Die Gartenlaube (1882)/Heft 21
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No. 21. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Pfingstoffenbarung.
Welch ein wonnesames Weben
Rührt mich herzbewegend an?
Geist der Pfingsten, fühlt mein Leben
Wieder sich in deinem Bann?
Und der Windhauch Farben schneit!
Weckst du wieder deine Zeugen
Hoher Geist der Herrlichkeit?
Ach, das war ein schläfrig Träumen,
Unter starren Winterbäumen
Ohne Blatt und ohne Lied:
Bis der Lenzgewitter Mahnen
Ging vor deinem Siegeslauf
Pflanzten laue Lüfte auf.
Und nun brennt’s auf dunklen Schollen,
Lodert’s in der Aeste Grün:
Plötzlich muß mit wundervollen
Jedem Veilchenkelch entrungen,
Schwimmt es in die Welt als Duft,
Und der Tulpen Feuerzungen
Rufen’s in die weiche Luft:
Macht dich nicht vom Staube frei;
Liebe heißt das ew’ge Leben,
Das die Ketten bricht entzwei.
Liebe will dir Wunder zeigen,
Höchstes Glück wird nur dein Eigen,
Wenn du Liebesarme regst.“
Die Jehova sich vertrauten,
Die verbannt vom Tempelthor –
Klingt die Botschaft in das Ohr,
Und die Herzen, sie begreifen’s;
Augen schau’n sich selig an;
Tausend kleine Vögel pfeifen’s:
Durch die Seelen wogt ein Wallen,
Wie ein Rausch von jungem Wein;
In die schönen Wunderhallen
Zieh’n die gläub’gen Schaaren ein,
Jeder, was der Sinn ihm weist:
Also schickt der Herr des Lebens
Pfingsten seinen heil’gen Geist.
Victor Blüthgen.
Der junge Geldmacher.
„Das machst nach, wenn Du kannst!“ sagte der Oberveitel zu Dölsach und zeigte am Tisch eine neue Fünfzigernote herum. „So ein Nachmachen von Geldzetteln, das kann kein Mensch vollbringen, keiner nicht! Da gehört ein Kaiserkopf dazu, zum Geldmachen. Ja, meine lieben Leut’!“
„Was Einem etwa geschehen thät, wenn man herginge und mit dem scharfgespitzten Bleistift den Fünfziger schön sauber nachzeichnen wollt’!“ So gab Einer dran.
„Probir’s!“ rief der Oberveitel, „bist im Stand, den kleinwinzigen Druck da auch nur zu lesen? Und werden Dir nicht die Finger zittern, wenn Du zwanzigmal schreiben sollst: Die Fälschung dieser Staatsnote wird mit lebenslänglichem schwerem Kerker bestraft? Hast die Kurasch dazu?“
„Leicht nicht,“ sagte ein Anderer, „da thue ich lieber drei Monate lang Holz hacken – ist der Fünfziger auch gemacht und ist keine Gefahr dabei.“
Deß waren sie alle einverstanden, die Bauern zu Dölsach. Nur Einer, ein ganz junger noch, ein schlank aufgeschossenes Bürschlein, schien nicht recht darüber im Reinen zu sein, wieso man diese interessante Sach’ so mir nichts, dir nichts fallen lassen könne. Etwas tiefsinniger, als es der Franz sonst gewohnt war, ging er vom Hause hinan gegen die grüne Höhe, wo die Zirmbüsche stehen und wo man den weiten Ausblick hat in’s schöne Land Tirol. Da unten sind die blauenden Thäler, in welchen man von diesem einen Punkte aus nicht weniger als achtundvierzig Kirchthürme blinken sieht. Dort drüben stehen die weißen Berge der Dolomiten, von wannen im Lenz der lawinenstürzende Föhn kommt und im Sommer das Schloßen schleudernde Wetter.
[342] Heute liegt über der Gegend der milde Sonnenschein, und die Glocken der Almheerden klingen auf den Hochmatten, und die Hirten jauchzen oder liegen im duftigen Grase, wollen nichts und denken nichts – lassen sich schaukeln von dem, der in seiner Hand den Erdball dreht.
Dem Franz ist heute nicht um’s Jauchzen und nicht um’s Liegen auf dem Bauch. Er sieht aus, wie alle übrigen munteren Bauernburschen, aber inwendig ist er ganz anders gerathen, als die Anderen. Schnitzen und Malen! Unser Herrgott hat’s auch so getrieben, hat die Welt geschnitzt, hat den Himmel gemalt. Der Junge zieht jetzt sein Taschenmesser, schärft es an einem Quarzstein und schneidet sich damit einen Zirm-Ast.[1] Der Bacherwirth unten im Dorfe hat einen fuchsbraunen Hengst, ein schönes, feueriges Thier; das soll jetzt dran – das wird nachgeschnitzt aus dem feinen, harten, glattrindigen Zirmholz. Das Hengstenachmachen ist nicht verboten. Ist aber auch keine so große Unterhaltlichkeit dabei, als etwa beim Geldnachzeichnen.
„Kein Mensch könnt’s vollbringen? Es gehört ein Kaiserkopf dazu!“ meint der Oberveitel. Das wollte dem Jungen nicht aus dem Sinn. Dabei stellte sich heraus, daß das zu gleicher Zeit nicht geht, nämlich das Denken an’s Geldmachen und das Schnitzen von Hengsten; der Hengst bekam unglaublich lange Ohren und der Geldmachergedanke einen langen Schweif. Und der Schweif hing ihm an, sodaß der Bursche niederstieg zu seinem Hause, von seinem Vater eine Fünfzigernote borgte und sich damit in die Kammer einschloß. So eine große Banknote war im Hause ein seltener Gast, der es allemal gar dringend hatte und sich nur für kurze Zeit im Ederhause aufhielt; er machte immer nur eine flüchtige Rast auf seiner abenteuerlichen Wanderung durch das Land – dort Gutes stiftend, hier Uebles. So ein Kerlchen muß portraitirt werden! Dann mag’s so wieder laufen und Sünden machen so viel es will. Der Franz spitzte den Bleistift. Immerfort das Heiligenbildermalen, das Rösser- und Vogelzeichnen – das ist nicht spaßig. Wir wollen einmal redlich wissen, ob der Oberveitel die Wahrheit sagt: „Das kann kein Mensch vollbringen. Keiner nicht.“ Wollen es versuchen.
So der Franzl und ging mit flinken Fingern an die Arbeit. „Das feine Papier können wir freilich nicht nachmachen,“ dachte er bei sich, „wir sind kein Papiermacher. Der Wasserdruck schiert uns auch nicht – der ist was für den Müllner. Aber die Zeichnung!“ Die Fälschung dieser Staatsnote wird mit lebenslänglichem schwerem Kerker bestraft – diese Worte schrieb der Franzl mit einem einzigen wagrechten Striche.
„Jesus Maria, Franzl!“ rief seine Schwester draußen, „was treibst Du in der Kammer, daß Du Dich einsperrst?“
Die Fälschung dieser Staatsnote wird mit lebenslänglichem schwerem Kerker bestraft, schrieb der Franzl. Seine Finger zitterten nicht dabei.
„Du bist drinnen?“ rief die Schwester, „Du stellst was an; Du brichst was.“
„Ich mach’ was,“ antwortete der Bursche.
„Dabei verriegelt man nicht die Thür.“
„Sie ist schon offen.“
Am Abend, als die Leute beisammen waren, schauten sie das Kunststück an; Einer gab die Note dem Andern in die Hand, und sie fingen an die echte mit der falschen zu vergleichen, bis Einer fragte: „Ja, wo ist denn nachher dem Franzl sein Geldschein?“
Der war’s, den der Mann in der Hand hielt.
„Aber das ist ja doch der Echte! Jesus Christus, das wäre der Falsche?“
„Ja schau man her!“ rief der alte Eder, Franzl’s Vater, schmunzelnd, „Du Lump, Du junger!“
Die Zeichnung ging – stolz knisternd, wie ein echtes Stück Papiergeld – in den Händen herum, und der Franz kümmerte sich nicht weiter drum. Er hatte es vollbracht – das Papier brauchte er nicht mehr.
Ein junger Nachbar war im Hause, der Patritz: der verfolgte an diesem Abende eine Person der Ederfamilie, um sie auf lebenslang gefangen zu nehmen. Aber eine unschuldige Person, nicht etwa den Geldfälscher, sondern dessen muntere Schwester mit dem krausen Haar. Er schlug sie in glühende Ketten, in jene gefährlichen ewigen Bande, denen sich selten ein Mädchen entwinden kann oder will: er legte seine Arme um ihren geschmeidigen Leib.
„Maria,“ flüsterte er ihr in’s Ohr, „ich will Dir was sagen.“
„Sag’s nur her!“ antwortete sie, „es wird gewiß wieder was Wichtiges sein, was ich schon seit Ostern her weiß.“
„Wissen wirst es schon seit letztem Fasching her.“
„Seit letztem Fasching her weiß ich, daß Du ein dummer Bub bist,“ neckte sie.
„Wenn’s dumm ist, daß Einer das schönste Dirndl auf der Welt gern hat! Das liebste Dirndl! Das herzliebste Dirndl! – nachher hast Du mit Deiner Red’ recht.“
So stritten sie sich in die Verlobung hinein – der Patritz und die Maria.
Als an demselben Abende der Patritz fast ungebührlich spät nach Hause ging, gesellte sich ihm der Gaisbub des Jakhofes zu und lud ihn ein, noch mit in’s Wirthshaus zu kommen; er zahle heute ein Maß Glühwein.
„Schau hin, das Wirthshaus hat schon schwarze Fenster,“ sagte der Tritz (Patritz).
„Die Kellnerin muß noch einmal aufzünden. Die Wirthin muß auf aus dem Bett; ich will einen gezuckerten Eierschmarn haben und einen Kaffee dazu. Der Wirth muß auch aus dem Bett; ich will was Cithernschlagen hören; ich bin just einmal aufgelegt zum Lustigsein. Himmelherrgott, geh her – was kostet die Welt?“
„Du thust ja gerad’, als ob Deine Gaisen eine goldene Milch thäten geben,“ sagte der Tritz.
„Die Lieserl muß auch aus dem Bett,“ fuhr der Gaisbub fort, „ich will mit ihr Eins tanzen.“
Der Tritz konnte den Uebermuth dieses sonst so duckmausigen Burschen gar nicht begreifen.
„Mir scheint, Du kommst ohnehin schon vom Wirthshaus,“ sagte er.
„Von unsers Herrgotts Keller, ja; hab mir eben beim Ederhofbrunnen gerad’ früher meinen Durst gelöscht. Ist schade um den prächtigen Durst, aber ’s ist schon wieder ein neuer da, und den lösch’ ich mit Löschpapier!“
Damit hielt der Gaisbub eine große Geldnote in die mondhelle Luft hinein:
„Der Krämer muß auch aus dem Bett; ich will einen Feigenkranz haben für die Lieserl.“
„Wo hast denn Du diesen Funfziger her?“ fragte der Tritz, indem er nach dem Papier langte.
„Du kannst auch einen haben, Camerad,“ vertraute ihm der Gaisbub, „der Eder-Franz macht sie.“
„So,“ sagte der Tritz, „das ist der vom Eder-Franz? Schau, Gaisbub, den muß ich Dir wechseln. Geh mit zum Richter; dort laß ich Dir zweimal fünfundzwanzig dafür geben, ist auch fünfzig.“
Damit war der Gaisbub denn nun gar nicht einverstanden; er bettelte, er schmeichelte, er zankte und schimpfte, aber er war von Beiden nicht der Stärkere. Der Tritz hatte das Papier schon in gutem Gewahrsam, und dem Gaisbuben blieb auf der Welt nichts übrig, als seinen schönen Durst beim nächsten Hausbrunnen zu löschen.
Der Tritz ging seines Weges, und die falsche Geldnote sorgfältig glättend und in seine Brieftasche legend, dachte er: So, mit dem Häutlein mach’ jetzt ich meinen Spaß.
An einem der nächsten Tage finden wir den Eder-Franz wieder auf der freien Höhe.
„Auf der Alm, da ist’s fein,
Giebt’s ka Sünd’ und ka Pein.
Ist der Berg wie ein Rosenstock,
Ist der Wind wie ein Nagerlduft,
Glanzt’s Wasser wie ein Silberring,
Spielt d’ Sonn’ wie eine goldene Lust.
Wann ih jauchz und a Gsangel sing:
Da Schall wie ein Glöckerl klingt;
Mein Herz, das ist alleweil voll Freud,
Kennt ka Sünd und ka Pein.
Auf der Alm ist’s gut sein!“
So sang der Bursche, und sein leuchtendes Auge sagte, daß er’s nicht aus dem Leeren sang. – Wir dürfen den Franzel ja wohl näher betrachten; denn das ist Einer, an dem wir ein wenig Herzeleid erleben werden, aber auch viel Ehre und Wunder.
[343] Er kann nicht viel älter sein als sechszehn Jahre; sein volles Haupthaar ist braun wie reife Kastanien; ob es auch recht lind ist, möchte die Sennerin wissen, aber er biegt ihre Hand weg, wenn sie ihn am Haupte anfühlen will. Sein etwas längliches Gesicht ist weiß und roth, echte Farben, die sich selbst in der Sonne nicht bräunen, von Bart noch gar nichts da; die Oberlippe spitzt sich noch in Knabentrotz, aber das Auge ist weich und sinnend; es schaut eine Welt von Schönheit heraus, und es schaut eine Welt von Schönheit hinein.
Niedrige Bundschuhe trug der Junge und nackte Waden und eine ziegenhäutene Kniehose und über der sich frei wölbenden Brust nichts, als das rauhe Linnenhemd und den ledernen Hosenträger. Das Ungefügige an dem ganzen Bürschlein war ein hoher, schoberförmiger Filzhut, ein sogenannter Sternstecher, wie die spitzen Tirolerhüte heißen, die nach landläufigem Sprüchwort so hoch sind, daß man damit vom Himmel die Sterne herabstechen kann. Dieser Sternstecher ragte wie ein finsterer Thurm über das heitere Antlitz des Franzel.
So ging er über die weichen Matten hin zwischen den Zerben, und es war ihm, als suche er etwas und wisse nicht, soll es ihm aus dem Erdboden herauswachsen oder vom Himmel herabfliegen. „Es war ein extriger, ein stader Bua,“ hat Einer von ihm erzählt.
Aus dem Thale der Drau, der Isel, aus dem weiten Boden von Lienz klangen in zartem Gesumme die Glocken des Feierabendes herauf. Zu solchen Stunden ist es ja, als wären vieltausend Saiten gezogen von Berg zu Berg, über das ganze Tirolerland, und als spielte auf dieser Cither ein unsichtbarer Künstler – so leis, so zart und getragen tönt es durch die Lüfte.
Die Glocken der Kirchthürme waren es, die zum Feierabendgottesdienste riefen. Es war ja wieder eine arbeitsschwere Woche vorbei, und die Leute hatten vollauf zu thun gehabt, das liebe Brod zu fassen und zu heimsen, das der Weltvater in goldenen Halmen aus der Erde reckte. Jetzt sollten sie danken gehen und sich ausruhen in der kühlen, dunklen Kirche und sich an Leib und Seele vorbereiten für den Sonntag. Das riefen die Glocken im Thale. Aber der Franzel stieg nicht hinab; ihm gefiel es auf dem Berge, und er schaute zu dem lichten Hochaltare des Großglockners hinüber, hinter welchem still und groß die Sonne niedersank.
