Die Gartenlaube (1879)/Heft 8
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No. 8. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
Das Salzwasser habe es ihm angethan, erklärte Peter Seiling; er habe daher seinem Hause eine Lage gegeben, die es ihm ermögliche, vom Fenster aus das Meer zu betrachten.
Mochte es immerhin befremden, daß er nicht in das nahe Fischerdorf zog, wo er manche geeignetere Stätte zu seinem Heim gefunden hätte, als in der einsamen, felsigen Schluchtmündung, so hatte doch Niemand Ursache, seine Angaben zu bezweifeln oder ihn deshalb in’s Gerede zu bringen. Denn er war nicht nur ein friedlicher Nachbar, sondern auch ein Mann, der für Alles, was er hier und dort entnahm, sofort baar bezahlte. Seine Nachbarschaft kam also zunächst dem kaum sechshundert Schritte entfernten Dorfe zu statten. War er außerdem ein Sonderling, so hatte er in seiner unabhängigen Lage vollkommenes Recht dazu, und an seine seltsamen Schrullen, zu welchen in erster Reihe ein scharf ausgeprägter Hang zur Einsamkeit zählte, der zuweilen wiederum von einer gleichsam krankhaften Sucht nach lebhaftem Verkehr unterbrochen wurde, gewöhnte man sich bald genug. Man bewies seinen Launen sogar eine gewisse Achtung, indem Niemand ihn in seinem Winkel behelligte, dagegen hieß man ihn willkommen, so oft er sich den zum Garn-Legen oder -Einholen aussegelnden Fischern in seinem eigenen Boote anschloß. Letzteres geschah trotz seines vorgerückten Alters mit einer Sicherheit und Gewandtheit, wie sie nur in langjährigem schwerem Seedienst erworben sein konnten. Das Dorf betrat er nie; zwischen ihm und den Dorfleuten vermittelte seine Tochter, ein bildschönes, blühendes Mädchen von neunzehn oder zwanzig Jahren. Cordula hieß sie, allein genannt wurde sie allgemein die braune Kordel. Diesen Namen hatte man ihr beigelegt, als sie, noch ein Kind, zum ersten Mal im Dorfe erschien und alle Welt über die prachtvollen dunklen Locken erstaunte, welche das liebliche Antlitz umwallten, und über die klugen braunen Augen, die so wunderbar zutraulich schauten. Manches hatte sich seitdem wohl geändert: das braune Haar wogte nicht mehr in wilden Locken, sondern umschlang in starken Flechten das stolz getragene Haupt, und statt des früheren kindlichen Zutrauens sprach eine gewisse trotzige Zurückhaltung aus den großen Augen, doch die braune Kordel war sie geblieben. Von ihrer und ihres Vaters Vergangenheit wußte man nicht mehr, als man im Laufe von zehn oder elf Jahren an ihnen beobachtet hatte. Denn so lange war es her, daß an einem schönen Frühlingsabend Seiling mit seinem Kinde in dem Dorfe eintraf und nach mehrtägigem Verweilen im Dorfkruge sich auf längere Zeit bei einem Fischer einmiethete. Die braune Kordel war damals neun Jahre alt. Gut zu Fuß, begleitete sie ihren Vater auf seinen Streifereien in der Nachbarschaft, und dann dauerte es nicht lange, bis dieser sich dazu entschloß, in der malerisch bewaldeten Schlucht seinen Herd zu gründen. Die ersten wilden Herbststürme hatten kaum begonnen, die gestorbenen Blätter zu schütteln, als Vater und Tochter in ihr eigenes kleines Haus einzogen und sich, da Seiling mit seinen Mitteln nicht zu geizen brauchte, dort so behaglich einrichteten, daß es eigentlich schon darum kein Wunder war, wenn sie den Aufenthalt in der Schluchtmündung jedem anderen in der Welt vorzogen.
Elf Jahre waren also seitdem verstrichen, und wie Seiling von Anfang an nie die Hülfe eines Dienstboten oder Tagelöhners in Anspruch genommen hatte, wirthschafteten Vater und Tochter auch jetzt noch immer allein. Mancher verlangende Blick richtete sich wohl auf das schöne große Mädchen, allein in Kordel’s ganzem Wesen, wenn es auch nicht unfreundlich war, lag doch so viel kalte Zurückweisung, daß von allen jungen Männern – und mancher stattliche Sohn wohlhabender Fischersleute befand sich unter denselben – kein einziger wagte, ihr mit einem Antrage zu nahen.
Wie Vater und Tochter lebten, wie sie ihre Zeit hinbrachten, namentlich im Winter, wenn der Schnee in der Schlucht fußhoch lag, wußte Niemand, weil Niemand sich getraute, bei ihnen vorzusprechen. Nur natürlich war es unter solchen Umständen, daß die Neugier in Bezug auf Seiling’s Vergangenheit unbefriedigt geblieben war. Selbst Cordula würde übrigens, hätte man sie darüber befragt, nichts Befriedigendes zu sagen gewußt haben; was über ihre eigenen Erinnerungen hinauslag, der Tod ihrer Mutter, die Stätte ihrer Geburt, das schwebte ihr in traumhaften Bildern vor, wie sie solche aus den ausweichenden Antworten ihres Vaters sich zusammmengereimt hatte. – –
Der Herbst hatte wieder einmal die tiefgrünen Waldungen mit seinen grellen Farben phantastisch geschmückt. Reif fiel zuweilen und tödtete Blumen und Kräuter, und auf manchen sonnigen Morgen folgte ein rauher, regnerischer Nachmittag. Doch wenn andere Leute sich fröstelnd in ihre Wohnungen zurückzogen, trieb es Seiling und seine Tochter in’s Freie hinaus, nur daß Jedes seinen eigenen Weg wählte, wie um mit seinen Gedanken allein zu sein.
Ein recht mißgestimmter Himmel hing über der Insel und der wogenden See. Seit drei Tagen hatte es aus derselben Richtung geweht, und zuweilen in so heftigen Stößen, als hätte es Einem die Haare vom Kopf fegen wollen. Auch Regen führte der Wind zur Abwechselung mit sich, feinen, nässenden Regen, [126] sodaß Seiling sich bewogen gefunden hatte, bevor er in’s Freie hinaustrat, einen Rock von gefirnißtem Linnen über die blaue Düffeljacke zu ziehen und einen wasserdichten Südwester auf seinem Haupte zu befestigen. Weit war er darauf nicht gegangen; nur bis an’s Ende seiner Schlucht, wo er sich seitwärts auf dem zum Strande niederführenden Abhange hinter einem ihm theilweise Schutz gewährenden Felsblock niedersetzte. Seine Tochter hatte sich schon am Vormittage nach einer von dem Klippeneilande tief in’s Meer hineinreichenden bewaldeten Landzunge begeben, um gegen Abend erst heimzukehren. Er kannte den Zweck solcher Wanderungen, und mochte er denselben billigen oder nicht, er erhob wenigstens keine Einwendungen. Vielleicht hatte er sich daran gewöhnt, daß Kordel gern nach ihrem eigenen Kopfe handelte. Und besorgt brauchte er nicht um sie zu sein. War doch ihre Unerschrockenheit so bekannt, wie die Sicherheit, mit welcher sie in den finstersten Nächten ihren Weg durch Wald und Schluchten zu finden wußte.
Den alten Seiling nannten ihn die Leute, und doch zählte er kaum fünfzig Jahre. Schon damals, als er zum ersten Male im Dorfe auftauchte, hatte er den Eindruck eines betagten Mannes hervorgerufen. Sein Haar war nämlich ergraut, und ein eigenthümlich grübelnder Ernst lag auf dem verwitterten Antlitz; seine Augen blickten scheu, und wenn er unvermuthet von Jemand angeredet wurde, fuhr er erschrocken zusammen und schaute noch finsterer drein. Seitdem war sein Haar ganz weiß geworden, ebenso der Bart, welchen er wie eine von Ohr zu Ohr unter dem Kinn hinlaufende Binde trug. Seltsam contrastirte das kurz unter der Scheere gehaltene Haar zu dem knochigen Gesicht; anstatt demselben eine gewisse Würde zu verleihen, erschien es beinahe wie Unnatur. Heute bedeckte der Südwester dasselbe ganz, und wer nicht genau hinsah, hätte den Bart für eine frisch gefaltete Halskrause halten mögen. Zwischen seinen Zähnen hing eine kurze Thonpfeife. Gewohnheitsmäßig entlockte er derselben hin und wieder ein bläuliches Rauchwölkchen. Er schien kaum zu wissen, daß sie brannte, schien den Regen nicht zu fühlen, welcher sich, schwerem Nebel ähnlich, auf seine wasserdichte Bekleidung senkte und Tropfen auf Tropfen von der schlappen Krämpe des Hutes auf seinen Schooß niedersandte. Die von weißen Brauen beschatteten Augen hielt er auf den gegen dreißig Fuß tiefer gelegenen Strand gerichtet, wo die vom Seewinde herbeigetriebenen Wogen sich brausend überstürzten. Flüchtig ließ er seine Blicke auf der Linie des Horizonts herumschweifen, welche durch den feinen Regen näher gerückt und verschleiert wurde; flüchtig auch nach der in seinen Gesichtskreis tretenden Spitze der Landzunge hinüber, um alsbald wieder in die Brandung hinabzuschauen.
Wie eine graue Zinkplatte dehnte sich das in einander verschwommene Gewölk aus. Dieselbe Farbe trug das bewegte Meer, nur daß hier durch die Unebenheiten erzeugte Schatten, die weißen Schaumkämme und die Brandung Abwechselung schufen. Dabei polterte und brauste es, als hätte die See das alte Eiland gewaltsam unterwühlen und endlich ganz in ihre Tiefe hinabreißen wollen. Wie auf weißmähnigen Ungeheuern beritten, sauste der Seewind, die heute besonders heftig brausende Kühlte, landwärts. Eine Woge jagte die andere, um, vom Strande zurückprallend, alsbald einen wüthenden Kampf mit den nächsten Nachfolgerinnen zu beginnen. Zu dem Brausen und Poltern gesellte sich unheimliches Knirschen und Rasseln, wie wenn muthige Renner an ihren Halfterketten zerren oder auf die starre Kandare beißen. Denn rasselnd schleuderten die Wogen rundes Gestein und Muscheln nach dem Strande hinaus, um gleich darauf Alles wieder knirschend zurückrollen zu lassen. Mit Seetang spielten die auslaufenden Schaumberge, mit Baumrinde und schweren Holzstücken. Tändelnd warfen sie bald dieses, bald jenes bis fast an den Fuß des Uferabhanges, um es endlich nach manchem vergeblichen Versuche wieder herabzuholen und das Spiel von Neuem zu beginnen.
Früher, als an hellen Tagen, machten abendliche Schatten sich bemerklich, als Peter Seiling durch das Geräusch, mit welchem von der Dorfseite her sich Schritte auf den klappernden Strandkieseln näherten, aus seinem dumpfen Brüten aufgestört wurde. Die Personen selbst zu sehen, hinderte ihn der Felsblock; um so gespannter lauschte er auf etwaige Kundgebungen der Nahenden. Erschien es doch befremdend, daß bei dem unfreundlichen Wetter sich Jemand lustwandelnd so weit vom Dorfe entfernt haben sollte. Endlich ertönte eine Knabenstimme:
„In dieser Schlucht wohnt er,“ hieß es, „geht nur ’n paar Schritte hinauf, und ’s Haus liegt vor Euch,“ und laut klapperte das Steingerölle, indem der Bursche nach dem Dorfe zurücktrabte.
