den knittrigen Falten des Saumes hervorsahen.

Meister Stoß begann mit emsiger Hand an dem Antlitz zu schnitzen und kicherte in sich hinein, als auf Wangen und Kinn sich Grübchen vertieften. – – –

Während so Jedermann bemüht war, Neues zu schaffen, hatte Wilhalm Haller sich bisher nur mit Einreißen beschäftigt. In seinem Hause wurde das Unterste zu oberst gekehrt. Alles Alte mußte ihm aus den Augen gebracht werden, und er war sichtlich darauf aus, von seinem Thun möglichst viel Gerede in der Stadt zu erregen. Besonders wenn die Elsbeth ihm einmal begegnet war, vom Sturz verhüllt und die Augen tief gesenkt, daß sie ihn nicht anzuschauen brauchte, schickte er gewiß am selbigen Tage ein altes schönes Stück Hausrath in die Verbannung auf den dunklen Hausboden.

Aber der Tag des Einzugs rückte näher, und auch er mußte für die Verhüllung und Ausschmückung seines zerklüfteten Hauses sorgen. Er begab sich nach der Cistelgasse und trat dort in Albrecht Dürer’s Haus ein. Beinahe wäre er wieder hinausgekehrt worden; denn Frau Agnes Dürerin, die heute ihren scharfen Tag hatte, wirthschaftete mit dem Besen umher und keifte mit einem Lehrjungen, der beim Reinigen der Malermuscheln die Hausdiele beschmutzt hatte.

„Das ist auch eine Frau, der nichts höher steht als Besen und Kochtopf,“ dachte Wilhalm verächtlich und folgte dem vorausschleichenden Lehrling in die Werkstatt des Malers.

Hier herrschte eifrige Arbeit. Der Meister mit dem sanften Gesicht und dem langen Haar stand vor einer großen aufgespannten Leinwand und malte an einem Madonnenbilde. Vor ihm saß auf einem Thronsessel ein Weib, das einen kleinen Buben im Hemd auf dem Arm hielt; der schwenkte ein Fähnlein in seiner dicken Hand und stellte den Heiland dar.

Es waren auch noch mehr Gäste da. Der Erzgießer, Meister Peter Vischer, wandte dem Eintretenden sein Antlitz zu, von dem ein langer Bart herabfloß, und bei dem Zeichenbrette des einen der Schüler, die an den großen Fenstern saßen, stand ein Mann, dem ein Kräuterbündel aus dem Zwillichwams hing. Der junge Patricier wurde mit Ehrerbietung begrüßt.

Er benahm sich, wie er es im Lande Italia gelernt hatte, drückte dem Meister die Hand, stand voll Bewunderung vor der thronenden heiligen Jungfrau Dürer’s, betrachtete den Entwurf zur Krönung der Maria, die das Domcapitel in Erfurt bei Peter Vischer bestellt hatte, und über welchen dieser mit Dürer sich berieth, und prüfte den Engelkranz, den des Malers Schüler Altdorfer malte. Dann nahm er auf dem dargebotnen Lehnstuhl Platz.

„Ich wünsche,“ sagte er, „ein Bild gemalt zu haben, so die Lücke in meinem Haus künstlich verhüllt. Es soll darauf der Götterbote Mercurius also dargestellt sein, wie er der Stadt Nürnberg die Botschaft bringt von dem Nahen seiner fürstlichen Durchläuchtigkeit, und die Göttin Fama, wie sie sein Lob posaunend in ein Horn stößt, auf daß den fremden Gästen klar werde, auch in Nürnberg lebe Kenntniß der griechischen und römischen Abgötter und nicht Jedermann allhier verschließe sich starrköpfig den Segnungen neuer fürnehmer Bräuche.“

Er sprach trotzig und herausfordernd, wie jetzt immer. War ihm doch allzeit kampflustig zu Muthe!

Aber es wunderte sich Niemand darüber. Der Streit um den Sturz war allgemein bekannt, und über die Gesichter aller Anwesenden glitt ein Lächeln, welches bewies, daß seine Andeutung darauf bezogen worden war.

„Die armen Weiblein!“ flüsterte es hinter den Staffeleien der Schüler.

Albrecht Dürer rückte sein schwarzes Barett zurück, schüttelte den Kopf und sprach:

„Warum erheben die Frauen ihre Stimme, um an die Stelle einer häßlichen Hülle eine andre unschöne Form zu setzen?“

„Du damischer Ding!“ ertönte aus dem Flur herauf die Stimme der Rechenmeisterin, wie Herr Albrecht sein Ehegespons nannte. Dann stolperte ein zweiter Lehrling mit einem Oelkrug, aus dem er etwas verschüttet hatte, über die Schwelle.

[554] „Ja, warum erheben die Frauen ihre Stimmen?“ lächelte Altdorfer. „Dieweil die meisten mehr einem Drachen denn einer heiligen Jungfrau gleichen.“

Die Andern lachten, aber Herr Albrecht nickte und erwiderte:

„Du hast Recht, mein Sohn.“ Und dabei malte er an dem Madonnenbilde auf seiner Staffelei einen feinen Pinselstrich, wodurch der Blick ihrer blauen Augen noch sanfter wurde.

[WS 1]Da öffnete sich die Thür, und die Dürerin schaute selbst herein.

„Es sind zwei Frauen draußen,“ rief sie, „in Sturz und Brokatrock, die mit Euch reden wollen. Ihr habt doch keine Bilder hier, die ihren Augen anstößig sein möchten? Denn ich meine, es sind die Imhofischen.“

„Laß sie eintreten!“ sagte Herr Albrecht mild.

Aber Wilhalm war aufgesprungen; seine Augenbrauen hatten sich finster zusammengezogen.

„Wenn auch Eure Bilder sie nicht verscheuchen so ist ihnen vielleicht mein Anblick widerwärtig. Laßt mich hinter die Leinwand schlüpfen!“

Kaum hatte er sich verborgen, da traten die Frauen ein.

Herr Albrecht nahm das Barett vor ihnen ab. Sie neigten das Haupt zum Gegengruß, und Elsbeth sprach:

„Wir kommen, um eine Bestellung bei Euch zu machen, Herr Dürer. Wollt Ihr mich abconterfeien? Ich möcht, daß ein Bild von mir in dem Gange aufgehängt werde, wo die Imhofinnen alle von der Wand blicken, bevor ich aus dem Hause scheide; denn ich gedenke in ein Kloster zu gehen.“

Da war es, als wenn leise Einer mit dem Absatz aufträte, wie in schwer bezähmter Ungeduld.

Herr Dürer war es nicht; der sah in Elsbeth’s Augen und fragte:

„Ihr sollt in’s Kloster gehen?“

„Es zwingt sie Keiner,“ fiel die alte Imhofin ein. „Sie folgt ihrem eignen Entschluß. Und sie wird auch nicht früher in dasselbe eintreten, bis sie bei den Festen, so uns bevorstehen, noch einmal weltliche Luft gekostet hat.“

„Wie wollt Ihr gemalt sein?“ wandte Dürer sich an Elsbeth.

„In Sturz und Kirchenrock!“

„Im Sturz?“ fragte Herr Dürer verwundert, und es ging ein Gemurmel durch die Reihen der Schüler, das ein Echo hinter der Leinwand hervorrief.

„Warum wollt Ihr Euch also verunstalten?“ fragte der Meister und forschte durch den Schleier, ob er vielleicht dahinter ein abstoßendes Antlitz entdecke.

„Aber Meister!“ seufzte die alte Imhofin kummervoll. „Stimmt Ihr vielleicht auch für die Augsburgische Haube?“

Dürer schüttelte den Kopf.

„Die aufstutzige Haube strebt ebenso gegen die Gesetze der Schönheit wie Euer Sturz. Wollet Ihr nicht das Schleiertuch wählen? Es verwahrt das Haupt auf natürliche Weise und verleiht ein madonnenhaftes Ansehen.“

Elsbeth's Augen blickten finster.

„So kleidet sich keine ehrsame Jungfrau,“ sagte sie.

„Hätte der Antwort gewärtig sein können,“ meinte Dürer. „Wir Maler sind übel daran in dieser guten Stadt. Ihre Thore sind so fest, ihre Mauern so hoch, daß das Neue nicht herein, das Alte nicht hinaus kann. Woher sollen wir da schöne Vorbilder nehmen? Der Tizian hat’s doch leichter. Der sieht die Frauen im Schmuck lichter Schleier und mit Perlenschnüren im Haar.“

„O schweigt von den welschen Frauen!“ rief Elsbeth entrüstet. „Sie sind aller Eitelkeit voll.“

„Weiß nit, warum den Frauen versagt sein soll, ihr Haupt nach eigenem Gefallen zu schmücken,“ bemerkte der junge Mann mit dem Kräuterbündel, der dem zeichnenden Schüler neben ihm allerhand Blattwerk und Blumen als Muster hinlegte. „Wäre es Sünde, sich herauszuputzen, alsdann würde unser Herrgott den Pflänzlein nicht so mancherhand wunderlichen Schmuck angehangen haben.“

„Der Herr Hieronymus Bock vertheidigt den Putz,“ sagte David Kandel, der Zeichner, „und trägt doch selbst das Zwillichwams und den Bundschuh des Bauern, statt des schwarzen Rockes der gelehrten Herren.“

„Also ziemt es sich für den Wurzelgräber,“ lächelte der Botaniker, welcher unter dem Namen Tragus später zu hohem Ruhme kam.

„Wenn Ihr gelehrt seid,“ fragte Elsbeth fast rauh, „wie könnt Ihr eine solche Schwachheit entschuldigen?“

Hieronymus Bock sah sie freundlich an.

„Nennt Ihr die Freude am Schönen eine Schwachheit? Ich habe oft darüber nachgesonnen, wenn ich auf meiner arbeitsseligen Pflanzenfahrt durch das rauhe Wasgau streifte, wie doch Alles, was Menschenhände machen, so wunderbarlich vorgebildet ist in der Natur. Trägt nit die Goldwurz, die in den hohen Wäldern wächst, ein Gebände, wie der schlimme Türke es um sein Haupt schlingt? Nennen wir nit die Wolfswurz auch Eisenhütlein, weil sie eine blaue Haube hat, gleich unsren Rittern beim Turnei? Setzt der Fliegenschwamm nit einen rothen Hut auf, wie die Cardinäle in Rom? Zieht der Rittersporn nit Schnabelschuhe an? Und der Goldstern, den da mein lieber Gesell so einfältig schlecht und wahrhaftig hinzeichnet, gleicht er nit den feinen Goldröslein, mit welchen die holdseligen Frauen ihre Mieder verzieren? Wenn der allmächtige Gott so große Freude an der Zier hat, warum sollen’s nit die jungen Mägde auch haben, die er schuf, so recht sich und uns allen zur Augenweide?“

„Darf die Jugend nicht auch anmuthig seine“ pflichtete Dürer bei. „Wenn wir ein absonderlich schönes Weibsbild sehen, so malen wir es als liebe Gottesmutter. Wir schaffen die Englein schön und die Teufel häßlich.“

Elsbeth wußte nicht, was sie entgegnen sollte. Auch die künstlichen Meister hier sprachen Alle wie der Haller, und selbst der gelehrte Herr stimmte ihm zu. Traurig sinnend schlug sie die Augen empor; ihre Seele war weit weg bei dem Streite mit dem ungetreuen Verlobten.

„Euren Augen nach müßtet Ihr eine schöne heilige Jungfrau geben,“ sprach Meister Dürer und legte ihr den Buben mit dem Fähnlein in den Arm.

Sie beugte sich freundlich zu ihm nieder. Er sah sie erst starr an; dann jauchzte er auf und faßte in die Schleier des Sturzes. Sie sanken herab.

Und da rollte plötzlich über Hals und Schultern bis zu den Knieen schweres Goldhaar nieder. Sie stand erschrocken, und Frau Imhof zog die Stirn kraus in ernstem Tadel.

Aber die Schüler fuhren von ihren Sitzen auf, bildeten einen Kreis um sie herum, und ein Ausruf der Bewunderung ging durch die Werkstatt. Auch der junge Altdorfer verließ seine emsig durch die Luft rudernde Engelschaar, an der er malte, und drängte sich Allen voran. Schier verzückt schaute er auf die goldnen Wellen, und dann blieb sein Auge mit dem seltsamen durchdringenden Blick, den nur die Maler haben, an dem purpurnen Munde haften, der herbe wie in unterdrücktem Schmerz an den Winkeln leicht sich senkte.

Elsbeth wandte sich verlegen von ihm hinweg. Zugleich polterte es hinter der Leinwand, und – plötzlich trat Wilhalm mit zornigem Gesicht zwischen Altdorfer und sie.

Ueber ihr Antlitz zuckte eine hohe Gluth.

„Warum verbergt Ihr uns, daß Ihr Gäste habt, Herr Dürer?“ fragte Elsbeth diesen vorwurfsvoll, indem sie das Kind vom Arme ließ.

Und während Alle sie sprachlos anstarrten, bemühte sie sich, ihr Haar wieder zu bergen, aber es war zu stark und lang. Die Mutter trug Handschuhe und über diesen noch Ringe, sodaß sie sich ungeschickt im Helfen erwies. Elsbeth vermachte das Gebände nur lose um den Kopf zu schlingen.

Der Wilhalm aber vergaß diesmal seine spanische Reverenz, weil er sie immer anschauen mußte.

„Wenn i nur wüßt’,“ rief die Imhofin, „wo Ihr gesteckt habt, daß wir Euch nicht gewahrten!“

„O, mit solchen Praktiken,“ sprach Elsbeth bitter, „ist Herr Haller wohl vertraut. Heimlich Spiel, so Niemand erfahren darf, versteht er meisterlich.“

„Eure Zunge ist scharf,“ antwortete Wilhalm. „Ein sanftes Wort möchte einer Jungfrau bester anstehen. Ich verbarg mich, weil ich wohl weiß, daß Ihr mir nicht gern begegnet, und ich kam hervor, um Euch zu sagen“ – er stockte, weil sie ihn stolz anschaute; dann fuhr er trotzig fort: – „daß Ihr eine Thörin seid, so Ihr noch fürder den Sturz tragt.“

„Fast möcht’ ich Euch Recht geben,“ sagte die Imhofin. „Wenn i nur wüßt’, ob es anging! Gern schlöss’ auch ich mich der Rotmundischen Rotte an.“ [555] „Laßt mich’s vermitteln!“ erbot Wilhalm sich eifrig.

Da richtete sich Elsbeth jäh auf.

„Nimmermehr! Leichtfertige Frauen mögen sich putzen! Mein Gewand ist die Zucht, mein Mantel die Ehre; ich verlange keine andere Zier.“ Sie neigte das Haupt und schritt zur Thür.

Haller zog die Augenbrauen zusammen. Er vertrat ihr den Weg.

„Laßt mich Euch geleiten!“ sprach er. „Es ist dunkel geworden, und der Gedrang in den Straßen ist jetzt groß.“

„Mich schützt der Sturz besser denn Ihr,“ erwiderte Elsbeth mit gedämpfter Stimme. „Wie wolltet Ihr Andern die Ehre wahren, da Ihr doch die eigne hintansetzt um einer verbotnen zärtlichen Leidenschaft willen.“

Haller horchte auf. Dann flüsterte er:

„Ihr thut mir Unrecht.“

Sie sah ihn über die Schulter an.

„Ihr verschmäht auch die Lüge nicht.“

„Treibt’s nicht zu weit,“ fuhr er auf, „daß nicht die Stunde kommen möge, wo Ihr in bittrer Reue den Wilhalm Haller zu Eurem Beistand herbeisehnt!“

„Wenn Ihr nur dann beihanden seid,“ hauchte sie in düstrem Spott, „und Euch nicht etwa versteckt wie heut’!“

Er ballte die Faust und wandte ihr zornig den Rücken. Die Frauen schritten hinaus. Die Künstler aber blickten dem schönen Mädchen bewundernd nach.

„Sie glich einer Himmelskönigin im Strahlenkranz,“ sprach Peter Vischer.

„Und um den Mund,“ rief Altdorfer, „lag es wie eine stille Klage.“

„Ihre zwo Aeuglein,“ sagte Hieronymus Bock, „schauten aus wie die Blüthen des Kräutleins Wegewart, von dem ein Märlein sagt, es sei eine verwunschne Jungfrau, die ihres Geliebten am Kreuzweg harre. In jedem Jahrhundert einmal verwandelt sie sich, um auszuspähen, ob der Ungetreue noch nit heimkehrt.“

Der Dürer aber sprach sinnend:

„Nicht als Heilige und nicht als verwünschte Jungfrau möchte ich sie malen und beileibe nicht als Nonne, sondern als eine tapfre schöne Hausehre mit dem Schlüsselbund an der Seite.“

Da stürmte Wilham ohne Gruß zur Thür hinaus und rannte in das Menschengetümmel auf den Straßen hinein, als müsse er etwas Entflohenes einholen.