„Mein Herz, das ist alleweil voll Freud!
Auf der Alm, da ist’s gut sein!“
Auf demselben Berge gab es heute auch Andere, die das Läuten der Kirchenglocken nicht achteten. Dieselben Anderen saßen in der Bergschenke der Niederung, die den schönen Namen „Auf der Wacht“ trägt. Im heiligen Jahre Neun sind dort die Tiroler auf der Wacht gestanden mit Messer und Stutzen, um ihr liebes Heimathland zu schützen vor den übermüthigen Franzosen. Die Jungen haben mit ihrer Brust die Engpässe des Landes vertheidigt; die Alten haben von den Höhen Felstrümmer niedergelassen auf den heranstürmenden Feind; die Weiber haben Kugeln gegossen aus dem Blei der Kirchenfenster; die Kinder haben mitten in der Schlacht die verschossenen Kugeln mit Messern aus dem Erdboden oder aus den Baumrinden gestochen; die Priester haben – in der einen Hand das Kreuz, in der anderen das Gewehr – den Befreiungskampf gepredigt.
Die größte Heldenthat, die das Jahrhundert kennt – das kleine Tirol hat sie vollbracht. Das Heimathsgefühl der Völker, der Freiheitsdrang einer Welt ist damals, und zwar im Bauernstande, zum gewaltigen, glorreichen Ausdruck gelangt – das Ideal unserer Zeit ist im Bauernthume eingeweiht worden.
Heute ist es friedsam auf den grünen Matten, genannt „Die Wacht“. Und auch an jenem Sonnabende war es friedsam dort und heiter dabei, obwohl ein anderer, ein unsichtbarer Feind bigott und heuchlerisch heranschwamm in den sonst so schönen Klängen der Festglocken. Es fanden sich in dem Berghause an schönen Sommertagen gern die Almer ein und die Burschen des Thales, die Scharfschützen, um beim rothen Tirolerwein, bei Mädchenaugengluth und Citherklang die Nächte zu „durchwachten“; denn nimmer veröden darf das Haus „Auf der Wacht“, und ein Feuer, sei es nun das der begeisterten Vaterlandsliebe oder der Mädchenminne oder auch des Hasses gegen einen persönlichen Feind, wird in jenem einsamen Berghause bewahrt, wie unten in der Pfarrkirche das „ewige Licht“.
Die Frömmigkeit des alten Moidle, das des Wirthes Schwester ist, hilft all nichts. Schon mehrmals war sie heute lauernd in der Gaststube umhergeschlichen und hatte ziemlich laut vor sich hingemurmelt:
„Zusammenläuten thun sie. Zum Segen thun sie läuten. Christenmensch! Unsereins mühselige Haut wollt’ gern in die Kirchen gehen, wenn die Füß’ thäten tragen. Und das junge Volk schaut sich neuzeit um den Herrgott gar nimmer um. Geh weg; jetzt seh’ ich’s schon, die Leut’ werden ganz kalt im Glauben. Eiskalt werden sie im Glauben, die Leut’; setzt seh’ ich’s schon.“
Man kümmerte sich nicht um das frömmelnde Gethue der Alten; man sang, man lachte; man scherzte mit den Mädchen, bis das Moidle dreinschrie:
„Jawohl, die Dirnen sind Euer Rosenkranzgebet heutzutag. Jawohl, ihnen den Kranz vom Kopf beten, das ist Euer liebster Gottesdienst. Jawohl!“
Die Bursche lachten, und einer rief:
„Sag’ noch so was, Moidle, daß wir wieder was zu lachen haben!“
„Werd’s nicht lachen, wenn die Straf’ Gottes kommt, weil Ihr keinen Glauben habt,“ versicherte die Alte.
„Weible,“ sagte einer der Burschen, „wegen unseres Glaubens brauchst Du Dir gar kein graues Haar wachsen zu lassen, das wachst Dir so auch schon. Einen Glauben haben wir noch, mußt wissen. Bin voreh gewiß nicht der Letzte in der Predigt und im Segen gewesen. Seitlang sie aber die Leut’ mit den Standarn (Gensd’armen) in die Kirche treiben lassen, seitlang mag ich gar nicht mehr hineingehen. Ich mag nicht mehr. Zum Beten laß ich mich nicht zwingen.“
Die Geschichte spielt in den „schwarzen Jahren“, zur Zeit des Concordats – der Oesterreicher weiß, was das heißt, und der Nichtösterreicher verlange es nicht zu wissen!
Damals war’s, daß man die Leute vom Marktplatz in die Kirche trieb und bisweilen sogar hinter ihnen die Thür zusperrte, und damals war’s auch, daß der Staat und die Kirche gemeinschaftlich im Volke die Religion umgebracht haben. ’s ist vorbei.
Der Wirth „Auf der Wacht“ war an den stämmigen Burschen herangetreten, der die obigen Worte gesprochen.
„Reden könnt’s, was Ihr wollt’s,“ sagte er leise, „aber nur nicht zu laut. Ich sehe Euch gern bei mir, Männerleut’ und Weiberleut’, aber soll ich’s aufrichtig sagen, heute wär’s mir lieber, wenn –“
„Wenn wir zum Loch hinausgingen,“ vervollständigte Einer die Rede des Wirthes.
„Auf das sag’ ich nicht nein,“ versetzte jener. „Es ist halt morgen der Rosenkranzsonntag, wo im Wirthshaus keine Zusammenkunft sein soll, und an solchen Feierabenden auch nicht; schau’ Dir die neue Polizei-Ordnung an, die ich erst heut’ an die Wand genagelt habe!“
„Die hängt ja umgekehrt!“ riefen die Burschen lachend. „Wirth, die hast Du bei den Füßen aufgehängt, wie ein geschlachtetes Schwein.“
„O du Höllensaggera,“ knurrte der Wirth; „so ist’s, wenn der Mensch nicht lesen kann; dann stellt er die Gesetze auf den Kopf. Das muß ich gleich anders machen; ich fürcht’ halt, die Spitzhauben kommen noch heut’ herauf.“
„Sie sollen nur kommen.“
„Aber schaut’s, meine lieben Leute,“ gab der Wirth zu bedenken, „wenn sie Euch da beisammen finden! Unsereiner wird halt so viel gestraft, wenn man Unterstand giebt.“
Im Tischwinkel hub sich eine alte braune Knochengestalt zu bewegen an.
„Was meinst, Wirth, was meinst?“ grollte er. „Von Unterstand sagst was? Sind wir Schwärzer, Wilddiebe, Strolche, daß von Unterstandgeben die Red’ ist? Wir sind Bauersleut’ und Holzleut’ und sitzen nach der Arbeit friedlich im Wirthshaus. Weißt, Wirth, daß im Wirthshaus der ehrliche Gast sein gutes Recht hat? Weißt es nicht, so schreibe ich Dir’s auf den Buckel, und gewiß nicht verkehrt, wie Deine Polizei-Ordnung.“
„Geh, geh!“ beschwichtigte ein Anderer, ein dicker, staubiger Kohlenbrenner aus dem Iselthale, „weißt es so gut, wie wir, daß der Wirth nicht anders kann. Willst Deinen Zorn auslassen über die neumodische Einrichtung, so mußt ganz wo anders anklopfen.“
„Anklopfen,“ rief der Knochige, „wie im Achtundvierzigerjahr zu Brixen beim Herrn Bischof, daß die Fenster haben gesungen! [344] Wir sind katholische Christen, will ich ihm in’s Ohr schreien, aber mit Deiner neuen Standarnreligion hol’ Dich der –“
„Spielmann!“ rief der stämmigste der Burschen in die Stube. „Schlafst, Spielmann?“
„Ein klein Bissel bin ich noch da,“ sagte dieser, sich aus dem Ofenwinkel hervorwindend.
„Wenn Du nicht schlafst, so sei so gut und kratz’ ein paar Saiten!“
„Lustig wohlauf,
Ist der Drauthaler Lauf,
Ist der Drauthaler Zier,
Und dies Dirndl g’hört mir.“
Singend umschlang er das hübsche, blühende Mädchen, das an seiner Seite saß und jetzt dem kernfrischen Burschen freudig und stolz in’s kecke Auge blickte. Das war der Tritz, und das Mädchen seine Braut Maria, die Schwester des Franz, der zur Zeit draußen auf den freien Höhen sich umtrieb.
Laut erschollen jetzt die übermüthigsten Lieder; die Cither klang, und es wollte just der muntere Reigen anheben – da schoß plötzlich der Wirth durch die Stube, um in angstvoller Hast das erst angezündete Kerzenlicht auszublasen.
„Was willst denn?“ rief der Tritz und zog den Leuchter weg, „ist’s besser, wenn wir im Finstern sind?“
„Um des lieben Gottes willen!“ schnaufte der Wirth, „da draußen, da draußen – ich hab’ sie gesehen; es steigen die Spitzhauben daher.“
„Wer wird denn da das Licht auslöschen? Wir wollen sie uns anschauen. Sie sollen kommen!“
Sie waren auch schon da. Dröhnenden Schrittes traten zwei Gensd’armen zur Thür herein. Die Stube war finster vor Rauch, aber die Eintretenden waren noch finsterer; zwischen den Zechtischen blieben sie stehen und schauten um sich. Die Burschen thaten trotzig, und Keiner rückte an seinem Tische, daß die Landpatrouille Platz nehmen konnte.
Endlich sahen die Gensd’armen einen leeren Tisch, setzten sich und hielten die Gewehre zwischen den Beinen. Sie wollten etwas trinken. Ueber diese Wendung war der Wirth glückselig. Schmunzelnd sagte er, als er auf einer Blechtasse die schwitzende Flasche brachte, es wäre „der Beste“, und in der That, sie merkten es bald, der Schlechteste war es nicht.
Nun ja, sie wollten auch einmal ein gemüthliches Stündlein haben. Mußten sie doch unten im Thale mit ihren Spießen tagaus, tagein umhersteigen, wie die leibhaftige Straf’ Gottes, fanden nirgends freundlichen Anspruch und mußten gar manchmal Einen einführen, weil er etwas gethan hatte, was sie selber gethan hätten, wenn Gelegenheit dazu gewesen wäre. Aber – „auf der Alm giebt’s ka Sünd“, da braucht man also keinen Pfarrer und keinen Gensd’armen, und da darf Jedweder, der das Zeug dazu hat, ein lustiger Bursch’ sein. Das martialische Aussehen der Landwächter wurde von Minute zu Minute zahmer; sie wollten sich an die heitere Gesellschaft schließen, mit den Burschen „warteln“, mit den Mädchen schalken. Doch die Gesellen thaten nicht viel desgleichen, als ob sie an dem geselligen Zuwachse eine besondere Freude hätten, und Etliche knurrten gar wie ein Kettenhund, der gern beißen möchte, aber den Stiefelabsatz fürchtet.
Als es wieder an’s Tanzen ging, warb einer der Gensd’armen um das schönste Dirndl im Reigen; da stand schon der Tritz da, zog das Mädchen mit sich fort und sang:
„A Spitzkappenbua
Hat ein’ Dirndl nachg’fragt;
A Spitzbua will ich heißen,
Wann’s ihm was tragt.“
Da war’s nun freilich kein Wunder, daß es kam, wie es kam. Es stand nicht lange an, so leerte der Gensd’arm sein Glas, stieß es scharf auf den Tisch und rief:
„Heimgehen! Sperrstunde!“
Da trat eine befremdliche Stille ein; nur einer der anwesenden Bauern brummte in die Ofenwand hinein, aber so laut, daß man es weiterhin hören konnte:
„Sperrstunde! Ueberall wollen sie zusperren, heutzutage. Redlich wahr: Haus Oesterreich ist ein Gefangenhaus geworden“
Als das Wort heraus war, hätte es der Sprecher selbst wieder gern eingefangen und seinen eigenen Mund fürsorglich zugesperrt. Aber der Landwächter schickte sich schon an, den Namen des Vorlauten aufzuschreiben.
„Seid keine Narren miteinand’!“ rief jetzt ein Möllthaler dazwischen, um der bedenklich werdenden Stimmung einen kecken Ruck zu geben, „lasset jetzt die gespreizten Geschichten und seid’s lustig! Wir kommen so jung nimmer zusammen. Wein her, Wirth! Und die Herren müssen auch mitthun. Wisset, wir Bauersleut’ haben keine Rösser; darum reiten wir die Wörter – und ist nicht schlecht gemeint. Na, auf Gesundheit! Auf gute Freundschaft!“
Einer der Gensd’armen wollte schon anstoßen mit dem neugefüllten Glas.
„Hüte Dich!“ raunte ihm der Andere zu, „sie retiriren – nur aufschreiben, Alle aufschreiben!“
Sie schrieben – aber sie schrieben in ihr Armensünderbüchlein lauter falsche Namen; den echten behielt jeder der Inquirirten schlau für sich selber.
„Die Kerze ist auch schon benebelt,“ bemerkte der Aufschreiber nicht ohne Laune, da das Licht vor lauter Tabaksqualm kaum den nöthigen Schein gab.
„Wirth!“ rief der Tritz, „bring’ noch Kerzen, daß dem Herrn Standarn ein Licht aufgeht. Ich zahl’s.“
Er möge, murmelte der Landwächter, das Geld in seinem Beutel behalten, würde leicht Platz haben drinnen. Und die Bettelkerze sei man bei den Drauthaler Bauern längst gewohnt.
„Bettelkerze!“ sagte der Tritz mit spottender Weichheit. „Na, das nicht! So vornehmen Herren müssen die Drauthaler Bauern schon eine Extrakerze verehren.“
Dabei zog er sein Ledertäschchen aus der Tasche und langte aus demselben eine Fünfzigguldennote hervor.
„Versaufen?!“ rief der Bursche mit heller Stimme, indem er den Schein mit zwei Fingern hoch über den Köpfen hielt, daß er wie ein Kirchweihfähnlein flatterte; „versaufen? Nein, das nicht. Licht wollen wir machen, daß der Herr Standar zum Schreiben sieht.“
Gelassen rollte er vor den Augen der Gensd’armen den Fünfziger zusammen, hielt die Rolle über das Kerzenlicht, und als sie lichterloh brannte, rief er:
„Ich bitt’, meine Herren, wenn’s gefällig!“
Die Landwächter schrieben nicht; sie thaten den Mund auf und waren stumm. Hingegen schlugen die anderen Leute einen hellen Lärm, und die Weiber waren dem Tritz in den Arm gefallen, um ihm das Geld zu entreißen. Zu spät war’s, zu spät – die „Anweisung“, für welche der Sage nach die privilegirte österreichische Nationalbank dem Ueberbringer fünfzig Gulden Silbermünze ausbezahlt, flog als Aschenflaum auf den Tisch.
„Heilige Maria vom grünen Anger!“ zeterten sie, „jetzt hat er Geld verbrannt. – Jetzt hat er eine Kuh verbrannt,“ riefen die Halter (Hirten). „Jetzt hat er ein Joch schönes Lärchbaumholz verbrannt,“ riefen die Holzhauer. „Den heurigen Haferbau hat er verbrannt,“ riefen die Bauern. „Auf zehn Jahre Tabakgeld hat er verbrannt,“ kicherte ein alter Raucher. Und Maria, seine Braut, hub zu weinen an und fragte den Geliebten:
„Bist denn ein Narr worden, Tritz?“
„Den Arrest habe ich Einem verbrannt,“ sagte der Bursche und setzte sich ruhig an seinen Platz.
„O, wart’, Bauer!“ brummte der Gensd’arm, „der Arrest und die Hölle sind feuersicher gebaut; Du kommst in beide.“ Und er schrieb die That des übermüthigen Burschen in das Sündenbuch.