Unten blieb es ein Weilchen still. Dann unterschied Seiling, daß Jemand in den die Schlucht aufwärts führenden Pfad einbog. Es unterlag also keinem Zweifel, daß seine Einsamkeit eine Störung erfahren sollte. Was ihn bei diesem Gedanken bewegte, darüber vermochte er sich keine Rechenschaft abzulegen, aber wie um sich zu verbergen, zog er unwillkürlich die hinter dem Felsblock hervorragenden Füße nach sich. Doch die Blicke des Fremden hatten entweder zufällig auf dem Felsblocke geruht oder die Bewegung der Füße war nicht ohne Geräusch vor sich gegangen – genug, die Schritte verstummten. Gleich darauf vernahm Seiling, dessen Ohr sich an das Rauschen der Brandung gewöhnt hatte, wie Jemand sich langsam und schwerfällig über die Felstrümmer des Abhanges gleichsam hintastete. Aber auch jetzt noch verhielt er sich ruhig. Es lag für ihn kein Grund vor, einem Fremden, von dem er eine Störung erwartete, höflich zu begegnen.
Näher kamen die Schritte, und deutlich unterschied Seiling das Keuchen, mit welchem ein Mann sich auf dem hindernißreichen Wege gerade zu ihm emporarbeitete. Endlich trat der Ankömmling um den Felsblock herum, stand aber noch so niedrig, daß sein Kopf sich in gleicher Höhe mit dem Seiling’s befand. Statt indessen einen Gruß auszutauschen, blickten die beiden Männer sich gegenseitig in die Augen, als hätten sie vor Eröffnung eines Gespräches sich überzeugen wollen, daß ihre Sinne sie nicht täuschten. Auf Seiling schien der Anblick des Fremden förmlich erstarrend einzuwirken. Jeder Blutstropfen war aus seinem Antlitz zurückgewichen, seine Augen vergrößerten sich und quollen scheinbar aus ihren Höhlen, stierten aber so regungslos, wie das ihn umringende Gestein. Die Hand mit der Pfeife zitterte dagegen und verschüttete Asche und Funken, die sofort von dem Winde ergriffen und den Abhang hinauf entführt wurden. Der Mann, welcher diesen sichtlich vernichtenden Eindruck auf den kräftigen alten Strandbewohner ausübte, befand sich mit Seiling ungefähr in gleichem Alter, doch hatte sein Aeußeres weniger unter dem Einfluß der Jahre gelitten. Mehr war die Wirkung eines ausschweifenden Lebenswandels auf seinen Zügen ausgeprägt. Wie ein rothes Band zog es sich über beide Wangen und die Nase hin, während ein starker Knoten, den Kautabak im Munde verrathend, die eine Gesichtshälfte des Mannes in widerwärtiger Weise aufbauschte. Auch er war nach Seemannsart gekleidet, jedoch so unsauber, daß ein vorsichtiger Capitain gezögert haben würde, ihn, trotz der breiten kraftvollen Schultern und des Stiernackens, auf welchem ein kleines rundes, mit röthlichem Haar bedecktes Haupt ruhte, als Matrose mit sich an Bord zu nehmen. Zum Schutz gegen das Wetter hatte er einen verblichenen vielfach ausgebesserten Rock von blauem Düffel über eine nicht minder schadhafte Jacke von leichterem Stoffe gezogen. Ein blaues wollenes Hemd, am Halse nothdürftig durch ein schwarzes, unsauberes seidenes Tuch zusammengehalten, ließ die braune Brust bis dahin frei, wo die rußigen Beinkleider aus Segeltuch durch einen Riemen um die Hüften zusammengehalten wurden. Schwere schadhafte Stiefel und eine zerknitterte Wachstuchmütze vervollständigten den nicht gerade viel versprechenden Anzug. Was der Fremde sonst noch sein Eigenthum nannte, trug er in einem rothgeblümten Tuch in der linken Hand, während er sich mit der rechten auf einen schweren Stock stützte.
Wohl eine Minute weidete er sich, die grauen Augen verschmitzt zusammenkneifend, an Seiling’s Entsetzen. Dann stellte er den mit einer natürlichen Krücke versehenen Stock hinter sich, und sich auf denselben setzend, brach er in ein häßliches Lachen aus.
„Will ich doch hängen, wie der verdammteste Kabeljau, der jemals zum Dörren auf ungedrehte Weide gezogen wurde, wenn ich Dich nicht verändert finde,“ hob er darauf an. „Bei Gott, Peter Seiling, wären die Vortoplichter mir nicht besonders fein in den Kopf geschraubt worden, so hätte ich Dir zehnmal auf der Straße begegnen können, ohne Dich auszumachen.“
„Wollte Gott, Du hättest mich nicht erkannt!“ das war Alles, was Seiling hervorzubringen vermochte.
„Da calculire ich anders,“ entgegnete der Fremde sorglos, „ich nenn’s ’n Glück – freilich, sucht man Jemand viele Jahre [127] lang, so ist’s kein Wunder, wenn man ihn schließlich findet. Aber wahrhaftig, Mann, hätte ich Dein Fahrwasser nicht vor elf Jahren gekreuzt, sollt’s Erkennen mir schwer genug geworden sein. Achtzehn Jahre und drüber wären dann seit unserem letzten Zusammensein verstrichen; ’ne verdammt lange Zeit, selbst für gute Freunde.“
„Sind die hundert Thaler Dir nicht eingehändigt worden?“ fragte Seiling noch immer fassungslos.
„Gewiß habe ich die eingestrichen,“ lachte der Fremde, „und ich hätte ein verhenkert zähes Leben haben müssen, um damit elf Jahre auszukommen. Nebenbei, Mann: sieben Jahre hatte ich Dich gesucht, die ganzen Vereinigten Staaten nach Dir abgekreuzt, und als ich endlich auf den Gedanken gerieth, Du könntest in Deine Vaterstadt vor Anker gegangen sein, und Dich nach langem Spüren wirklich in Bremen entdeckte, da begingst Du den erbärmlichsten Schurkenstreich, indem Du unter Hinterlassung von lumpigen hundert Thalern Dich bei Nacht und Nebel davon machtest. Noch niederträchtiger aber war’s, daß Du zu Schiffe gingst und falsche Fährten zurückließest, die mich wieder nach Amerika führten. Volle elf Jahre habe ich darauf wieder nach Dir ausgelugt, und wäre ich nicht am Bord eines Ostindienfahrers mit ’nem Burschen aus dieser Gegend zusammengetroffen, der von einem wunderlichen alten Mann, Namens Peter Seiling, zu erzählen wußte, so möchte ich heute noch ohne Nachrichten von Dir sein.“ Er lachte höhnisch und fügte hinzu: „Als pfiffiger Bruder galtst Du immer, und ’n ehrliches Trick wars eben nie, welches Du mir spieltest. Anstatt nach Amerika zu segeln, legtest Du auf dieser Insel bei und hast hier gelebt wie ’n pensionirter Schiffsrheder, während ich selber mich wie ’n Hund durch die Welt schlug.“
Seiling erhob sich. Sein Muth schien zurückgekehrt zu sein, aber ein Muth der Verzweiflung; denn unsicher klang seine Stimme, indem er antwortete:
„Daß ich Dir in Bremen aus dem Wege ging, bevor das Kind Dich sah, war in der Ordnung, und ich dächte, durch die hundert Thaler hätte ich mir wohl Ansprüche auf Deine Dankbarkeit erworben. Darüber will ich indessen mit Dir nicht rechten. Du bist da, und, wie ich sehe, nicht in den besten Verhältnissen. Ich verdenke Dir’s nicht, daß Du in Deiner Noth Dich an mich wendest, und Du sollst nicht vergeblich gekommen sein. Ich besitze hier ein Haus, kann mich also nicht frei bewegen, wie einst in Bremen. Du bist es daher, der weichen muß. Und so will ich Dir dreihundert Thaler als Reisegeld mit auf den Weg geben, wenn Du dafür versprichst, mich als einen Todten zu betrachten und Dich fernerhin nicht mehr um mich zu kümmern.“
„Zum Teufel, Maat, sollte man nicht glauben, Du habest ’ne hohe Schule seit unserem letzten Beisammensein besucht – so vornehm sprichst Du,“ höhnte der Strolch, „und dreihundert Thaler meinst Du? Bei Gott, Mann, für einen Lump allerdings ein hohes Gebot, aber nicht für Jemand, der ein Recht hat, ebenso sorglos zu leben, wie Du. Was sind dreihundert Thaler? Verdammt! Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt, verdiene einen behaglichen Winkel, und einen solchen finde ich in Deinem Hause. So viel, wie wir Beide gebrauchen, Tabak und Grog eingerechnet, besitzest Du, und ich denke, es soll ’ne Erholung für uns sein, wenn wir des Abends auf der Ofenbank die alten Zeiten noch einmal abspinnen – verdammt, Seiling, lustige Zeiten waren’s eben, die vor ’n achtzehn, zwanzig Jahren.“
Wie helle Wuth kam es über Seiling. Doch ein Blick in das tückisch grinsende Antlitz des früheren Genossen belehrte ihn, daß mit Gewalt am wenigsten auszurichten sei. Mühsam kämpfte er seine Erregung nieder, gleichzeitig aber trat Besorgniß an die Stelle des flüchtig erwachten Trotzes. Es offenbarte sich dies in dem zitternden Tone seiner Stimme, indem er anhob:
„Klaas, ich errath’s; was Du eben sagtest, sollte dazu dienen, mich willfährig und mürbe zu machen. Das hättest Du Dir ersparen können. Auch ohne Deine versteckten Drohungen vergesse ich nicht, daß wir einst Maats gewesen. Was ich für Dich thun kann, soll geschehen. Ich will ein viertes Hundert – mehr habe ich nicht flüssig – zulegen, wenn Du heute Abend noch Dich auf Nimmerwiederkehr von hier entfernst. Denn in mein Haus aufnehmen kann ich Dich nicht. Es ist gerade groß genug für mich und die Kordel – und das Mädchen – Klaas – bedenke – nein, Klaas, wolltest Du mir als Knecht um’s Brod dienen, ich müßt’s zurückweisen. Und die Leute im Dorf, was sollten die von mir denken?“
Schaudernd brach er ab, als Klaas ein wildes Lachen ausstieß, den Stock hinter sich hervorholte und mit demselben in heftigem Schwunge einen etwas erhöht liegenden kleinen Stein traf, daß er wirbelnd bis in die Brandung hineinflog.
„Verdammt, Mann, an das Mädchen habe ich nicht gedacht,“ rief er aus, „es muß hübsch herangewachsen sein – laß mich sehen! – achtzehn, neunzehn Jahre wird’s alt sein. Aber darum mache Dir keine Sorge! Mich hindert das Mädchen nicht. Hübsche Gesichter sind mir ’ne Augenweide, und ’ne Lust soll’s sein, wenn die junge Kraft ein munteres Garn für mich abspinnt.[1] Und Dein Knecht, Peter Seiling? Bei Gott, Mann, ich habe lange genug als Knecht gelebt, um mir endlich ’mal ein Herrenleben zu wünschen. Die Leute im Dorfe hindern mich dabei am wenigsten. Bin nämlich im Kruge eingekehrt; ein halbes Dutzend Fischer saßen um den Tisch, und weil ich Dich zur Hand wußte, gab ich meinen letzten Schilling hin, um Eins mit ihnen zu trinken. Erzählte ihnen, daß ich ein Anverwandter von Dir sei und Du mir geschrieben habest, meine alten Tage bei Dir zu verleben –“
„Du willst mich ängstigen, Klaas,“ fiel Seiling entsetzt ein, „den Schurkenstreich hast Du nicht begangen.“
„Nimm es, wie Du willst!“ versetzte Klaus lachend, „aber geschehen ist’s. War indessen scharf genug, den einfältigen Häringsseelen anzuvertrauen, daß ich unter falscher Flagge segle, um meinen Verwandten auszugraben, und erst mit der Wahrheit und meinen Thalern ’rausrücken würde, nachdem ich gesehen, daß ich in meiner Armuth ihm nicht zu gering. Doch was stehen wir länger hier im Regen, während ’n paar Faden von uns ein rechtschaffenes Haus offen ist? Komm, komm, wollen sehen, wo und wie Du wohnst, und zugleich eine gute Ankerstelle für mich ausmachen. Hernach mögen wir bei ’nem heißen Trunk berathen, wie ich mich am schnellsten mit einer neuen Takelage versehe, um den Eseln im Dorfe keinen Grund zum Argwohn zu geben.“
„Mit keinem Fuße betrittst Du meine Schwelle,“ antwortete Seiling in seiner Verzweiflung drohend, „nein, nimmermehr! Ich will Dir helfen, aber nur, wenn Du Dich entfernst. Besinne Dich also nicht lange – in jedem Augenblicke kann das Mädchen eintreffen – es wäre ein Unglück –“
„Unsinn, Mann!“ fiel Klaas achselzuckend ein, „von woher sollte Unglück kommen? Ich und das Mädchen werden bald genug die besten Freunde sein, und geschieht's nicht, ist's meine Schuld am wenigsten. Doch mach ein Ende! Du in Deinem Regenrocke hältst’s schon aus. Mein Zeug dagegen ist nicht wasserdicht, und was Deine Schwelle betrifft, so will ich, um sie nicht zu betreten, mit beiden Füßen zugleich hinüberspringen.“
„Nicht in mein Haus!“ rief Seiling, und erhob seine Fäuste, als Klaas ihn ungeduldig unterbrach:
„Und dennoch in Dein Haus, Maat! Oder wär’s Dir lieber, ich miethete mich im Dorfe ein und spülte meinen Aerger im Branntwein runter? Das aber wär’ ’ne gefährliche Sache; denn der Branntwein macht den Menschen oft redseliger, als es ihm hinterher lieb ist –“
„Gehe, Klaas, gehe!“ stöhnte Seiling gebrochen, „ich will Dir helfen, wo immer – nur fort von hier –“
„Nicht fort von hier,“ entschied Klaas einfallend, „denn wo’s einem Menschen behagt, da soll er bleiben, und wir sind zu alte Bekannte, um nach kurzem Wiedersehen aus einander zu treiben, wie ’n Wallfischfahrer und eine abgespeckte Carcasse.[2] Also komm, Mann,“ und an Seiling vorbeitretend, kehrte er sich der Schlucht zu. Dieser hielt ihn wieder auf.