Aber verschmähtes Glück hat flüchtige Sohlen; ein ganzes Menschenleben reicht oft nicht aus, es wieder einzufangen. Der Wilhalm gewahrte nirgends die einstige goldhaarige Braut.

Hingegen rannte er einen Perlenmacher über den Haufen, daß die Schachteln und Beutel durch einander rollten. Der Mann schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und verkündete zeternd, daß nunmehro der Einzug nicht von Statten gehen könne, dieweil er nicht mehr vermöge, den schwarzen Atlasrock der Schultheißen gänzlich mit Perlen zu besticken. Wilhalm brachte den Mann mit einer Hand voll Weißgroschen zur Ruhe. Etwas abgekühlt schritt er ruhiger fürbaß.

Also sie hatte ihn in einem unehrbaren Verdacht? Sie glaubte, er, der Wilhalm Haller, habe ein frevles Liebesspiel mit einer Ehefrau eingefädelt? So gering schätzte sie ihn? Und sie wollte in ein Kloster gehen, aber vorher noch weltliche Luft kosten? Er lachte höhnisch. Das kannte er. Das Kloster sollte der letzte Nothbehelf sein. Zuvor gedachten die Eltern zu versuchen, ob sie nicht einen Herrn aus dem Gefolge des Erzherzogs für ihre schöne Tochter fischten.

Ja, schön ausschauen konnte sie. Diese Gerechtigkeit ließ er ihr widerfahren und gestand sich offenherzig ein, daß er das früher nie vermuthet hatte. Aber sie sah sonst auch nie so aus. Was mußte nur in sie gefahren sein, daß sie so verwandelt erschien? O, wenn sie den fremden Gästen entgegentrat wie heut ihm, dann widerstand ihr Keiner. Dann kam sie vielleicht nach Venezia und verdunkelte mit ihren goldnen Haarwecken die röthlich schimmernden Flechten der schönen Tochter des Tizian.

Schon wieder stürmte er dahin. Ein „Auweh!“ erscholl, und ein Schneiderjunge lag unter einem Haufen von seidnen und sammetnen Puffen in der Gasse.

„O das kunstvoll verhauene Wams! Was hat es für Mühe gemacht! Rock und Hose auf einer Seite ganz grün, auf der andern weiß, gelb und roth getheilt! Was wird Herr Imhof sagen?“

Wilhalm erschrak. Mußte ihn sein Schicksal immer den Imhof’s feindselig gegenüber stellen? Er half mit eignen Händen das Gewandzeug wieder in den Korb packen, und es fiel ihm in seiner Sorge nicht einmal ein, die Nase über die veraltete getheilte Tracht zu rümpfen.

Dann wandelte er weiter. Was war es doch gewesen, woran er eben gedacht hatte, und was ihm die Brust einklemmte, daß er nicht frei athmen konnte? Richtig! Die Elsbeth als Ehegemahl eines welschen Herrn, von Tizian gemalt und berühmt vor aller Welt ihrer Schönheit halber. Nein, da war es doch besser, das Goldhaar fiel unter der Scheere; sie barg im Nonnenschleier ihr Antlitz und weinte sich die Wegwartenäuglein in einsamer Zelle roth, daß sie dem Wilhalm so schwer Unrecht gethan hatte durch ihren Verdacht. Dann war es freilich zu spät für sie, wenn sie etwa noch eine zärtliche Leidenschaft für den einstigen Bräutigam faßte, den sie so hart von sich gestoßen hatte. Aber besser späte Einsicht als gar keine!

Er seufzte tief auf, und es war ein herber frischer Duft, den er dabei in seine beklommene Brust einsog.

Die ganze Stadt duftete wie ein Maienwald; überall saßen die Leute unter den Laubengängen und wanden Kränze; Karren mit Fichten und Birken fuhren durch die Straßen. Das deutsche Volk kennt nichts Schöneres als seine uralte Heimath, den Wald. Wenn es freudig bewegt ist, trägt es ihn herein in die festen Städte und haust für eine kurze fröhliche Zeit unter den geliebten grünen Bäumen. Auch aus Wilhalm’s Seele wich bei dem Duft der heimathlichen Wälder das Gedenken an welsches Gepränge. Die spinnende Dämmerung, der weiche Abendwind stimmten ihn sanfter. Das Gewissen regte sich in ihm.

Hatte er nicht auch ihrer ledig sein wollen? O nein, er wußte es jetzt ganz genau: nur umbilden wollte er sie, damit sie sei, wie er es von seiner Ehefrau wünschte. Aber hatte er nicht ihren Verdacht absichtlich genährt? Ja, um zu prüfen, ob er ihr wirklich so gleichgültig sei.

Vielleicht kam doch in der Zukunft das Stündlein, da er ihr das Alles sagen konnte. Das Mißverständniß, die Rotmundin betreffend, mußte sich bald lösen. Der Einzug brachte alles an den Tag, auch die Ursache der hänfnen Verbindungsbrücke. Dann aber – dann?

Wie ihm das Herz klopfte! Welche Bilder vor ihm aufstiegen! Vor allem ein trauliches Heim mit einer tapfren Hausehre, wie der Dürer sagte, die ihre Schönheit züchtig für den Eheherrn hütete.

Da stand er vor seinem Hause, das ihn zerklüftet und zerborsten angähnte. Seufzend ließ er die Ballen und Kisten, die er aus Italien geschickt hatte, auspacken und die Mauern und Lücken mit so prächtigen Tapezereien behängen, daß bald ganz Nürnberg davon sprach. Man sagte auch auf Märkten und Gassen, daß der Altdorfer für das Gemälde, welches doch nur für den einzigen Tag dienen sollte, weit über die geforderte Summe hinaus von dem Haller bezahlt worden war.

Von außen war sein Haus schön anzuschauen wie die Paläste in Welschland, aber innen sah es um so trostloser aus. Als er die alten Schreine, Tische und Bänke von Fußboden und Wand, wo sie früherem Brauch gemäß befestigt waren, hatte abreißen und aus den Gemächern schaffen lassen, als seine aus Italien mitgebrachten Geräthe ausgepackt worden waren, hatte das Ingesinde alles durch einander gesetzt. Neben der riesigen mit geschnitzten Engelsköpfchen verzierten Brauttruhe seiner Mutter selig standen auf hohen, schlanken Beinen ein Marmortischchen; auf der alten braunen Eichenholztafel prangten kostbare Majolikaschalen, und an dem urväterlichen Schrein, der mit Rosen bemalt war, lehnte ein herrliches Gemälde von Tizian.

Ja, es herrschte eine große Unordnung im Haller’schen Hause; das zeigte sich auch am Vorabend des Einzugs, als Herr Wilhalm die Rüstung auspacken wollte, die er aus Mailand mitgebracht hatte, und den Panzer des Pferdes, auf dem der Amazonenkrieg aus funkelndem Erz und edlem Metall abgebildet war – die Kiste war nirgends zu finden und fand sich erst nach langem Suchen im Holzstadel. Während Wilhalm schier in Verzweiflung treppauf, treppab rannte, fielen ihm Elsbeth’s Worte ein: „Es muß jedes Ding in der Reih bleiben, so ein Hauswesen [556] bestehen soll.“ Ja, wenn sie jetzt da wäre und mit ihrem Schlüsselbund jede Sache an den ihr gebührenden Platz läutete! Er gedachte auch daran, daß er sie einst hausbacken, trocken, derb und schlicht genannt hatte, wie das liebe Brod. Sie war auch so: man schätzte sie erst, wenn sie fehlte. – – –

Durch das in sanften Wellenlinien sich dehnende Land, welches Nürnberg umgiebt, ringelte sich am andern Morgen ein glänzender Zug gleich einer schillernden Schlange heran. Trompeter ritten voraus und bliesen für und für auf ihren blinkenden Instrumenten, von denen Fähnchen in den spanischen Farben, roth und gelb, herabflatterten. Dann folgten hoch zu Roß Fürsten in hermelinbesetzten Mänteln und Würdenträger der Kirche. Zur Seite hielten sich Edelknaben, in die Farben ihrer Herren gekleidet, und den Nachtrab bildeten bärtige Reisige, Falkoniere mit Jagdvögeln, Diener auf schlechten Gäulen und roth geschirrte mit Gepäck beladene Maulthiere.

Einen Schritt den vornehmen Herren voraus ritt auf einem braunen Hengst ein schlanker Jüngling in eng anliegender schwarzer spanischer Tracht. Unter seinem spitzen Hut kräuselten sich dunkle Locken, und ein flaumiges Bärtlein zierte die vollen Lippen; in der Hand trug er ein weißes Stäblein. Es war der Erzherzog Ferdinand.

Dicht hinter ihm folgte auf einem Fuchs ein hoch gewachsener Mann mit graulockigem Bart, dessen traurige Augen gar seltsam abstachen gegen sein lustiges Kleid, das mit scharlachnen und gelben Zungen benäht war.

„Ein wonniglicher Tag!“ rief ein junger Domherr, dem die brokatne Kappe bis auf den Sattel hing. „Der blaue Himmel lacht, die grüne Au glitzert von Thautropfen, und die Lerchen jubiliren wie die bestellte Cantorei des Feldes.“

„Es ist ein Wunder,“ erwiderte spöttisch der Mann mit dem graulockigen Bart. „Eigentlich soll es unflätig Wetter geben, wenn die Geistlichkeit ausrückt, sagt das Volk.“

Der dicke Herzog von Baiern lachte laut. Dann richtete er sich auf seinem standhaften Pferde aus und sprach:

„Nit nur der Tag, auch das Land ist halt schön, und sollte selbiges von Rechtswegen zu unsrem Baiernlande gehören, dieweil es ein ebenso gesegnet Stück Erde ist. Schaut nur, wie weithin sich die Hopfengärten strecken! Gleichen sie nit, mannlich und wehrhaft wie sie sind, lanzenstarrenden Söldnerschaaren?“

„Sind ein rechtes Symbolum für Euch,“ lachte der Graubärtige. „Denn das Gebräu, so mit dem Hopfen gewürzet wird, ist Euer liebstes Gewaffen, mit dem Ihr Euch gegenseitig gern unter den Tisch strecket.“

Die Herren lachten. Der dicke Herzog aber antwortete:

„Ihr lacht meiner, scheint’s, weil wir Baiern tapfren Trunk und gute Mahlzeit nimmer verachten. Aber was kommt beim Kasteien heraus? Schaut hinüber nach dem Hungerlande, dem Sachsen! Beim heiligen Joseph, dem Nährvater Christi, sie kämen dort nit auf so rebellische ketzerische Gedanken, wenn sie was Rechts im Leibe hätten.“

Der Graubärtige nickte und sagte:

„Hörte neulich einen gelahrten Mann, der aus dem Sachsenlande kam, sagen, Eure Köpfe hätten für ketzerische Gedanken nicht Raum, weil sie eines andern stets voll wären.“

„Den, wenn i wüßt!“ brauste der Herzog auf, aber ein Blick des Erzherzogs wies ihn zur Ruhe.

Näher und näher kamen sie der Stadt; weit dehnten sich die hohen Ringmauern mit den von Zinnen gekrönten Thoren aus; höher und höher stiegen die Spitzen von St. Lorenzo und St. Sebaldus empor, umgeben von einem Wald von Kirchthürmen, überragt von der wehrhaften Veste.

„Welch herrliche Stadt!“ rief der Erzherzog.

„Was ist's weiter!“ spottete der Graubärtige und rieb sich wie von der Sonne geblendet die Augen. „Es ist eine Handvoll Thurmsamen aufgegangen.“

„Kannst Du mir das Handelsschild nennen, wo man ihn kauft, lustiger Rath?“ fragte ihn der Pfalzgraf Ott Heinz. „Möchte mir auch eine Düte voll solchen Samens mitnehmen. Es würde meinem Schloß in Heidelberg stattlich stehen.“

„Das alte Schild,“ erwiderte der Andere, „das die Thürme sprießen ließ, hat sein Geschäft einstellen müssen Es hieß: ,Zum frommen Glauben‘.“

„Es wird wieder aufblühen,“ sagte der Erzbischof von Mainz. „Der Mönch von Wittenberg ist in Worms unterlegen. Selbst der Kurfürst Friedrich von Sachsen, der allzeit die Hand über ihn hielt, hat gesagt: ,Der Martinus muß in's Elend.‘“

„Und er hat hinzugefügt: ‚doch steht der Ausgang bei Gott,‘“ erwiderte der lustige Rath. „Der Sachse läßt stets eine Hinterpforte offen; deshalb heißt er auch der Weise.“ Und leise fügte er hinzu: „Es kommt Mancher aus dem Elend zurück, von dem es Niemand mehr gedacht hat.“

In diesem Augenblick war der Zug dem Thürmer sichtbar geworden. Auf sein Zeichen schlugen die Glocken von St. Lorenzo an; nah und fern stimmten die andern ein. Wie ein Meer von Tönen wallten die majestätischen Klänge heran.

Da zuckte es wunderbar über das Gesicht des Narren und er nahm seine Kappe ab. Keiner der Herren bemerkte es.


(Fortsetzung folgt.)




Coligny und seine Gegner.

Ein Capitel aus der französischen Reformationsgeschichte.

Bereits zu Ende des zwölften Jahrhunderts erhoben sich in Frankreich die Albigenser und Waldenser, welche für die Verbreitung der heiligen Schrift in der Muttersprache eintraten und die Lehre vom Ablaß und Fegefeuer sowie die Ehelosigkeit der Priester verwarfen. Sie wurden zwar durch Kreuzzüge und andere grausame Verfolgungen aus einander gesprengt, aber ihre Lehre pflanzte sich im Verborgenen fort; sie glich Jahrhunderte lang dem unter der Asche glimmenden Funken, der, sobald der frische Windhauch geistiger Forschung über die Völker strich, zu lichten Flammen aufloderte. So fanden die Grundsätze Wiklef’s und Huß’ auch in Frankreich einen Widerhall, und das Land hatte bereits seine Vorkämpfer für religiöse Freiheit, seine auf Scheiterhaufen für die Aufklärung gemordeten Märtyrer aufzuweisen als die gewaltige That des Wittenberger Mönches die Völker in neue Bahnen zwang.

Kein Wunder also, daß die unter dem Namen des Protestantismus in der Geschichte verzeichnete reformatorische Bewegung schon im Anfang des sechszehnten Jahrhunderts in Frankreich zahlreiche Anhänger fand, kein Wunder, daß auch jenseits der Vogesen ein furchtbarer fast vierzigjähriger religiöser Krieg entbrannte, der in seinen Schrecknissen den deutschen Dreißigjährigen übertraf. Mitten aus allen den Gräueln des Bürgerkrieges ragt aber, einer Schandsäule gleich, ein Ereigniß hervor, welches gleichsam den Höhepunkt dieser schauerlichen Tragödie religiöser Kämpfe bildet – die Pariser Bluthochzeit.

Wohl verlohnt es sich selbst in Zeiten des tiefsten religiösen Friedens, solche Ereignisse in das Gedächtniß des Volkes zurückzurufen und dieselben ihm als warnende Beispiele hinzustellen, damit es nicht erschlaffe in der heiligen Wacht an den Errungenschaften der politischen und religiösen Freiheit. In diesem Sinne öge es auch uns heute gestattet sein, unsern Lesern die Gestalten der Helden und der Henker jener blutigen Bartholomäusnacht vor die Augen zu führen.

Die allgemeine Erschöpfung des Landes zwang die kriegführenden Parteien in Frankreich den „dritten Hugenottenkrieg“ zu beenden und den „dritten Religionsfrieden“ zu schließen, welcher zu St. Germain en Laye am 8. August 1570 zu Stande kam. Unmittelbar nach diesem Friedensschluß gestalteten sich die Verhältnisse derart, daß man zu der Annahme berechtigt war, Eintracht und Duldung würden nunmehr in das ihrer so bedürftige Frankreich einkehren. Es trat zunächst ein Umschwung in der äußeren Staatspolitik ein, der sich gegen die Machtfülle Spaniens und Englands richtete und eine Sammlung der Kräfte sowie den inneren Frieden erheischte. Dann suchte die Königin-Mutter Katharina, welche schon während der Minderjährigkeit des damals regierenden Königs Karl

[557]

Das Haupt Coligny’s wird dem Cardinal von Lothringen in Rom überbracht.
Nach dem Oelgemälde von Nathanael Sichel.