„Jetzt fistelte aus dem dunkelsten Winkel her eine Stimme: „Ist nicht so gefährlich beim Patritz, wenn er Banknoten verbrennt. Er hat einen künstlichen Schwager.“
Da er statt künstlerisch: künstlich sagte, so war die Frage, was das heißen sollte?
„Der macht ihm’s!“ schrie der Gauch und huschte zur Thür hinaus.
Da horchten die Gensd’armen erst recht auf, aber die Leute merkten, es wäre nun die höchste Zeit, das Wirthshaus „Auf der Wacht“ zu räumen, und sie räumten es auch. – –
Der Eder-Franz wußte von all dem nichts; er erging sich immer noch auf den mondhellen Höhen und sang in die stille Nacht hinaus:
„Mein Herz, das ist alleweil voll Freud!
Auf der Alm ist’s gut sein!“
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Am Sonntag darauf, nach dem Gottesdienst war es, daß auf dem Kirchplatz zu Dölsach der Oberveitel plötzlich neben dem Patritz stand und ihm in’s Ohr flüsterte:
„Lauf’ eilends davon! Versteck’ Dich in dem Walde! Sie suchen Dich.“
„Wer sucht mich?“ fragte der Bursche.
„Die Spitzhauben.“
Da war zwischen der Menge schon der Dorfrichter in Sicht, hinter ihm die Gensd’armen. Der Richter machte mit der Hand ein paar verstehbare Deuter: der Tritz solle sich davon machen! Da sie aber nicht beachtet wurden, so machte der Richter von seinem Amte Gebrauch und ließ den Burschen festnehmen.
Wohin die Reise? Nach Lienz zum Gericht!
Der Patritz Neuleitner hat den Feierabend entheiligt und die Polizei verhöhnt. Diese beiden Fälle wären noch etwa von den Behörden in Dölfach zu schlichten gewesen. Anders der dritte! Der Bursche hat eine große Geldnote verbrannt. Was hat es damit für eine Bewandtniß? Das muß untersucht werden; da steckt was dahinter. Und wäre es auch nur der Verschwendung wegen.
Das Protzigthun mit dem Gelde war ein alter Schaden der Drauthaler Bauern. Man ließ es noch hingehen, wenn sie bei Hochzeiten tagelange Gelage hielten, wenn die Todtenmahle oft die ganze Erbschaft des Verstorbenen verschlangen; man „verstattete“ es dem Drauthaler Großbauer oder Holzknecht, wenn er an seiner Sonntagsjoppe anstatt Bein- oder Messingknöpfe echte Maria-Theresien-Thaler trug. Wenn sie aber würfelten, kegelten, karteten um nichts Geringeres als um Ducaten, wenn sie zur „Bankozettelzeit“ (nach dem großen Staatsbankerotte) ihre Pfeifen mit eitel Zehnguldennoten anzündeten – das konnte man nimmer gehen lassen, nicht vom moralischen und nicht vom volkswirthschaftlichen Standpunkte aus. Es war Zeit, einmal ein nachdrückliches Beispiel aufzustellen, wie man in Zukunft gegen Uebermuth, Verschwendung und Trotz vorzugehen gedenke.
Die sehnigen Arme des Patritz hatten sich anfangs wild gegen die Eisenbanden aufgelehnt, aber die hohe Obrigkeit hatte guten Stahl in ihren Ketten, und der schnitt in’s Fleisch. Mit an einander geschlossenen Armen schlug sich der Bursche den Hut tief in die Stirn, und so ging es die weiße Landstraße entlang gen Lienz. Die ihm begegneten, wunderten sich baß, was doch der Patritz Neuleitner auf einmal für ein hoher Herr geworden sei, daß er zwei Adjutanten mit sich habe.
Am selbigen Nachmittag saß Maria in der Christenlehre und weinte. Der Pfarrer war höchlich darüber erfreut, daß sein Wort Gottes heute einmal ein Herz rühre. Aber sie hörte nicht die heilige Lehre; sie hörte das Gericht, das über ihren Tritz das Urtheil sprach. Und er war trotz der schweren Anklage so unschuldig wie das Gotteslamm dort auf dem Altare.
Sie wußte Alles. Als Verschwender werden sie ihn strafen und ihm sein Haus wegnehmen und es einem „Gerhab“ (Vormund) zur Verwaltung geben, es war davon die Rede gewesen. Es war Anderen auch schon so gegangen. Dann steht auch die Heirath um, und sie hat nichts, und er hat nichts. Und Alles dieses höllischen Fetzen Papiers wegen! Es war ja nur ein nichtiger Fetzen gewesen, den er am Kerzenlicht verbrannt, nichts als jene gottverlassene Zeichnung, die Franzel ausgeführt hatte.
Jetzt eilte das Mädchen den Berg hinan zu ihrem Elternhause, dem Ederhof. Sie lief zu dem Franz, der eben an der Schnitzbank saß und ein Pferd schuf.
„Jetzt wirf mir den Holzscherben weg und geh’ nach Lienz hinab,“ sagte sie. „Du bist an Allem schuld. Jetzt geh’ und sag’s! Das Papier hat keinen Werth gehabt – geh’ und sag’s! Du hättest es gezeichnet, das sag’ jetzt, wenn Du mein Bruder bist!“
„Ich soll es beim Gericht sagen, daß ich eine Banknote nachgemacht hab’? Der Narr werde ich nicht sein.“ So der junge Schnitzer. „Hab’ ich ihm das Papier gegeben? Hab’ ich gesagt, daß er die ‚Standarn‘ damit foppen soll? Etliche Tage im Schatten sitzen – sonst geschieht ihm nichts, dem Tritz, und das schadet nicht.“
„Du bist der Fälscher, und er soll eingesperrt sein – ist das eine Gerechtigkeit?“ rief das Mädchen. „Kannst das verlangen, Franz? Hat er Dir’s nicht gut gemeint, daß er dem Gaisbuben den Wisch weggenommen und ihn verbrannt hat? Sonst holen die Spitzhauben leicht Dich, und Dich hängen sie auf. Noch jetzt kann er Dich einbringen, wenn er will, aber er läßt sich lieber mit Messern schneiden, als daß er Dich verrath.“
Sie schluchzte zum Erbarmen.
„Schwester,“ sagte Franz, „zum Gericht geh’ ich nicht. Aber wenn sie kommen und mich fragen, werd’ ich’s nicht leugnen.“
„Und sie werden kommen!“ sagte Maria.
Nun trat der Vater, der alte Eder, tief bekümmert herzu.
„Kinder,“ sagte er, und sein Haupt wankte bei jedem Wort, „Ihr werdet mir noch eine Dummheit machen. Der Teufel hat Dich reiten müssen, Franz, daß Du mit dem Geld angefangen hast. Jetzt ist die Sau fertig. Dein Glück kann’s Dir kosten. Aber das sage ich Dir: selber verrath’ Dich nicht! Ob der Tritz ein paar Tage im Arrest sitzt oder Du zwanzig Jahr im Criminal – das wird ein Unterschied sein. Nicht? Meinst nicht, Dirn? Und wer kann’s beweisen, daß der verbrannte Fünfziger ein falscher gewesen? Nur gescheidt sein!“
Gescheidt sein! Das ist leicht gesagt. Und vollends von verliebten Leuten verlangen, daß sie gescheidt seien! Die Maria war ja verliebt bis über die Ohren. Und jetzt, da der Tritz unschuldig im Gefängniß saß, wie die wahrhaftigen Helden in den Rittergeschichten, jetzt stand er in ihrem Herzen so groß da, und ihr war, als gehöre zu diesem ritterlichen Helden eine treue, ebenso heldenmüthige Jungfrau, die ihn befreite. Ihr Vater mußte sie fast mit Gewalt zu ihrer Arbeit auf die Alm schicken, daß sie nicht hingehe, um dem Bräutigam zu Liebe den Bruder zu verrathen. – –
Am nächsten Tage wurde der alte Eder vor Gericht geladen. Als der Franzel sah, wie ernst die Sache zu werden begann, wollte er sich stellen.
„Untersteh’ Dich nicht!“ rief der Alte. „Spring’ nicht selber in die Schlammaß! Geh’ Du zu Deiner Zirmmatten hinauf, bleib’ in den Heuhütten, bis ich Dich rufen laß!“
Dann ging der Alte nach Lienz zum Gericht. Dort wurde er an den grünen Tisch gestellt vor das Crucifix. Aber einer der Herren setzte sich neben ihn und sagte vertraulich:
„Die Sache ist nicht so bös, mein lieber Eder. Thut es jetzt nur schön offen erzählen, was es mit der verbrannten Fünfzigerbanknote für eine Bewandtniß hat.“
„Gebt’s mir Ruh!“ brummte der Alte.
„Ihr habt es gesehen, als Euer Sohn den Schein zeichnete. Er ist ja noch ein Kind, und wir wollen daraus auch gar nichts Criminalistisches machen. Aber den Sachverhalt müssen wir wissen, daß wir den Patritz Neuleitner freilassen können. Also Euer Sohn hat sich zum Scherz versucht, das Ding nachzumachen?“
Sie wollen Dich fangen, warnte eine innere Stimme den Alten, sag’ nichts, bleib still wie der Fisch im Wasser! Jedes Wort könnte dem Franzel ein Jahr seines Lebens kosten. Er ballte die Fäuste auf seinen Knieen und starrte mit verglasten Augen auf den Boden.
Der Richter erhob seine Stimme:
„Hat Euer Sohn die Note gemacht oder nicht?“ Er deutete auf das Crucifix. „Ihr steht vor dem, den Ihr in Eurer Sterbestunde anrufen werdet! Ihr seid ein Ehrenmann gewesen Euer Leben lang; Ihr wollt es bleiben. Also auf meine Frage: Ja oder Nein!“
Da zuckte der Verhörte seine Achseln und murmelte:
„Wenn Ihr mich so angeht! Lügen kann ich nicht. Mein Franzel hat die Dummheit gemacht, aber keine Absicht dabei gehabt, keine schlechte Absicht. Der Fetzen ist aus aus der Hand gekommen – sonst hätten wir ihn gleich zerrissen.“
„Und ist’s auch das einzige Mal gewesen, daß er sich in derlei versucht?“
„Das hab’ ich ihn gefragt, und er hat gesagt: das erste und das letzte Mal. Und es ist auch so; ich kenne meinen Franzel; es ist auch so.“
„Folglich ist die Sache in Ordnung, Eder, und Ihr könnt wieder nach Hause gehen.“
Der Bauer ging, aber sein Herz war nicht leicht. „’s ist doch eine Falle,“ sagte er sich, denn zu jener Zeit hat Jeder dem Gericht mißtraut.
Als er nach Hause kam und der Franzel noch immer nicht davon gegangen war, wollte er ihn zur Flucht bewegen.
„Davon laufen mag ich nicht,“ sagte der Bursche trotzig, „dann thäten sie mich erst recht für einen Spitzbuben halten.“
Am nächsten Tage kam auch der Patritz heim und wußte zu sagen: Alles sei abgethan. Aber den Franzel möchten sie sehen.
[347] Der Alte schlug die Hände über den Kopf zusammen: Jetzt sei Alles verspielt. Der Franzel aber ging nach Lienz.
Die Herren schauten ihn mit Wohlgefallen an und meinten, wenn er schon eine so gute Hand zum Zeichnen habe, so solle er ihnen einen Beweis geben. Der Franz nahm Bleistift und Papier und portraitirte Einen nach dem Andern. Und als sie die Bilder sahen, da waren sie darüber eins: das wird kein Banknotenfälscher; der findet sein Fortkommen und seinen Ruf anderswo. –
Es kam jetzt noch eine kurze, aber lustige Bauernlebenzeit. Der Patritz heirathete seine Maria, und es ist ein Paar geworden, an dem die Leute noch heute ihre Freude haben.
Und der Franzel? Ihr lieben Leute, den findet ihr nicht mehr in der Gegend. Er lebt heute in einer großen Stadt und ist ein berühmter Mann. Gern erzählt er noch von jener harmlosen, aber nicht ganz ungefährlichen Geldmachergeschichte. Was er heute schafft, das ist mehr werth, als alle Banknoten auf der ganzen Welt zusammen genommen – es sind die herrlichen Bilder aus dem Tiroler Volksleben; denn der Träger dieser kleinen Geschichte ist kein Anderer als unser – Franz Defregger.
Die Gotthardbahn.
Im Juli 1872 war es, wo die ersten Transporte von Maschinen, Werkzeugen und Baumaterialien die steile Straße nach Göschenen auf der nördlichen und nach Airolo auf der südlichen Seite der Alpen hinanstiegen, wo die beiden Mundlöcher für den Gotthardtunnel zu liegen kamen. Armselige, kaum genannte Orte waren dies damals; heute sind sie in aller Munde und durch die weitläufigen Anlagen der Tunnelbauverwaltung ansehnlich gewachsen. Denn auf viele Jahre mußte hier Unterkommen für Tausende von Arbeitern und Beamten geschaffen werden; es mußten Werkstätten, Magazine, Ställe, Spitäler, Wirths- und Logirhäuser errichtet werden. In den Höhen, von denen der schweizerische Arzt, Philosoph und Dichter Albrecht von Haller singt:
„Der Wandrer sieht erstaunt im Himmel Ströme fließen,
Die aus den Wolken fliehn und sich in Wolken gießen“ –
da rauchen jetzt ohne Unterbrechung Schlote und pochen betriebsame Hämmer, und wer jetzt seinen Weg über den St. Gotthardpaß nach Italien nimmt, der erblickt schon von der Poststation Göschenen aus das „internationale Loch“, wie ein enthusiastischer Reisender die nördliche Tunnelmündung einst genannt hat. Unsere Abbildung (S. 348) führt dem Leser die Stadt Göschenen mit der sogenannten „alten Brücke“ vor, die, vom geschichtlichen Standpunkte aus betrachtet, nicht uninteressant ist. Sind doch über dieselbe in den 1790er Jahren, während des großen Gebirgskrieges, zahlreiche Armeen gezogen, und haben doch um ihren Besitz Franzosen, Russen und Oesterreicher gekämpft. Vergleichen wir nur flüchtig diese alte Brücke mit ihren jüngeren, eisernen Schwestern, welche die schnaubenden Dampfzüge über Abgründe von Berg zu Berg so sicher geleiten! Nichts dürfte den gewaltigen Fortschritt unserer die Schranken der Zeit und des Raumes niederwerfenden Industrie besser illustriren, als eben dieser Vergleich.
Bis jetzt ist kein Tunnel von so großer Länge in Europa ausgeführt worden wie der Gotthardtunnel; derjenige durch den Col de Fréjus, allgemeiner der Mont Cenistunnel genannt, hat allerdings die beträchtliche Länge von deutschen Meilen, steht aber doch noch etwas gegen den Gotthardtunnel zurück, welcher fast genau 2 Meilen lang ist. An sich war, da die bei dem Bau des Mont Cenistunnels gesammelten Erfahrungen reichlich vorlagen, das Unternehmen nach der glücklichen Vollendung des ersteren kein ausnahmsweise kühnes, was aber die Erwartungen nach Inangriffnahme des Werkes auf’s Höchste steigern mußte, war die Kürze der Bauzeit, welche dafür angesetzt worden. Der Mont Cenistunnel hatte eine während 13½ Jahren ununterbrochene Arbeit erfordert, für den noch etwas längeren Gotthardtunnel dagegen waren nur 8 Jahre in Aussicht genommen.