„Klaas, hast Du kein menschliches Gefühl?“ fragte er mit Unheil verkündender Ruhe, „willst Du mich zu einer That der Verzweiflung treiben?“
„Damit möchte dem Mädchen am wenigsten gedient sein,“ meinte Klaas wie beiläufig, „und deshalb wirst Du alle Narrheiten bleiben lassen. Es soll nicht lange dauern, und ich und die kleine Cordula hängen an einander wie Schiffsbinden und Kupferblech. Hab’ so meine eigene Art, mich anzufreunden; also komm, oder ich such’ mir den Weg allein.“
Wie spielend zog er ein abgenutztes Jagdmesser mit Perlmuttergriff unter seiner Jacke hervor, und es drehend, daß der [128] auf der einen Seite der Schale ziemlich ungeschickt eingekratzte Name sichtbar wurde, begann er nachlässig an der Krücke seines Wanderstabes zu schnitzen. Seiling aber hatte kaum einen Blick auf das Messer geworfen, als er, wie von Schwäche übermannt, sich an den Felsblock lehnte. In seinen Augen leuchtete es auf wie erwachende Wuth, um ebenso schnell wieder in einen Ausdruck gänzlicher Verzagtheit überzugehen. Klaas schabte und schnitzte unterdessen mit einem Eifer, als hätte er vor Einbruch der Nacht ein wichtiges Werk zu vollbringen.
So verrann eine Minute.
„Ich will Dich auf einige Tage beherbergen,“ entwand es sich endlich kaum vernehmbar den Lippen Seiling’s, „doch versprich mir –“
„Alles, was Du willst,“ fiel Klaas ein, und mit derselben Sorglosigkeit, mit welcher er bisher geschnitzt hatte, verbarg er das Messer wieder unter seiner Jacke, „’s ist wenigstens ein vernünftiges Wort. Aus den Tagen werden Wochen, Monate und Jahre, und es soll Dir nicht leid sein, mich in’s Schlepptau genommen zu haben.“
Seiling sandte einen verzweiflungsvollen Blick über das bewegte Meer. Ueber die Brandung schweiften Möven, und er beobachtete sie mit einem Ausdruck, als beneide er die sturmerprobten Vögel um ihre Freiheit. Dann schlug er die Richtung in die Schlucht ein. Klaas folgte ihm auf dem Fuße nach.
„Hattest immer einen guten Geschmack,“ spann dieser in heiterem Tone eine neue Unterhaltung an, „und wenn ich je in meinem Leben einen behaglichen Winkel sah, so ist’s diese Schlucht mit der Aussicht auf’s Salzwasser. Bei Gott, Maat, ’s geht nichts über ’n warmes Obdach, wenn’s draußen weht und regnet. Des Teufels will ich sein, wenn diese Kühlte nicht die Aequinoctialstürme einbläst.“
Er säumte, wie einer Erwiderung harrend. Da Seiling aber hartnäckig schwieg, nahm er seine Mittheilungen wieder auf. Vom Wetter ging er zu den Bäumen auf den nahen Abhängen über, und endlich zu dem sauberen Häuschen, an welchem er alle Vorzüge aufzählte, die dasselbe im Vergleich mit einer „schwimmenden Kraft“ auszeichneten. Auch der Herbstblumen und der Gemüse gedachte er, indem sie durch den Garten schritten, und als sie in das Haus eintraten, da seufzte er geräuschvoll auf, wie Jemand, der nach schwerer Arbeit das Ziel vieljähriger Wünsche erreichte.
Zwei Stunden Wegs war die braune Kordel Vormittags gewandert, zwei Stunden Wegs bald durch Wälder, bald über Felder, endlich auf der bekannten Landzunge am Fuße einer langgereckten Dünenreihe hin, dann wieder durch einen lichten Waldstreifen, und vor ihr lag ein kleines Fischerdorf. Bevor sie in dasselbe eintrat, kehrte sie sich der See zu, welche sie von ihrem etwas erhöhten Standpunkte aus bis zur heimatlichen Schlucht hin zu überblicken vermochte. Noch regnete es nicht, aber sie erkannte, daß sie in der Erwartung eines trockenen Tages sich bitter getäuscht hatte. Denn am Himmel braute und wirkte es bereits, und dicker quoll es in der Richtung auf, aus welcher der Wind die See’n landwärts zu trieb. Die Boote hatte man nach dem Strande hinauf gezogen; kein Mann befand sich draußen. Dagegen war die Brandung hier auf der geschützten Seite der Landzunge eine nur mäßige, wenigstens keine solche, daß ein tüchtiger Schiffer sich in seinem Boote nicht hätte hinauswagen können.
Dies Alles beobachtete Kordel mit ruhiger Ueberlegung. In ihren dunkeln Augen prägte sich sogar heimliche Freude aus, welche sie beim Anblick der wild bewegten Wasserfläche empfand. Unwillkürlich warf sie das ihr Haupt schützende Tuch zurück, und ihr jugendschönes Antlitz dem Wetter zukehrend, schien sie mit Wollust die kühle, feuchte Luft einzuathmen. Indem aber ein Windstoß das Tuch auch von ihren Schultern riß und an den flatternden Röcken zerrte, traten die Umrisse einer Gestalt zu Tage, welche man mit der einer Meergöttin hätte vergleichen mögen. Dazu die stolze Haltung, der ruhige Blick und der Zug von Trotz um den lieblichen Mund – es war in der That nicht zum Erstaunen, wenn die jungen Männer weit und breit um ein freundliches Wort von ihr gern ihre fünf Meilen gingen.
Nach einer Weile kehrte sie sich dem nächsten kleinen Garten zu, in welchem, eingenestelt zwischen mehreren Obstbäumen und umfangreichem Holundergebüsch, eine aus lehmgefülltem Fachwerke bestehende Hütte lag. Beim Anblicke des bescheidenen Heims milderte sich der Trotzeszug um ihre Lippen; ernster, sogar mitleidig schauten ihre Augen, indem sie die niedrige Lattenpforte öffnete und in den Garten eintrat. Vor dem einzigen Fenster der Hütte blieb sie stehen.
„Mutter Seger, da bin ich selber,“ rief sie durch die kleinen Scheiben hinein, und schnell schritt sie nach der Hausthür herum, deren obere abgesonderte Hälfte offen stand. Leicht öffnete sie den Fallriegel der unteren, und über einen engen Flur gelangte sie vor die Thür des Zimmers, in welches sie eben hineingerufen hatte.
„Ja, Mutter Seger, da bin ich selber,“ wiederholte sie eintretend, und zugleich stellte sie ihren Handkorb auf den nächsten Schemel, „aber ich fürchte, heute bleibt das Wetter mir nicht treu. Es zieht am Himmel herauf wie nichts Gutes, und wenn ich je in meinem Leben naßgeregnet bin, so geschieht’s heute noch.“
„Kordel!“ antwortete die alte Fischerfrau, deren weiße Haube eine Trauerschleife trug, – trotz Wind und Wetter –“ sie wollte sich von ihrem hölzernen Armstuhl erheben , als Kordel vor sie hintrat, ihre beiden Hände ergriff und sie hinderte.
„Bleibt sitzen, Mutter Seger!“ sprach sie freundlich; „aber es ist immerhin ein gutes Zeichen, daß Ihr Euern Füßen etwas zutraut. Es muß also doch besser gehen.“
„Nun ja, ein kleines Wenig,“ antwortete die Fischerfrau, und auf dem gramdurchfurchten, verwitterten Antlitze gelangte ein schmerzliches Lächeln zum Durchbruch. „Ganz gut wird es schwerlich jemals wieder werden, und mit meinem Arbeiten ist’s vorbei. So lange habe ich Nässe und Kälte ertragen, meldet sich aber die Gicht erst an, so hilft kein Doctor. Mein Mann warnte mich, so oft ich mit ihm hinaus wollte, und jetzt, da er hinüber ist, sehe ich ein, wie Recht er hatte. Ja, wenn der noch lebte!“
Kordel hatte einen Stuhl vor ihre alte Freundin hingezogen, und wiederum deren Hand ergreifend, sprach sie tröstlich: „Gewiß ist’s ein großes Unglück, daß der starb; aber verlassen und elend seid Ihr deshalb nicht. Auf böse Tage folgen bessere, und unsere Freundschaft ist eine zu alte, als daß Eine die Andere vergessen könnte. Dort in meinem Korbe ist Mancherlei, was Euch gut thun wird. Auf fremde Leute seid ihr ebenfalls nicht mehr allein angewiesen,“ fügte sie hinzu, als sie bemerkte, daß helle Thränen über die Wangen der alten Frau rannen. Dann schaute sie um sich, wie befürchtend, mit der letzten Andeutung zu viel gesagt zu haben.
„Nicht mehr allein,“ hieß es zurück, „und eine Gnade vom Himmel ist’s, daß mein Sohn heimkehrte. Leider kam er nicht früh genug, um seinem Vater die Augen zuzudrücken. Nur das Grab fand er, eine kranke Mutter und so viele Schulden, daß seine Ersparnisse nicht den vierten Theil deckten. Wird wohl eine Weile schaffen müssen, bevor er freier Herr unter seiner Eltern Dach ist: es hätte noch schlimmer werden können, denn Keiner wußte, wohin ihm ein Brief nachzuschicken gewesen wäre. Er meinte, eine Ahnung wäre über ihn gekommen, daß er in China Heuer auf einem heimwärts segelnden Schiffe nahm. Jetzt verdient er leidlich hier seines Vaters Brod und hantiert, daß es ihm Keiner gleich thut.“
„Ich weiß,“ versetzte Kordel hastig, „fuhr er mich doch oft genug hinüber. Heute wird’s indessen schwerlich gehen. Das Meer geberdet sich wie ein eigensinniges Kind und Hauben streifen sich die See’n über, noch weißer, als die Eurige.“
„Sorge nicht,“ entgegnete die alte Frau, und in ihren trüben blauen Augen gelangte etwas von der angestammten Vorliebe für das Element zum Ausdruck, welchem sie so lange ihren Erwerb verdankte.
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Der Tod hält gegenwärtig reiche Ernte unter den deutschen Dramatikern; schon vor Karl Gutzkow ist Emil Brachvogel dahingegangen, der Verfasser des „Narciß“, des erfolgreichsten Bühnenstückes der letzten Jahrzehnte.