[558] des Neunten die Regierung leitete, den Einfluß des katholischen Geschlechtes der Guisen, welche als Rathgeber der Krone zu hoher Macht gelangt waren, zu brechen und durch Heranziehen der Hugenotten dieselben vom Hofe zu verdrängen. Auch der längst mündig gewordene König war der Vormundschaft seiner Mutter überdrüssig geworden und dachte in allem Ernste daran, sich mit neuen Rathgebern zu umgeben. Die Friedensaussichten wurden schließlich noch durch die Thatsache bestärkt, daß die Königin-Mutter Katharina ihre Tochter Margarethe von Valois dem Führer der Protestanten, Heinrich von Bearn, zur Gemahlin anbot.

So lagen die Verhältnisse, als die Edlen Frankreichs, die Führer der Protestanten und die Stützen der katholischen Partei, nach Paris kamen, um an diesen Hachzeitsfestlichkeiten teilzunehmen. Das Haupt der Katholiken, der Cardinal von Lothringen aus dem Hause Guise, fehlte zwar in dem glänzenden Gefolge, welches nunmehr den König umgab, aber man würde irren in der Annahme, daß auch sein Einfluß in jenen Tagen nichts mehr gegolten hätte.

Schon unter der Regierung Franz des Zweiten, des ersten Gemahls der schottischen Maria Stuart, hatte dieser Cardinal die gesammte Staatsgewalt und insbesondere die Leitung der Finanzen und der auswärtigen Angelegenheiten in seiner Hand.

Nach Franzens plötzlichem Tode, unter seinem elfjährigen Bruder Karl dem Neunten, hörte zwar der unmittelbare Einfluß der Guisen auf, indem sich die Königin-Mutter, Katharina von Medici, der Regentschaft bemächtigte, der Cardinal von Lothringen blieb indessen der einflußreichste Rathgeber am Hofe, obwohl er, planmäßig und seinem Charakter gemäß, nur höchst selten öffentlich hervortrat und sich persönlich fast niemals bei entscheidenden Staatsactionen betheiligte, um desto ungestörter und sicherer an der Verwirklichung seiner religiösen Absichten und Tendenzen thätig sein zu können.

Er stützte seine persönliche Autorität im Staate auf die strenge Handhabung der geistlichen Gesetze und versäumte in keiner Weise seine bischöflichen Pflichten. Schon in frühen Jahren zum Erzbisthum Rheims befördert, unterließ er nichts, was ein großer Prälat thun kann, um sich in seiner Residenz ein unvergängliches Andenken zu stiften. Man pflegte auf ihn das alte Wort anzuwenden: er habe eine Stadt von Lehm vorgefunden und eine von Marmor zurückgelassen; denn er gründete daselbst eine Universität, ein theologisches Collegium, ein Seminar und einen Klosterconvent. Er sorgte dafür, daß die Pfarrer in der Diöcese ihren Dienst gewissenhaft versahen; er predigte selbst zuweilen und hielt von Zeit zu Zeit Provinzialconcilien.

Dieser jüngste von den französischen Cardinälen, obwohl mit den inneren und äußeren weltlichen Verhältnissen überaus vertraut, und obwohl er, seinem fast cavaliermäßigen Ansehen nach, im Benehmen mit jedem Militär hohen Ranges hätte rivalisiren können, beschämte dennoch die andern Prälaten durch schlichten und enthaltsamen Lebenswandel. Hunde und Falken sah man nicht in seinem Hause: alle Jahre zu Ostern zog er sich in ein Kloster zurück, um sich der geistlichen Sammlung und nachdenkenden Uebungen hinzugeben. Er war ein Mann von imponirendem Aeußeren, eine hohe Gestalt, mit breiter, hoher und intelligenter Stirn. Alles hing an seinem Munde, wenn er sprach; verständlich und anmuthig floß ihm die Rede, unterstützt von einem nie fehlenden Gedächtniß. Bei diesen mannigfachen Vorzügen und glänzenden Gaben ließ er gleichwohl die vornehmste Eigenschaft vermissen, welche den Menschen ziert und erhebt, die Selbstverleugnung. Um seinen Willen durchzusetzen und um Macht zu erlangen, waren ihm alle Mittel recht.

So leitete der Cardinal aus der Entfernung seiner priesterlichen Höhe mit unsichtbaren Fäden die Staatsmaschine, und wenn man zuweilen in Ungewißheit geräth, von wo und von wem gewisse Entwürfe und Entschlüsse gekommen, so wird man sie meistentheils, ohne zu irren, auf seinen Einfluß und seine Anregung zurückführen können. Eines unterliegt fast keinem Zweifel: er scheint es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, die Feinde der Kirche und insbesondere die Hugenotten zu überlisten.

Zu diesem finsteren religiösen Fanatismus des Mannes gesellte sich der glühendste persönliche Haß gegen die Hugenotten, und vor Allem gegen Coligny, als am 18. Februar 1563 der Bruder des Cardinals und der fähigste Feldherr der katholischen Heere, Franz von Guise, von einem fanatischen Hugenotten mit drei vergifteten Kugeln meuchlings erschossen wurde.

Kaum war das außerordentliche Ereigniß der Vermählung der Margarethe von Valois öffentlich bekannt geworden, so verließ der Cardinal von Lothringen das Land und begab sich nach Rom. Von diesem Momente an bildete die Königin-Mutter das sichtbare Haupt der katholischen Partei in Paris.

Dieser hohen Führerin der Katholiken trat nun am königlichen Hofe das Haupt der Protestanten entgegen, Coligny, ein offener, fester, militärischer Charakter.

Gaspar Coligny, Graf von Chatillon, geboren den 16. Februar 1517 zu Chatillon sur Loing, stammte aus einem alten Geschlecht des hochburgundischen Adels; sein Vater hatte sich zur Seite der Könige Ruf im Kriege und Ansehen im Staate erworben und starb als Marschall von Frankreich. Die Witwe, eine Schwester des Connetable, die sich, so viel man weiß, zu der kirchlichen Abweichung in ihrer allgemeinsten Form hinneigte, hatte es den Beruf ihres Lebens sein lassen, ihre drei Söhne zu erziehen. Von seinen Brüdern war der ältere, obwohl Cardinal, dennoch dem neuen Glauben zugethan. Gaspar dagegen, durch und durch Soldat, kam im Alter von zwanzig Jahren an den Hof Franz’ des Ersten, schloß hier mit François von Guise einen Freundschaftsbund und begleitete in dessen Gesellschaft den König in den Krieg. Heinrich der Zweite ernannte ihn zum General-Obersten der Infanterie, und nach den Feldzügen in Lothringen wurde er, mit Beibehaltung seiner bisherigen Stellung, Admiral. Der Sieg bei Renty vergrößerte seinen Ruhm, entzweite ihn aber mit dem Herzog von Guise, welcher auf die Ehre des Siegers Anspruch erhob.

Nach der Einnahme von St. Quentin wurde Coligny gefangen genommen, und in die Zeit dieser Gefangenschaft setzt man gewöhnlich seinen Uebertritt zur reformirten Lehre. In den Mühen und zumeist Drangsalen des Krieges hätte er wohl auch nicht die Ruhe gefunden zu geistlichen Meditationen. Die Gefangenschaft gab ihm unfreiwillige Muße dazu. Als er durch den Frieden wieder frei geworden war, hat er, nach und nach hervortretend, in seinem Schlosse Chatillon sich ein protestantisches Hauswesen eingerichtet. Calvin stand mit ihm und seiner zweiten Gemahlin Jacobine[1] in Briefwechsel.

Des außerordentlichen Geschickes, dem er entgegen ging, sich früh bewußt, fragte Coligny später diese seine Gemahlin, ob sie Seelenstärke genug habe, das Alles zu tragen, was ihm bevorstehe, Verbannung oder Tod, auch den Ruin ihrer Kinder. Diese Frau war aber nicht minder entschlossen, als er selbst; denn sie entgegnete: Nicht zur Unterdrückung Anderer werde er die Waffen ergreifen, sondern zur Rettung seiner Glaubensbrüder, deren Qual sie nicht schlafen lasse. Gott habe ihm die Wissenschaft eines Capitains verliehen, er sei daher schuldig, sie anzuwenden; wenn er diese Pflicht nicht erfülle, fügte sie feierlich hinzu, so werde sie dermaleinst vor dem Richterstuhl Gottes gegen ihn zeugen.

Für diese Ueberzeugungstreue zollten Coligny aber auch seine Glaubensgenossen das unbedingteste Vertrauen. Sie nannten ihn „die Säule des Calvinismus“, weil er als Führer und Rathgeber auftrat, wenn die Noth das höchste Maß erreicht. Nie zeigte sich der Admiral, der die Weihe eines patriarchalischen Familienhauptes mit dem ritterlichen Wesen eines Kriegsmannes und Feldherrn verband, größer und charaktervoller, als in den Tagen der Bedrängniß. Ueberdies reichten seine Verbindungen weit über Frankreich und über die Niederlande hinaus. Alles, was sich in den Gebieten des Königs von Spanien den protestantischen Meinungen zuneigte, richtete seine Augen auf ihn. Sogar die deutschen Fürsten, welche bei dem drohenden europäischen Brande für sich selbst zu fürchten anfingen, sahen in ihm ihren Vorkämpfer.

Als Coligny zu der Hochzeit am Hofe erschienen war, wurde er mit Freundschaftsbezeigungen überschüttet; der König selbst umarmte ihn, nannte ihn „Vater“ und sagte zu ihm lächelnd:

„Jetzt halten wir Sie fest; Sie werden uns nicht mehr entrinnen.“

Der Admiral wurde in alle Würden, die er früher bekleidete, wieder eingesetzt, und es gehörte zum guten Hofton, ihm die größte Ehrfurcht zu erweisen. [559] Inzwischen regte sich auch in Karl dem Neunten ein Interesse an den Absichten und Vorschlägen des Admirals. Bis tief in die Nacht saß zuweilen der junge König im einsamen Zwiegespräch mit Coligny zusammen, der fortan bestimmt schien, die Geschicke von Frankreich zu lenken. Daher machten auch erneute Warnungen mißtrauischer Freunde auf Coligny keinen Eindruck; er gab sich vielmehr dem unerschütterlichen Glauben hin: Gott habe das Herz seines angestammten Fürsten gelenkt, um Frankreich einst an die Spitze der europäischen Mächte zu stellen, denen das maritime Uebergewicht des Continents zufallen sollte. In diesem Sinne hatte er nämlich bereits früher aus eigenem Antriebe den Versuch gemacht, protestantische Colonien in Amerika zu gründen. Was konnte nicht erreicht werden, wenn er im Namen des Königs handeln und seinen Plänen aus Staatsmitteln Förderung und Nachdruck verleihen würde! An der Wahrheit und Aufrichtigkeit der königlichen Gesinnungen zu zweifeln, wäre ihm als Felonie und Treubruch erschienen. Auch wurde er hierin von Teligny, [2] seinem Schwiegersohn, bestärkt. Es war also ein gegenseitiges Einvernehmen, welches nichts zu wünschen übrig ließ.

Gleichwohl führte diese äußerlich innige Verbindung nicht zu einer bleibenden Versöhnung, sondern steigerte die innerliche Erbitterung und die Dämonen des Hasses und der Rache nur noch mehr. Bei einer letztbeschlossenen entscheidenden Conseils-Unterredung, wobei es sich um die endgültige Beantwortung der Frage handelte, ob Krieg gegen oder Frieden mit Spanien, machte Coligny Vorschläge, ohne mit seiner inneren Ueberzeugung irgendwie zurückzuhalten. Die Königin-Mutter aber fand darin den Versuch des Admirals, zu seinen Gunsten ihren Einfluß über den längst mündig gewordenen König zu schmälern, schöpfte Verdacht gegen dessen weitergehende Pläne und beschloß im Stillen den Hugenotten und ihrem Heerführer unaufhaltsamen Untergang. Der Anschlag, sich seiner zunächst durch Meuchelmord zu entledigen, gelang nicht. Coligny wurde nur am Arme und an der Hand verwundet. Nunmehr wußte Katharina mit ihrer Partei dem Könige den Verdacht beizubringen, daß eine Verschwörung der Hugenotten im Werke sei, welche nur durch Benutzung der momentan günstigen Verhältnisse und schleunige Beseitigung der verbrecherischen Genossen unterdrückt werden könnte. Nach langem Zögern erlag der König den Einflüssen der Ueberredung und gab schließlich die Einwilligung zu dem entsetzlichen Mordplane, welcher in der Bartholomäusnacht vom 23. zum 24. August 1572 in Paris zur Ausführung kam.

Der Admiral Coligny, der noch die letzten Rathschläge einzelner wachsamer Freunde zur Flucht um so standhafter zurückgewiesen hatte, als ihm Tags zuvor, wohl nur zum trügerischen Schein, eine königliche Leibwache bewilligt worden war, fiel als erstes Opfer. Guise, Aumale und der Bastard von Angoulème hatten es übernommen, ihn und seine nächsten Angehörigen umzubringen. Als um Mitternacht die Frühmettenglocke in dem königlichen Palaste das Zeichen gegeben, eilte der Herzog von Guise an der Spitze seiner Schaar nach der Wohnung des an seinen zweifachen Wunden noch leidenden Admirals und befahl, denselben in seinem Zimmer niederzustechen, was einige Hauptleute auch vollbrachten. Bei der ersten Wahrnehmung des Ueberfalles war Coligny vorbereitet zum Tode, entließ seine Diener und erinnerte den nahenden Mörder an sein Alter; er fiel würdevoll in dem Bewußtsein, sein Leben einem hohen Ziel geweiht zu haben, und indem er es vorgezogen, dem Verrath zu erliegen, als selbst auch nur einen illoyalen Gedanken zu hegen. Der noch Lebende wurde zum Fenster hinaus in den Hofraum geworfen, wo Guise und Angoulème den in diesem Augenblicke seinen Geist Aufgebenden besichtigten. Hier schlug ihm ein Italiener das Haupt ab und brachte es der Königin-Mutter, welche es später einbalsamirt nach Rom schickte. Der verstümmelte Leichnam wurde durch die Straßen geschleift und an einen Galgen gehängt, bis ihn Montmorency abholen und in der Familiengruft zu Chatillon bergen ließ. Hierauf wurden La Rochefoucauld mit seinem Sohn, Teligny, Briquemont mit ihren Söhnen und Allen, die sie umgaben, getödtet und ihre Leiber auf die Straße hinabgeschleudert, wo das Volk sie entblößte.

Während diese Mordthaten geschehen waren, hatte auch die Pariser Mette, wie man die Massacre, in Erinnerung an die sicilianische Vesper, nannte, allenthalben begonnen. Beim Läuten der Sturmglocke stürzte sich das Volk (durch das gemeinsame Erkennungszeichen der Katholiken, eine weiße Binde um den Arm und ein Kreuz am Hute, fast wie organisirt) überall auf die Häuser der Hugenotten, um sie unter dem Ruf: Der König wolle und befehle es, sie zu tödten, ihren Nachlaß zu plündern und andere Gräuel zu verüben. Der Heiligkeit der gebotenen Gastfreundschaft trauend, waren sie gekommen; jetzt wurden sie in ihren Betten aufgesucht und ohne Unterschied niedergemacht, Vornehme und Geringe, Herren und Diener. Es war eine Verbindung öffentlicher Verdammung und privater Rache, die nunmehr in den Straßen von Paris wüthete. Fanatismus, persönliche Feindschaft, Raubsucht, alle Leidenschaften und dämonische Gewalten tobten unaufhaltsam. Sogar im Louvre floß Blut. Der König selbst soll aus einem Fenster seines Schlosses auf die fliehenden Hugenotten geschossen haben. Sein neu vermählter Schwager, Heinrich von Navarra, entging dem Tode nur durch den erheuchelten Uebertritt zum Katholicismus. Mehrere Tage dauerten die Mordthaten; sie wurden von den meisten Statthaltern in den Provinzen fortgesetzt und innerhalb einiger Wochen in ganz Frankreich annähernd 20,000 bis 30,000 Hugenotten umgebracht.