Die Erwartungen sind zwar nicht ganz erfüllt worden, da nach dem Vertrage, welchen die früher erwähnte Gotthardbahngesellschaft im Jahre 1872 mit dem Bauunternehmer abgeschlossen hatte, der Tunnel bereits am 1. Januar 1880 hätte durchschlägig geworden sein müssen, während er es thatsächlich erst 2 Monate später wurde, aber immerhin sind die Leistungen staunenswerth im Vergleich mit denen beim Bau des Mont Cenistunnels.
Nur darf man auf solche Erfolge der modernen Zeit nicht gar zu stolz sein; denn in Wirklichkeit sind selbst diese Erfolge im Verhältniß zu denjenigen, welche das Alterthum mit höchst bescheidenen Hülfsmitteln erreichte, nicht viel großartiger. Mit Maschinen und Dynamit geht die Arbeit leicht von statten, sodaß nur eine kurze Spanne Zeit zwischen dem Entschluß zur Ausführung und dem fertigen Werke liegt. Was wir aber, gegenüber den heutigen Leistungen, bei den Bauten des Alterthums bewundern müssen, das ist die zähe Ausdauer, welche unter Anwendung der primitivsten Werkzeuge auch dem sprödesten Stoffe gegenüber viele Jahrzehnte lang nicht erlahmte.
Tunnel finden wir schon als unterirdische Grabstätten in Aegypten zur Zeit Ramses des Zweiten (1500 v. Chr.), sowie in Nubien. Assyrier und Meder durchgruben bereits die Felsen zur Anlage von Wasserleitungen, und auch die römischen Bauten weisen großartige Beispiele dieser Art auf. Der Entwässerungstunnel, welcher den See Fucinus mit dem Flusse Liris verbinden sollte, wurde im Jahre 52 v. Chr. vollendet; er ist 3 Meter breit, 6 Meter hoch und deutsche Meilen lang, und 11 Jahre lang haben 30,000 Menschen zu seiner Fertigstellung gearbeitet.
Man bedenke, daß alle diese Arbeiten lediglich mit Meißel, Keil und Schlägel ausgeführt werden mußten! Allerdings kannte man wohl auch seit Urzeiten her ein primitives Sprengen der Felsen, nämlich das sogenannte „Feuersetzen“, welches auch in der Bibel erwähnt wird, Jeremia, 23. Cap., 29. Vers, wo es heißt: „Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“ Das Verfahren bestand darin, daß man vor die zu öffnende Felswand mächtige Feuer legte, wodurch das Gestein mürbe wurde und Risse erhielt, welche der Arbeit des Meißels zu Hülfe kamen. Auf Jahrhunderte hinaus blieb dies das einzige Hülfsmittel des Bergmannes bei dessen mühevollen unterirdischen Arbeiten. So lange konnte aber auch von einem wirklich erfolgreichen Bergbau nicht die Rede sein, und die ergiebigsten Stollen mußten verlassen werden, wenn der Felsen einigermaßen hart wurde. Selbst mit der Erfindung des Pulvers war noch nichts für den Bergbau und die Felsensprengung gewonnen; denn seltsamer Weise dauerte es noch drei volle Jahrhunderte, ehe man lernte, die für die Kriegskunst längst ausgebeutete Kraft des Pulvers auch für die Industrie nutzbar zu machen. Feldminen kannte man bereits vor der Erfindung des Pulvers dabei wurden jedoch die angegriffenen und untergrabenen Objecte nur dadurch zum Einstürzen gebracht, daß die das Erdreich künstlich stützenden Balkenwerke angebrannt wurden. Aber nach Erfindung des Pulvers behielt man diese unsichere Methode noch länger, als ein ganzes Jahrhundert bei, und erst gegen 1500 kam in Italien die Sprengung von Pulverminen auf. Nach Mitteleuropa gelangte diese militärische Erfindung erst im Laufe des sechszehnten Jahrhunderts; im dreißigjährigen Kriege war sie bereits allgemeiner bekannt und hat da ihre Schuldigkeit nicht nur an den Wällen der Festungen, sondern auch bei mancher der durch die Gegenreformation dem Untergange geweihten protestantischen Kirchen gethan.
Zu diesen Arbeiten wurden ausschließlich deutsche zünftige Bergleute gewählt, die damals von den Kriegsheeren in aller Herren Länder mitgeführt wurden, und diesem Umstande ist wohl der endliche Uebergang der Kunst des Minensprengens auf den Bergbau zu verdanken; Bergleute, die bisher als „Pixenmeister“ im Solde gestanden hatten, werden es wohl gewesen sein, welche bei ihrer Rückkehr in den alten verlassenen Stollen das neue Hülfsmittel hier zur Anwendung brachten.
Ein deutscher Bergmann, der sächsische Oberbergmeister Martin Weigel, gilt als der Vater der Erfindung, da er nachweislich im Jahre 1613 davon Gebrauch machte. Die weitere Verbreitung des Verfahrens wurde durch den dreißigjährigen Krieg zwar etwas verhindert, aber 1643 wurde sie doch bereits im Freiberger Bergrevier allgemein angewendet.
[348] Mancher Verbesserung bedurfte es noch, ehe die Kunst des Grubenschießens zur heutigen Vollendung gelangte, aber in dieser Gestalt trat sie alsdann mit all ihrer Macht in den Dienst der Cultur. Die anfangs in den Ebenen und auf bequemem Terrain sich entwickelnden Eisenbahnen erweiterten ihre Netze von Jahr zu Jahr, stiegen allmählich höher die Thallehnen hinan und standen endlich vor den verschlossenen Bergen. Da kroch der Pixenmeister wieder aus seinem Stollen und trat in den Sold des Eisenbahningenieurs, wie er vor Jahrhunderten in dem der Kriegsherren gestanden hatte. Da hallten die Berge wieder von Tausenden von Schüssen; himmelhohe Felswände fielen, und tiefe Einschnitte drangen in den Boden. Aber auch damit war es nicht genug. Die Canaltunnel des Alterthums wurden der Eisenbahn zum Modelle; die Zahl der großen Eisenbahntunnel mehrte sich erstaunlich, und bald war kein Berg zu hoch, um nicht durchbohrt zu werden. Die Kräfte wuchsen mit den Zielen, und auch als die Unternehmungslust unserer Tage vor dem mit ewigem Schnee bedeckten St. Gotthard stand, blieb sie ihrer Sache sicher, baute auf die Fortschritte der Kunst und erhoffte zuversichtlich ein glückliches Gelingen. – Louis Favre[WS 1] hieß der kühne Mann, der es unternehmen wollte, das große Werk in acht Jahren, um ein volles Jahr rascher, als alle seine Concurrenten, und noch dazu um fünfzehn Millionen Franken billiger auszuführen – eines Zimmermannes Sohn und selbst ein bloßer Zimmermann. Er war in der Genfer Gegend geboren worden, hatte sein Handwerk tüchtig erlernt, und war dann im Jahre 1853, siebenundzwanzig Jahre alt, nach Frankreich gegangen, wo er anfänglich größere Zimmerwerke, Dachconstructionen u. dergl. ausführte, später aber auch ganze Bahnstrecken zur Ausführung übernahm. Hierbei lernte er den Tunnelbau kennen, und bereits 1855 führte er für französische Eisenbahnen Tunnelbauten aus; auch um die Ausführung des Mont Cenistunnels bewarb er sich, wenn auch vergeblich.
Bei heutigen großen Bau-Unternehmungen ist es zumeist nicht der Unternehmer, dessen nach der glücklichen Vollendung dankbar gedacht wird, sondern vielmehr der Erdenker derselben; nicht den Maurer- oder Steinmetzmeister feiert man, sondern den Architekten, der das Werk ersann. Nur bei Tunnelbauten ist es anders – und mit Recht; denn wenn es auch wohl seine Schwierigkeiten hat, eine Tunnellinie so zu projectiren, daß sie allen Anforderungen genügt, so ist das doch noch immer verhältnißmäßig kinderleicht im Vergleich mit der Aufgabe, das Loch zu bohren; denn jede Gebirgsart erfordert hierbei eine andere Behandlungsweise; die Beschaffung der nöthigen Maschinenkraft in diesen schwer zugänglichen Höhen macht die größten Schwierigkeiten, und selbst die Heranziehung und Zusammenhaltung des nöthigen Arbeiterpersonals ist keine leichte Aufgabe, ganz abgesehen von den Erschwernissen, unter denen für ein derartiges, dem Ausgange nach so zweifelhaftes Unternehmen das nöthige Capital aufzufinden und stets flüssig zu erhalten ist – wahrlich eine Reihe von Schwierigkeiten, denen nur ungewöhnliche Naturen gewachsen sein[WS 2] können. Louis Favre war eine solche ungewöhnliche Natur. Er hatte das Temperament der Genfer: er war Euthusiast, aber zugleich voll zäher, unbesiegbarer Ausdauer dem einmal begonnenen Werke gegenüber.
Die Schwierigkeiten blieben nicht aus; sie kamen sogar in nicht geahnter Fülle: der Stollen am Südende des Tunnels hatte sehr unter starkem Wassereindrange zu leiden, und am nördlichen Stollen zeigte sich eine an hundert Schritte lange Strecke, wo der Fels trotz steter Ausbesserungen in fortwährender Bewegung blieb, wo er die Zimmerung und selbst das Gerölle zerdrückte. Krankheiten zeigten sich bei den Arbeitern, und man glaubte bei einer großen Zahl derselben einen Eingeweidewurm gefunden zu haben, welcher die Leute blutleer, melancholisch und unlustig zur Arbeit machte; Unruhen brachen aus; Militär mußte einschreiten. Große Unfälle ereigneten sich. Dynamitlager explodirten, und Hunderte von Arbeitern kamen bei unzeitig erfolgten Minenentzündungen um oder wurden im Dunkel des Tunnels von den Förderwagen überfahren oder von losbröckelnden Felsstücken erschlagen.
Auch finanzielle Verwickelungen blieben nicht aus; ja die Gotthardbahngesellschaft selbst kam in Geldverlegenheiten, welche ungünstig auf die Unternehmung wirken mußten; endlich gab es [349] zwischen der Tunnelbau-Unternehmung und deren Bauherrn, der Gotthardbahngesellschaft, Streitigkeiten, welche zu langwierigen Processen und sogar zur theilweisen Einstellung der Tunnelarbeiten führten. Aber trotzdem schritt das Werk rüstig fort. Ende Februar 1880 hörten die Bergleute einander bereits in den beiden Stollen, die nördlich und südlich des Gotthard vorgetrieben worden waren, und am 25. desselben Monats stieß eine Sondirungsstange, die an dem einen Stollen eingesetzt worden, auf den anderen und kam hier zum Vorschein; Sonntag den 29. Februar endlich, Mittags 11 Uhr 20 Minuten, fiel unter Glockenläuten, Hurrahrufen und Böllerschüssen die letzte Wand.
Nur ein Schmerz trübte das Fest, das sich an den Stollendurchbruch knüpfte: Louis Favre hatte es nicht mehr erleben sollen. Er war am 19. Juli des vorangegangenen Jahres, also kurz vor der Vollendung des Stollens, im Tunnel selbst, mitten in der Arbeit, gleich einem Soldaten, der in der Schlacht fällt, gestorben. Zu Fuß hatte er noch am Morgen desselben Tages den fast eine Meile weiten, bei der hier herrschenden großen Hitze außerordentlich beschwerlichen Weg gemacht; auf dem Rückwege ergriff ihn ein Unwohlsein; er bat um ein Glas Wasser, und wenige Minuten darauf war er verschieden – vom Schlage getroffen.
Schwer wurde er von den Seinen, seinen Ingenieuren und Arbeitern vermißt; mit Thränen gedachte man seiner im Jubel des Stollenfestes, welches Alle, die bis dahin an dem Werke mitgearbeitet hatten, im Frühjahr 1880 vereinigte, aber die Arbeit ging jetzt nicht minder schnell vorwärts. Nur um zwei Monate später, als das Bauprogramm es verlangte, war der Durchschlag der beiden Stollen geschehen, und im Herbst 1881 war auch die Erweiterung des Tunnels überall durchgeführt, die Auswölbung hergestellt und das Geleise gelegt. Im November fuhren die ersten Züge durch den Tunnel, und am 2. Januar dieses Jahres wurde die Strecke zwischen Göschenen und Airolo dem öffentlichen Verkehr übergeben.
Damit war das Hauptwerk der Gotthardbahn, an dessen glücklicher Durchführung auch in den Kreisen hervorragendster Sachverständiger fast bis zuletzt gezweifelt worden, vollendet; die Fertigstellung der beiderseitigen Anschlußstrecken ließ, nachdem auch hier die zahlreichen und ihrer Construction wegen schwierigen Tunnels (die in ihrer Construction verwickeltste Partie der Gotthardbahn, die Entwickelung derselben an der Biaschina, stellt unsere heutige Abbildung, S. 353, dar), ausgeführt worden, nicht lange auf sich warten. Heute ist die gesammte Strecke der Gotthardbahn fertig; festgegründet, bewehrt gegen tückische Wetterlaunen, Hochwasser, Schnee und Lawinen, ist sie bereit, mit all ihren Waffen in den vielseitigen Kampf einzutreten, den Industrie und Verkehr zu kämpfen hat. – Möge man bei der Eröffnung der Gotthardbahn all Derer gedenken, welche ihre Kräfte je nach Begabung vereinigt haben, um das Werk zu zeitigen! Möge man der Staatsmänner gedenken, welche mit weit voraus schauenden Blicken die Bedeutung des Unternehmens erkannt und gefördert, der Ingenieure, welche es entworfen, des Unternehmers, welcher es in die That übersetzt – aber auch der Bergleute und sonstigen Arbeiter, welche mit schwieliger Faust den Meißel geführt und die Steine gefügt haben, um das Unternehmen zu vollenden! Der gesammten Menschheit, dem ganzen Jahrhundert gereicht es zur Ehre; Jahrhunderte werden es nicht vernichten können. Möge das vollendete Werk deshalb auch auf Jahrhunderte hinaus der Menschheit einen neuen Anstoß zum internationalen Wettstreit der Künste des Friedens geben!
Ein Besuch im Staatsgefängnisse zu Kilmainham.
Seit einem dreiviertel Jahrhundert sind die Zustände in Irland, das durch den beklagenswerthen Meuchelmord an dem Lord Cavendish und dem Unterstaatssecretär Bourke auf’s Neue in den Vordergrund des Interesses getreten ist, im vollsten Sinne des Wortes Ausnahmszustände; denn fast ununterbrochen mußte England mittelst außerordentlicher Maßnahmen den anarchischen Vorgängen gewaffnet entgegentreten, welche über die von der Natur so lieblich ausgestattete Smaragdinsel einen so tiefen Schatten werfen. Das Charakteristische an diesen Zuständen ist das Zwitterhafte, das ihnen anklebt. Die englische Herrschaft ist auf dem schönen grünen Eilande gewissermaßen unterminirt; sie wird von allen Seiten angegriffen, bekämpft oder als nicht vorhanden betrachtet. [350] Das Land gehorcht mit merkwürdiger Passivität Persönlichkeiten, deren einzige Macht in ihrer Beredsamkeit und in der Liebe zum irischen Vaterlande wurzelt. Und dennoch giebt es keine offene Empörung, keine Revolution, keinen Versuch, die Fesseln, mit welchen alltäglich in den öffentlichen Versammlungen und Journalen gerasselt wird, abzuschütteln, keine gewaltsame Anstrengung, das vielgeschmähte Joch zu sprengen. Warum? Weil offenbar noch heute die Führer der irischen Agitation die Anschauung des genialen Agitationsvirtuosen Daniel O’Connell[WS 3] theilen, der überzeugt war, daß es für seine Landsleute nur einen einzigen Weg gäbe, zu ihrem Rechte zu gelangen, einen Weg, der zwar langsam, aber um so sicherer zum Ziele führe, und diesen Weg erblickte er in dem Gebrauche jener Mittel, welche die englische Verfassung und die englische Freiheit den bedrückten Irländern gestatten. Ein offener Aufruhr würde die ganze irische Frage auf ein Gebiet versetzen, von dem die Irländer Alles zu befürchten hätten: auf das rein militärische Gebiet. Ohne Zweifel würden die Empörer in diesem Fälle nicht nur durch die englische Armee, sondern auch durch die fanatischen und unerbitlichen Freiwilligen niedergeworfen und als Rebellen sämmtlicher Rechte beraubt werden, welche ihnen die englische Verfassung einräumt.