Am Anfang der fünfziger Jahre machte ich die Bekanntschaft dieses Dichters, es war in Breslau beim alten Präsidenten; man denke dabei aber nicht an einen Oberpräsidenten oder Gerichtspräsidenten – es war ein „Präsident“, der damals mit den staatlichen Behörden auf sehr schlechtem Fuße stand, der Präsident einer wissenschaftlichen Akademie, der Leopoldinisch-karolinischen Gesellschaft der Naturforscher, der alte Nees von Esenbeck. Wie viele interessante Symposien wurden damals unter den Bäumen, in den Lauben seines botanischen Gartens gefeiert! Er hatte seinen philosophischen Cirkel, in welchem über die Lehren der Denker
etwas im Stil der Schelling’schen Naturphilosophie, doch mit freieren Perspectiven debattirt wurde, der langjährige Redacteur der „Schlesischen Zeitung“, Moecke, der spätere Redacteur der „Vossischen Zeitung“ und eifrige Jünger Schopenhauer’s, Otto Lindner, gehörten diesem Cirkel an. Außerdem gab es aber auch freie gesellschaftliche Abende, wo Philosophen, Dichter, christkatholische Prediger, Botaniker, interessante Frauen sich zusammenfanden; es waren damals die bureaux d’esprit von Breslau; doch der alte Nees, in seiner Jugend von Goethe hoch belobt, war wegen seiner christkatholischen Richtung damals mißliebig bei den Behörden, und wurde auch später seines Amtes entsetzt und aus seinem botanischen Garten vertrieben.
An einem dieser gesellschaftlichen Abende traf ich Brachvogel und seine schöne junge Frau; er war damals noch angehender [130] Poet und hatte zwei Stücke geschrieben, welche der alte Nees mir sehr rühmte: „Jean Favard oder die Liebe der Reichen“, ganz im Stil der französischen Effectdramatik gehalten, und die Tragödie: „Aham, der Arzt von Granada“, ein Werk von mehr poetischer Haltung, in welchem der Mangel an Vertrauen als die tragische Schuld des Helden hingestellt wird und zugleich seinen Untergang herbeiführt. Beide Stücke waren im Druck erschienen; doch der Autor war trotzdem so unberühmt geblieben, wie es die Verfasser blos gedruckter Stücke in Deutschland zu bleiben pflegen. Mit „Jean Favard“ hatte eine zweite Berliner Bühne einen Aufführungsversuch gemacht.
Auf den ersten Blick würde man den Dichter für einen jener „haarbuschigen Gesellen“ gehalten haben, von denen Shakespeare spricht; es lag etwas Verworrenes in seinem Aussehen und in seinem Wesen, wozu die wildwuchernde Frisur wesentlich beitrug; doch bei näherer Betrachtung des interessanten Gesichtes erkannte man das Sinnige und Phantasievolle, das sich in diesen Zügen ausprägte, besonders in der hohen Stirn und dem feingeschnittenen Mund, während die kleinen Augen allerdings nicht das genug Beherrschende hatten, welches sonst oft großen feurigen Dichteraugen eigen ist.
Ich las die beiden Stücke, die mir bisher unbekannt geblieben waren, mit großem Interesse und erkundigte mich dann nach den Lebensverhältnissen des Dichters; ich erfuhr, daß Brachvogel in Breslau am 29. April 1824 geboren sei, von einer gemüthskranken, schwermüthigen Mutter, und daß nach dem frühen Tode seines Vaters im Jahre 1830 seiner Erziehung die feste, liebende Hand gefehlt habe; er habe indeß die Realschule am Zwinger und das Magdaleneum besucht, sei dann bei einem Kupferstecher in die Lehre gegeben worden, habe sich aber von diesem Berufe wieder abgewendet und einen verunglückten Versuch als Schauspieler in Wien gemacht. Nach dieser letzteren Mittheilung konnte ich mir das „falsche Pathos“ erklären, das ihm bisweilen beim Gespräch im Leben eigen, aber auch in seinen Schriften zu finden war.
Längere Zeit vernahm ich dann wenig von ihm; ich rechnete ihn zu den Talenten, deren Entwickelung durch ungünstige Verhältnisse im Keim erstickt war; er bewegte sich in untergeordneten Lebensstellungen, wurde in Berlin Secretär des Kroll’schen Theaters und seit 1855 in dem Wolff’schen Telegraphenbureau beschäftigt.
Da kam plötzlich zu uns nach Schlesien die Kunde von einem großen Erfolg, den ein Stück Brachvogel’s am Berliner Hoftheater errungen hatte; von einem Erfolg, der nicht durch die Claque im Theater und in der Presse geschaffen, sondern mit Hülfe eines genialen Darstellers Dessoir errungen war und sich so nachhaltig erwies, daß das Stück bald die Runde über alle deutschen Bühnen machte und sich auf allen Repertoiren behauptete.
Dieses Stück führte den Titel „Narciß“, und der Verfasser erwachte eines Morgens als ein berühmter Mann. Herr von Hülsen wollte anfangs ein anderes Stück Brachvogel’s „Ali und Sarah“ zur Aufführung bringen, doch entschied er sich für den „Narciß“, nachdem der Regisseur Düringer und der Schauspieler Dessoir, für den die Hauptrolle bestimmt war, dieses Drama für die Bühne umgedichtet, manche Scene ganz beseitigt und manche Abschlüsse wirksamer gestaltet hatten.
Der „Narciß“ ist die glänzendste Blüthe des Brachvogel’schen Talentes, das vorher und nachher auch manche taube Blüthen gezeitigt hat. Wer kennt dieses Drama nicht? Die ersten Schauspieler haben die Titelrolle gespielt, Dessoir, der sie mit seltenem Erfolg creirte, Dawison, der besonders in der Schlußscene des vierten Actes ein hinreißendes Feuer entwickelte, Emil Devrient, Friedrich Haase; bald waren es die Liebhaber, bald die Charakterdarsteller, welche auf allen ihren Gastreisen das Paradepferd des „Narciß“ vorritten. Ein Bühnenstück von solchem Erfolg gehört in Deutschland zu den Seltenheiten.
Anfangs fragte man sich: wer ist Narciß – vielleicht jener schöne Jüngling der Mythe, der sein Bild in einer Quelle sah und sich in dasselbe verliebte? Haben wir es mit einer Tragödie der Selbstvergötterung zu thun? Doch nein, der Held war ein Franzose, der zur Zeit der Pompadour lebte, vor der großen Revolution, und das Stück lehnte sich an die Skizze Diderot’s: „Rameau’s Neffe“ an, welche Goethe übersetzt hat. In dieser Skizze ist bereits das ganze Charakterbild des Narciß, der Ton seiner philosophischen Sprechweise gegeben; ja auch der Pagode findet sich bereits darin, und die kleine hübsche Frau, welche der Neffe Rameau’s verloren hat.
An dieses Motiv knüpfte Brachvogel die eigene Erfindung an; die verlorene Frau wurde bei ihm zur Pompadour, Narciß in eine Hofintrigue verwickelt, welche zum Zweck hat, die allgewaltige Maitresse zu stürzen und zwar durch einen psychologischen Mord, durch eine Komödie, in welcher Narciß, der ehemalige Gatte, wie alle Andern wissen, nur er nicht, die Hauptrolle spielt. Er erkennt sein Weib und erwacht aus der rührenden Freude des Wiedersehens mit der schrecklichen Entdeckung, daß sein Weib die verabscheute Furie Frankreich’s ist; beide, schon längst dem Tode geweiht, brechen zusammen in Folge der gewaltigen Aufregung und sterben am Herzschlage.
Diese Scene ist die größte Effectscene unserer modernen Bühne; sie ist von Brachvogel mit hinreißender dramatischer Energie durchgeführt und hat eine grandiose Steigerung. Gleichwohl bewegt sie sich nicht auf den Höhen der reinen Tragik; ihre Voraussetzungen sind pathologischer Art; wir sehen Narciß schon im ersten Act bei dem Anfall eines innern Leidens zusammenbrechen, wir sehen die Pompadour als eine dem Tode geweihte Kranke; die letzte Scene ist nicht blos eine dramatische, sondern auch eine Lazarethkrisis, welche die beiden Patienten nicht überstehen.
Die meisten auf der Bühne uns vorgeführten Situationen des Stückes sind von großer Wirkung; Brachvogel hat sich, wie schon sein „Jean Favard“ beweist, an französischen Mustern gebildet, was theatralischen Effect betrifft; er hat eine phantasievolle Anschauung der Bühne und außerdem den dramatischen Nerv, besonders wo es starke Contraste in Scene zu setzen gilt.
Dagegen steht die Motivirung, die Intrigue sehr zurück; man pflegt ihr weniger nachzuspüren, wenn das, was auf der Bühne vor unseren Augen vorgeht, eine starke Wirkung hat. Sonst würden wir die Mischung deutscher übertriebener Empfindsamkeit mit der rücksichtslosesten Bosheit, welche die Maschinerie des Stückes in Bewegung setzt, um so störender empfinden. Oder ist es entfernt glaublich, daß ein Hofmann am Hofe Ludwig’s des Fünfzehnten, ein Herzog von Choiseul, blos deshalb der wüthendste Gegner der Pompadour wird, weil diese ihm erklärt, sie habe ihn nie geliebt, sie habe sich ihm ohne Liebe hingegeben?
Das mag auch der Grund sein, warum „Narciß“ nicht auf die französische Bühne gekommen ist; es war der Aufführung näher als irgend ein anderes deutsches Stück; denn ich sah im Jahre 1866 das Manuscript der Uebersetzung bereits auf dem Tische im Zimmer des damaligen Directors der kaiserlichen Theater, Camille Doucet, liegen. Der feine Akademiker fragte mich nach dem Erfolg des Stückes in Deutschland; ich gestand ein, daß er ein ebenso glänzender, wie nachhaltiger sei. Doucet zuckte mit den Achseln; für Frankreich müsse das Stück gänzlich umgearbeitet werden; in dieser Gestalt, mit dieser Motivirung sei es unmöglich.
In der That ist dieser Narciß kein Franzose; er ist ein Deutscher oder vielmehr – ein Schlesier. Bei der Holtei-Feier in Breslau schilderte Professor Weinhold den schlesischen Volkscharakter: „Der Schlesier ist ein Kaleidoskop; je nachdem er geschüttelt wird, bietet er dem Auge verschiedene Figuren: er liebt die Musik, hat Neigung für Phantastisches, aber er ist auch derb und realistisch bis zum Aeußersten, leichtsinnig und sinnlich, verfällt in weichliche Unentschlossenheit und läßt seine guten Anlagen in Trägheit oder dilettantischer Zerfahrenheit verkommen.“ Diese Mischung des Phantastischen und Derben, des Sentimentalen und Cynischen ist im „Narciß“ mit typischer Mustergültigkeit ausgeprägt; doch auch das ganze Dichternaturell Brachvogel’s trägt einige unverkennbare Züge des schlesischen Volkscharakters. Hierzu kommen die Eigenheiten des Autodidakten. Brachvogel hat wohl längere Zeit die Vorlesungen an der Breslauer Universität besucht, doch, wie wir gesehen, keine geregelte Vorbildung genossen. Glänzender Reichthum der Phantasie, Weichheit der Empfindung, lebensvolle Anschauung der Situationen gehen daher bei ihm Hand in Hand mit einer gewissen Zerflossenheit der Zeichnung, mit einer auf der Spitze stehenden Motivirung, vor Allem aber fehlt dem Dichterwein, den er uns credenzt, die feine Blume des classischen Geschmacks und der geläuterten Bildung; daher auch die ungleiche Höhe der einzelnen Schöpfungen und noch einem überraschend glücklichen Wurf eine Reihe von Fehlgriffen.