Nicht nur die Hugenotten, selbst gebildete, vornehme Katholiken standen diesem Entsetzen gegenüber wie betäubt. Der venetianische Gesandte fand alle verständigen Männer ohne Unterschied des Bekenntnisses wie vom Schreck gelähmt und beschämt. Der deutsche Kaiser, Maximilian der Zweite, schrieb aber: „Wollte Gott, mein Tochtermann hätte mich um Rath gefragt! Wollte ihm treulich als Vater gerathen haben, daß er dieses gewißlich nimmermehr gethan hätte.“

Als sich die Nachricht von der Bluthochzeit in den Nachbarländern verbreitete, soll Philipp der Zweite zum ersten Male mit freudig grimmigem Blick gelacht haben. Der Papst Gregor der Dreizehnte feierte die Siegesbotschaft mit Processionen, veranstaltete zu Ehren dieser Ketzervertilgung Festlichkeiten und ließ, um die glänzende Einweihung seines Pontificats zu verherrlichen, ein Gemälde „Die Niedermachung der Hugenotten“ fertigen und zu ihrem Andenken Münzen schlagen mit der Inschrift: „Pontifex Colignii necem probat“ („Der Papst billigt den Tod Coligny’s“). Am 8. September feierte auch der Cardinal von Lothringen in Gegenwart des Papstes einen Dankgottesdienst; dem Ueberbringer der Nachricht und des Hauptes von Coligny hatte er 1000 Stück Ducaten auszahlen lassen.[3]

Der blutigen Nacht wurde in späteren Zeiten auch eine Gedenktafel gewidmet; sie ward im Jahre 1793 an einem Fenster des Louvre angebracht und trug die Inschrift: „Von hier aus schoß Karl der Neunte auf das Volk.“ Erst der Corse Bonaparte ließ sie wieder entfernen, nachdem er unter seine Tyrannenmacht das freie Volk gebeugt hatte.

Aber die Männer, welche die Tafel an die Wände des prunkvollen Palastes in Paris schlugen, haben wohl dem wahren Sinne der Geschichte entsprechend gehandelt; denn die Folgen jener empörenden Bartholomäusnacht lassen sich in drei Hauptgesichtspunkten zusammenfassen.

Auf die blutige Unterdrückung des Protestantismus in Frankreich folgten: [560] Zunächst die immer höher aufsteigende Alleinherrschaft des französischen Königthums bis zu den blendendstrahlenden Hofkreisen unter Ludwig dem Vierzehnten; dann die paradiesischen Friedensjahre der Versumpfung und die lange Ruhe vor dem Sturm unter Ludwig dem Fünfzehnten, dem „Vielgeliebten“, und schließlich, die Katastrophe, der Sturz des Königthums und das Ereigniß der Ereignisse unter Ludwig dem Sechszehnten, mit der Anerkennung der Menschenrechte.




Adolf Friedrich Graf von Schack.

Niemals hat in höherem Maße als jetzt die Mode die literarische Geltung bestimmt, welche damit unberechenbaren Einflüssen preisgegeben ist. Man glaube ja nicht, daß einstimmige Anerkennung der Kritik, die allerdings zu den größten Seltenheiten gehört, einen Dichter „modern“ machen kann! Im Gegentheil: die Mode geht oft gegen die Kritik, bis sie dieselbe mehr oder weniger mit sich fortreißt; denn diese ist nicht so hartherzig und unbestimmbar, wie es oft den Anschein hat; einem fait accompli wird sie immer Rechnung tragen; der äußere Erfolg findet auch bei ihr ein geneigtes Ohr; hat man doch Beispiele genug, daß Kritiker, trotz anfänglicher scharfer Opposition, mit Sang und Klang in das Lager eines erfolgreichen Modedichters übergegangen sind; ein schlagender Beweis für den tiefsinnigen Ausspruch: Rien ne réussit que le succès – der Erfolg allein entscheidet.

Glücklicher Weise bestimmt die Mode aber nur den Tageserfolg, bei Dichtungen und Romanen den momentanen Absatz, bei Dramen die „Saisonbeliebtheit“: dann tritt für derartige Stücke eine oft für immer andauernde „todte Saison“ ein. Ein dauernder Erfolg dagegen kann sich oft durch einen halben oder gar durch einen Mißerfolg einleiten; denn großartige Dichtungen gewinnen oft erst allmählich das Verständniß der Nation, dann aber wurzeln sie tief und fest in der Anerkennung der kommenden Geschlechter.

Zu den deutschen Dichtern, welche nicht beliebte Modepoeten sind, aber es zu sein verdienten, wenn die Mode sich nach dichterischer Bedeutung richtete, gehört Adolf Friedrich Graf von Schack, der als Sprachgelehrter, Literaturforscher und formgewandter Uebersetzer, als Kunftmäcen in großem Stil in weitesten Kreisen bekannt ist, dessen dichterische Schöpfungen aber noch nicht die verdiente Anerkennung gefunden haben.

Geboren am 2. August 1815 zu Brüsewitz bei Schwerin, folgte der junge Schack seinem Vater nach Frankfurt, wohin dieser als Bundesgesandter berufen worden war, besuchte dort das Gymnasium sowie später (1834 bis 1838) in Bonn, Heidelberg und Berlin die Universität, um die Rechte zu studiren. Kurze Zeit nur war er im preußischen Staatsdienste als Referendar thätig: dann trieb ihn eine unwiderstehliche Reiselust, genährt durch das Stadium orientalischer und romanischer Sprachen, nach dem Orient und von dort nach Spanien. Zurückgekehrt, wurde er Kammerherr und Legationsrath des Großherzogs von Mecklenburg und bekleidete mehrere diplomatische Stellungen. Als Geheimer Legationsrath nahm er 1852 seinen Abschied, ging zunächst auf seine mecklenburgischen Güter, dann nach Spanien. Einer Einladung des Königs Maximilian des Zweiten von Baiern folgend, der damals wissenschaftliche und dichterische Größen um sich versammelte, siedelte er nach München über, wo er seit 1855 einen Theil des Jahres sich aufhält. Dort gründete er jene Gemäldegallerie, welche zugleich ein Zeichen seines feinen Kunstsinns und der fürstlichen Liberalität ist, mit welcher er viele hervorragende Maler der Jetztzeit durch Anregung zu bedeutsamen Schöpfungen und durch Ankauf derselben freigebig förderte. Den Fremden, welche München bereisen, ist der Zutritt zu dieser Gallerie stets offen, und sie wird nicht weniger besucht, als die königlichen Gallerien. Enthält sie doch Meisterwerke von Bonaventura Genelli, Anselm Feuerbach und anderen hochbegabten Malern der Gegenwart; eine jüngsterschienene Schrift über die Schack’sche Gemäldegallerie eröffnet in geschmackvoller und lehrreicher Weise die Kenntniß dieser reichen Kunstschätze.

Doch wir haben es hier in erster Linie mit dem Dichter zu thun, und Schack’s poetische Werke dem großen Publicum näher zu bringen, ist der Zweck dieser Zeilen. Graf Schack hat auf fast allen Gebieten der Dichtkunst sein Talent bewährt, und mit diesem Talent eine den öffentlichen Interessen der Nation und den Gedanken der Zeit zugewendete Begeisterung. Hierin liegt zugleich, daß er kein akademischer Dichter ist und daß er uns in seinem lyrischen Album keine bloße Studienmappe bietet. Es ist dies ein Vorzug, welcher der Winkelästhetik der Akademiker allerdings für eine Schattenseite gilt; denn nach ihren Grundsätzen wird ja die reine Poesie durch jede Berührung mit den Zeitgedanken befleckt; sie soll in zeitloser Herrlichkeit den Altardienst des Schönen versehen, was indeß nicht ausschließt, daß gerade diese Poeten sich in einem Carneval der dichterischen Formen aller Nationen und aller Zeiten gefallen. Auch von diesem buntscheckigen Formencultus hat sich unser Dichter stets ferngehalten.

Graf Schack ist allerdings kein Liederdichter, und diejenigen, welche meinen, daß das Lied und das liederartige Genre die Quintessenz der Lyrik sei, werden ihn daher auch nicht als Lyriker gelten lassen. Diese „Stillen im Lande“, welche einige herumflatternde Sonnenfäden der Empfindung aufzufangen, einige Stimmungsbildchen in Aquarell zu malen lieben, bilden eine sehr verbreitete Gemeinde, die sich ablehnend gegen jede geistig gehaltvolle Lyrik verhält und ihre Kränze an diejenigen vertheilt, denen einmal ein solches Cabinetsstück intimer Empfindung gelungen ist. Niemand wird vom Liede als solchem gering denken; es ist eine berechtigte Gattung der Lyrik – aber es ist nicht die einzige. Große Dichter haben unvergängliche Lieder geschaffen, aber wer dem lyrischen Talent keine andere berechtigte Offenbarung zuerkennt, als Duft und Hauch zarter Empfindung, für den wird sich die Reihe der großen, unsterblichen Dichter in bedenklicher Weise lichten; nicht Pindar, nicht Klopstock, nicht Schiller, nicht Byron oder Victor Hugo dürfen dann auf einen Platz auf dem lyrischen Parnaß Anspruch erheben.

Daß Graf Schack kein Liederdichter im engeren Sinne des Wortes ist, das beweisen seine „Gedichte“ (1866); jene Kleinmalerei des Seelenlebens, welche zur Liederdichtung gehört, werden wir in ihnen vergeblich suchen; denn auch in den „Liedern der Treue“, in dem Liedercyclus „Aus der Heimath“ überwiegt die gedankenvolle Reflexion. Das eigenste Bereich derselben sind aber die schwunghaften, hymnenartigen Dichtungen in freien Rhythmen, die Perlen der Sammlung, wie „Die Tempel von Theben“, „Der Pic von Teneriffa“, „Die Jungfrau“, die er im Strahl der sinkenden Sonne erblickt:

„Ueber die Stirn ihr glimmt
Bleich und golden und roth
Ein wechselnder Schimmer.
Plötzlich erblassend
Vor den gähnenden Tiefen des Alls,
In die der Blick ihr hinunterstarrt,
Scheint sie zurückzubeben.
Dann wieder umfliegt
Ein rosiger Glanz ihr die Züge,
Wie Wiederschein von Gedanken und Träumen,
Die ihr durch die Seele ziehn.

Giebt sie mit Geistern anderer Welten
Sich Flammenzeichen,
Oder erblickt jenseit der Erde
Ungeahnte Geheimnisse,
Daß süßes Erschrecken
Die Wangen ihr röthet?
Doch der Schimmer erlischt;
Höher empor auf den Nebeln fluthet die Nacht,
Und den sterblichen Blicken entrückt,
Mit den Sternen dort oben
Hält die Königin Zwiegespräch.“

Es ist dies ein Beispiel der geistvollen Naturbelebung, welche diese schwunghafte Hymne charakterisirt.

Wenn indeß auch Schack’s Muse den Dissonanzen dieses Erden- und Menschenlebens gerecht wird, so hat sie doch keinen pessimistischen Zug: ihr eigen ist im Gegentheil der freudige Glaube an eine bessere Zukunft der Menschheit, die Ueberzeugung von dem fortschreitenden Gange ihrer Entwickelung. Der Urwelt Seherin, die Sibylle von Tibur, verkündet in rosenfarbenen Visionen den

[561]

Adolf Friedrich Graf von Schack.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Aufgang der großen Sonne, den neuen Gott, den alle Geschlechter ersehnen, und die goldene Zeit. Derselbe zukunftsfreudige Idealismus spricht sich in dem schwunghaften Gedicht „Amerika“ aus, das in Rhythmen von Platen’scher Formvollendung ein wahrhaft glänzendes Colorit zur Schau trägt, und in der Hymne, welche der Sänger dem neuen Jahrhundert weiht und in der er von dem Menschen singt:

„Er, der einst auf Eichenpfählen, in der Seen Grund gerammt,
Dem Geschick, dem grausen, fluchte, das zum Dasein ihn verdammt,
Nun der Elemente Meister, Herrscher über Zeit und Raum,
Herrlich sich erfüllen sieht er alter Seher Wundertraum,
Segelt durch den höchsten Aether hin auf luftbeschwingtem Kahn,
Taucht durch blauer Wogen Zwielicht in den tiefsten Ocean.“

Der gleiche lebensvolle Stil zeichnet die „Weihegesänge“ (1878) aus: sie feiern große Künstler, Dichter und Staatsmänner; sie haben denselben prophetischen Zug; sie besingen die Entwickelung der Natur nach den neuesten erkannten Gesetzen, die Entwickelung der Menschheit zu großen und schönen Zielen; es sind bedeutsame Gedankensymphonien, in denen auch das Naturbild farbenreich illustrirt wird.

„Der gestirnte Himmel über uns“, auf welchen der Königsberger Philosoph so bedeutungsvoll hinwies, spiegelt sich oft in den Schack’schen Dichtungen, während sonst unsere moderne Muse selten genug das Auge zu ihm emporschlägt; überall drängt es unsern Dichter hinaus aus dem engen Kreise der nächsten Interessen:

„Arm ist, wer in seinem engen
Kreis das Ich gefangen hält;
Aber denen, die ihn sprengen,
Blüht und duftet auch die Welt.

Fühle jenes mächt’ge Ganze,
Das uns alle trägt und nährt,
Sonne dich in seinem Glanze,
Wärme dich an seinem Herd!

Auf der kleinen matterhellten
Erde nicht, die jetzt dich bannt,
In dem großen All der Welten
Ist der Menschheit Vaterland.

Und die Wesenschaaren alle,
Von des Abgrunds tiefstem Schlund
Bis zum höchsten Sonnenballe,
Eint ein großer Geisterbund.“

Dieser Gedankenpoesie gehören auch die „Nächte des Orients“ an, keineswegs nur bunte Märchen aus „Tausend und eine Nacht“, eine Mosaik jener farbenprächtig flimmernden Steinchen, von denen die dichterischen Feenpaläste orientalischer [562] Sagen schimmern, sondern ein zusammenhängender Bau, der von einem bestimmten Grundgedanken getragen wird. Das Problem, das den Dichter vor Allem beschäftigt, ist dieses: hat in Bezug auf die Geschichte der Menschheit der Pessimismus Recht oder der Optimismus?

Die Einkleidung dieser „Nächte des Orients“ ist eine sagenhafte. Der Dichter, europamüde, wandert in den Orient, trifft dort einen alten Magier, der ihm ein die Pforten der Vergangenheit erschließendes Elixir giebt: der Dichter sieht die Jahrhunderte an sich vorüberziehen: die phantastische Urwelt, die Zeit der Pfahlbauten, Hellas mit seiner Sclaverei, die Renaissance mit ihren Hexenprocessen und Folterungen, das Rococozeitalter und dasjenige der Revolution. Ali erläutert dem Poeten diese Bilder mit scharf einschneidendem Sarkasmus, und Schack selbst hat die dunkelsten und grellsten Farben gewählt, um das Elend der Menschheit in diesen wechselnden Epochen darzustellen. Desto begeisterter wendet sich der Poet der Zukunft zu, feiert die Friedensära der Menschheit im Psalmen- und Hymnenton und zuletzt in einer Schlußparabase noch das deutsche Reich mit schönem patriotischem Aufschwung.

Zu den aschgrauen und blutrothen Bildern aus allen Zeiten, welche den gleichen Geist der Weltverzweiflung athmen und beträufelt werden mit dem Hohn aus jener Giftblume der Philosophie, welche der weise Ali im Knopfloch trägt, bildet diese Schlußwendung, dieses verklärte Hineinblicken in den Glorienschein der Zukunft einen leider nicht genugsam vermittelten Gegensatz, wenngleich der Glaube an den Fortschritt der Menschheit ein schöner und erhebender ist.

Im Uebrigen halten wir diese Dichtung für das bedeutsamste Werk Schack’s: das Colorit derselben ist meisterhaft, besonders das orientalische; die Landschaft wird zum Culturbild; die Form ist krystallklar und vermeidet alles Dumpfe und Trübe. Schon in seinen „Gedichten“ zeigt sich Graf Schack als ein Landschafter ersten Ranges; bald trifft er das glühende exotische Colorit Freiligrath’s; bald giebt er uns historische Landschaften im Stile eines Claude Lorrain. Keine seiner größeren Dichtungen verleugnet diese Vorzüge.

Die Balladen in den „Gedichten“ zeigen die glänzende Ausführung, wie sie Schiller liebte: sie bilden den Uebergang zu den episch-lyrischen Gedichten. Hier begegnen uns zuerst jene Novellen in Versen, welche Schack als „Episoden“ (1869) bezeichnet. Der poetische Weltwanderer führt uns hier nach Venedig und Constantinopel, nach Damaskus, in das alte Hellas und in die Märchenwelt.

Die dichterisch bedeutendste Episode ist wohl „Giorgione“; sie schildert eine Liebe des alternden Malers, der zu Gunsten seines Lieblingsschülers resignirt. Hier ist echt venetianisches Colorit: man wird an die Bilder von Paolo Veronese erinnert.

Den griechischen „Episoden“ schließt sich als neueste weiter ausgeführte Dichtung das Werk. „Die Plejaden“ an (1881) mit seinen farbenreichen Schilderungen des griechischen Lebens zur Zeit der Perserkriege und des üppigen asiatischen Satrapenthums: ein Milesisches Märchen, in welchem die himmlischen Gestirne leuchtende Sinnbilder sind für ein über den Menschengeschicken waltendes Verhängniß.