Allein im Laufe dieses Kampfes, der seit ungefähr siebenzig Jahren im irischen Volke wühlt, wurde weder auf der einen noch auf der andern Seite die streng gesetzliche Grenze eingehalten. Man kann sicher nicht behaupten, daß die „agrarischen Morde“, die Sprengung öffentlicher Gebäude (oder der Versuch zu solchen Verbrechen), die Erschießung junger Damen auf der Landstraße in den Rahmen einer rein verfassungsmäßigen Opposition paßten. Andererseits ist’s nicht möglich, ein Bild grelleren Widerspruchs hinzustellen als die Gegensätzlichkeit, welche zwischen den normalen Schutzbedingungen der englischen Verfassung, dem Habeas Corpus und den gewaltsamen Paragraphen jenes Coercitionsgesetzes (Ausnahmegesetzes) besteht, die einer einzelnen Persönlichkeit, dem Lord-Lieutenant von Irland, gestatten, jedes beliebige, auf irländischem Boden betroffene Individuum, ohne irgend welche Rechenschaft darüber abzulegen, in einen Staatscarcer zu werfen. Diese „Bill“ war allerdings nicht die erste drakonische Maßregel, die vom Parlamente in Westminster bewilligt wurde, um den Widerstand der halsstarrigen Brüder auf der Schwesterinsel zu brechen; denn schon im Jahre 1844 wurde jene Entwaffnungsbill erlassen, welche die Aufbewahrung von „Gewehren, Säbeln, Piken, Speeren“ und „solchen Instrumenten, die als Piken und Speere dienen könnten“, mit Deportation bis zu fünfzehn Jahren ahndete, und vier Jahre später trat die Coercitionsbill in’s Leben, deren Bestimmungen dem schroffsten Belagerungszustande der festländischen Tyrannenstaaten nichts nachgaben; im Jahre 1865 aber, als die fenische Bewegung[WS 4] unter der Führung des heute verschollenen Stephens ausbrach, wurde die Habeas-Corpus-Acte auf der Insel suspendirt und die seit der großen Hungersnoth von 1844 vollständig verstaatliche und gedrillte Polizeimacht mit Gewalten ausgestattet, welche in Alt-England die lebhaftesten Proteste hervorgerufen hätten.
Noch nie waren die Verhältnisse in Irland so ruhig und so geordnet gewesen, wie bei Beginn der Landliga-Agitation[WS 5] im Herbste 1879. Die verschiedenen Ausnahmsmaßregeln waren außer Kraft gesetzt worden; die Volksführer, mäßige und friedliche Männer, meistens alte Herren, gaben sich mit den nach und nach eingeführten Reformen sehr zufrieden, da dieselben den redlichen Zweck verfolgten, die Lage der unglücklichen Farmer zu mildern und die fetten, ungeheuerlichen Privilegien der „etablirten“ protestantischen Kirche einzuschränken. Allein die Mißernte des Jahres 1879 schleuderte den besonnenen irischen Opponenten schwere Prügel in die Räder. Die Noth trieb die unglücklichen Pächter rettungslos der Landliga in die Arme; das allgemeine Elend verschaffte den flammenden Worten der revolutionären Volkstribunen Gehör, und bald darauf begannen die Morde und nächtliche Mondscheinexpeditionen gegen die Schloßherren und ihre noch mehr verhaßten Agenten. Lange genug – man muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen – zögerte der liberale Gladstone; lange genug zögerten seine Collegen, von denen einzelne, wie John Bright, ihr ganzes Leben hindurch für die Freiheit gestritten hatten, ehe sie sich entschlossen, die Statue der Verfassung neuerdings mit einem Flor zu umhängen; allein es mußte zu außerordentlichen Maßregeln gegriffen werden, weil eine normale, gesetzmäßige Bestrafung der agrarischen Lordmörder nicht thunlich war; denn selbst in den Fällen, wo die handgreiflichsten Beweise vorhanden waren, wo die Schuld des Angeklagten moralisch erwiesen war, konnte eine Verurtheilung nicht stattfinden, da im ganze Lande keine Zeugen gegen den Angeklagten, keine Geschworenen aufzutreiben waren, die gewagt hätten, eine Verurtheilung auszusprechen. So groß war die Furcht vor der geheimen fenischen Vehme.
Diese skandalöse Straflosigkeit des Verbrechens sollte nun durch das „Suspect“-, das Verdachts-Gesetz beseitigt werden. Dasselbe erlaubt den Behörden, Jedermann hinter Schloß und Riegel zu verwahren, welcher entweder im Verdachte steht, an einem agrarischen Verbrechen Theil genommen zu haben, oder für fähig gehalten werden darf, ein solches zu begehen. Das sind, wie man sieht, sehr dehnbare Bestimmungen, wie diese stets bei Ausnahmegesetzen und willkürlichen Maßregeln der regierenden Gewalt sich geltend zu machen pflegen. So erklärt sich denn auch, daß wir unter den sechshundert Gefangenen, die seit vorigem October kraft des Coercitions-Gesetzes verhaftet wurden, nicht blos Leute fanden, welche im Stande waren, ihren Widersachern hinter der Hecke mit dem Stutzen aufzulauern oder Nachts den mißliebigen Pächtern eigenhändig die Nasen abzuschneiden, sondern auch die blos moralisch Mitschuldigen und an der Spitze dieser Suspects vornehmeren Kalibers die drei Abgeordneten Parnell, O’Kelly, Dillon. Das Gefängniß von Kilmainham war der unfreiwillige Aufenthalt dieser inzwischen der Haft entlassenen Gentlemen.
Die Pferdebahn, welche durch die breiten, sauberen, mit Holz gepflasterten Straßen der irischen Hauptstadt rollt, führt uns binnen zwanzig Minuten vom College Green zum Fuße der kleinen Anhöhe, auf der sich das fragliche Verließ befindet.
College Green ist der Hauptplatz Dublins, hier finden wir das stattliche Universitätsgebäude („Trinity College“) und die monumentale „Bank of Ireland“ mit den symbolischen Statuen am Haupteingange. Beim Anblick dieses zweiten Gebäudes pocht jedem richtigen irischen Patrioten das Herz in der Brust; denn hier war es, wo bis 1800 das irische Parlament machtvoll tagte; hier war es, wo die gewichtige Stimme der patriotischen Redner, deren Statuen den Platz schmücken, ertönte, und hierher hoffen triumphirend dieselben Männer einzuziehen, die zum Theil noch dort oben in Kilmainham schmachten.
Treten wir die Fahrt dorthin an! Wir passiren einige Kirchen, ein Arbeitshaus – und stehen vor der Bastille. Die Hauptfront, ziemlich länglich und unregelmäßig gebaut, präsentirt sich nach Norden zu, während die Rückseite, welche von hohen Ringmauern geschützt wird, der Stadt zugewendet ist, das heißt dem ungeheuer ausgedehnten Phönix-Park mit seinen riesigen Alleen, seinen endlosen Wiesen und Weiden, wo nicht nur das gewöhnliche Vieh seine Nahrung sucht, sondern auch Hirsche und Rehe in der harmlosesten Weise zu Dutzenden, ja zu Hunderten herumstreifen.
In diesem durch die jüngsthin erfolgten Morde an Cavendish und Bourke zu einer so traurigen Berühmtheit gelangten Phönix-Parke finden häufig Massenmeetings statt, und fürwahr, es ist keines der geringsten Effectmittel der irländischen Volksredner, daß diese im Feuer des Redestromes mit der Rechten nach den hinter dem Baumgestrüppe sichtbaren Mauern des Gefängnisses hinüberzeigen und begeistert auf den Patriotismus der Männer hinweisen, die dort hinter Schloß und Riegel schmachten.
Den dominirenden Theil des Gefängnisses von Kilmainham bildet eine ungeheuere Glasdecke, denjenigen nicht unähnlich, die sich über die großen Einfahrtshallen unserer Bahnhöfe ausdehnen. Durch diese Glasdecke erhält der Gefangene seine karge Portion Licht in die öde Zelle und vielleicht ab und zu sogar einen Sonnenstrahl.
Das Gefängnißlocal selbst, welches vor ungefähr dreißig Jahren genau nach dem Vorbilde des pennsylvanischen Correctionssystems gebaut wurde, bietet der Beschreibung nur wenig Anziehendes. Die Eingangsthüren sind von einer geradezu fürchterlichen Massivität und mit centnerschweren Eisenbarren versehen, ja, hinter der inneren Thür (beide sind durch einen kleinen Vorhof getrennt, in dem eine zähnefletschende Dogge Wache hält) giebt es zum Ueberfluß noch ein starkes Gitter. Von besonderer Merkwürdigkeit sind die ungeheuer großen Gefängnißschlüssel, wahre Riesenwerke der Schlosserkunst, welche vortrefflich als Schutz- und Trutzwaffe dienen könnten – wahrlich der Wächter, der sich ihrer erfreut, kann jedes Seiten- und Schußgewehr entbehren. Diese Wächter sind, nebenbei bemerkt, durchweg ausgediente Soldaten, und man erkennt ihren Stand sofort an ihrem strammen Wesen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Louis Favre, Bauunternehmer und autodidaktischer Ingenieur
- ↑ Vorlage: kein
- ↑ Daniel O’Connell (1775 – 1847), irischer Politiker
- ↑ fenische Bewegung: Fenian Brotherhood
- ↑ Landliga: Irish Land League
[351] Vom Vorhofe führt ein schmaler Gang, den verschiedene ebenfalls sehr stattliche Thore unterbrechen, in die inneren Räume des Gefängnisses, und eine Seitenthür, ebenso sorgsam verschlossen und verriegelt wie die übrigen, eröffnet die Aussicht aus die sehr verwickelte und verzwickte Treppenflucht, die, dank der Glasdecke hell erleuchtet, zu den drei Stockwerken führt, welche die Zellen enthalten. Man zählt wohl hundert solcher Zellen in jeder Etage, und sie alle münden auf eine offene Gallerie. Ein einziger Wächter genügt, um alle drei Gallerien zu beaufsichtigen und sich zu überzeugen, ob alles in Ordnung ist.
Als ich im letzten April das Gefängniß besuchte, waren sämmtliche Zellen besetzt, und doch bildeten ihre dreihundert Insassen nur die Hälfte der laut des Executionsgesetzes verhafteten Verdächtigen. Die Gefangenen gehörten allen Gesellschaftsclassen an: der einfache Pächter vom Lande oder der Bauernknecht war in Folge desselben Haftbefehls eingesperrt worden, welcher einen Universitätsprofessor oder einen Arzt der Freiheit beraubte. Jene catilinarischen Existenzen, die in den größeren Städten Irlands häufiger anzutreffen sind als anderswo, zerlumpte Gesellen, welche bei politischen oder anderen Demonstrationen Statistendienste leisten und keine andere Herberge kennen als die Meetinghallen und die Wirthshäuser, waren unter den „Suspects“ natürlich sehr zahlreich vertreten, neben diesen zweifelhaften Märyrern der nationalen Sache sah man aber auch Bürgermeister ganz bedeutender Städte und hochangesehene Geschäftsleute.
Katholische Geistliche gab es bis auf Weiteres in dem Castell Kilmainham nicht, dafür aber desto mehr in den anderen irischen Gefängnissen. Die vornehmsten unfreiwilligen Gäste in Kilmainham waren jedoch die drei oben bereits erwähnten Parlamentsmitglieder Parnell, Dillon und O’Kelly. Unfreiwillige! Der Ausdruck paßt nicht ganz; denn die drei Herren brauchten, um dem Gefängnisse zu entgehen, ja nur jenseits des Georg-Canals in England zu bleiben, wo ihnen kein Haar gekrümmt werden konnte. Allein es lag im Interesse der irischen Sache, daß gerade seine rührigsten Führer und Volksvertreter sich als Opfer der englischen Gewalt geriren durften. Ueber meine Begegnung mit diesen drei Führern der irischen Landliga, Parnell, O’Kelly und Dillon, im Gefängnisse von Kilmainham gedenke ich im Folgenden zu berichten.
Thiere mit innerlicher Gemüsezucht.
So seltsam der Titel klingen mag, den ich über die folgenden Darlegungen setzte, so vollständig entspricht er doch den merkwürdigen Thatsachen, die man schon seit längerer Zeit vermuthet, aber erst in den letzten Jahren sicher festgestellt hat, daß es nämlich zahlreiche Thiere giebt, die eine ganze Heerde niederer Pflanzen in ihr Inneres aufnehmen, sie dort ohne Schädigung weitercultiviren, ihnen durch ihre durchsichtigen Leibeswände regelmäßig Tageslicht und Sonnenschein zukommen lassen und sie mit ihren gasförmigen und flüssigen Körperausscheidungen düngen und nähren, um ihrerseits von dem Ueberschuß der von ihnen erzeugten pflanzlichen Nährstoffe mehr oder weniger ausschließlich zu zehren, sodaß sie thatsächlich nichts weiter für ihren Lebensunterhalt zu thun haben, als sich zeitweilig die Sonne auf den nackten Leib scheinen zu lassen.
Schon bei einer anderen Gelegenheit habe ich den Lesern der „Gartenlaube“ (1880, S. 268) von grasgrün gefärbten Seewürmern erzählt, die sich am seichten Ufer sonnen und dabei, ganz wie die Pflanzen, Sauerstoff statt Kohlensäure ausscheiden, überhaupt des Lichtes zu ihrem Leben wie die grünen Pflanzen bedürfen und im Dunklen bald zu Grunde gehen. Solcher grün gefärbten Thierarten, die nach der Weise der Pflanzen leben, giebt es in sehr verschiedene Thierclassen, und man kennt seit längerer Zeit zahlreiche hierher gehörige Thiere aus den Gemeinschaften der Wurzelfüßler, Gitterthiere, Infusorien, Schwämme, Polypen, Korallen, See-Anemonen, Quallen und Würmer.
Von einzelnen dieser Thiere war es seit länger als vierzig Jahren bekannt, daß sie ihre grüne Farbe demselben Farbstoffe verdanken, der sich in Form kleiner, grün gefärbter Körner in allen grünen Theilen der Pflanzen findet, dem Blattgrün oder Chlorophyll. Die Erkenntniß, daß der Farbstoff zahlreicher grüner Thiere der nämliche ist wie derjenige der Pflanzen, wurde durch die spectroskopische Untersuchung bestätigt und brachte die Naturforscher schier in Verzweiflung, da sie ihnen den letzte Hoffnungsanker raubte, Thiere von Pflanzen unterscheiden zu können.