[131] Das nächste in Berlin zur Aufführung gekommene Stück Brachvogel’s, „Adalbert von Babenberg“ (1858), war ein Ritterschauspiel, wenigstens nach dem Eindruck, den es auf der Bühne machte. Es sollte die Tragödie der deutschen Treue sein. Der Held ist ein wenig politischer, aber vertrauensfester Deutscher, welcher ein Opfer der gegen ihn angezettelten Intriguen wird; doch diese Vertrauensseligkeit giebt ihm einen schwächlichen Zug; sein Untergang ist mehr traurig als tragisch. In „Mons de Caus“ (1859) that Brachvogel einen glücklicheren Griff, was die Wahl des Helden betrifft: der Erfinder der Dampfmaschine, der in’s Irrenhaus gesperrt wird, ist ein tragischer Held, in dessen Schicksal das Geschick der großen Entdecker und Erfinder und vieler anderer schöpferischer Geister sich spiegelt, doch hier zeigte Brachvogel ein so geringes Talent dramatischer Architektonik, daß er schon am Schlusse des zweiten Actes seinen Helden nach Bicêtre bringen läßt, was nach allen dramatischen Regeln erst am Schlusse des vierten Actes geschehen konnte. So gewann der Dichter Platz für eine zweite, eingeschachtelte Tragödie, deren Held der Marquis von Cinq-Mars ist, und das Interesse war unrettbar zersplittert; ein Charakter des Stückes indeß, der Spion Bradamonte, beweist das frische, schöpferische Talent des Dichters. Mit dem Schauspiel „Der Usurpator“, dessen Held, Cromwell, durchaus nicht im historisch großen Stil behandelt ist, nahm Brachvogel zunächst Abschied von der Bühne, da keines der nachgeborenen dramatischen Geschwister des „Narciß“ sich auf ihr zu behaupten vermochte; er wandte sich dem Roman zu, nicht ohne hin und wieder zu seiner alten Liebe zurückzukehren. So hatte er mit dem „Fräulein von Montpensier“ (1865) wieder einen größeren Bühnenerfolg. Das Stück hat die nervöse dramatische Unruhe, die flackernde Beleuchtung, die den Brachvogel’schen Productionen eigen ist, aber es hat wieder einige glänzende dramatische Scenen, markig ausgeführt und mit echtem Theaterinstinct geschaffen. Weniger gilt dies von den späteren Dramatisirungen einzelner Romanstoffe: „Die Harfenschule“ (1869) und „Hogarth“ (1870). In dem Schauspiel „Alte Schweden“ (1874) herrscht ein kräftiger Haudegenstil und altbrandenburgischer Patriotismus; es fand in Berlin gute Aufnahme, doch der Inhalt desselben war zu anekdotisch und zu unbedeutend.
Die Ungleichheit der errungenen Erfolge stimmte den Dichter selbst skeptisch in Bezug auf alles , was das Drama betrifft; er erklärte in seinen theatralischen Studien, es habe jede Kunst eine meist vollständig abgeschlossene Wissenschaft, welche ihr allein eigen sei, zur Grundlage; die Poesie allein, zumal die dramatische Poesie, entbehre derselben. Das ist nicht der Fall; es giebt Grundzüge dramatischer Architektonik, von denen auch ein bedeutendes Talent nur zu eigenem Schaden abweicht; dies war auch bei Brachvogel der Fall: der Mangel an künstlerischem Formgefühl, der sich auch in seinen „Gedichten“ in einer oft geradezu befremdenden Weise ausspricht, der Mangel an feinem Geschmack, an Sinn für künstlerische Gliederung war besonders im Drama seinem Talente hinderlich, das, von seltenstem Phantasiereichthum und von lebendigster theatralischer Anschauung, es im Grunde doch nur zu einem einzigen glücklichen Wurf und glänzenden Erfolg gebracht hat.
Weit freier konnte sich Brachvogel auf dem Gebiete des Romans bewegen, hier hörten die einschränkenden Hindernisse der knappen Technik des Dramas, hier die strengeren, von Brachvogel freilich in Abrede gestellten Ansprüche der grundlegenden Aesthetik auf. Hierzu kamen noch äußerliche Rücksichten: ein einziger Erfolg eines Dramatikers gewährt ihm keine Lebensstellung; spätere halbe Erfolge nöthigen ihn zu einem schweren Kampfe um seine Existenz. Brachvogel, der eine Zeitlang das Journal des Johanniterordens redigirt, doch im Jahre 1863 aus Meinungsverschiedenheiten die Redaction niedergelegt hatte, mußte sich jetzt als Schriftsteller allein durchschlagen; er vertauschte den Aufenthalt in Berlin auf längere Zeit mit demjenigen in kleineren Städten, wie Weißenfels und Görlitz. Der Roman eines namhaften Autors findet immer seinen Verleger und sein Publicum – und Brachvogel entwickelte auf dem Gebiete des Romans eine erstaunliche Fruchtbarkeit; er hat mehr als sechszehn drei- bis vierbändige Romane geschrieben, von denen einige bei der Leserwelt entschiedenes Glück machten. Allen gemeinsam ist ein großer Reichthum der Phantasie und eine Lebendigkeit der Schilderung, die nur hin und wieder, bei Ortsschilderungen, in’s äußerlich Topographische verläuft, das der Phantasie kein klares Bild giebt; aus diesem Reichthume geht die in Romanen beliebte Romantik der Situationen hervor, in denen Brachvogel bisweilen mit Glück auf den dramatischen Effect hinarbeitet; es ist Mark und Leben in vielen derselben und die Neigung zu philosophischer Weltbetrachtung, die ihm eigen ist, versetzt die Leser immer in eine Sphäre, die über den Bereich der gewöhnlichen Leihbibliothekenlectüre sich erhebt.
Freilich waren, abgesehen von einigen glänzenden Aperçus, seine philosophischen Ergüsse meist Ausflüsse einer unklaren Skepsis, wie denn auch den meisten seiner Romane eine feste, kunstgerecht sich aufgipfelnde Gliederung fehlt und ihre Architektonik viele blinde Fenster aufweist. Geniale, im Leben durch eigenes Verschulden scheiternde Künstlernaturen, die an den „Narciß“ anklingen, behandelte er mit Vorliebe: so den Musiker „Friedemann Bach“, den ältesten Sohn des Sebastian Bach, in einem Romane, der vielleicht sein bester geblieben ist, da er historische und kunsthistorische Portraits in Fülle enthält und eine phantastisch ausstaffirte Zigeunerromantik; hierher gehört auch das Bild des unglücklichen Dichters Schubart, des Gefangenen vom Hohenasperg, welches er uns in dem Romane „Schubart und seine Zeitgenossen“ entwirft; auch hier ist es ein unglückliches haltloses Genie, dessen selbstverschuldetes Mißgeschick uns vorgeführt wird.
Auf dem Gebiete des historischen Romans hat sich Brachvogel mehrmals zur Abart des biographischen verirrt, der uns gleichsam nur eine phantastisch aufgeputzte Lebensgeschichte giebt. Das gilt besonders von dem Romane „Ludwig der Vierzehnte oder die Komödie des Lebens“, in welchem das Leben des großen Königs von der Jugend bis zum höchsten Alter geschildert wird und fast alle Geliebten desselben der Reihe nach eine Rolle spielen, die Hauptrolle freilich jene Anna Stuart, deren Herz er nie gewonnen hat.
In dem Roman „Die Grafen Barfuß“ werden wir in Verhältnisse eingeführt, die sich unter den brandenburgisch-preußischen Regierungen abspielen; die Tragödie des Familienhasses hat hier zum Hintergrund die Geschichtschronik Preußens vom Großen Kurfürsten bis zu Friedrich dem Großen; in ähnlicher Weise werden wir in dem Roman „Glancarty“ durch eine ganze Periode der englischen Geschichte hindurchgeführt, die von der Regierung des zweiten Karl Stuart bis zur Thronbesteigung der Königin Anna nach dem Tode Wilhelm’s von Oranien reicht: eine ganze Bildergallerie historischer Berühmtheiten, Marlborough, Shaftesbury, der Herzog von Monmouth, Algernon Sidney, Essex, Newton, wird vor uns hingestellt, während der eigentliche Faden der Handlung durch die Intriguen des Herzogs von Sunderland gebildet wird; selbst in dem Roman „Hamlet“, in welchem die Parallele zwischen Hamlet und Lord Essex in einzelnen Situationen phantasievoll beleuchtet ist und auch geschichtliche Modelle für die anderen Shakespeare’schen Helden gesucht und gefunden werden, verläuft die Darstellung oft in eine Geschichtschronik des Zeitalters der „Elisabeth“; ja der Held des Romans, „der deutsche Michael“, ist fast an allen Hauptereignissen der deutschen Reformationszeit mit betheiligt.
Der Dichter hielt seinen Reichthum nicht genug zu Rathe; die Menge der Ereignisse und Persönlichkeiten läßt zuletzt viele dieser Romane mehr als romanhaft illustrirte Geschichtschroniken erscheinen, und das intime Interesse, welches die künstlerische Beschränkung auf einzelne hervorragende Persönlichkeiten vertheilt, geht darüber verloren. Gleichwohl enthalten alle diese Werke manche ergreifende Situationen und glänzende Schilderungen; einige derselben, wie „Beaumarchais“, in welchem nur die Vorliebe für das Crasse hier und dort bis zum Widrigen geht, haben mehr inneren Zusammenhalt. Besonders gilt dies von dem „Fliegenden Holländer“, der den holländischen Befreiungskrieg zum Hintergrund hat, in welchem aber die Mischung des Historischen und Freierfundenen eine glückliche ist und eine glänzende Erfindung und schwunghafte Darstellung selbst das phantastisch Grelle annehmbar macht.
Was auch die ästhetische Kritik an diesen allzu stoffreichen Romanen, deren Stil überdies ungleich ist und nicht das Gepräge eines geläuterten Geschmackes trägt, aussetzen mag: auf den Ruhm eines deutschen Alexander Dumas des Aelteren darf Brachvogel mit Recht Anspruch machen, was reiche Erfindung und effectvolle Darstellung betrifft; doch wie wenig entsprach der [132] äußere Dichterlohn den Reichthümern, die der Autor des „Monte-Christo“ sich zusammenschrieb und dann verschwendete!
Durch den Tod seiner Frau vereinsamt, schien Brachvogel der poetischen Production in letzter Zeit mehr zu entsagen: er schrieb in allzu prunkhaftem Romanstil mit byzantinischen Schnörkeln eine Sammlung von Biographien der neuesten Helden des deutschen Reiches; er begann eine Geschichte des Berliner Hoftheaters, und so unermüdlich thätig, starb er, mit der Feder in der Hand, eines Abends plötzlich in seinem Studirzimmer, ein treuer Arbeiter in dem erwählten Beruf.
Der Dichter des „Narciß“ wird der deutschen Nation unvergessen bleiben; er war eine liebenswürdige Natur, ein redlich strebender Schriftsteller, der, dem inneren Treiben, dem Schwung und der Phantasie seines schlesischen Naturells folgend, rastlos schuf, dem es stets auf die Leistung ankam und der nie nach flüchtigem Tagesruhm strebte.
Wir folgten kopfschüttelnd dem Manne, und nach einer Viertelstunde, da wir uns über Steine und durch Gestrüpp hindurchgearbeitet hatten, standen wir am Ufer des Susquehanna. Zur Linken befand sich die Bahn, welche auf der Strecke zwischen Susquehanna und Deposit die Wasserscheide der beiden Flüsse Susquehanna und Delaware durchbricht und deshalb mehrfach in Durchstichen hinführt. Der von Norden her kommende Susquehanna kreuzte unmittelbar vor einem solchen Durchstich die Bahn, umging in einem Bogen von etlichen hundert Schritten eine durch den Bahndurchstich von dem übrigen Berge losgetrennte Felspartie und berührte dann wieder auf eine Weile die Bahn, sodaß dieses auf der einen Seite von der Bahn und im übrigen von dem Flusse eingeschlossene Bergstück einer Insel glich. Auf dieses Stück Berg, Plymet genannt, hatte es der Agent abgesehen. Die Seite nach der Bahn zu war fast senkrecht abgeschnitten; oben, etwa dreißig Fuß über den Schienen, hielten in die Felswand eingelassene Eisenbügel die zahlreichen Telegraphendrähte; die von dem Fluß umspülte Seite war gleichfalls ringsum steil und unzugänglich, eine kleine, natürliche Felsenfestung.