„Lothar“ (1872) ist ein älteres Werk Schack’s. Der Held ist ein deutscher Idealist, der, wohin ihn auch das Leben verschlagen hat, den Idealen seiner Jugend, seiner burschenschaftlichen Begeisterung, treu bleibt. An Byron erinnert nur die stimmungsvolle Landschaftsmalerei und der Haß gegen die Machthaber der geisttödtenden Restaurationsepoche, die Weltwanderung, an deren Faden sich eine Reihe von Abenteuern knüpft. Die Schilderungen spanischer Landschaften und Guerillakämpfe, die Wüstenscenen des sechsten und siebenten Gesanges, die Bilder aus Aegypten und Palästina sind Glanzpartien des Werkes, in welchem Reflexion und Schilderung sich in anmuthender Weise ablösen.

Von einer anderen Seite lernen wir den Dichter kennen in dem Roman in Versen „Durch alle Welten“ (1870), einem humoristischen Epos in Octavreimen und im Stil von Byron’s „Don Juan“; doch wie diese Schöpfung des britischen Dichters die tiefpoetische Episode der Haiden enthält, so finden sich auch in Schack’s „Roman in Versen“ glänzende dichterische Partien, wie besonders die zwei Gesänge „Die Pacific-Eisenbahn“ und „Im Urwald“.

Den Humor in dramatischer Dichtung pflegte Graf Schack als Jünger des Aristophanes und Platen’s; von seinen zwei politischen Lustspielen: „Kaiserbote“ und „Cancan“ (1873) ist das erste 1850 in der trübsten Zeit einer nach hoffnungsfreudigem Aufschwung erfolgten Reaction gedichtet, das zweite nach den glänzenden Siegen des Jahres 1870. Jenes schließt, nach Verspottung politischer Unbildung und Unreife, mit der Verheißung einer schöneren Zukunft; dieses athmet einen pathetischen Haß gegen den Kaiser Napoleon den Dritten. Die Form dieser Dichtungen ist krystallklar wie diejenige Platen’s: sie enthalten neben satirischen Studien schwunghafte Parabasen, aber bei dem jetzigen niedrigen Stand der Bühnenkomik haben derartige dramatische Lustspiele höheren Stils leider keine Aussicht aus die weltbedeutenden Bretter zu gelangen.

Gilt doch fast dasselbe von dem ernsteren Drama der Zeitgenossen, das immer mehr von der Bühne zu verschwinden droht und, wenn es einmal dort erscheint, oft von einer unreifen oder böswilligen Kritik, welche gewohnt ist, die größten Nichtigkeiten zu verherrlichen, zu Grabe getragen wird. Auch Graf Schack hat vier Trauerspiele geschrieben: „Heliodor“ (1879), „Atlantis“ (1879), „Die Pisaner“ (1872) und „Timandra“ (1879). Die beiden ersten haben eine geschichtsphilosophische Tiefe, welche sie für das flache Niveau unserer Bühnen unmöglich macht. Das erste läßt mitten im Streit des fanatischen Christen- und Heidenthums, der in die Epoche Alarich’s verlegt ist, als den versöhnenden Gott der Zukunft Eros, den Gott der Menschenliebe verkündigen; das zweite behandelt einen verfrühten Versuch, „in der neuen Welt“, in welcher, wie Schack annimmt, der Schwerpunkt der Entwickelung der Menschheit ruht, das Banner der Freiheit aufzupflanzen. Die in München mit Erfolg aufgeführten „Pisaner“ haben zu ihrem Helden den aus Gerstenberg’s Trauerspiel bekannten „Ugolino“, den Kriegshelden der Pisaner, der von seinem Gegner Ruggieri und von seinen nach dem Frieden mit Genua strebenden Landsleuten in den Hungerthurm geworfen wird. „Timandra“ ist die Mutter des Sparterkönigs Pausanias, der mit seinen verrätherischen Verbindungen mit Persien im Mittelpunkte der Handlung steht. In der Hauptsache ist es derselbe Stoff, welchen Heinrich Kruse in „Das Mädchen von Byzanz“ behandelt hat.

Alle diese Stücke haben künstlerischen Aufbau und Zusammenhalt, nichts Zerfahrenes; sie sind frei von allen Auswüchsen der Shakespearomanie, und die Diction ist edel und schwunghaft, auch dramatisch markig, wie z. B. in dem prächtigen racheathmenden Monolog Ruggieri’s im dritten Act der „Pisaner“.

Das Bild des Dichters Schack erhält seine ergänzenden Farben durch das Bild des Gelehrten; wir können hier nur auf seine grundlegenden Werke über das spanische Drama und die Poesie der Araber verweisen; als meisterhafter Uebersetzer des „Firdusi“ und anderer persischer Dichtungen hat er sich zuerst in weiteren Kreisen bekannt gemacht.

Während die Dreierlichter unserer Miniaturlyriker zum Theil in der dumpfen und stockigen Atmosphäre geistiger Beschränktheit brennen, gehört Graf Schack zu den vielseitig und hochgebildeten Geistern, welche die Aera unserer Classiker in der Gegenwart fortzusetzen berufen sind und die mit ihrer Fackel hinausleuchten auf die Entwickelungsbahn der Menschheit.

Rudolf von Gottschall.     


Schwindsucht und Höhenklima.

Von Dr. Driver.

In der zweiten Sitzung der vierten Jahresversammlung des „Internationalen Vereins gegen Verunreinigung der Flüsse, des Bodens und der Luft“ zu Mainz im September 1880 hielt Professor A. Vogt aus Bern einen Vortrag über: „Schwindsucht und Höhenklima“. Nach dem Referat über diesen Vortrag in der Zeitschrift „Gesundheit“ war der Gedankengang des Redners, einer Autorität auf diesem Gebiete, folgender:

Die neuesten Untersuchungen, welche in Baiern und der Schweiz angestellt wurden, haben bestätigt, daß die Schwindsucht in zunehmender Höhenlage abnehme, was mit den Erfahrungen [563] und Erhebungen der früheren Zeit übereinstimmt. Physiologische Forschungen ergaben nun bekanntlich, daß für die Gesundheit des menschlichen Organismus eine bestimmte normale Sauerstoffmenge nothwendig sei, daß dieses Bedürfniß sich nach dem Gewichte des Sauerstoffes richtet, welche Gewichtsmenge aber je nach den Veränderungen des Luftdruckes in einem größeren oder kleineren Volumen von Luft enthalten sei. Es müssen also zur Befriedigung dieses Bedürfnisses verschiedene Mengen Luft eingeathmet werden, je nach dem geringeren oder höheren Luftdruck, und auf der Höhe, wo leichtere Luft ist, natürlich eine größere Luftmenge als am Meeresstrande oder in der Ebene. In Folge dessen übt das Höhenklima einen mächtigen Einfluß auf unsere Athemvorgänge aus, gegen welche jede willkürliche Athmungsgymnastik in der Ebene weit zurücktreten muß, weil beim reichlichen Einathmen von Luft in der Ebene das normale Sauerstoffbedürfniß überschritten und die Bilanz des Stoffwechsels hierdurch gestört wird. Das Höhenklima führt durch seinen ununterbrochenen Einfluß die Einwirkung täglich 24 Stunden lang aus, während die willkürliche Athmungsgymnastik sich nur auf kurze und gegenüber dieser Zeitdauer unbedeutende Fristen zu beschränken hat, wobei die Thätigkeit des Herzens gleichzeitig in höherem Grade angeregt wird. In Europa sterben alljährlich an der Schwindsucht von je einer Million Einwohner nahezu 3000; will die öffentliche Gesundheitspflege diese zahlreichen Opfer verringern, will sie die Schwindsucht wirklich bekämpfen und sich nicht darauf beschränken, theoretisch nur über die Nachtheile zu sprechen, so müssen Volks-Sanatorien auf geeigneten Höhen angestrebt werden, welche nicht nur der geringen Zahl der Wohlhabenden erreichbar und benutzbar sind, sondern welche in erster Linie auch den weit zahlreicheren Hülfsbedürftigen der ärmeren Classen zugute kommen, die jetzt in Folge der beschränkten Mittel der Hülfeleistung vielfach entbehren und dazu verurtheilt bleiben, langsam hinzusiechen.

So Professor A. Vogt. Drei Punkte sind es in diesem Vortrage, welche weiter ausgeführt und zu allgemeinerer Kenntniß gebracht zu werden verdienen, wenn anders die neueren Erfahrungen über die Wirksamkeit des Höhenklimas gegen die chronische Lungenschwindsucht den Nutzen schaffen sollen, der ihnen gebührt. Diese Punkte sind:

1) der durch die verdünnte Luft der Gebirge hervorgerufene mächtige Einfluß auf die Athemvorgänge, die unwillkürliche Athmungsgymnastik; 2) die hierdurch – und wie wir gleich hinzufügen wollen, ganz besonders durch den verminderten Luftdruck – in höherem Grade angeregte Thätigkeit des Herzens; 3) die hieraus resultirende Forderung an die Gesundheitspflege zur Schaffung von Volks-Sanatorien auf geeigneten Höhen für Unbemittelte.

Diese Punkte wollen wir im Folgenden ein wenig eingehender betrachten, und da wirft sich uns zunächst die Frage auf, wie so eine vermehrte Athmungsgymnastik günstig auf die Heilung von chronischen Lungenkrantheiten einwirken kann? Zur Beantwortung derselben müssen wir ein wenig weiter ausholen und uns zunächst klar zu machen suchen, was denn eigentlich die Lungenschwindsucht für eine Krankheit ist, ob überhaupt bei derselben von Heilung die Rede sein kann, wie und wodurch diese Heilung bejahenden Falles zu Stande kommt.

Unter Lungenschwindsucht versteht man eine gewöhnlich auf der Grundlage vorhergehender acuter oder chronischer Krankheiten, wie Typhus, Lungen- und Rippenfellentzündung, Wochenbetten, Bleichsucht, Scrophulose, entstehende und stets mit allgemeiner, wie localer Blutarmuth verbundene Entzündung einer oder mehrerer, mehr oder minder großer Partien einer oder beider Lungen, mit Absetzung eines Exsudates (Ausschwitzung, Ausscheidung) zwischen den Lungenzellen. Auch bei der hitzigen Lungenentzündung findet Absetzung eines Exsudates in den ergriffenen Lungenzellen statt; während aber hier dieses Exsudat gewöhnlich nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes, und zwar meistens nach sieben Tagen durch Lösung und Aufsaugung verschwindet und damit die Krankheit in Genesung übergeht, hat bei der chronischen Lungenentzündung, der sogenannten Lungenschwindsucht, das gesetzte Exsudat gar keine Neigung sich spontan wieder aufzusaugen, sondern stirbt ab und verwandelt sich sammt den ergriffenen Lungenpartien in eine käsige, harte oder weiche Masse, welche ausgehustet werden kann und an deren Stelle Lücken in der Lunge, Höhlungen, sogenannte Cavernen, zurückbleiben. Tritt auch jetzt noch keine Besserung ein, so werden die Höhlenwandungen immer weiter in Eiter verwandelt und ausgehustet; die Lunge wird auf einer größeren Strecke vernichtet, der Körper durch Fieber, Abzehrung, Nachtschweiße immer mehr aufgerieben, sodaß das tödtliche Ende nicht lange auf sich warten läßt.

In günstigen Fällen, aber allerdings ganz selten und nur im Beginn der Erkrankung kommt es vor, daß das Exsudat dennoch aufgesaugt und der Verkäsung der ergriffenen Partien vorgebeugt wird. Häufiger wird die Heilung dadurch bewirkt, daß nach Ausstoßung alles Abgestorbenen die entstandenen Cavernen, die nun eine Geschwürshöhle darstellen, sich mit guten Granulationen (Fleischwärzchen) bedecken, welche sich allmählich in eine nicht mehr eiternde Narbe verwandeln. Auch die Höhle selbst kann ganz verschwinden dadurch, daß die Höhlenwandungen sich an einander legen und zusammenwachsen, sodaß der betreffende Kranke alsdann nur eine Narbe als einziges Zeichen seiner früheren Krankheit in seiner Lunge behält. In anderen Fällen verhärten sich die käsigen Herde zu einer kalkartigen Masse und verbleiben als solche in der Lunge, ohne dem Kranken weitere Belästigung zu verursachen; doch bleibt in diesem Falle stets die Möglichkeit, daß sie sich nachträglich unter irgend einer nachtheiligen Beeinflussung erweichen, das Blut inficiren und Rückfälle veranlassen können.

Es ist durch mikroskopische Untersuchung der ausgehusteten Massen seitens verschiedener Forscher sicher festgestellt, daß dreiundneunzig Procent aller chronisch Lungenkranken an Cavernen leiden, sobald sie zwei bis drei Monate lang krank gewesen sind. Es ist uns dies ein Fingerzeig dafür, auf welche Weise die Natur selbst die Heilung anstrebt; sie sucht alles Fremdartige von sich fernzuhalten oder aus sich zu entfernen; ein abgestorbener Körpertheil ist ihr etwas Fremdes, Schädliches, und sie befreit sich von demselben auf die zweckmäßigste Weise.

Dem Arzte liegt es ob, diesen Fingerzeig zu benutzen; es ist daher seine Pflicht, bei allen Lungenkranken, die schon längere Zeit leidend sind oder an welchen er durch die Untersuchung das Vorhandensein verkäster Herde nachweisen kann, die Erweichung und Aushustung dieser käsigen Massen in einer dem Allgemeinzustande des Kranken angepaßten Weise zu befördern.

Hiermit ist aber seine Thätigkeit noch lange nicht abgeschlossen: er hat des Weiteren dafür zu sorgen, daß die auf diese Weise entstandene Höhlung nicht weiter fresse, sondern sich mit derbem Narbengewebe auskleide, sowie daß nicht neue Exsudationen in bisher gesunden Lungenstrecken Platz greifen.

Nun entsteht die weitere Frage: besitzt denn der Arzt die nöthigen Mittel, welche geeignet sind, die eben geschilderten Vorgänge in den Lungen Kranker zu beherrschen?

Ja, diese Mittel besitzt der Arzt, zwar nicht für alle Kranke, aber doch für eine große Zahl derselben, daß aber diese Zahl nicht eine noch größere ist, daran sind leider nicht selten die Patienten selbst schuld; giebt es doch zahlreiche Lungenkranke, welche sich so spät in ärztliche Behandlung geben, daß nach Ausstoßung alles Abgestorbenen nicht mehr hinreichend gesundes Lungengewebe übrig bleibt, um den Athmungsproceß und damit das Leben auf längere Zeit zu unterhalten; andererseits tritt vielfach die Krankheit von vornherein so heftig auf, ist mit solch hohen Fiebertemperaturen und solchem Darniederliegen aller Kräfte verbunden (galoppirende Schwindsucht), daß man von Anfang an auf Heilung verzichten und sich nur auf Linderung der unangenehmsten Begleiterscheinungen beschränken muß. Immerhin bleibt die Zahl der Schwindsüchtigen, welche die Thätigkeit des Arztes lohnen, eine große.

Welcher Art sind denn die Mittel des Arztes zur Herbeiführung des oben geschilderten Heilungsvorganges? Daß es keine Medicamente sind, welche denselben herbeiführen, leuchtet wohl Jedem ein; durch Medicamente lassen sich höchstens einige lästige Nebenerscheinungen der Schwindsucht mäßigen und mildern. Bevor ich aber das Hauptheilmittel der Schwindsucht näher bespreche, muß ich zum bessern Verständniß der Wirkungsweise derselben noch etwas weiter ausholen, und zunächst die Frage beantworten:

Wie kommt es, daß in einem durch vorhergehende Krankheiten, anhaltende Gemüthsaffecte, schlechte Ernährung oder andere klimatische oder hygienische Verhältnisse geschwächten Körper so leicht und gern eine käsige schleichende Lungenentzündung – Lungenschwindsucht – auftritt? Warum werden andere Organe des Körpers viel seltener durch diese Veranlassungen afficirt?

Das hat zumeist zwei Ursachen: einmal ist die Lage der Lunge eine sehr exponirte, allen Insulten durch die Athmungsluft [564] zugängliche; es ist ein Oberflächenorgan ohne den mächtigen Schutz, den diese sonst haben. Dazu kommt der eigenartige Bau: eine enorme, fast gerüstlose Häufung und Verknäulung von blut-, lymphe- und luftführenden Canalsystemen, denen zum Theil freie Mündungen an die Oberfläche und eine fast strukturlose Dünnwandigkeit eigen, wodurch die Zugänglichkeit für Schädlichkeiten jeder Art erhöht wird. Sodann – und das ist die Grundursache – ist die Lunge ungemein abhängig vom Herzen, an dessen Aufregungen und Schwächezuständen sie unmittelbar Theil nimmt, und zwar in solch hohem Grade und in solch directer Weise, daß ich nicht anstehe zu behaupten: keine Schwindsucht ohne vorhergehende und begleitende Herzschwäche, keine Heilung der Schwindsucht ohne Kräftigung des Herzmuskels.