Das klingt wiederum sehr sonderbar; denn im Allgemeinen bestehen höchstens hinsichtlich der allerniedersten Wesen wirkliche Zweifel, ob man sie zu den Thieren oder Pflanzen zu rechnen habe, weshalb man bekanntlich für sie ein neutrales Zwischenreich, das der Protisten oder Urwesen, aufgestellt hat. Als viel schwieriger aber hat sich die Aufstellung eines durchgreifenden Merkmals erwiesen, nach dessen Vorhanden- oder Nichtvorhandensein man sofort Thier und Pflanze unterscheiden könnte. Früher nannte man einfach Thier, was sich frei umherbewegt, und Pflanze, was im Boden oder auf irgend einer Unterlage festwurzelt, weshalb man auch die auf dem Meeresboden oder auf den Klippen festgewachsenen Meeresschwämme, Korallen etc. früher allgemein zu den Pflanzen rechnete. Jetzt weiß man indessen, daß gar viele Thiere für ihr ganzes Leben vor Anker gehen und an der Scholle kleben, während zahlreiche niedere Pflanzen, namentlich in ihrer Jugendzeit, sich lebhaft im Wasser und selbst auf dem Lande umherbewegen, wie z. B. die Schleimpilze, die in feuchten Gewächshäusern an den senkrechten Wänden der Blumentöpfe emporkriechen.
Ferner glaubte man den Magen und die Verdauung in demselben als Vorzug der Thiere vor den Pflanzen hinstellen zu können, aber einerseits giebt es genug Thiere, welche keine Magenhöhlung haben, wie z. B. viele Schmarotzer, die ihre Nahrung durch die gesammte Körperoberfläche aufnehmen, und andererseits sogenannte „insectenfressende Pflanzen“ (vergl. „Gartenlaube“ 1875, S. 166 und 1878, S. 289), welche animalische Nahrung in besonderen Höhlungen und mit Hülfe von Säften verdauen, die dem thierischen Magensafte im höchsten Grade ähnlich sind. Ebenso kennt man Thiere, die, ganz wie die Pflanzen, Knospen treiben, Stämme und verzweigte Aeste mit „Blumen“ daran bilden, oder (wie die Mantelthiere) wirklichen Holzstoff erzeugen, der von dem Stoffe der Pflanzenzelle (Cellulose) chemisch nicht zu unterscheiden ist.
Der einzige, einigermaßen durchgreifende Unterschied schien demnach zu sein, daß die Pflanzen im Stande sind, unmittelbar von den Bestandtheilen der Luft, des Wassers und des Bodens zu leben und diese unorganischen Stoffe in organische umzuwandeln, während die Thiere dies bekanntlich nicht vermögen, sondern auf pflanzliche oder thierische Nährstoffe angewiesen sind. Die Pflanzen verdanken jenen Vorzug, unmittelbar von den in der Natur vorhandenen Stoffen, namentlich von der in der Atmosphäre nie fehlenden Kohlensäure leben zu können, bekanntlich dem Chlorophyll, oder, wie neuere Untersuchungen wahrscheinlich machen, einem verwandten, stets mit demselben vergesellschaftet vorkommenden und von ihm vor allzu heftiger Lichtwirkung geschützten, farblosen Stoffe, dem Hypochlorin, durch den die Kohlensäure unter dem Einflusse des Lichtes zerlegt wird. Daher bedürfen solche Pflanzen, welche, wie die Pilze und andere Schmarotzergewächse, des Chlorophylls (und seines farblosen Begleiters) entbehren, schon fertig gebildeter organischer Stoffe in der Unterlage, auf der sie wachsen.
Aber auch dieses letzte Unterscheidungsmittel schien den armen Naturforschern durch die grünen Thiere entzogen zu werden, von denen neuere Beobachter gezeigt haben, daß sie recht wohl, ganz wie Wasserpflanzen, in filtrirtem Wasser, und ohne alle organischen Nährstoffe, längere Zeit weiter leben können, wenn man ihnen nur Licht in ausreichendem Maße gewährt. Zu der Entdeckung des Chlorophylls in zahlreichen Thieren war dann, ebenfalls schon seit längerer Zeit, die Entdeckung von Stärkekörnchen getreten, welche bekanntlich in der Pflanze unter dem Einflusse des Lichtes in den Chlorophyllkörnchen gebildet werden.
Der berühmte englische Zoologe Huxley hatte vor einer Reihe von Jahren innerhalb des durchsichtigen, von einem Kieselskelete gestützten Schleimkörpers der mikroskopischen Gitterthiere oder Radiolarien kleine, gelbe Zellen entdeckt, die sich durch Quertheilung lebhaft vermehren und in so wechselnder Anzahl in jenen Thieren [352] vorkommen, daß sie nicht den Charakter nothwendiger Organe, sondern eher den selbstständiger Wesen tragen, die als fremde Eindringlinge in dem Schleimkörper der Radiolarien leben.
Häckel, welcher dieser durch ihren Formenreichthum und ihre zierlichen Gestalten ausgezeichneten Thierclasse ein eingehendes und folgenreiches Studium widmete, entdeckte dabei, daß ihre gelben Zellen sich bei Berührung mit Jod tief blauviolett färben, also Stärkemehl enthalten, ganz wie Pflanzenzellen. Hinsichtlich ihres eigentlichen Charakters sprach sich der ausgezeichnete Mikroskopiker Cienkowsky[WS 1] bereits 1871 dahin aus, daß sie anscheinend in die Radiolarien eingedrungene, niedere, einzellige Algen seien, die in dem thierischen Körper weiter vegetiren, und beobachtete ferner, daß sie nicht nur den Tod des thierischen Wirthes überleben, sondern sich auch nach demselben weiter vermehren, woraus sich erklärte, daß in einigen Radiolarien wenig oder gar keine, in anderen sehr viele solcher gelben Zellen gefunden werden.
Diese Ansichten aber fanden nicht allgemeine Zustimmung, und ähnlich wie schon Ehrenberg und spätere Mikroskopiker die grünen Körperchen im Leibe der Infusorien für nothwendige Organe oder für die Eier derselben angesehen hatten, dachte man auch bei den Radiolarien an Leberzellen oder sonst mit der Verdauung zusammenhängende Organe.
Wenige Jahre, nachdem Cienkowsky seine Vermuthung über die Algennatur der gelben Zellen in den Radiolarien ausgesprochen hatte, beschäftigte sich Professor Geza Entz[WS 2] in Klausenburg mit der Untersuchung der grünen Körnchen, welche sich in den äußeren Körperschichten sehr vieler Infusorien finden. Zahlreiche Infusorien der verschiedensten Gruppen, Geißelthierchen, Glockenthierchen, Trompetenthierchen und viele andere, sind in ihrem Innern so reichlich mit diesen Körnchen versehen, daß sie grasgrün erscheinen und ganzen Wassertümpeln, wie z. B. die nach diesem Aussehen getaufte Euglena viridis, eine tiefgrüne Färbung ertheilen. Das Merkwürdigste war nun hierbei, daß dieselben Arten, welche an dem einen Orte vollständig mit den grünen Körnchen vollgepfropft auftraten, an anderen Orten derselben beständig ermangelten, sodaß letztere jedenfalls nicht als unentbehrlicher Bestandtheil ihres Organismus betrachtet werden konnten. Bei genauerer Untersuchung fand nun Geza Entz, daß die grünen Körperchen nur bei alles fressenden oder solchen Infusorien vorkommen, die sich mit Vorliebe oder ausschließlich von einzelligen Algen, wie Protococcaceen, Palmellaceen etc., oder auch von kleineren Infusorien, die solche grüne Körnchen enthalten, ernähren. Weiter zeigte sich, daß, wenn diese grünen Körnchen durch Ausquetschen und Zerzupfen des Infusorienkörpers befreit wurden, sie im Wasser weiter lebten und durchaus nicht von einzelligen grünen Algen zu unterscheiden waren.
Es handelt sich also auch hier nicht um bloße Chlorophyllkörnchen, sondern um vollständige, mit Zellhaut und Zellkern versehene einzellige Pflänzchen, die im Innern des Infusorienkörpers weiterleben und sich dort ebenso wie außen durch Theilung vermehren. Diese Ansicht ließ sich noch genauer dadurch erweisen, daß der Beobachter die farblosen Infusorien mit den grünen Körperchen fütterte und dabei wahrnehmen konnte, wie einzelne der Verdauung in dem Innern des Thierkörpers entgingen, sich in die äußeren Schichten drängten und sich dort lustig vermehrten.
Somit ließ sich also hier ein ähnlicher Fall von Zusammenleben zweier verschiedenartiger Organismen feststellen, wie ihn der geniale, jetzt in Berlin lehrende Botaniker Schwendener[WS 3] zuerst bei jenen grauen, grünlichen oder gelben Gewächsen entdeckt hat, die in Gestalt von Krusten, Lappen oder Bärten aus der Erde, auf Steinen, Mauern, Zäunen, Baumstämmen und Aesten wachsen und in der Sprache des Volkes fälschlich zu den Moosen (z. B. Isländisch Moos, Renthiermoos, Lungenmoos etc.) gerechnet werden – den Flechten. Schwendener erkannte nämlich und wies nach, daß diese Gebilde gar keine einfachen Pflanzen sind, sondern Geflechte, welche dadurch entstehen, daß ähnliche einzellige grüne Algen, wie die oben erwähnten, rings von zarten Pflanzen umsponnen werden. Die Pilze, welche, wie schon gesagt, stets Schmarotzer sind und nicht, wie die grünen Pflanzen, ihre Nahrung unmittelbar aus der Luft gewinnen können, leben hierbei von den organischen Stoffen, welche die grünen Algenzellen bereiten, und diese hinwiederum empfangen von den sie umstrickenden Pilzfäden Schutz vor dem Austrocknen, indem jene die zu ihrem Gedeihen unentbehrliche Feuchtigkeit zurückhalten. Es liegt also hier kein Fall von reinem und unbedingtem Schmarotzertum vor; denn beide Pflanzenarten nützen einander gegenseitig, und man möchte daher eher von einem Compagniegeschäft sprechen.
Aehnliche Fälle, die man als Zusammenleben (Symbiose) bezeichnet, sind nun in der Neuzeit mehrfach beobachtet worden, und es lag daher nahe, an ein ähnliches Verhältniß bei den grünen Infusorien zu denken, obwohl der Fall insofern befremdender war, als hier nicht zwei Pflanzen oder zwei Thiere zu einem Gesellschaftsleben verbunden sind, sondern vielmehr Thier und Pflanze. In der That konnte Geza Entz feststellen, daß die Infusorien, welche eine hinreichende Menge von Algen in ihren Körper aufgenommen haben, keine ferneren festen Körper zu ihrer Nahrung gebrauchen; sie lassen nur beständig Wasser durch ihren Körper strömen, um den in ihnen lebenden Algen stets frisches, kohlensäurehaltiges Wasser zuzuführen, wofür sie von ihnen Sauerstoff zurückempfangen und nicht allein die absterbenden Miether, sondern auch andere, die bei ihrer rapiden Vermehrung zufällig in den Verdauungsraum gedrängt werden, verzehren. Der Miether zahlt also seinem Wirthe den Miethzins gleichsam in Naturalien, indem er ihn mit Nahrung versieht, und wird dafür beständig einem solchen gedämpften Lichte ausgesetzt, wie es ihm am meisten zuträglich ist. Einen lange andauernden ungemilderten Sonnenschein können diese Algen nämlich nicht vertragen, und grüne Infusorien, die gezwungen wurden, lange in demselben zu verweilen, entfärbten sich bald vollständig, indem die in ihnen lebenden Algen durch das zu grelle Licht getödtet und von ihrem Wirthe verdaut wurden.
Professor Geza Entz veröffentlichte diese merkwürdigen Entdeckungen bereits im Beginne des Jahres 1876, allein da es in ungarischer Sprache geschah, blieben sie den Naturforschern anderer Länder gänzlich unbekannt, und Dr. K. Brandt[WS 4] in Berlin mußte die betreffenden Thatsachen im Verlaufe des vorigen Jahres vollständig neu entdecken. Dieser Beobachter beschäftigte sich aber nicht blos mit grünen Infusorien, sondern auch mit ebenso gefärbten Strudelwürmern, dem Süßwasserschwamm (Spongilla), dem durch seine Reproductionsfähigkeit so bekannten Armpolypen (Hydra) unserer Tümpel und Gräben und mit gewissen grünen Seerosen. Er unterschied dabei die grünen Algen von den gelben, welche außer in den Radiolarien auch in gewissen Korallenpolypen vorkommen, und bezeichnete sie als grüne und gelbe Thieralgen (Zoochlorella und Zooxanthella), obwohl es wahrscheinlich ist, daß verschiedene Arten niederer Algen in Thieren leben können. Von seinen im Allgemeinen die Beobachtungen von Geza Entz bestätigenden Untersuchungen sind besonders diejenigen lehrreich, durch welche er sich überzeugte, daß sowohl Radiolariencolonien, wie der gewöhnliche Süßwasserschwamm ausgezeichnet in filtrirtem Meer- respective Flußwasser gediehen, während sie also vollständig auf die von den Algen in ihrem Körper erzeugten Nährstoffe angewiesen waren. Dasselbe wurde ferner dadurch bestätigt, daß die Thiere bald starben, wenn die Gefäße in’s Dunkle gestellt und damit den Algen die Möglichkeit entzogen wurde, neue Nährstoffe zu erzeugen.
Einige Monate später als Brandt, nämlich im Beginne des laufenden Jahres, veröffentlichte der englische Naturforscher Patrick Geddes[WS 5] einen Bericht über die Studien, welche er schon im Jahre 1878 an der bretagnischen Küste und im vorigen Jahre zu Neapel über die Lebensweise der grünen Thiere angestellt hat. Wie ich an der schon oben bezeichneten Stelle der „Gartenlaube“ genauer mitgetheilt habe, hatte Geddes bereits damals festgestellt, daß die grasgrünen Plattwürmer, welche sich am Strande der französischen Küsten sonnen, dabei Gasblasen entwickeln, welche bis zu fünfzig Procent reinen Sauerstoff enthalten, während in ihrem Körper zugleich das Auftreten von Stärkekörnchen nachgewiesen werden konnte. Indessen hatte Geddes damals noch angenommen, daß die Chlorophyllkörnchen einen wirklichen Bestandtheil des Wurmkörpers bildeten. Inzwischen hat er sich jedoch ebenfalls überzeugt, daß es sich in diesen und ähnlichen Fällen stets um einzellige Algenarten handelt, von denen er vier Arten unterscheidet, die er unter dem Gattungsnamen Philozoon (d. h. Thierfreund) zusammenfassen möchte. Neuerdings stellte derselbe Beobachter eine Reihe von Untersuchungen an grünlich oder orangegelb gefärbten See-Anemonen (Anthea cereus und Cereactis aurantiaca), an Hornkorallen (Gorgonia), sowie an schön blau gefärbten Quallen (Velella) an, welche entweder grüne oder gelbe Algen enthalten, und fand, daß alle diese Thiere ohne weitere Nahrung im Lichte sehr wohl gediehen und dabei Sauerstoff statt Kohlensäure entwickelten.