Mr. Carpe betrachtete aufmerksam die Felsenburg; ein selbstzufriedenes Nicken des Kopfes deutete an, daß er gefunden, was er suche. Wir sollten auch nicht lange in Zweifel bleiben. Er kauerte sich zur Erde, löste die Reitstege von den Beinkleidern, steckte den Revolver in die Außentasche seines Rockes und knöpfte diesen, um durch nichts behindert zu werden, bis oben zu. Es war, als ob jedes Glied an dem Manne Leben bekommen habe; seine ganze Gestalt war Bewegung geworden – gleichwohl lag auf seinem Antlitz eine wirklich imponirende Ruhe.
William nickte mir bedeutungsvoll zu: „Jetzt geht’s los,“ und er hatte Recht.
Wir hatten uns in ein dichtes Gebüsch gekauert, ungesehen von allen Seiten, ich und William noch immer im Unklaren, was unser Führer beabsichtigte. Jetzt beugte er sich zu uns und sagte, auf den Plymet deutend, mit gedämpfter Stimme, sodaß das Rauschen des Flusses dieselbe fast übertönte:
„Da droben steckt er, meine Herren, den wir suchen, wie ich nach allen Andeutungen schließen muß. Und wir müssen ihn in seinem Neste aufsuchen.“
„Aber,“ wandte William ein, „ich verstehe noch gar nicht –“
„Ich weiß,“ nickte Mr. Carpe. „Der Bursche hat an der Wand vorn, wo die Telegraphendrähte vorüberlaufen, den, auf welchem Sie correspondiren, durchschnitten, fängt dort mit einem telegraphischen Apparat, den er sich vermuthlich in Narrowsburgh bei seinem früheren Principal gekauft hat, die Depeschen auf, ehe er sie weiter giebt, und hat auf diese Weise auch die erlogenen Depeschen an Ihre Filialen abgeschickt. Ein Helfershelfer, den er genau instruirt, hat das Geld abgeholt, und etwaige Bedenken hat er an Stelle Ihres Vaters durch seine telegraphischen Antworten zu beseitigen gewußt.“
Ich guckte überrascht an den steilen Wänden in die Höhe. „Aber wer mag da hinauf kommen?“
Wir hatten den Fels umgangen; an der Seite der Bahn war er glatt und steil; vom Flusse her erschien er gleichfalls nicht zu erklimmen.
„Hm!“ sagte William, als wir mit der Recognoscirung fertig waren, „da kann ja kein Mensch hinauf; das Ding ist ja unbesteiglich.“
„Um so sicherer ist er oben,“ meinte Mr. Carpe ohne weitere Erklärung. –
Wir machten endlich einer Stelle gegenüber Halt, welche die einzige, allerdings zweifelhafte Möglichkeit einer Ersteigung bot, da sonst die Wände glatt und schroff in die Höhe stiegen. Es war ein schmaler, flacher Riß, der sich in zweifacher Mannshöhe über dem Fluß etwas verbreiterte und von da aus ein leichteres Erklimmen ermöglichte.
„Da müssen wir hinauf,“ meinte der Agent, mit dem Finger auf die Spalte deutend, „sonst giebt es keinen Weg.“
„Wenn aber der Bursche oben ist und uns überrumpelt?“ meinte William.
„Das wird er bleiben lassen,“ versetzte Mr. Carpe; „das hieße sich selbst verrathen, und dann könnten wir einfach das Ding von einigen Dutzend Leuten umstellen lassen und ihn aushungern. Hinauf läßt er uns – das bezweifle ich nicht; freilich gilt es dann, ihn auch geschickt zu fassen. Denn wenn wir oben in eine Falle gerathen, entkommt keiner von uns, das ist ebenso sicher.“
„Schöne Aussicht!“ dachte ich. „Mitten in Amerika, auf einem unzugänglichen Felsen, von einem Strolche niedergeschossen zu werden und sich von Sonne, Mond und Sternen bescheinen lassen zu müssen, ohne daß sie daheim auch nur ahnen, wo man eigentlich geblieben!“
Allein zu Reflexionen war hier keine Zeit; ich wäre auch um keinen Preis der Welt zurückgeblieben.
Der über Felstrümmer hüpfende Fluß war bald durchwatet, und wir standen, bis über die Kniee im Wasser, vor der bezeichneten Spalte. Der Agent, als der Leichteste, wurde vorn weg geschoben; ihm folgte, von mir mit Händen und Schultern unterstützt, William, und zuletzt kletterte ich mühsam und schwerfällig nach, hier erst einsehend, wie gut es gewesen, daß ich als Knabe in meiner bergigen Heimath bei der mit eigensinniger Beharrlichkeit wiederholten Besteigung gerade der steilsten Felsen manches Paar Hosen zerrissen. Mehrmals kam mir der nicht kraftlose, aber ungeübte William, dem bald die Finger zu bluten begannen, so nahe auf den Hals gerutscht, daß ich nicht anders glaubte, als jetzt ginge es wieder hinab in die kühlen Fluthen des Susquehanna, der, da ich noch Indianergeschichten las, stets etwas sehr Anziehendes für mich gehabt. Endlich hatte der katzenartig gewandte Agent das Plateau erreicht und streckte eben den Kopf über den Rand des Felsens, als er ihn auch blitzschnell wieder zurückzog. Im nächsten Augenblick hatte er den Revolver aus der Tasche gezogen und hielt denselben vorsichtig lugend empor. Es war eine hübsche Situation. Ich klebte im oberen Rande des engsten Theiles der Felsenspalte, unfähig, die Hand nach meiner Waffe auszustrecken; in dem breiteren Theile suchte eben William ein wenig zu verschnaufen, und oben hing, jeden Augenblick in Gefahr, herabgeschleudert zu werden, der Detective. Einige bange Minuten vergingen – es blieb Alles ruhig. Da hob der Agent seine Mütze mit dem Lauf seines Revolvers über den Rand des Felsens; nichts regte sich; er schob vorsichtig den Kopf nach; dann hob er den Leib und die Füße – jetzt lag er oben. William, dem jener einen mitgenommenen Zügel zuwarf, half sich gleichfalls hinauf, und nach einigen Minuten standen wir alle drei tiefaufathmend hinter einem Felsblock.
„Ich habe ihn gesehen,“ flüsterte Mr. Carpe, „drüben nach der anderen Seite zu. Er wandte sich gerade um, doch scheint es, er hat mich nicht bemerkt.“
Es war auf dem zerklüfteten, felsigen, von einzelnen Bäumen bewachsenen Boden schlecht vorwärts zu kommen, und einige Revolverschüsse hätten, wenn wir gerade in einer Schlucht weiter [133] krochen, genügt, um uns für ewig von der Erde verschwinden zu lassen.
Wir hatten die Richtung nach der von der Bahn begrenzten Felswand eingeschlagen. Nach etwa einer Viertelstunde vorsichtigen Kriechens hatten wir sie erreicht. Ein Blick von hier aus nächster Nähe auf den Telegraphen überzeugte uns: der Agent hatte Recht gehabt. Einer der Drähte war durchschnitten und durch einen offenbar die Electricität nicht leitenden Körper verbunden, an den beiden Enden aber waren zwei Leitungsdrähte befestigt, welche, in einen Erdriß gelegt, von unten aus für ein unbewaffnetes Auge gar nicht bemerkbar waren. Es war klar: der Betrüger hatte jede Depesche aufgefangen und dann weiter befördert, dabei aber auch vermocht, selbst solche aufzugeben, beziehentlich jede andere aufzuhalten oder nach seinem Belieben zu ändern.
Jetzt galt es das gefährlichste Stück Arbeit, uns dem Orte zu nähern, wo der Betrüger seine Maschinen aufgestellt hatte. Das war sicher: trafen wir ihn bei der Arbeit, so war ein Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich. Die Drähte bildeten unsere Führer. Nach einigen Dutzend Schritten führten dieselben über eine emporragende Felsenkante und von da offenbar nach einem tiefer gelegenen Ort. Mr. Carpe hob den Finger. Jetzt hatten wir den Felsen erreicht; ein Zeichen – und mit einem Satz standen wir alle drei oben und blickten in eine höhlenartige Vertiefung, in welcher ein Mann in voller Aufmerksamkeit vor einem telegraphischen Apparate saß. Das Geräusch, welches wir machten, ließ ihn aufsehen. Ein wilder, erschrockener Blick traf uns; er fuhr auf und griff nach der Seite. Ein Schuß – und im nächsten Augenblick war er verschwunden. Ich fühlte im rechten Unterarm einen stechenden Schmerz, der mir freilich in der Aufregung des Augenblickes nicht auffiel, sich später aber als von der Wunde einer Revolverkugel herrührend erwies.
Mit dem Sprunge eines Tigers war der Detective an der Maschine, die sich im vollen Gang befand; ein Blick – und er sah beruhigt empor.
„Decken Sie den Ausgang, meine Herren!“ rief er uns eilig zu, „der Bursche darf nicht entkommen,“ und damit bog er sich wieder zu dem Telegraphenapparat nieder, um die gerade durchgehende Depesche zu lesen, während wir nach dem ersten Augenblick der Ueberraschung schnell entschlossen den Felsen über der Höhle erklommen, um nach dem Flüchtling zu schauen. Da bemerkten wir, daß die Vertiefung, in welcher der Apparat stand, nach hinten einen Ausgang habe. Durch diesen war der Mann verschwunden.
Wir eilten, den gespannten Revolver in der Hand, in verschiedenen Richtungen an den Rand des Felsens und spähten hinab; der Flüchtling konnte noch nicht entronnen sein. Er war nirgends zu sehen. Rathlos blickten wir einander an. Da kam – es waren nur wenige Minuten vergangen – Mr. Carpe uns nach, mit dem zufriedensten Lächeln auf seinen Zügen.
Wie er uns später mittheilte, hatte er gerade eine Depesche aufgefangen, die der Complice des Gesuchten an diesen richtete. Auf diese Weise konnte der des Telegraphirens kundige Polizeimann diesem eine unverfängliche Anweisung an das Bankgeschäft in Elmira zur Erhebung einer weiteren Summe ertheilen, wohl wissend, daß derselbe bei dieser Gelegenheit in festen Gewahrsam genommen wurde.
Jetzt galt es, den Entflohenen zu suchen. Daß er noch nicht von dem Felsen war, lag außer allem Zweifel; so mußten wir jeden Augenblick gewärtigen, von ihm, der nun gewarnt war, im Rücken angefallen zu werden. Der Scharfblick des Agenten half uns aber über alle Schwierigkeiten hinweg. Mit der Spürkraft eines Indianers verfolgte er die von dem Fliehenden in der Eile hinterlassenen Spuren an niedergetretenen Grashalmen, zerbröckelten Erdstückchen oder verbogenen Zweigen, und so gelangten wir an eine steile Platte, welche, über den Fluß vorspringend, von einem Baume gekrönt wurde.
Der Detective hatte sich mit außerordentlicher Vorsicht dem Baume genähert und mit den Augen an dessen Wurzeln geforscht, plötzlich sprang er auf und schoß mit der Schnelligkeit eines Hirsches an uns vorüber. Einen Augenblick standen wir starr, unfähig uns solches Gebahren zu erklären, im nächsten Moment aber sahen wir eine Strickleiter über den Rand des Felsens emporschnellen. Der Agent blieb stehen. Er hatte den die Leiter haltenden Drahtzug am Fuß des Baumstammes entdeckt und war, diesen fassend, zurückgelaufen, indem er durch die Schnelligkeit der Bewegung dem Ueberraschten keine Zeit ließ, die Leiter fest zu halten. Ein wilder Schrei ertönte zugleich von der unteren Seite des Felsens. Mr. Carpe warf die Leiter mit dem daran hängenden Drahte zu Boden und trat an den Rand der Felsenwand. „Du bist gefangen, Bursche; willst Du Dich ergeben?“
Ein gräulicher Fluch war die Antwort auf diese Frage.