Es ist diese Ansicht nichts Neues, aber seither kaum je so kategorisch hingestellt worden. Ich halte es daher in jedem Stadium der Schwindsucht für die erste Pflicht des Arztes, den Herzmuskel einerseits zu schonen und andererseits zu kräftigen, mit anderen Worten: den bei allen Schwindsüchtigen vorhandenen kleinen, raschen, fadenförmigen Puls in einen kräftigen, langsamen und vollen umzuwandeln. Gelingt dies nicht, so ist einfach keine Rettung mehr möglich.

Nun ist doch nichts natürlicher, als daß wir nach einem Mittel suchen, welches in Schwindsuchtsfällen die Kräftigung des Herzens in langsamer, stetiger, aber unfehlbarer Weise zu Stande bringt. Ein solches Mittel ist das Höhenklima. Wir besitzen zwar außerdem Mittel, welche für kürzere oder längere Zeit eine Kräftigung des Herzens bewirken, so in gewissen Fällen die Digitalis, der Weingenuß, gewisse Arten des Wasserheilverfahrens etc., Mittel, welche wir selbst an Höhencurorten als angenehme und willkommene Behelfe selten entbehren mögen. Keins aber wirkt so ununterbrochen, so unmerklich und doch auf die Dauer so radical, wie die sauerstoffarme Gebirgsluft und der verminderte Luftdruck des Gebirges, beide Momente zwar auf verschiedene Weise, aber in demselben Sinne und zu gleichem Zwecke. Wir wollen beide in ihrer verschiedenen Wirkungsweise näher betrachten.

Wenn wir uns am Meeresstrande befinden, so lastet auf uns der Druck der gesammten über uns befindlichen Luftsäule, und zwar auf jedem Quadratcentimeter Körperoberfläche mit einem Gewichte, welches gleich ist einer Quecksilbersäule von einem Quadratcentimeter Querschnitt und einer Höhe von 760 Millimeter. Eine solche Quecksilbersäule wiegt 1032,8 Gramm, und es lastet also auf jedem Quadratcentimeter Körperoberfläche des Menschen am Meeresgestade ein gleiches Gewicht. Desgleichen befindet sich die dort eingeathmete Luft in demselben Verhältnisse unter dem Drucke der über ihr ruhenden Atmosphäre; sie befindet sich also in einer bestimmten und ziffernmäßig zu belegenden Spannung. Je höher wir uns über der Meeresfläche erheben, eine um so geringere Luftsäule ruht auf uns und allem uns Umgebenden. Die von uns eingeathmete Luft – bekanntlich ein Gemisch von circa 79 Volumtheilen Stickstoff und 21 Volumtheilen Sauerstoff, bei geringen Theilen Kohlensäure und Wasserdampf – kann sich in ihren Mischungsverhältnissen nicht ändern, aber sie hat, wie alle Gase, das Bestreben, sich bei nachlassendem Drucke auszudehnen, einen größeren Raum als bei höherem Drucke einzunehmen. Mit Einem Worte: wir athmen bei zunehmender Höhe zwar dieselbe Luft ein in Betreff ihrer Mischungsverhältnisse, aber nicht dasselbe Quantum an Gewicht. Am Meeresstrande wiegt ein Kubikfuß Luft schwerer, als in einer Höhe von z. B. 650 Meter.

Da nun, wie wir aus dem Referat über den Vortrag des Herrn Professor Vogt am Eingange dieses Artikels gelernt haben, das Bedürfniß des Körpers an Sauerstoff sich nach dem Gewichte des letzteren richtet, so muß der Mensch zur Deckung dieses Bedürfnisses in der Höhe mehr Luft einathmen, als in der Ebene, das heißt also tiefer und schneller athmen. Das steht unumstößlich fest.

Was ist nun die directe unmittelbare Folge anhaltend vertiefter und beschleunigter Athemzüge?

Die Physiologie lehrt uns, daß bei jeder tiefen Einathmung das verbrauchte venöse Blut kräftiger zum Herzen zurück fließt, während bei jeder tiefen Ausathmung das erfrischte arterielle Blut kräftiger vom Herzen in und durch die Lunge strömt. Erleichterung des Rückflusses verbrauchten Blutes zum Herzen, Beförderung des arteriellen Blutzuflusses, also rascherer Blutdurchfluß durch die Lungen, das ist die unmittelbare Folge tiefer Athmung, das heißt des Aufenthaltes im Höhenklima. Dieser Effect ist aber ein Tag und Nacht andauernder und deshalb ein in seinen Wirkungen so mächtiger und heilsamer.

Als zweiter Factor tritt hinzu der verminderte Luftdruck größerer Höhen. Dieser durch das Barometer jederzeit meßbare verminderte Druck der über uns befindlichen Atmosphäre macht sich überall am menschlichen Körper dort geltend, wohin die Luft dringen kann, also vorzugsweise an der Oberfläche der Haut und der der Luft zugänglichen Schleimhäute und der Lungen. Es werden sich daher die zu Tage liegenden oberflächlichen Blutgefäße stärker mit Blut füllen, sich erweitern und dadurch auf Kosten der der Luft nicht zugänglichen inneren Organe, besonders der Bauchorgane und der Muskeln, eine total veränderte Blutvertheilung im menschlichen Körper hervorrufen. Auf großen Höhen geht dieser Trieb des Blutes in gesundheitsgefährlicher Weise nach außen, wie Jeder weiß. Auf geringeren Höhen, z. B. von 650 Meter, macht sich diese Blutvertheilung nicht so massiv und zum Schaden der Gesundheit geltend, aber doch als eine wirkende Ursache, die in die Oekonomie des menschlichen Organismus mächtig einzugreifen vermag, und sind es ganz besonders die Verhältnisse der Blutcirculation und des Herzens, welche bei dauerndem Aufenthalte unter vermindertem Luftdrucke eine heilsame Veränderung erfahren. Während die Füllung der dem verminderten Drucke der verdünnten Luft ausgesetzten größeren und besonders der kleinsten Blutgefäße, der sogenannten Capillaren der äußeren Haut und der Lunge zunimmt, wird die Circulation des Blutes durch Zunehmen der Herzkraft und Vermehrung der Gefäßspannung beschleunigt.

Der absolute Blutdruck wird vermindert, der relative Blutdruck (das heißt relativ zur Verminderung des Luftdruckes) dagegen erhöht, und es tritt trotz Mehrleistung des Herzens eine Verminderung der Herzarbeit, eine Erleichterung der Herzthätigkeit ein. Wie wichtig dies ist, haben wir oben gesehen. Professor Waldenburg in Berlin gebührt das große Verdienst, auf diese Seite der Wirkung des Höhenklimas zuerst und erschöpfend aufmerksam gemacht zu haben, und er empfiehlt daher längeren Aufenthalt im Gebirge allen denjenigen Kranken auf’s Dringendste, bei denen die Herzkraft geschwächt ist, das heißt Reconvalescenten nach schweren Krankheiten, Bleichsüchtigen und Blutarmen, gewissen Herzkranken und ganz besonders den chronisch Lungenkranken. Der Nutzen des Höhenklimas offenbart sich nach Professor Waldenburg so unbestreitbar, daß selbst schwere Mängel, die ihm anhaften (als rauhere Luft, vermehrte Luftbewegung) durch die Vorzüge überwogen werden. Mau sieht Kranke bei hoher winterlicher Kälte und beträchtlichen Temperaturschwankungen in hochgelegenen Heilanstalten sich wohl befinden und mehr und mehr sich bessern. Die Thatsache, daß in Gebirgen Schwindsucht gar nicht vorkommt, ist Wohl Jedem bekannt und lediglich darauf zurückzuführen, daß eine Erlahmung der Herzkraft hier selbst unter schwächenden Einflüssen nicht auf die Dauer Platz greifen kann.

Das unbestreitbar große Verdienst, auf das Nichtvorkommen der Schwindsucht in hohen Gebirgslagen und auf die Heilkraft solcher Lagen bei vorhandener Schwindsucht zuerst hingewiesen, zugleich auch durch Errichtung einer Gebirgsheilanstalt seine Lehre praktisch verwerthet zu haben, gebührt dem Dr. Brehmer in Görbersdorf (1850). Nicht lange nachher wurde Davos in der Schweiz zu einem Luftkurort für Lungenkranke, besonders für Wintercur, geschaffen. Alsdann folgte 1870 die Heilanstalt Reiboldsgrün, 690 Meter über der Ostsee und inmitten meilenweiter Fichtenwaldungen geschützt gelegen, welcher Verfasser dieses Artikels als Arzt vorsteht. Im Jahre 1875 wurde eine zweite Heilanstalt in Görbersdorf errichtet unter der Direktion des Dr. Römpler. Sodann folgte die Eröffnung einer südlichen, aber nur 440 Meter hoch gelegenen Actienheilanstalt in Falkenstein im Taunus, jetzt unter der Direction des Dr. Dettweiler. Auch St. Andreasberg am Harz (600 Meter hoch) nimmt seit Kurzem Lungenkranke auf, ebenso noch einige andere Gebirgsorte. Die in sämmtlichen Anstalten im Sommer wie Winter erzielten Erfolge entsprechen durchaus den gehegten Erwartungen, obgleich in der Behandlung in manchen Punkten von einander abgewichen wird. Aber die Zahl dieser Anstalten ist viel zu gering gegenüber der übergroßen Anzahl Lungenkranker; eine Vergrößerung der einzelnen Heilstätten empfiehlt sich nicht, da die einheitliche Leitung derselben darunter leiden könnte und eine zu große Anhäufung so verschiedenartiger Lungenkranker an einem Orte sich aus mannigfachen

[565]

Am Gartenpförtchen.
Originalzeichnung von W. Hasemann.

[566] Gründen nicht empfiehlt. Dagegen wäre die Errichtung einer Gebirgs-Lungenheilanstalt in jeder dazu geeigneten deutschen Provinz sehr wünschenswerth, damit so jedem Lungenkranken die Möglichkeit der Heilung geschaffen würde.

Aber der Aufenthalt in diesen Anstalten ist nur möglich durch große Opfer an Zeit und Geld. Kurze Dauer des Aufenthaltes nützt nicht genug; auf mehrere Monate muß sich Jeder gefaßt machen. Die Regie einer großen Anstalt erfordert aber einen kolossalen Aufwand an Personal, sanitären und hygienischen Einrichtungen, laufenden Reparatur- und Verwaltungsausgaben und Capitalzinsen; gute Besuchszeiten müssen die schlechteren Wintermonate mit übertragen, sodaß ein halbwegs Vernünftiger einsehen muß, daß von einer absoluten Billigkeit keine Rede sein kann. Und wenn auch in einigen Anstalten die Preise billiger sind als in anderen, so gehört zur Heilung einer Lungenkrankheit immerhin ein Capital, welches für Unbemittelte und minder Vermögende unerschwinglich ist. Und gerade unter dieser Classe finden sich naturgemäß die meisten Opfer der Schwindsucht. Deshalb entspricht das Verlangen des Professor Vogt nach Schaffung von Höhen-Volks-Sanatorien einem wirklichen Bedürfnisse.

Diese Idee ist nicht neu; der verstorbene Professor Lebert in Breslau sprach sich schon 1869 in seinem Schriftchen über Milch- und Molkencuren ähnlich aus:

„Es ist Zeit, daß Staat, Volk und Gemeinde begreifen, daß sie dieser traurigen Krankheit und ihren zahllosen Opfern gegenüber Pflichten zu erfüllen haben, welche sie bis jetzt nicht erfüllen.“

Und weiter:

„Ich gebe diese Vorschläge keineswegs irgendwie als mustergültig. Ich möchte nur zeigen, daß die Möglichkeit der Ausführung meiner Vorschläge nicht zu den chimärischen Utopien gehört, sondern zur Wirklichkeit werden kann, sobald man nicht von vornherein jedem Vorschlage von Verbesserungen das starre ‚Non possumus!‘ oder das milder klingende ,Wir haben kein Geld!’ systematisch entgegensetzt. Sehr gut und nützlich angewandt sind die großen Summen, welche man auf Verbesserung der Thierrassen verwendet hat; es wäre aber auch gewiß an der Zeit, daß man für Verbesserung der Gesundheit der Menschenrasse das Nothwendige thue, wenn es auch sogenannte Opfer kostet.“

Der kaiserlich russische Staatsrath Dr. C. von Mayer fügt dem in einem Schriftchen über die Lungenschwindsucht hinzu:

„Wie manche Krankheitsanlage könnte getilgt werden, wie manches Leben erhalten bleiben, wenn solchen Kranken, noch vor dem Ausbruche der verderblichen Krankheit, eine Heilanstalt offen stünde, in der sie die für ihr Leiden nöthige Pflege finden könnten! Daß Schwindsüchtige nicht in ein Krankenhaus im gewöhnlichen Sinne des Wortes hineingehören, darüber werden Wohl alle Aerzte einig sein. Gott gebe, daß der Staat sowohl wie auch Aerzte sich dieser schönen Aufgabe unterzögen, solche Anstalten – und ihrer recht viele – zu errichten!“

Der kaiserlich königlich österreichische Stabsarzt Dr. L. Günzberg hat sich sogar die Mühe gegeben, einen „Entwurf über ländliche Curorte für minder bemittelte Brustschwache mit tuberculöser Anlage“ auszuarbeiten mit Bauplan, Kostenvoranschlag und Erhaltungsplan. Eine solche Anstalt könnte sich leicht selbst erhalten, wenn sie zugleich im Besitze eines entsprechend großen Landgutes mit Viehwirthschaft wäre. Ich selbst habe mich seit Jahren vielfach mit der Idee der Errichtung von Volks-Sanatorien für arme Lungenkranke beschäftigt, da ich so recht an der Quelle des Elendes sitze, welches die Lungenschwindsucht in den ärmeren Familien anrichtet. Den Staat kann man nicht heranziehen zu einem solchen Humanitätswerke. Hier kann nur die gemeinsame Hülfe edler Herzen rettend eingreifen. Wie aber die Idee dieser Unternehmung der Menschenliebe, zu welcher die obigen Darlegungen auf’s Neue die Anregung geben wollten, verwirklicht werden kann, darüber wird hoffentlich recht bald ein gemeinsamer Beschluß berufenster Männer an die Oeffentlichkeit treten.




Der Maskenscherz im Nonnenkloster.

Ein Geschichtlein aus dem wirklichen Leben.

Es ist wunderbar, wie der Scherz sich oft die ernstesten Stätten aussucht, um sich Gehör zu verschaffen, wie er die würdigsten Matronen zu seinen Opfern wählt! So erinnere ich mich einer Begebenheit, die in meiner Heimath seiner Zeit viel von sich reden machte und allgemeine Heiterkeit erregte.

In meiner Vaterstadt kennt Jeder das landesfürstliche Palais mit der Hauptwache zu seiner Seite, doch nicht Alle werden die kleine Pforte beachtet haben, welche dicht daneben liegt und in die für sich bestehende kleine Welt des Klosterheiligthums führt, das, rings von hohen Mauern umgeben, mitten in dem lebhaftesten Theile der Stadt liegt. Dieses Kloster ist nicht gerade ein Aufenthalt für fromme, der Welt entsagende Nonnen, die dort über die Enttäuschungen des Lebens trauern und nachdenken wollen, sondern vielmehr eine Versorgungsanstalt für ältere unverheiratete Jungfrauen; denn nur solchen wird der Eintritt dort gestattet; acht bürgerlichen und einem adligen Fräulein bietet es ein freundliches Heim.

Vor undenklich langen Zeiten war eine schwedische Prinzessin auf hoher See von Sturm und Unwetter überfallen worden, sodaß ihr Schiff in größter Gefahr war zu kentern, da that sie in ihrer Herzensangst das Gelübde, bei glücklicher Landung und Rettung aus Todesgefahr an dem ersten Orte, wohin sie gelangen würde, aus Dankbarkeit ein Kloster zu stiften mit reicher Dotation zur Versorgung armer Jungfrauen. Der Sturm legte sich, und dankerfüllt landete die Prinzessin, hielt aber auch ihr Versprechen; sie ließ eine Kirche und daneben eine Anzahl gesunder schöner Wohnungen erbauen, von Gärten und Wiesen umgeben. So entstand unser Kloster.