Es ist oft darauf hingewiesen worden, wie vollständig sich
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Leon Cienkowski, polnisch-russischer Botaniker, Protozoologe und Bakteriologe
- ↑ Géza Entz (1842–1919), ungarischer Biologe
- ↑ Simon Schwendener, Schweizer Biologe
- ↑ Karl Brandt, deutscher Meeresbiologe
- ↑ Patrick Geddes, schottischer Biologe
[354] in der Natur Thier- und Pflanzenleben gegenseitig ergänzen und fördern. Die Thiere erzeugen bei ihrer Athmung Kohlensäure und verbrauchen Sauerstoff, die Pflanzen verbrauchen Kohlensäure und erzeugen Sauerstoff. Die Thiere leben unmittelbar oder mittelbar gänzlich von Pflanzenstoffen, und die Pflanzen werden von den Auswurfstoffen und den abgestorbenen Leibern der Thiere gedüngt. Diese Gegenseitigkeit erprobt sich nun im allerengsten Kreise bei den hier besprochenen Gesellschaftswesen, welche einander alles das liefern, was sie zum Leben brauchen. Man kann kaum daran zweifeln, daß den im Körper eines Thieres lebenden Algen auch die Auswurfstoffe desselben, zumal die von den Geweben ausgeschiedene Kohlensäure, zu Gute kommen werden, sodaß sie, da das Thier sie auch seines eigenen Wohlseins wegen dem Lichte aussetzt, ein gleichsam üppiges Leben in seinem Innern führen, während dieses wieder sich nicht um seine Nahrung zu bemühen und gar nicht zu arbeiten braucht. Die ganze Plage des Algenwirths besteht darin, bald im Lichte umherzuflaniren, bald sich die warme Sonne auf den Leib scheinen zu lassen, um mit Allem versorgt zu werden, was er zu seines Leibes Nahrung und Nothdurft gebraucht. Es ist kaum zu bezweifeln, daß diese Thiere auch, abgesehen von der Verzehrung der absterbenden Algen, weitere Nahrung von ihren Gästen ziehen werden; denn die Stärke, welche diese erzeugen, dürfte leicht in einen löslichen Zustand übergeführt und von dem Thiere verdaut werden.
Auch der von den Algen im Lichte abgeschiedene Sauerstoff dürfte ohne Zweifel den Thieren theilweise zu Gute kommen, wie man schon daraus schließen kann, daß grüne Algen im Sonnenscheine ein Gas entwickeln, welches bis zu siebenzig Procent Sauerstoff enthält, während die grünen Thiere ein an Sauerstoff bedeutend ärmeres Gasgemenge ausscheiden. Nach den Bestimmungen von P. Geddes enthält das von grünen Strudelwürmern im Sonnenscheine ausgeschiedene Gas fünfundvierzig bis fünfzig Procent, bei der olivengrünen See-Anemone (Anthea Cereus), welche sehr zahlreiche Algen beherbergt, zweiunddreißig bis achtunddreißig Procent, bei der weißen Koralle (Gorgonia) und der blauen Qualle (Velella) circa vierundzwanzig Procent, und bei der orangerothen See-Anemone (Ceractis aurantica) gar nur einundzwanzig Procent.
Wenn nun auch das Thier den ausgeschiedenen Pflanzengasen seinerseits sauerstoffärmere Thiergase beimengen mag, so scheint doch soviel sicher, daß es einen Theil des von den Algen abgeschiedenen Sauerstoffs für sich verbraucht und sich dadurch wahrscheinlich angenehm erregt findet; wenigstens sah Geddes die sonst meist träge, dunkelgrüne See-Anemone im Sonnenschein ihre Arme lebhaft hin und her schwingen. Allerdings scheint ebenso wie den Algen, auch den Thieren ein allzu anhaltender Sonnenschein, vielleicht in Folge des andauernden Sauerstoffüberschusses, schädlich zu werden; die See-Anemonen nehmen, tagelang den directen Sonnenstrahlen ausgesetzt, bald ein ungesundes Aussehen an, und Radiolarien wurden sogar schon nach eintägiger Besonnung im beständig circulirenden Wasser getödtet. Diese größere Empfindlichkeit der Radiolarien gegen starkes Licht hängt vielleicht damit zusammen, daß sie nicht chlorophyllreiche grüne, sondern gelbe Algen enthalten, und dem entsprechend haben sie die Gewohnheit, nur bei schwachem Licht zur Meeresfläche emporzusteigen und bereits früh am Tage wieder in die Dämmerung der Tiefe zu versinken.
Man kann sich die Beziehungen zwischen Thier und Pflanze kaum idealer ausmalen, als sie in diesen niederen Wesen verwirklicht sind, welche ihre Nahrung in ihrem Innern cultiviren und hauptsächlich nur von dem Ueberschuß ihrer innerlichen Gärtnerei leben. Wie schön könnte es in der Welt sein, wenn alle Thiere ohne Streit und Kampf neben einander leben könnten, aber ohne Kampf kein Sieg des Besseren, also kein Fortschritt! Es ist daher wohl als Glück zu betrachten, daß ein solches Bündniß nur bei Thieren denkbar ist, welche keinen abgeschlossenen Magen haben und keine scharfen Magensäfte aussondern, vielmehr ihre Körperhöhlungen beständig von frischem Wasser durchströmen lassen und nur bei unmittelbarer Berührung an bestimmten Stellen verdauen. Vielleicht das Merkwürdigste bleibt hierbei aber, daß die betreffenden Thiere meist auf beiderlei Weisen zu leben im Stande sind, nämlich mit innerer Algenzucht und ohne dieselbe.
Die erwähnte Hornkoralle (Gorgonia) kommt in einer weißen und in einer rothen Varietät vor, von denen nur die erstere Algen enthält, während die letztere zu undurchsichtig wäre, um ihnen das nöthige Licht zukommen zu lassen, und sich deshalb auf dem gewöhnlichen Wege ernähren muß. Auch dürfen keineswegs alle grünen Thiere der niederen Classen als Algenzüchter betrachtet werden. Es giebt vielmehr zahlreiche grüngefärbte Würmer, See-Anemonen und andere Thiere, die nicht dem Chlorophyll, sondern einem andern sich im Spectroskope ganz verschieden verhaltenden Farbstoffe ihre Färbung verdanken.
Selbst von der mehrerwähnten olivengrünen See-Anemone (Anthea Cereus) giebt es eine smaragdgrüne Abart, welche keine Algen enthält. Aber die olivengrüne, algenreiche Form ist die bei Weitem häufigere und eine der im mittelländischen Meere am massenhaftesten vorkommenden Arten, ein Beweis dafür, daß sie sich bei ihrer Gemüsezucht sehr vortrefflich befindet und nichts weniger als eine Belästigung von ihren Miethern erfährt. Im Uebrigen bereiten, wie zum Schlusse noch hervorgehoben werden mag, diese höchst überraschenden Entdeckungen auch dem Naturforscher in soweit eine Erleichterung, als er nun wieder das Chlorophyll, respective seine farblosen Begleiter, als einen wirklich den Pflanzen – wenn auch nicht allen unter ihnen – allein zukommenden und den Thieren durchweg fehlenden Stoff ansehen darf.
Recht und Liebe.
„Setzen Sie sich da an’s Fenster, Dora,“ sagte Regine, „und dann reden Sie! Ich höre!“
„Sehen Sie, Fräulein Regine,“ hub Dora, abwechselnd bleich und roth werdend und zu Regine, die vor ihr stehen geblieben, schüchtern aufblickend, an, „sehen Sie, da Sie nun unsere Cousine Regine Horstmar sind – nicht wahr, Sie sind es?“
„So ist es – ich bin Regine Horstmar. Und nun?“
„So sind Sie auch die Erbin hier und werden am Ende doch wohl Alles erhalten – ich bin nur ein dummes Ding, aber was die Mutter und was die Generalin reden, daß man Sie schon zwingen werde, und was auch Damian und Sergius meinen, das will mir nicht einleuchten; denn wenn man Sie gezwungen hat …“
„Also man glaubt mich wirklich zwingen zu können?“ fiel Regine bitter ein. „Wie will man das anfangen? Mich schlagen, einsperren, hungern lassen, mit dem Tode bedrohen? Das Alles ist ja so aberwitzig …“
„Ich weiß nicht,“ unterbrach Dora sie, „ich bin nur ganz voll Schrecken von all den bösen Dingen, die man wider Sie vorhat. Aber sehen Sie, ich fürchte, es hilft uns das Alles am Ende doch nichts, denn hernach sagen Sie: man hat mich mit Gewalt gezwungen, und dann …“
„Dann gilt es nichts,“ sagte Regine mit bitterem Spott. „Nein, dann gilt es nichts; wie klug Sie sind, Dora, noch ein wenig klüger als der ganze Kriegsrath, den man, scheint es, bei Ihnen drüben gehalten hat! Aber beruhigen Sie sich. Man wird mich nicht zwingen …“
„O, glauben Sie das nicht, und –“
„Weil man mich gar nicht zu zwingen brauchen wird. Ich will von der ganzen Erbschaftsgeschichte, von der ganzen Verwandtschaft nichts wissen, nichts hören, will Dortenbach niemals wiedersehen –“
Dora sah sie sehr überrascht an. Dann schüttelte sie mit einem schlauen Lächeln den Kopf.
„Glauben Sie mir nicht?“ fragte Regine.
„Nein,“ antwortete Dora mit Bestimmtheit. „Wer wird Ihnen das glauben? Kein Mensch! Auf so etwas verzichtet man nicht. Weshalb wären Sie denn sonst hierher gekommen? Und weshalb wollen Sie denn jetzt augenblicklich abreisen? Wenn Sie wirklich nichts verlangten, thäte Ihnen ja Niemand etwas hier, im Gegentheil –“
[355] „Aber wie würde ich es denn sonst sagen?“
„O, Sie sagen es – freilich – Sie sagen es, damit man Sie in Ruhe läßt, und weil Sergius Ihnen wohl schon verrathen hat, was man gegen Sie beabsichtigt – nun sagen Sie es, in der Angst davor –“
„Was wissen Sie von Sergius? Sie wissen, daß er –“
„Mein Gott, die Fräulein Diering hat es ja schon in der Frühe unserer Jungfer erzählt. Sergius ist ganz spät – in der Nacht – bei Ihnen gewesen. Und wozu kann er bei Ihnen gewesen sein? Er ist verliebt in Sie – das haben wir längst gemerkt. Und nun hat er gedacht, es wäre ein genialer Streich von ihm, wenn er allein zu Ihnen ginge, wenn er Ihnen verriethe, was beschlossen worden, und wenn er Sie ganz allein für sich einfinge – dann hätte er Dortenbach und Alles und wir nichts! Damian schäumte vor Wuth, als er es hörte. Es ist nur gut, daß Sie Sergius die Thür gewiesen haben; Sie haben so Andreas zu Ihrem Schutze herbeigeklingelt – nicht wahr, Sie haben es?“
„Ein Verrath an dem schönen Familiencomplot, welches die Ihrigen abgekartet haben, scheint es allerdings, Fräulein Dora, was Sergius zu mir führte,“ sagte Regine mit steigender Bitterkeit, „aber Sie kommen ja nun auch heimlich, sicherlich ohne der Ihrigen Wissen zu mir. Wozu? Wollen Sie für die Ramsfeld die Partie gleich machen?“
„O nein, o nein, daran habe ich ja mit keiner Silbe gedacht,“ entgegnete das junge Mädchen lebhaft; „aber sehen Sie, da nun Sergius einmal das ganze Vorhaben verrathen hatte, wurde mir immer beklommener; es wurde mir immer mehr zu Muthe, als ob nun Alles verloren sei, als ob Sie, so gewarnt, nun sich schon vorsehen würden, und dann, dann ist ja für uns Alles verloren, die ganze Erbschaft – wir haben dann nichts, gar nichts zu erwarten; Herr Benning hat es uns gesagt und Alles aus einander gesetzt, und dann bin ich arm, und es wird ein so schreckliches Unglück für mich sein – mein ganzes Lebensglück ist dahin, dahin für immer; ich weiß nicht, was wir dann beginnen, wo wir bleiben sollen …“
„Die Mutter und Sie?“
Dora war in Thränen ausgebrochen.
„Die Mutter und ich …“ schluchzte sie, „ja, auch die Mutter, aber dann auch …“
Dora schluchzte so heftig, daß sie nicht weiter reden konnte.
Regine legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Trösten Sie sich, Dora!“ sagte sie, ohne daß ihre Stimme durch den Anblick dieses Kummers sehr erweicht gewesen wäre. „Ich weiß, was Sie sagen wollen, was Ihnen schwer wird, über die Lippen zu bringen. Und Sie haben Recht, zu stocken, es mir nicht zu sagen. Sprechen Sie kein Wort weiter, Dora! Es wäre unnütz wie Ihr ganzer Kummer – wie all Ihre Sorge. Sie wollen meine Theilnahme erwecken, wollen mein Versprechen, daß ich, wenn ich die Erbin von Dortenbach geworden, Ihnen einen Ersatz für Ihre verlorenen Hoffnungen gewähre, genug, um Ihnen eine Verbindung mit Edwin Klingholt, in der Sie Ihr Lebensglück sehen, zu ermöglichen … Ist es nicht so? Ist es nicht das, weshalb Sie kamen?“
Dora nickte heftig mit dem Kopfe.
„Nun wohl, so können Sie getröstet von mir gehen. Ich habe Ihnen meine Antwort ja bereits gegeben. Sie glauben nicht an den Ernst meines Entschlusses. Das bedauere ich, es ändert aber nichts daran. Sie können alles, was ich Ihnen gesagt habe, auch den Ihrigen mittheilen und hinzufügen, daß ich alle directen Verhandlungen mit ihnen zu vermeiden wünsche. Sagen Sie ihnen das recht nachdrücklich – wollen Sie es thun? Sagen Sie ihnen, daß es derselben wirklich nicht bedarf – aber freilich, Sie werden ja nicht eingestehen wollen, daß Sie bei mir waren – nun, dann gehen Sie jetzt, Dora – ich will auch gehen …“
In diesem Augenblick klopfte es leise an die Thür, Regine öffnete und blickte in Andreas’ runzelvolles, bekümmertes Gesicht.
„Fräulein,“ sagte er, „ich habe mit dem Kutscher gesprochen …“
„Nun?“
„Ich habe ihm gesagt, daß Sie sogleich den Wagen verlangten, daß er Sie zur Eisenbahn zu fahren habe. Aber er will nicht.“
„Er will nicht?“
„Nein, er weigert sich. Sie bekämen weder Wagen noch Pferde. Der Herr von Sander und der Herr von Ramsfeld hätten es ihm schon gestern Abend verboten, für Sie einzuspannen. Er thäte es nun einmal nicht.“
Regine gerieth bei dieser Meldung in die äußerste Entrüstung. Also man wollte sie wirklich als eine Gefangene hier zurückhalten! Und diese Verwandten erlaubten sich das hier im Hause, wo sie doch nur die Gäste waren – es war zu empörend, zu frech – in hellem Zorn sagte sie:
„Dann will ich sehen, ob wirklich in diesem Hause kein andrer Herr mehr ist, als – Sergius oder Damian! Ich will sehen, ob ich bei meinem Oheim Schutz dawider finde oder nicht – ich bin arglos, vertrauensvoll in sein Haus gekommen, und er wird, er soll die Kraft haben, mir wenigstens den Ausgang zu bahnen.“
Damit verließ sie raschen zornigen Schrittes das Zimmer und eilte durch den Saal in die Wohnung des Barons. Sie hatte ja auch jetzt nichts mehr zu schonen. Seit Leonhard sie dem Oheim verrathen, seit beide den Adoptionsplan geschmiedet – was war da noch zu verhüllen? Sie trat in ihrer Erregung ohne anzuklopfen in das Zimmer des Barons.