„Fluche immer zu, mein Bursche! Das macht Appetit. Hast Du noch viel Brod und Wein in Deinem Keller?“
Drunten an der Felswand war es still.
„Hast Du Lust, Dich zu ergeben, oder sollen wir Dich aushungern?“
Ein neues Fluchen ertönte.
„Wirf Deine Waffen hinab!“ befahl der Polizeimann mit scharfer Stimme.
Alles still.
„Wirst Du gehorchen, Bursche? Ich mache Dich mürbe, so wahr ich Carpe heiße.“
Die Stimme des Agenten klang drohend, fast grausam.
Wir hatten uns auf den Boden geworfen und blickten, durch die Felsen gedeckt, nach dem Orte hin, wo der Mensch verborgen sein mußte. Ein Revolver wurde weit hinaus geschleudert und versank im Fluß.
„Den anderen auch, Bursche! Mit einem bist Du nicht zufrieden gewesen.“
Es folgte eine kurze Pause, dann flog ein zweiter Revolver dem ersten nach.
Mr. Carpe holte die Leiter und schlang das dicke Ende des Drahtes um den Baum.
„Nun komm’ herauf, aber schnell und ohne zu mucksen! Vorwärts!“
Die Leiter war hinabgesunken. Mr. Carpe bat uns, den mehrmals um den Baum geschlungenen Draht zu halten, und stellte sich seitwärts. Der Draht wurde straff. Langsam kam ein Mensch die Leiter herauf. William wendete sich mit Abscheu ab: es war der frühere Beamte seines Vaters.
Jetzt hatte der Mann die halbe Höhe des Leibes über den Felsen, da trat Mr. Carpe vor. „Warte ein wenig, Bursche! Ich will Dir helfen.“
Ein Blick hatte ihn gelehrt, daß der Mann ohne Waffen sei, aber er wollte sich seiner versichern. Im Nu hatte er ihm eine Schlinge über die Arme und um den Leib geworfen, und ehe der übrigens zum Widerstande nicht geneigte Mann es sich versah, ihn mit riesiger Kraft über den Rand des Felsens gehoben und seine beiden Hände gefesselt.
„So, mein Bursche, und nun sage uns auch gleich: „Wo hast Du das Geld?“
Der Gefangene sah seinen Ueberwinder fragend an.
„Keine Flausen!“ sagte dieser hart und hob die Linke in abwehrender Bewegung; „wo ist das Geld?“
Der Gefangene senkte das Haupt. „Da unten liegt es,“ sagte er mit erbitterter Resignation und deutete nach der eben überstiegenen Felsenwand.
Mr. Carpe nickte. „So komm!“ sagte er kurz, zog den Ueberwundenen bis an den nächsten Baum, wo er ihn gründlich fest band, und dann kam er zurück, um selbst die Strickleiter hinab zu steigen. Nach etlichen Minuten erschien er wieder.
„Ein famoses Nest!“ sagte er sarkastisch, „wo wir den Vogel sammt seiner Beute nie aufgefunden hätten, wenn der Bursche bei all seiner Verschmitztheit nicht eben doch noch recht dumm gewesen wäre. – Sehen Sie sich’s einmal an!“
William stieg hinab und kam bald wieder herauf; ich selbst bemerkte jetzt erst, da ich die Leiter hinunter wollte, das aus dem Aermel rinnende Blut. Gleichwohl betrachtete ich mir die Höhle, die so meisterhaft von der Natur angelegt war, daß man sie weder von unten, noch von oben bemerken konnte und der Gefangene sie nur durch einen Zufall oder durch brütende Vögel konnte entdeckt haben. Mr. Carpe hatte in derselben das betrügerisch erhobene Geld gefunden, mit Ausnahme einiger hundert Dollars, die der Bursche mit seinen Complicen getheilt oder verjubelt haben mochte.
„Höre, Bursche,“ sagte Mr. Carpe auf dem Heimweg zu dem Gefangenen, „Du bist bei all Deiner Schlechtigkeit doch noch [134] ein grüner Junge, weil Du das Geld in Deinem Felsennest da oben aufgehoben hast. Wahrscheinlich hast Du Deinen Kumpan darum prellen wollen und hast es deshalb so sorglich aufgehoben.“
In der That, hätte es der Betrüger an einer Bank deponirt gehabt, es hätte ihm kein Mensch nachweisen können, daß es ergaunertes Geld gewesen wäre.
Nach vierzehn Tagen schwamm ich wieder über den Atlantischen Ocean zurück nach der deutschen Heimath, mit der unvergänglichen Narbe im Arm als Andenken an jenes eben nur jenseit des Oceans mögliche Abenteuer, und etliche Wochen später erhielt ich von William einen Brief, in welchen er mir meldete, daß der Mann zu fünf Monaten – Mr. Burting hatte ja sein Geld wieder bekommen –, sein Gefährte zu zwei Monaten „wegen Theilnahme am Betrug“ verurtheilt worden.
Die große Industrie des neunzehnten Jahrhunderts hat bekanntlich auf britischem Boden ihren gipfelnden Höhepunkt erreicht. Nirgends flattert das schwarze Banner des Dampfes so sieges- und zukunftsfroh, nirgends fließen ungeheure Reichthümer in einer verhältnißmäßig so geringen Anzahl von Händen zusammen, nirgends ist die große Masse der Bevölkerung von allem Besitze, namentlich auch von allem Besitze an Grund und Boden, so gänzlich ausgeschlossen und auf die Arbeit ihrer nackten Hände allein angewiesen, wie dort. Gleich schroff gestaltete Eigenthumsverhältnisse sind im deutschen Reiche glücklicherweise für heute und für alle Zukunft unmöglich. In der That sucht denn auch die „Bibel der deutschen Socialdemokratie“, wie das große Werk von Marx nicht unzutreffend genannt worden ist, durchaus und durchweg nur an englischen Arbeiterverhältnissen die Nothwendigkeit des allgemeinen Umsturzes zu erweisen. Und trotz alledem herrscht in dem Inselreiche ein zwar nicht vollkommener, aber leidlicher Zustand socialen Friedens, wie wir ihn nur noch aus den Erinnerungen einer glücklicheren Vergangenheit kennen, trotz alledem vermag dort nicht ein armseliges Wochenblättchen der rothen Farbe Wurzel zu schlagen, während wir eben gesehen haben, wie selbst der eiserne Spaten des Socialistengesetzes kaum in Monaten den vaterländischen Boden von dem verderblichen Unkraut zu reinigen vermochte, das rings um ihn sein wucherndes Geflecht spann.
Es wäre verkehrt, die Wurzel dieses merkwürdigen Unterschiedes in den verschiedenen Charakteranlagen der beiden Nationen zu suchen. Die englischen Arbeiter und Unternehmer sind Menschen von Fleisch und Blut, wie die deutschen; eher könnte man sagen, daß drüben die harte Selbstsucht der Unternehmer, der selbstbewußte Trotz der Arbeiter weit ausgeprägter sei, als hüben. Es gab eine Zeit, in welcher das zermalmende Räderwerk der englischen Industrie unerhörte Menschenopfer verschlang und den ganzen Bau des Staates in seinen tiefsten Grundfesten erzittern ließ. Damals entstand, lange ehe von einer deutschen Socialdemokratie oder einer Pariser Commune gesprochen werden konnte, im Chartismus die vielleicht gefährlichste und unheilschwangerste Proletarierbewegung unserer Epoche. Wenn sie spurlos erlosch und das englische Volk seitdem alles weltumstürzlerische Prophetenthum sich tapfer vom Leibe hielt, so liegt die Ursache vielmehr darin, daß es nicht nur die glänzenden Licht-, sondern auch die düstern Schattenseiten der modernen Erwerbsordnung am ehesten erkannte, und, während es sich in jenem Lichte behaglich sonnte, doch zugleich Mühe anwenden mußte, auch diese Schatten mit dem milden Glanze moderner Gesittung zu erhellen. Namentlich eine humane Fabrikgesetzgebung, von welcher selbst Karl Marx in einem unbewachten Augenblicke gesteht, daß sie eine geistige und leibliche Wiedergeburt der englischen Arbeiter geschaffen habe, rottete gründlich alle revolutionären Keime aus. Und wenn diese Gesetzgebung selber aus dem furchtbaren Zwange einer immer weiter um sich greifenden Entartung der unteren Volksschichten heraus geboren wurde, so waren doch ihre eifrigsten und fleißigsten Geburtshelfer die englischen Fabrikinspectoren, deren Arbeiten und Kämpfe in den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhunderts wahrhaft heldenhafter Natur und unsterblichen Ruhmes sicher sind. Selbst hartgesottene Manchestermänner gestehen freimüthig, daß England der Energie und Thatkraft dieser Beamten die Rettung seiner nationalen Zukunft verdankt.
Seit einigen Jahren sind im preußischen Staate, seit einigen Wochen überall im deutschen Reiche Fabrikinspectoren eingeführt[WS 1]. Nicht jener grausame Stachel unerbittlicher Notwendigkeit, welcher in England zum wirksamsten Hebel der socialen Reform wurde, sondern die freiwillige Einsicht der nationalen Gesetzgebung hat diese segensreiche Neuerung geschaffen, welche als die vielleicht unscheinbarste, aber gewiß unumgänglichste Vorbedingung eines friedlichen Verlaufs unserer socialen Wirren bezeichnet werden darf. Technisch und wissenschaftlich gebildete Männer, genau vertraut mit allen einschlägigen Fragen, von jener Sachkenntniß, welche die sicherste Bürgschaft bietet ebenso für die notwendige Strenge, wie für ein billiges und gerechtes Urteil in den so mannigfach verwickelten Verhältnissen der modernen Industrie, sind die Fabrikinspectoren versöhnende Träger der Staatsgewalt in den wirthschaftlichen Kämpfen unserer Zeit, Wächter gesitteten Verkehrs aus dem nationalen Arbeitsmarkte, den Unternehmern eifrige und ernste Mahner an die hohen Pflichten des Besitzes, freundliche und wohlwollende Erzieher den Arbeitern, mit einem Worte, Bahnbrecher des socialen Friedens.
Ihr Wirkungskreis knüpft zunächst an drei Bestimmungen der Gewerbeordnung an. Sie sollen alle diejenigen gewerblichen Anlagen überwachen, welche Belästigungen und Gefahren für das umwohnende Publicum mit sich führen und deshalb an die Beobachtung gewisser Vorschriften gebunden sind. Sie sollen ferner für eine sorgfältige Achtung der Schranken sorgen, welche der Fabrikbeschäftigung von Kindern und jugendlichen Arbeitern gezogen sind. Sie sollen endlich darauf achten, daß die Unternehmer auf ihre Kosten alle Einrichtungen treffen, die sich für den Schutz von Gesundheit und Leben der Arbeiter als nothwendig erweisen. Die erste dieser Aufgabe schlägt mehr in das Gebiet der allgemeinen Sanitätspolizei, während die andern beiden schwierige und wichtige Probleme des Arbeiterrechts berühren. Im Allgemeinen ist den Fabrinspectoren dann weiter vorgeschrieben, zwischen den berechtigten Interessen der Unternehmer einerseits, der Arbeiter und des Publicums andererseits auf Grund ihrer amtliche Erfahrungen und technischen Kenntnisse in billiger Weise zu vermitteln. Ueberhaupt sollen sie allmählich die Stellung von Vertrauenspersonen sowohl für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer zu gewinnen, namentlich die Ersteren auch über die gesetzlichen Anforderungen hinaus zu Einrichtungen anzuregen suchen, welche die Lage der Letzteren verbessere.