Die Wohlthat dieser Anstalt bewährt sich bis auf den heutigen Tag, und wie eine besondere Bevorzugung sieht es jedes Mädchen an, wenn die Eltern ihr schon in zarter Jugend die Berechtigung zur Aufnahme erkauft haben. Ein alleinstehendes Mädchen kann sich keinen besseren Zufluchtsort wünschen als dieses Kloster. Sie ist nicht einmal verpflichtet, immer dort zu wohnen, sondern kann, wenn ihre pecuniären Mittel es ihr erlauben, Monate lang auswärts leben.

Nun soll man aber nicht denken, daß dieses Asyl, das nach äußerem Beschauen so recht eine Stätte des Friedens ist, auch in Wirklichkeit so viel Frieden in sich schließt. O weh – neun unverheirathete alte Damen unter einem Dache, wie könnte da wohl immer Eintracht herrschen! Da ist Neid und Abgunst, beleidigtes Selbstgefühl ohne Ende, und geredet wird von Einer zur Andern, um die Zeit auszufüllen, sodaß oft die Zwietracht aus allen Ecken heraus schauet.

Zu der Zeit nun, wo unsere kleine Geschichte spielt, war gerade der Kampf lichterloh entbrannt und hätte sich vielleicht noch immer weiter entwickelt, wenn nicht ein ganz unerhörtes Ereigniß, das die Aufmerksamkeit der alten Damen in Anspruch nahm, sie von sich selbst abgelenkt hätte. Es begab sich nämlich, daß die adlige Stelle durch den Tod des Fräulein von D. vacant wurde; ihre Nachfolgerin sollte ein kaum erblühtes, ganz junges Mädchen, die Tochter eines hohen Officiers, sein. Die alten Damen setzten voraus, daß die jugendliche Conventualin beim Landesfürsten um die Erlaubniß nachsuchen werde, ihre Wohnung bei den Eltern zu behalten und bis zu einem vorgerückteren Alter die Klosterräume leer stehen zu lassen. Sie hatten sich jedoch getäuscht: dem schönen Fräulein erschien es vielmehr höchst amüsant, von jetzt ab als Klosterfräulein aufzutreten, und da sie nicht allein dort wohnen konnte, so brachte sie ihre noch jüngere Schwester, die eben eingesegnet war, als Gesellschafterin mit und Beide versprachen sich das köstlichste Vergnügen von ihrem Aufenthalt im Kloster.

Anfangs machte das frische fröhliche Leben der beiden Schwestern auch keinen unangenehmen Eindruck auf die alten Damen, wenigstens wollten sie es nicht eingestehen, daß die fröhlichen lachenden Stimmen ihnen ungelegen kämen. Bald aber fingen die würdigen Conventualinnen, eine nach der andern, an, das Singen, das Haschen, das Laufen während der sonst so lautlosen Nachmittagsruhe unerträglich zu finden, und manche Klage erscholl erst leise und dann immer lauter. Die guten Alten ahnten noch nicht, daß dies nur der Anfang eines noch viel größeren Entsetzens sein sollte; denn der Uebermuth der jungen Klosterbewohnerinnen wurde von Tag zu Tag ärger: jugendliche Freundinnen kamen zu den beiden lustigen Schwestern, um neugierig das ganze Kloster zu durchspähen; sie wurden durch alle Gänge, auch auf den Boden geführt, wo noch viele alte Särge stehen, die theils Schrecken, theils Interesse bei der Jugend erregten, dann in die Gärten, wo man entzückt über die großen Rasenplätze tanzte, alle möglichen Pläne zur Belustigung entwarf. Schließlich wurde für den nächsten Nachmittag eine Crockett-Partie verabredet und unter Kichern und Lachen über die Einzuladenden hin und her gestritten. O ihr ausgelassenen Mädchen, wenn ihr bedacht hättet, was ihr damit anrichtetet! Wenn ihr gesehen hättet, wie die würdigen Kopfgebäude der alten Klosterdamen wackelten, wie mancher drohende Finger sich gegen euch erhob, ob solchen Unfugs! Die beiden jungen Klosterschwestern trafen am anderen Tage geschäftig die Vorbereitungen zum Kaffee, und ungeduldig wurden die Gäste erwartet. Da verlautete aber in den ernsten Klostermauern etwas Entsetzliches: nicht nur die Freundinnen, nein auch der Bruder der beiden jungen Damen, ein Officier, wollte mit seinen Cameraden erscheinen und an dem Crockettspiel theilnehmen. Fürchterliche Kunde! Wo war da die Ruhe des Klosters geblieben, wo der Respect vor der Frau Domina, deren Erlaubniß einzuholen das adlige Fräulein für überflüssig erachtet, wie sie überhaupt in ihrer Sonderstellung glaubte, außer dem Bereiche der Domina zu stehen.

Der Nachmittag rückte heran; einzeln waren die Gäste in die [567] Wohnung der Schwestern geschlüpft, und nur das brausende Lachen und Scherzen drang zuweilen in die stillen Gänge hinaus; dann ging es in den Garten, wo der herrliche Sonnenschein sich schier zu freuen schien über eine Gesellschaft, wie sie so lustig an diesem Orte noch nicht gesehen worden.

Die gute, alte Domina, der geschäftig jedes neue Gerücht zugetragen worden war, hatte ungläubig den Kopf geschüttelt, weil sie es gar nicht für möglich gehalten, daß man einen solchen Frevel vor ihren Augen ausführen werde. Sie forderte aber doch die Klostergenossinnen auf, in ihr Zimmer zu kommen und von dort die Vorgänge im Garten zu beobachten; die alten Damen strengten auch schon lange ihre Gehörnerven an, um das Sporenklingen heranrücken zu hören. Wie lang wurden aber ihre Gesichter, als die Gesellschaft im Garten sichtbar wurde und keine Uniformen, sondern nur junge Mädchen erschienen! Wo waren die Schrecklichen, die Herren Officiere?

Wären die Augen der guten Alten nicht durch die Jahre geschwächt gewesen, so würde es ihnen aufgefallen sein, daß ein Theil der Jungfrauengestalten da vor ihnen im Garten sehr plump und ungeschickt aussah und immer von Neuem die Lachlust der Anderen erregte; die ehrwürdigen Matronen saßen ganz betroffen da und wagten kaum, den Blick zur Frau Domina zu erheben. Sollte die Kunde von dem Unerhörten, das sie so geschäftig von Ohr zu Ohr getragen hatten, sich nicht erfüllen? Keine Officiere?

Frau Domina wollte gerade anheben, eine Strafpredigt an ihre Gefährtinnen zu richten, die so böswillig die Jugend verleumdet, als die Aufmerksamkeit der würdigen Damen von Neuem auf die Gruppe im Garten gelenkt wurde; denn – was war das? Jenseits der hohen Mauer des Klostergartens, im daran grenzenden Park des Landesfürsten erscholl plötzlich rauschende Musik, welche ohne Frage nur die Herren Officiere in Scene gesetzt haben konnten, und in demselben Augenblicke schwebte auch schon Paar auf Paar über den Rasen dahin. O weh! jetzt war es vorbei mit aller Mummerei; selbst den blöden Augen der alten Damen entging es nicht, daß sämmtliche Zusammentanzende ganz wunderbar zu einander paßten – gar nicht, als ob das Paar aus zwei Mädchen bestände, und daß ferner hier und da unter den langen, ungeschickt umherschlagenden Röcken merkwürdig große Stiefel und bei der einen der tanzenden Gestalten sogar ein Paar Sporen hervorlugten; ja auch die zarten Mädchenstimmen hatten sich zum Theil sogar in tiefe Baßstimmen verwandelt, sodaß ein Irrthum nicht mehr möglich war: es waren wirklich Officiere im Nonnenkloster.

Mit einem Schrei des Entsetzens fiel die gute Domina in ihren Sessel zurück; die Prise, die sie zwischen den Fingern hielt, war denselben auf dem Wege zur Nase entfallen, und „Männer – Männer!“ tönte es von ihren Lippen. Dieser Frevel war doch zu groß – wie sollte er gesühnt werden?

Alle Schwestern bemühten sich, gleich entsetzt zu erscheinen wie die Frau Domina; verschiedene mehr oder weniger gut gespielte Ohnmachten ereigneten sich, und durch die dabei üblichen Aufschreie wurde die flotte junge Gesellschaft nicht wenig erschreckt und hielt sofort im Tanzen inne; eilig ergriffen Tänzer und Tänzerinnen die Flucht.

So endete das übermüthige Treiben der jungen Klosterschwestern; denn unmöglich konnten sie nach diesem Attentat noch länger im Kloster bleiben; sie flüchteten sich zu ihren Eltern und baten um Schutz und Beistand in dieser heiklen Sache.

Die Domina, die in ihrem tiefen Gekränktsein kaum wußte, wie sie dem Vater der jungen Sünderinnen ihre Entrüstung darthun sollte, wurde indessen aller Mühe überhoben: denn schon am nächsten Morgen erschien der Herr Oberst selbst bei ihr und verstand in so herzgewinnender und doch ehrfurchtsvoller Weise für seine beiden Mädel um Verzeihung zu bitten, daß die gutmüthige Frau Domina bald besänftigt wurde und vollends Alles gern verzieh, als der Vater ihr die gestern Abend stattgefundene Verlobung seiner ältesten Tochter, des „Klosterfräuleins“, mit einem der jungen tanzlustigen Officiere mittheilte. Ein „Gott sei Dank!“ entfloh den Lippen aller alten Damen, wie sie das letztere Ereigniß vernahmen, und mit großer Uebereinstimmung thaten sie den Ausspruch, daß die nunmehrige glückliche Braut für’s Kloster doch nie tauglich gewesen wäre.

Der alte Klostergarten hat seitdem nie wieder so fröhliches Leben geschaut; tiefe Grabesstille liegt nach wie vor über ihm ausgegossen, und nichts stört mehr die friedliche Nachmittagsruhe der alten Damen; es müßte denn sein, daß der Sonnenschein, der durch die dichtberankten Fenster dringt, ihnen auf der Nase spielt oder daß eine Nachtigall den Flug über die Mauer genommen und nun vor dem Fenster der einen oder der andern ihr klagendes Liebeslied singt und dadurch die Träume der Alten stört; sonst aber ist Alles beim Alten geblieben in dem stillen Jungfrauenheim. Es wird schwerlich zum zweiten Male ein junges heißblütiges Kind Wellenschlag in die Eintönigkeit hinübertragen und den Staub aus den Ecken aufwirbeln; denn wenn sich auch Alles im Leben wiederholt – ein Maskenscherz im Nonnenkloster? Nein, der ist zu unerhört, der kann nur einmal existiren in den Jahrbüchern der Weltgeschichte.




Blätter und Blüthen.



Mängel im Eisenbahnverkehr. Es ist bekannt, daß unsere Eisenbahnverwaltungen unablässig bemüht sind, Verbesserungen im Personenverkehr und in der Einrichtung der Personenwagen einzuführen, sodaß wohl behauptet werden darf, das man, den localen Verhältnissen entsprechend, nirgends wohlfeiler, sicherer und bequemer reist als in Deutschland; denn daß man bei uns ganze Restaurationen und Lesecabinets wie bei den Zügen, die den amerikanischen Continent durchfahren, mitführe, wird Niemand verlangen, der unsere Verhältnisse richtig würdigt. Offene Fragen sind bei diesen Verbesserungseinrichtungen allerdings noch immer vorhanden, und dahin rechnen wir unter Anderem immer noch die über das beste Heiz- und Beleuchtungssystem. Die Sorge darüber können wir unseren Eisenbahnverwaltungen überlassen in der sicheren Hoffnung, daß auch darin bald erhebliche Fortschritte werden gemacht werden; dagegen möchten wir an dieser Stelle den Eisenbahnverwaltungen einige unschwer zu erfüllende Wünsche des Publicums an’s Herz legen, welche zwar nicht ganz neu, aber doch noch nicht genug berücksichtigt worden sind.

Zunächst: die Form der Sitzbänke! Es ist bekannt genug, daß, wenn der menschliche Körper ruhen will, weniger die Schulterblätter als das untere Ende des Rückgrats eine Unterstützung verlangt; die meisten Sitzbänke namentlich der dritten Classe haben aber eine fast gerade oder nur wenig geneigte Rückwand, während mit geringen Mehrkosten eine zweckmäßig nach unten und vorn kräftig ausgebauchte Wand, wie wir sie z. B. bei den oldenburgischen Wagen finden, herzustellen wäre. Selbst die Polsterbänke der ersten und zweiten Classe entsprechen meist auch nicht den erforderlichen Rücksichten. Wie kreuzlahm fühlt man sich nach einer langen Reise im gefüllten Coupé, in dem man verurtheilt war, lange Zeit dieselbe Stellung einzunehmen!

Ferner: die Fenster! In Betreff derselben möchten wir den Wunsch aussprechen, daß, wenn sie geschlossen sind, sie auch wirklich dicht schließen und man nicht beim Vorwärtsfahren einem unerträglich feinen Zuge ausgesetzt ist, der namentlich an stürmischen Wintertagen nicht besonders starken Naturen erhebliche Gesundheitsschädigungen bringen kann. Werden Gardinen angebracht – was doch für alle Classen zu fordern ist – so sollten dieselben ihren Zweck auch dadurch erfüllen, daß sie den lästigen Sonnenstrahlen den Eingang vollkommen wehren. Viele Verwaltungen haben zwar schon große sich überdeckende Gardinen angebracht, meist sind aber die Oesen zur Befestigung an den vorhandenen Knöpfen abgegriffen; oft genug findet man aber auch statt der Gardinen nur kleine Stückchen Zeug, die kaum eine Glasscheibe decken und bei geöffnetem Fenster ein Spielzeug des Windes sind. Alle Versuche, die Dingerchen mit Stecknadeln unter Zuhülfenahme von Taschentüchern zu befestigen, sind vergeblich; man muß sich den Tanz des flackernden Sonnenlichtes vor seinem Gesicht gefallen lassen und ohne Murren gegen das Schicksal die Augen schließen.

Endlich: ein großer Fehler war die im Jahre 1873 von einigen Eisenbahnverwaltungen eingeführte Beschränkung der Retourbillets; es würde für die Eisenbahnen ein durchaus nicht zu unterschätzender Vortheil und für das reisende Publicum eine mit großer Freude begrüßte Annehmlichkeit sein, wenn wieder auf allen deutschen Bahnen eine mindestens dreitägige Gültigkeitsdauer der Retourbillets unter Benutzung der Schnellzüge eingeführt würde. Man wende nicht ein, daß dadurch dem Mißbrauch und Betruge Thür und Thor geöffnet werde! Es ist Sache der Eisenbahnverwaltungen, sich dagegen durch geeignete Maßnahmen zu schützen. Der Personenverkehr ist thatsächlich durch Beschränkung der Retourbillets herabgedrückt worden: denn erstens kann sich in Folge dessen der leichtfüßige Retourverkehr nur auf ein geringeres Gebiet erstrecken, und dann erscheint Vielen für Zwecke des Vergnügens oder Geschäfts die gebotene Zeit zu kurz; man schränkt daher seine Reisen auf das äußerste Minimum ein und wählt lieber den schriftlichen Weg zur Erledigung seiner Angelegenheiten. Täuschen wir uns darüber nicht: wenige Mark Unterschied im Fahrpreise sind oft entscheidend, ob Jemand eine Reise in die Umgegend unternimmt oder nicht.

Wir wollen für heute unsern Wunschzettel, den gewiß Viele gern unterschreiben werden, schließen und hoffen, daß derselbe maßgebenden Kreisen zu Gesicht kommen und dort geneigtes Gehör finden werde.





Der Parzival Wolfram’s von Eschenbach von Wilhelm Meyer-Markau (Magdeburg, Heinrichshofen). Die Parsifal-Aufführungen in Bayreuth haben auf’s Neue das Interesse auf den literarischen Stoff gelenkt, der dieser Wagner’schen Bühnendichtung und ihren epischen Vorgängerinnen zu Grunde liegt. Zeitgemäßer als in diesem Augenblicke konnte daher die oben bezeichnete Schrift unseres geschätzten Mitarbeiters nicht erscheinen, und so dürfte ihr das dankbare Entgegenkommen zahlreicher Leser sicher sein; sie unterrichtet in eingehender Weise über die literarische Quelle des Wagner’schen „Parsifal“, indem sie uns mit vielem Geschick in das großartige Werk des sprach- und geistesgewaltigen mittelalterlichen Dichters einführt. Kurz und klar entwirft uns der Verfasser zuerst ein Bild von dem, Leben und Schaffen Wolfram’s, um uns alsdann den Sagenkreis vom „Heiligen Gral“ und „König Artus“ zu erschließen und uns so das Verständniß des „Parsifals“ zu erleichtern. Hieran knüpft sich zwanglos eine ebenso übersichtliche wie gewissenhafte Inhaltsangabe der Dichtung; es folgt eine eingehende Kritik derselben, und als Anhang bilden Mittheilungen über die Handschriften und Uebersetzungen den Schluß. Lichtvoll in der Darstellung, scharf im Urtheile und abgerundet in der Anordnung, bietet die Meyer-Markau’sche Schrift eine lehrreiche und fesselnde Lectüre, und wenn wir noch erwähnen, daß einer der gründlichsten und geistvollsten Parzivalkenner der Gegenwart, San-Marte, diese Abhandlung einen „sehr guten und übersichtlichen Commentar“ zu dem Wagner’schen Textbuche des „Parsifal“ nennt, so brauchen wir wohl zur Kennzeichnung des Werthes und der Bedeutung der dankenswerthen Schrift kaum noch etwas hinzuzufügen.