Er saß in seinem Schlafrock bequem in den Lehnstuhl zurückgelehnt, sein Buch, „die Gänge nach Canossa“, auf den Knieen, das ihm aus der Hand gesunken zu sein schien.
„Ah,“ sagte er, bei Reginens raschem Eintritt nervös zusammenfahrend. „Sie erschrecken mich, Kind – welcher Sturm weht Sie herein?“
„Ich bedauere, daß ich Ihnen einen Sturm bringen muß,“ antwortete sie, „ich kann Sie leider damit nicht verschonen. Um es kurz zu machen: seit Ihnen der Doctor Klingholt so abscheulich wortbrüchig verrathen hat, wer ich bin, seit nun Jedermann hier im Hause dies weiß, seit man mich mit Gewalthandlungen bedroht – mit lächerlichen albernen Gewalthandlungen, kann ich länger – keinen Augenblick länger bleiben. Ich will fort, natürlich fort – auf der Stelle, um nie zurückzukehren; ich werde ewig bereuen, daß ich so thöricht war …“
„Aber um Gottes und aller Heiligen willen,“ rief der Baron schreckensbleich geworden und seine beiden zitternden Hände erhebend, „was sagen Sie mir da? Mich trifft der Schlag – und ich verstehe doch keine Silbe von alledem.“
„Sie verstehen doch, daß ich fort will, und nun will man mich nicht fortlassen; man will mich als eine Gefangene behandeln – und deshalb komme ich zu Ihnen – Sie werden, und wenn ich auch tausendmal Ihre Verwandte, Ihre Nichte bin, nicht vergessen, daß Sie mir vor Allem Schutz für meine persönliche Freiheit schuldig sind; so viel Energie und Kraft werden Sie besitzen, so viel ritterliche Ehrenhaftigkeit, um dafür zu sorgen, daß ich kommen und gehen darf, wohin ich will.“
Der alte Herr hatte sie angestarrt wie ein Gespenst; er mußte nach Athem ringen; er klammerte seine Hände krampfhaft um die Arme des Sessels.
„Dies ist mein Tod,“ sagte er mit hin- und herwankendem Kopf. „Dies ist mein Tod. Wenn ich nur etwas davon verstände! Wenn ich nur verstände, wie Sie meine Verwandte, meine Nichte sein können, und wer, was Sie dann forttreibt? Doctor Klingholt? Gewalthandlungen? Drohungen?“
„Nun ja, nun ja! Die Gewalthandlungen, die Drohungen würden mich nicht vertreiben; denn ich verachte sie, aber Sie müssen doch selbst begreifen, daß ich jetzt, wo Klingholt mich Ihnen verrathen und Sie zum Werkzeuge seiner Absichten gemacht hat –“
„Immer räthselhafter, immer räthselhafter!“ sagte mit seinem vor Rathlosigkeit schwankenden Kopfe der alte Herr. Er bot ein wahres Jammerbild dar, wie er so dasaß und, Schrecken in jeder seiner Mienen, sie anstarrte.
„Was kann Ihnen denn dabei rätselhaft sein?“ eiferte Regine weiter, ohne sich dadurch irgend erweichen zu lassen. „Leonhard Klingholt hat Ihnen gesagt, daß ich Ihre Nichte Regine Horstmar bin, er hat Ihnen aber auch gesagt, daß ich nichts wissen, nichts hören will weder von dieser Verwandtschaft mit Ihrem Hause, noch von Rechten, die sie mir geben könnte. Und nun hat er Sie bewogen –“
„Mein Kind, mein Kind!“ rief hier der alte Herr in heller Verzweiflung und schlug, als ob er sich dadurch eine Erleichterung verschaffen könnte, die Hände mehrmals auf die Knäufe seiner Sesselarme, [356] um sie dann wieder in tiefster Wehmuth zu falten; „mein Kind, dies überwältigt, dies überwältigt mich vollständig … Du also, Du bist meiner Schwester Sabine Kind – meiner armen Schwester Sabine – und Du bist zu mir gekommen, um mir dies zu sagen, sodaß ich den Tod vor Alteration und Schrecken davon habe … daß ich nicht weiß, wo aus noch ein bei allem Dem, womit Du auf mich einfährst –“
„Aber Sie wissen es ja doch nun einmal …“ unterbrach sie ihn mitleidig.
„Wissen? Ich wissen? Woher sollt’ ich? Deine Eltern – Gott weiß, daß ich meine Schwester Sabine lieb gehabt – aber Deine Eltern hatten solch einen Haß auf uns geworfen – ich habe es ja auch einmal versucht, sie zu versöhnen – vor langen Jahren – ich schrieb Deiner Mutter – damals, als ich nach meines älteren Bruders Tod der Erbe von Dortenbach geworden und mich vermählt hatte – ich meldete es ihr; ich schrieb ihr, daß ich den innigsten Wunsch hätte, ihr die Bruderhand zu reichen, aber sie antwortete darauf nicht; sie nicht – Dein Vater that es – er schrieb, das Tischtuch zwischen uns sei nun einmal zerschnitten – Alles, was aus Dortenbach komme, könne seiner Gattin nur bittere Empfindungen bereiten; er wünsche sie damit verschont zu sehen; gegenseitigen Beziehungen sei schon damals, als Deine Mutter ihr Vaterhaus verlassen, so gründlich ein Ende gemacht worden, daß ihre Wiederbelebung für alle Zukunft unmöglich sei. Das ist das Letzte gewesen, was ich von Deiner Mutter gehört habe. Und nun stehst Du da vor mir – ihr Kind, ihre Tochter – o mein Gott, ich habe das ja gefühlt, geahnt; Du bist mir so lieb geworden in wenig Tagen, so lieb, und es würde mir das Leben verlängern, wenn Du – aber Du kommst nur, um mir zu sagen, daß Du gehen willst; Du kommst wie ein Sturm, der einen morschen Baum niederwirft – Gott stehe mir bei!“
Der alte Herr hatte mit Mühe gesprochen; jetzt, wie in sich zusammensinkend, seufzte er tief, tief auf, und auf den Boden starrend, setzte er flüsternd hinzu:
„Ihr Kind – ihre Tochter – Sabinens Kind – aber auch so hart, so unbeugsam, so fest wie sie! Ihr Blut, Sabinens Blut!“
Reginens Zorn war geschwunden. Es war nicht allein der Anblick des klagenden alten Mannes, des Mannes, der ihr nächster Verwandter auf Erden war, – nein, was sie erweicht hatte, war auch die Einsicht, daß sie in vorschnellem Urtheile Leonhard ein großes Unrecht gethan. Es war klar, das Geheimniß, welches er ihr gelobt, hatte er nicht verrathen – er nicht! Ihr Oheim – daran konnte kein Zweifel sein – hatte nicht geahnt, wer sie war. Wer es den Andern verrathen haben konnte – das wußte der liebe Gott – Leonhard war unschuldig daran. Dies wenigstens hatte sie ihm abzubitten.
Der Brautschautag in Rußland. Alljährlich am zweiten Pfingstfeiertage wird in den größeren Städten im Innern des russischen Reichs, welche sich noch, wie Moskau, Charkow, Kiew, Kursk etc., ihre nationalen Eigenthümlichkeiten bewahrt haben, ein heiteres Fest gefeiert, an dem die Jugend beiderlei Geschlechts mit besonderem Vergnügen Theil nimmt, das Fest der Brautschau.
In einem der innerhalb oder doch nicht weit von der Stadt entfernt gelegenen öffentlichen Gärten versammeln sich um die sechste Nachmittagsstunde die Eltern mit ihren heirathsfähigen Töchtern. Vater und Mutter gehen, scheinbar harmlos, spazieren, die Töchter mit ihnen. Letztere sind im höchsten Staate, mit Schmucksachen jeder Art geradezu beladen, sodaß man schon aus diesen den Reichthum der Trägerinnen zu erkennen vermag. Hinter ihnen geht die sogenannte Vermittlerin einher, meistens eine ältere Verwandte des Hauses, oft auch eine nur für diesen Tag engagirte Person. Zahlreiche junge Männer finden sich gleichfalls im Garten ein, theils solche, welche das Ganze nur als einen lustigen Zeitvertreib betrachten, theils aber auch solche, welche ernste Absichten haben. Auch sie wandern scheinbar harmlos auf und ab, mustern dabei aber genau die jungen Damen. Gefällt ihnen eine besonders, so genügt ein Wink an die Vermittlerin – und sofort biegt diese, wie zufällig, in eine Seitenallee ein. Namen, Charakter, Vermögensverhältnisse etc. der Schönen werden nun sicher erkundet, wenn auch all dies von der dienstbeflissenen Vermittlerin nicht selten in allzu rosiges Licht gestellt werden mag. Sagt das Vernommene dem Heirathslustigen zu, so macht auch er Eröffnungen über seine Person, Verhältnisse und Absichten und sofort beginnt die Agentin ihr Geschäft als „ehrliche Maklerin“; sie ist sehr klug: vielleicht sichert ihr irgend ein Paragraph 5 im Heirathscontract gewisse Procente zu. Das Resultat ihrer Thätigkeit besteht dann gewöhnlich darin, daß der Freier für den kommenden Sonntag in eine Kirche bestellt wird, damit ihn Eltern und Tochter sehen können. Bei hübschen Mädchen bleibt es übrigens in der Regel nicht bei einem Freier, sondern es werden zumeist mehrere in die Kirche bestellt. Finden die strengen Augen der weiblichen Richter an dem Bewerber Wohlgefallen – man behauptet hier, je älter die Tochter, desto milder ihr Urtheil; aber dies ist wohl Verleumdung – so wird Papa gebeten, denselben zu Mittag einzuladen, worauf es dann der Gewandtheit des jungen Mannes überlassen bleibt, zum Ziel zu kommen.
Auch hierbei ist ihm wieder die Vermittlerin nothwendig; denn durch sie erfährt er die kleinen Charakterzüge seiner Wirthe, nach denen er sich bei seinem ersten Auftreten zu richten hat, so z. B. ob Herr Iwan Iwanowitsch nur ein nüchterner Geschäftsmann ist, oder ob er auch liebt lange zu Tisch zu sitzen und der Flasche zuzusprechen, ob die Gattin Praskowia Petrowna es gern hat, wenn man sie selbst noch als junge Frau betrachtet und ihr huldigt, oder ob sie in mütterlicher Uneigennützigkeit es vorzieht, wenn man sich nur mit ihrer Tochter beschäftigt, und ob Letztere, Sseraphima Iwanowna, heiter oder sentimental ist, ob sie Clavier und Kunst dem Geschäft und der Wirthschaft vorzieht.
Viele, oft recht glückliche Ehen werden alljährlich auf diese Weise geschlossen, weshalb denn die Vermittlerinnen sehr gesuchte Persönlichkeiten sind, auf deren Hülfe oftmals schon mehrere Monate vor dem Brautschautage abonnirt wird. Wenn ich übrigens anfangs sagte, daß diese Sitte hauptsächlich in den echtrussischen Städten noch besteht, so ist sie deshalb in den mehr kosmopolitischen Orten des Reichs durchaus noch nicht erloschen, wovon man sich, wenn man die Augen offen hat, alljährlich in Petersburg und Odessa überzeugen kann.
Petersburg, im Mai 1882. Leon Alexandrowitsch.
Die Photographie des Vogels mitten im Fluge ist dem französischen Physiologen Prof. Marey, wie er am 13. März der Pariser Akademie der Wissenschaften mittheilte, vollständig gelungen, und zwar so, daß jede einzelne Bewegung des Fluges im „Tausendstelsekundenbilde“ festgehalten wird. Wie wir in Nr. 25 der „Gartenlaube“ von 1878 mitgetheilt, war es damals dem Photographen Muybridge in San Francisco gelungen, durch Aufnahmen, deren jede nur 1/500 Secunde dauerte, die einzelnen Stellungen eines trabenden Pferdes darzustellen, wie es ihm auch geglückt, aus einem Taubenschwarme einzelne Tauben in vollkommen klarer Flügelstellung zu photographieren. Die Sache ist insofern von Interesse, als man darüber noch nicht völlig im Klaren ist, aus welchen einzelnen Bewegungen sich der Flug eines Vogels zusammensetzt; wenigstens bestanden hierüber zwischen den beiden besten Kennern des Problems, dem Prof. Marey und dem Dr. J. Bell Pettigrew, bisher erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Um dieselben zu beseitigen, genügt es aber nicht, eine einzelne Stellung festzuhalten, sondern man muß, wie Muybridge in Bezug auf die Bewegungen der Pferde gethan hat, eine ganze Reihe auf einander folgender Flügelstellungen im Fluge erhaschen und dabei zugleich ihre Zeitdauer feststellen können. Es gelang dies Marey nach mehreren vergeblichen Versuchen, und zwar mit Hülfe eines mit Revolvermechanismus versehenen Apparates, der die Form eines Jagdgewehres hat, und mit dem man nach dem Vogel zielt. Man erhält mittelst desselben in der Secunde zwölf Bilder, von denen jedes zu seiner Aufnahme nur 1/700 Secunde Zeit erfordert. Bei Anwendung von Bromsilbergelatineplatten reicht diese mit dem Chronographen gemessene Zeitdauer (1/700 Secunde) selbst für bedeckten Himmel aus; bei Sonnenschein genügt 1/1500 Secunde zur Aufnahme des Einzelbildes. Indem man eine Reihe dieser Flugbilder auf einer stroboskopischen Scheibe, die bekanntlich auch Wunderscheibe genannt wird, befestigt, kann man Vogelflug und Pferdetrab aus den einzelnen Momenten zusammensetzen und, wenn man die Scheibe langsam dreht, mit aller Gemächlichkeit im Spiegel studiren.
Angesichts dieser Revolver-Photographen ist offenbar nichts mehr auf der Welt vor dem Photographirtwerden sicher, weder der Gauner, der sich gegen seine Portraitirung sträubt, noch die verdächtige Persönlichkeit oder die weibliche Schönheit auf der Straße und im Ballsaal, auf die sich ein unschuldiges Opernglas richtet. Ja, schließlich sind nicht einmal die Grimassen eines Possenreißers oder die Finger eines Taschenspielers davor geschützt, dingfest gemacht zu werden, um hernach im Zootrop, jenem Spielzeug für Alt und Jung, weiter „arbeiten“ zu müssen.
Erklärung. Unsere vorige Nummer war redactionell längst abgeschlossen und die Auflage derselben im Druck nahezu vollendet, als uns die traurige Kunde von dem Brandunglück zuging, dem das Hauptgebäude der „Hygiene-Ausstellung in Berlin“ zum Opfer gefallen. Angesichts der damals bereits fertigen und zur Versendung an unsere Abonnenten bereit liegenden sehr großen Anzahl von Exemplaren jener Nummer war es uns leider unmöglich, dem darin enthaltenen Artikel zur Eröffnung der „Hygieneausstellung“ eine Schilderung des Brandunglückes selbst und eine Beleuchtung der Folgen hinzuzufügen, welche dasselbe unausbleiblich für die Ausstellung haben mußte. Heute, indem wir dies schreiben – mehrere Tage nach der Katastrophe – haben die Tageszeitungen unseren Lesern Nachrichten über beides längst vermittelt, und es erübrigt uns daher nur noch zu erklären, daß wir, falls die Ausstellung – laut Comitébeschluß – trotz des über sie hereingebrochenen Verhängnisses ihren Fortgang finden wird, nicht unterlassen werden, die angekündigte Artikelserie über die „Hygieneausstellung“ in der geplanten Weise zum Abdruck zu bringen.
- ↑ Eine Art Nadelbaum (pinus cembra).