[568] Vermißte. (Fortsetzung von Nr. 30):

48) Der Techniker und Telegraphist, Vincenz Hübsch, 1850 in Prag geboren, war bei der privilegirten österreichischen Nordwestbahn von 1872 bis 1874 Beamter, von 1875 bis 1877 Calculant des obersten Rechnungshofes und ist seit dem 13. Mai 1877 verschwunden. Er war von mittlerer Größe, untersetzt, hatte kastanienbraune Haare, dunkelblonden Vollbart, im Knöchel des linken Fußes eine veraltete Luxation.

49) Doppelt zu beklagen als arme Wittwe und unglückliche Mutter ist Frau M. Wandt in Schneidemühl, die ihre einzige Stütze, ihren Sohn, nun schon seit vier Jahren vergeblich aus unbekannter Fremde zurückerwartet. Dieser Vermißte, Hermann Wandt, geboren den 1. September 1854 zu Greifswald, wo sein Vater Nagelschmiedemeister war, wanderte als Tapezierer und Decorateur 1878 nach Nordhausen und schrieb von da, daß er nach Berlin gehen wolle. Von dieser Zeit an ist keine Nachricht mehr weder von ihm noch über ihn zu erlangen gewesen. Bei der Berliner Polizeibehörde war er nicht angemeldet worden. Man vermuthet nun, daß er nach Rußland gegangen sei. Der noch nicht achtundzwanzigjährige junge Mann hatte, als er seine Mutter verließ, ein bleiches Aussehen und trug keinen Bart; er ist blondhaarig. Vielleicht haben unsere Leser in Rußland das Glück, ihn dort zu finden und ihm diese Zeilen mitzutheilen.

50) Der Schuhmachergehülfe Moritz Wartenberg aus Dresden, 1855 geboren, ein junger Mann von mittlerer Größe, blondhaarig und mit etwas gekrümmten Beinen, ging 1876 nach Stuttgart, reiste von da ab, ohne den Seinen darüber zu schreiben, und ist seitdem verschollen. Er wird von seinem alten Vater gesucht.

51) Friedrich Waschmann, Sohn des verstorbenen Dr. Rudolf Waschmann auf Windheim in Kurland, ging, weil sein Fortkommen dort aussichtslos war, im Oktober 1862, achtzehn Jahre alt, als Seemann mit einem Dampfer von Memel nach England und ist seitdem verschollen, während beim Magistrat von Libau ein Erbe von 15,000 Silberrubel auf ihn wartet. Seine Geschwister leben noch.

52) Aus Oberspaar bei Meißen in Sachsen ging August Wolf als zwanzigjähriger Zimmermannsgeselle nach Hamburg und von da nach Australien. Dort kaufte er sich ein Landstück in, wie uns geschrieben wird, „Lonigbek bei Gobanton“, von wo zwei Briefe, im November 1871 und im August 1876, an seinen nun achtzigjährigen Vater kamen. Im letztern Briefe, von anderer Hand, steht, daß er vollständig erblindet sei, und daß seine Frau und die ältesten seiner sechs Kinder alle Arbeit allein verrichten müssen. Briefe unter obiger Adresse kamen seit 1876 theils als unbestellbar zurück, theils blieben sie ohne Antwort.

53) Ein anderer Zimmergeselle, Max Wolff, aus Berlin, geboren am 20. November 1861, ging am 2. März 1879 auf die Wanderschaft, schrieb seiner Mutter, einer Wittwe, am 9. November desselben Jahres, daß er über Straßburg, Metz, Luxemburg, Namur und Brüssel nach Antwerpen oder Amsterdam reisen wolle, um den Schiffbau zu lernen und dann zur See zu gehen. Das war sein letzter Brief. In ihrer Angst wandte sich die Mutter im März 1881 mit der Bitte um Erkundigung nach ihrem Sohne an den „Deutschen Hülfsverein in Antwerpen“ und erhielt am 30. März die Nachricht, daß Max Wolff am 14. April 1880 zum letzten Male Unterstützung von demselben erhalten habe. Sollte man in der holländischen Armee wohl den Namen kennen? Da ist wieder einmal einer Mutter die Stütze ihrer alten Tage zerbrochen.

54) August Wilhelm Wunderlich, aus Landwüst im sächsischen Vogtlande, geboren den 13. September 1846, stand 1877 bis 1880 im Dienst der Indo-Europäischen Telegraphen-Gesellschaft als Mechaniker, und zwar im Kaukasus. Einige Zeit war er in Suchum Kaleh, dann in Station Mineralwasser, zuletzt in Georgiewsk. Von da an schweigen die Nachrichten über ihn; auch der Oberingenieur E. Günzel in Tiflis konnte nur die Kunde geben, daß Wunderlich Mitte des Jahres 1880 den Dienst verlassen habe.

55) Der Seemann Hans Zinserling aus Erfurt wurde am 15. August 1881 als Bootsmann auf Sr. Maj. Schiff „Vineta“ in Port-Elizabeth, Capland, auf Urlaub entlassen und ist seitdem verschollen.

56) Der 1853 zu Dresden geborene Schreinergehülfe Franz Zwintscher begab sich 1872 auf Wanderschaft nach der Schweiz, schrieb 1874 und zuletzt 1877 aus Basel und ist seitdem von seinen Eltern vergeblich gesucht worden.

57) Aehnliches haben die Eltern Hartwigsen in Meyn-Mühle bei Wallsbüll im Kreise Flensburg zu beklagen. Ihr achtzehnjähriger Sohn Andreas Lorenz Hartwigsen diente als Knecht bei einem Bauern in Hachstedt, verließ diesen am 29. Mai 1880, wurde zuletzt noch auf der Station „Nordschleswigsche Weiche“ bei Flensburg gesehen, auf dem Zuge nach Süden, und seitdem nicht wieder. Der junge Mensch ist von mittlerer Statur, blondhaarig und besonders kenntlich an den auf die linke Hand tättowirten Buchstaben A. H. und an einem Muttermale am rechten Unterarme.

58) Eine unglückliche Frau sucht ihren verschollenen Gatten, Johann Kündig aus Augsburg, der, nach dem Aufgeben seiner eigenen Fabrik, sich in die Schweiz begab, um eine Stelle als Werkmeister in einer Weberei anzunehmen. Er wollte, sobald ihm dies geglückt, seine Familie nachkommen lassen. Leider schien ersteres nicht der Fall gewesen zu sein; denn nach längerer Zeit überraschte die Gattin ein Brief aus Liverpool, nach welchem ihr Gatte an einer dortigen Maschinenfabrik Stellung gefunden, aber auch den Auftrag erhalten habe, erst in Brasilien, dann in Indien neue Fabriken anzulegen. Von Brasilien aus wollte er wieder schreiben. Da nun aber wieder eine lange Zeit vergangen ist und die mit ihren Kindern verlassene Frau weder die Firma in Liverpool noch den Namen der betreffenden brasilianischen Stadt kennt, so muß sie, das Schlimmste befürchtend, die Hülfe der Oeffentlichkeit zur Auffindung des Vaters ihrer Kinder in Anspruch nehmen.

59) Der Bruder einer armen Näherin, Tischler Gustav Hermann Geißler, am 7. April 1839 in Bautzen (Sachsen) geboren, arbeitete zuletzt in Düsseldorf am Rhein, wo er Bolkerstraße 20 gewohnt hat. Der letzte Brief an seine Schwester ist vom März 1876 datirt; die Antwort derselben kam am 29. April 1877 mit dem Postvermerke zurück: „Auch mit polizeilicher Hülfe nicht zu ermitteln.“

60) Gustav Neumann, ein Müller, geboren den 10. September 1849 zu Groß-Hoppenbruck, Kreis Heiligenbeil in Ostpreußen, ging im Sommer 1870 auf die Wanderschaft, war bis zum Herbst 1872 in Berlin bei einem Kaufmann Sommer, soll dann nach Süddeutschland, nach anderer Vermuthung nach Amerika, abgereist sein und ist seitdem verschollen.

61) Lebt in Punta Arenas, Mina Martha, im chilenischen Territorium Magallanes, ein Maschinenbauer Rudolf Schultz aus Berlin? Er ist 1859 geboren und reiste 1880 über Bremen nach Südamerika.

62) Den jetzt etwa vierzigjährigen Kaufmann Theodor Frömel aus Wenden in Ostpreußen bittet sein Bruder in Berlin (Lindenstraße 63, III.) um Heimkehr.

63) Vor etwa zwanzig Jahren verließ der Kaufmann Matthäus Schumacher die Stadt Chur in der Schweiz; inzwischen sind alle Glieder seiner Familie gestorben bis auf seine Tochter Katharina, die einst sein Liebling war.

64) Ob sich wohl Jemand noch des Seemannes Ludwig Bähre erinnert? Er stammte aus Groß-Goltern in Hannover, besuchte die Schule in Bremen, von wo er als Steuermann eines Kauffahrers in See ging, ohne, stürmisch und leichtlebig, wie er als junger Mensch war, je wieder nach den Seinen zu fragen. Jetzt, da er ein höherer Fünfziger geworden, erfreut es ihn vielleicht, von einem Neffen in Wesel zu hören.

65) Der Nagelschmied Gottfried Hermann Bork aus Scharnikau bei Posen, den 20. December 1837 geboren, kam auf seiner Wanderschaft 1867 nach Hamburg, von wo er zum letzten Mal schrieb und wohin ihm sein Taufschein nachgeschickt wurde. Jetzt fragt seine Schwester Auguste in Berlin nach ihm.

66) Ebenfalls eine schwesterliche Nachfrage ergeht nach Hermann Goedecke aus Magdeburg, welcher 1866 Deutschland verlassen, sechs Jahre in Algier in der Fremdenlegion gedient und zuletzt aus dem Lazareth daselbst (1873) geschrieben hat, daß er nach Brasilien reisen werde. Seine Schwester lebt zu Rositz in Sachsen-Altenburg.

67) Eine Mutter, welche in kurzer Zeit ihre vier Töchter von sieben, siebenzehn, neunzehn und einundzwanzig Jahren verloren und indeß Wittwe geworden, sucht ihren einzigen Sohn schon seit Jahren vergeblich auf allen Meeren. Egydius Friedrich Georg Kleeblatt aus Oedenburg in Ungarn, der sich auch Georg Kossuth genannt, diente vom April 1859 bis 1862 als Matrose auf verschiedenen Schiffen, trat am 25. April 1862 wieder eine Reise nach St. Jago in Cuba an und schrieb am 25. December desselben Jahres aus Marseille um Verlängerung seines Passes zu einer Fahrt nach Valparaiso. Von da am 5. März 1863 zurückgekehrt, theilte er den Seinen seinen Vorsatz mit, sich von Neuem zu verheuern. Das ist die letzte Nachricht von ihm. Um seine Spur zu finden, ließ die bekümmerte Mutter mit großen Opfern alle Schiffskataloge und Mannschaftsbücher in Marseille revidiren und Aufrufe in amerikanischen und englischen Blättern ergehen – aber Alles vergeblich! Nun setzt sie ihre letzte Hoffnung auf die „Gartenlaube“. Sollte vielleicht doch Einer von unseren Lesern an den fernen Oceansgestaden dem Verschollenen begegnet sein?

68) Der Schweizer Franz Huber aus Oberwyl bei Bremgarten im Aargau hat sich, in Liebe und Frieden von den Seinen scheidend, erst nach Lausanne und von da nach Marseille begeben, seit 1876 aber die Seinen ohne Nachricht gelassen, während daheim ihm eine ansehnliche Erbschaft zugefallen ist.





Berichtigung. In unserem kleinen Artikel „Ein Fürst unter den Musikern der Gegenwart“ („Blätter und Blüthen“ von Nr. 28 d. J.) hat sich leider ein sinnentstellender Druckfehler eingeschlichen; es muß daselbst Zeile 33 von oben heißen: „Anderen lebt“ statt: „Andere lobt“.




Kleiner Briefkasten.



E. R. in Danzig. Ob ein Militäranwärter, der auf seinen Civilversorgungsschein hin einen Civildienst erhielt, falls er diesen aus Krankheit oder Altersschwäche nicht mehr versehen kann, eine Geldentschädigung erhält, wenn er der Behörde den Civilversorgungsschein wieder einreicht? Vielleicht werden sachkundige Leser diese Frage eines unserer Kriegsinvaliden freundlichst beantworten.[WS 2]

F. W. in Neuß. Unbedingt müssen Sie in diesem Falle den Arzt um Rath fragen.

R. Vorbitz. Sie erwarten von uns eine Antwort, geben Straße und Hausnummer, aber nicht Ihren Wohnort an. Wo wohnen Sie denn im großen deutschen Reiche?

W. G. in Chemnitz. Wie uns Herr F. Clouth aus Nippes bei Köln mittheilt, beträgt jetzt der wirkliche Preis der Tourniquet-Hosenträger (vergleiche Nr. 29) M. 2.20 pro Stück.

E. K. in Constanz. Ihre Beiträge, obgleich nicht talentlos, sind für unser Blatt nicht geeignet.

H. K. in Dresden. Ueber „Freimaurer“ verzeichnet unser Register nur einen Artikel: „Der Bund der Freimaurer“ („Ein unbekannter Bekannter“), im Jahrgang 1873, S. 452, und eine Notiz über die Freimaurer in Amerika, Jahrgang 1875, S. 241. Was Sie aber suchen, bietet Ihnen vielleicht die Schrift: „Die Grundsätze der Freimaurerei im Völkerleben. Ein geschichtsphilosophisches Erbauungsbuch von J. G. Findel.“




Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)


  1. Ueber das tragische Schicksal dieser Märtyrerin des evangelischen Glaubens hat die „Gartenlaube“ bereits im Jahre 1874, Nr. 40, einen kurzen Artikel gebracht, auf den wir hiermit hinweisen. (Anmerkung Wikisource: Vorlage: 1877)
  2. Teligny war mit Coligny’s Tochter aus seiner ersten Ehe, Louise, verheirathet. Dieselbe vermählte sich bekanntlich, nachdem sie durch Teligny’s Tod in der Bartholomäusnacht Wittwe geworden, mit dem Prinzen von Oranien, der später auf Anstiften Philipp’s II. ermordet wurde. Durch ihre Enkeltochter Henriette, die Gemahlin des großen Kurfürsten, ist sie Stammmutter des jetzigen preußischen Königshauses geworden. (Vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1874, S. 654.)
  3. Für diesen thatsächlich letzten Vorgang in dem bluttriefenden Drama hat sich der Urheber unserer Illustration bei der Wahl seines Stoffes entschieden, und die allgemeine Anerkennung dürfte ihm um so mehr zu Theil werden, als sein Werk zu denjenigen gehört, welche sich wieder dem Kunstideal zuwenden und nähern, wie es einstmals und zumeist von den Kirchenfürsten gehegt und gepflegt worden, um durch die Farbenpracht der Schönheit auf große Versammlungen zu wirken. – Gegenüber den zunehmenden Abweichungen von der wahrhaften geheimnißvollen Bestimmung der Malerei: der Zeit einen Spiegel vorzuhalten, und namentlich der in unseren Tagen verbreiteten besonderen Vorliebe für Massendarstellungen welthistorischer Ereignisse, ist es dem Herrn Nathanael Sichel wohl gelungen, die gewaltigsten Schrecknisse einer culturumspannenden Epoche in einfacher, rührend schlichter Form und Weise zusammengedrängt und dennoch machtvoll ergreifend und zu ernstem Nachdenken überaus anregend darzustellen. Die in dem engen Rahmen durch den Zusammenhang der Verhältnisse gebotene Minderzahl der beiden Personen wird mittelbar um eine dritte noch vermehrt; denn aus dem dunklen Hintergrunde blickt von der Höhe eines Wandgemäldes das Brustbild des meuchlings gemordeten Franz Guise geisterhaft herab auf die Trophäe, das Haupt des überwundenen Gegners.

Anmerkungen (Wikisource)