Vor kaum einem halben Jahrzehnt wurden in dem größten deutsche Staate die ersten zwei oder drei dieser Beamten ohne allen Sang und Klang ernannt; aus so bescheidenen und unscheinbaren Keimen hat sich die Einrichtung in so kurzer Zeit unter der fachkundigen und sorgsamen Leitung des Geheimen Oberregierungsraths Lohmann im preußischen Handelsministerium zu einer blühenden und lebenskräftigen Macht entwickelt. Nicht ohne Ueberwindung erheblicher Schwierigkeiten. Denn als die preußischen Fabrikinspectoren zuerst auftauchten, wurden sie mit gleichem Mißtrauen und Widerwillen von Arbeitern wie Unternehmern empfangen; man betrachtete und behandelte sie demgemäß als unnütze Störenfriede, als Reichssteuerbeamte, welche neue Finanzquellen entdecken, als Spione, die Fabrikgeheimnisse auskundschaften wollten, mitunter sogar als Reiseprediger der Socialdemokratie, bestenfalls als unbequeme Baubeamte und Kesselrevisoren. Waren diese Mißverständnisse glücklich beseitigt, so galt es, ganz aus dem Groben und Vollen heraus zu arbeiten, denn daß die Gesetzgebung des Reichs den Arbeitern gewisse Rechte gewährt, den Unternehmern gewisse Pflichten auferlegt, war beiden Theilen meist gar nicht ober nur von dunkelm Hörensagen bekannt, in den ersten Jahresberichten der preußischen Fabrikinspectoren hallte die ewige Klage wieder, daß Alles fehle, was einen gesetzmäßigen Zustand kennzeichne.
Am meisten wurde an den gesetzlichen Einschränkungen der Kinderarbeit gefrevelt. Gerade gegen diesen Theil ihrer Pflichten, [135] dessen genaue Beobachtung verhindern soll, daß ein körperlich elendes und verkommenes, ein geistig und sittlich verwahrlostes Geschlecht heranwachse, zeigten die Unternehmer durchschnittlich eine traurige Gleichgültigkeit, hin und wieder selbst einen verabscheuenswerthen Widerstand. Noch schimpflichere Gesinnungen verriethen teilweise die Arbeiter selbst, indem sie freiwillig ihre unmündigen Kinder zur Fabrikarbeit heranschleppten; von dieser dunklen Folie hob sich dann freilich um so glänzender das Beispiel einzelner Fabrikanten ab, welche die Beschäftigung von Kindern ein- für allemal ablehnten, auch gegen den Willen der Eltern, weil sie die vollkommene Schulreife als notwendig für die Erziehung eines einsichtigen und kräftigen Arbeiterstandes betrachteten. Aber dieser braven Männer war nur eine geringe Zahl, im Allgemeinen bedurfte es angestrengter und mehrjähriger Bemühungen der Fabrikinspectoren, die gesetzlichen Bestimmungen über die Beschränkung der Kinderarbeit überall durchzuführen; wurde doch selbst ein so schändlicher Fall festgestellt, daß ein noch nicht sechszehnjähriger Knabe in einem Walzwerke nicht nur regelmäßig dem Tag- und Nachtwechsel der Schichten eingereiht, sondern auch, in geradezu ungeheuerlicher Ausbeutung seiner Arbeitskraft, zweiundzwanzigeinhalb Stunden lang ohne andere, als die üblichen Unterbrechungen beschäftigt worden war!
Die Kinderarbeit in Fabriken ist bekanntich ein vielumstrittenes Thema unserer social-politischen Discussion. Vom sittlichen Standpunkt aus erscheint das gänzliche Verbot der fabrikmäßigen Beschäftigung von Kindern in schulpflichtigem Alter als ein unverrückbares Ziel der deutschen Gesetzgebung; wir haben kein Recht, von kommenden Geschlechtern Anleihen zu erheben, die dermaleinst mit Wucherzinsen erstattet werden müssen. Hiergegen wird eingewandt, daß Kinderarbeit in diesen Zweigen der Fabrikindustrie aus technischen Gründen, in jenen aus Rücksicht auf die internationale Concurrenzfähigkeit vorläufig unentbehrlich sei, und für beide Gesichtspunkte lassen sich mancherlei Gründe anführen. Theoretisch kann sich der Streit noch endlos fortspinnen, ehe ein glückliches Ende abgesehen ist, praktisch ist die Frage schon jetzt einer gedeihlichen Lösung nahe gebracht, wenigstens in der preußischen Industrie, und zwar durch die Fabrikinspectoren. Seitdem sie streng den gesetzlichen Vorschriften gemäß darauf halten, daß Kinder nur am Tage, außerdem täglich nicht mehr als sechs Stunden und nur dann beschäftigt werden dürfen, wenn sie zugleich einen dreistündigen Schulunterricht genießen, nimmt die Kinderarbeit stetig ab und ist selbst in einem so hervorragenden Mittelpunkte der Großindnstrie wie Berlin, so gut wie ganz erloschen. Ihr Werth ist den Unternehmern durch die umständliche Beobachtung der gesetzliche Beschränkungen illusorisch gemacht; so wird in absehbarer Zeit ihr grundsätzliches Verbot ausgesprochen werben und damit ein Erfolg der sozialen Reformtätigkeit verzeichnet werden können, der moralisch noch glänzender sein würde, als materiell.
Auch die wichtige Bestimmung der Gewerbeordnung, welche die Unternehmer verpflichtet, alle nothwendigen Schutzvorkehrungen für Gesundheit und Leben ihrer Arbeiter zu treffen, war wesentlich nur ein papierner Wunsch geblieben. Nach dieser Richtung haben die preußischen Fabrikinspectoren gleichfalls von vorne an arbeiten müssen, und sie dürfen auf manche schöne Erfolge zurückblicken. Merkwürdiger Weise lassen es die Arbeiter in dieser Beziehung weit mehr an sich fehlen, als die Unternehmer; während diese den bezüglichen Anregungen und Rathschlägen der Fabrikinspectoren willig entgegenkommen, zeigen jene nur zu häufig einen sträflichen Leichtsinn, einen thörichten Muthwillen; es kommt vor, daß sie aus alberner Großthuerei die Schutzvorrichtungen zerstören, welche in ihrem Interesse von den Unternehmern mit schweren Kosten eingerichtet sind. Dagegen haben die Arbeiter gerechten Grund zur Beschwerde über die Unzulänglichkeit des bestehenden Haftpflichtgesetzes, das die Unternehmer zum Schadenersatz verpflichtet, wenn Unglücksfälle, welche sie oder ihre Beamten verschulden, die Erwerbsfähigkeit von Arbeitern schmälern oder ganz vernichten. Man kann nicht sagen, daß die Fabrikanten in diesem Ehrenpunkte ein besonders starkes Pflichtgefühl entwickeln; nur zu gern schlüpfen sie durch die beklagenswerten Lücken jenes Gesetzes. Gerade die neuesten Jahresberichte der preußischen Fabrikinspectoren beschäftigen sich eingehend mit der wichtigen Frage und liefern eine Fülle tatsächlichen Materials, welches bei der bevorstehenden, im Reichstage schon angeregten Revision des Haftpflichtgesetzes die nützlichste Verwendung finden wird.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, noch näher auf alles einzugehen, was jene Beamten über ihre nächstliegenden Aufgaben hinaus gewirkt, was sie an nützlichen und wohltätigen Einrichtungen, Consumvereinen, Badeanstalten, Bibliotheken, Anstalten zur Beaufsichtigung und Erziehung der Kinder während der Arbeitszeit der Eltern etc. befürwortet und durchgesetzt haben. Alles in Allem genommen, haben sie sich ihrer große Aufgabe voll gewachsen gezeigt. Sie haben in Hunderten von Fabriken den Gesetzen des Reiches Achtung verschafft; sie habe sich in schwieriger Lage als erfahrene und treue Freunde der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer bewährt; sie haben in ihre Jahresberichte eine lange Reihe durchdachter Anregungen und selbst reifer Vorschläge niedergelegt und in eben diesen Berichten Bilder unserer sozialen Zustände entrollt, wie sie in gleich lebensfrischer Farbe und Form sonst nicht vorhanden sind. Aber leider hat sich auch diesen werthvollen Arbeiten gegenüber, welche alljährlich gesammelt im Verlage von Fr. Kortkampf in Berlin erscheinen, die gebildete Lesewelt noch wesentlich theilnahmlos verhalten.
Und doch ist nichts lehrreicher, als sich in diese Bilder zu vertiefen, mit freudiger Genugthuung zu verfolgen, wie sie von Jahr zu Jahr, mag noch so viel zu thun übrig bleiben, doch immer heller und lichter werden. Der deutsche Unternehmerstand hat große und zahlreiche Vorzüge; viele seiner Glieder sind unsere fleißigsten und tüchtigsten Arbeiter. Aber was ihnen häufig in beklageswerthem Grade, wenn auch vielleicht nur in Folge der verhältnißmäßigen Jugend unserer Industrie, fehlt, ist ein Bewußtsein ihrer sozialen Pflichten; Goethe’s weises Wort:
„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen!“
ist ihnen vielfach noch ein Räthsel mit siebe Siegeln. Gerade den tüchtigsten, aus eigener Kraft emporgekommenen Unternehmern wird es oft am schwersten, gerechten Forderungen ihrer Arbeiter nachzukommen, an schwere Mühsale gewöhnt, nehmen sie von ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit den Maßstab, mit welchem sie gewöhnliche Menschen messen. Aber diesen Schattenseiten steht eine große Lichtseite gegenüber, für welche die Berichte der preußischen Fabrikinspectoren hundertfache Beweise enthalten; mögen die Unternehmer selten sein, welche von selbst mit freiem und weitem Blicke die große Pflicht erkennen, die jedes große Recht in sich schließt, nicht minder spärlich sind die gesäet, welche aus bösem und hartherzigem Willen sündigen. Bei der großen Masse handelt es sich allein um Gleichgültigkeit und Trägheit, und diese Fehler schwinden von Jahr zu Jahr; mehr und und mehr rühmen die preußischen Fabrikinspectoren die Bereitwilligkeit und das Entgegenkommen der weitaus meisten Unternehmer.
Auf der andern Seite läßt es der Arbeiterstand mindestens in gleichem Grade an sich fehlen. Kein Zweifel, daß seine grenzenlose Indolenz, sein unglaublicher Widerwille gegen alle, auch die segensreichsten Neuerungen, seine beispiellose Kurzsichtigkeit gegenüber seinen wichtigsten Interessen auch den freudigsten Eifer wohlwollender Arbeitgeber zu ermüden vermögen. Namentlich wo die Socialdemokratie über starken Anhang geboten hat oder gebietet, zeigen sich die Arbeiter als ein dumpfes, träges, jeder thatkräftigen Selbsthülfe unfähiges Geschlecht; gerade am Rhein, dem preußischen Hauptherde der communistischen Agitation, bekennen sie völlige Theilnahmlosigkeit gegen die eifrigsten Bestrebungen, welche die Fabrikinspectoren zu ihren Gunsten aufwenden. In anderen Gegenden verräth sich dann freilich auch wieder lebhafteres Interesse, aber zweifellos steht den deutschen Arbeitern eine lange und mühsame Prüfungszeit bevor, ehe sie die Folge eigener und fremder Sünden überwunden und die Reife erlangt haben, welche ihre englischen Cameraden auszeichnet.
So sind die Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern noch vielfach unerquicklicher Natur. Ueberwiegend durch ungelöste Dissonanzen wird das moderne Arbeitsverhältniß gekennzeichnet. Hier die schlummernden Kräfte zu erwecken und die erwachenden zu fröhlichem Einklange zu leiten, diese Aufgabe ist jetzt in die erfahrungsmäßig berufensten Hände gelegt, in die Hände von Fabrikinspectoren. Der gegenwärtige Moment, in welchem endlich alle deutschen Staaten sich der Wirksamkeit dieser Beamten erfreuen, ist vielleicht besonders geeignet, die allgemeine Aufmerksamkeit und Theilnahme ihrer ersprießlichen Thätigkeit zuzuwenden, und so mögen diese Zeilen, nicht ganz den Zweck verfehlen, welchen sie verfolgten. [136]
Grüß dich Gott, du Pracht in Trümmern,
Schlanke Säule, kühnes Thor!
Wie die schönen Glieder schimmern
Aus dem Winterkleid hervor!
Göttlich ist der Schönheit Reine –
Andacht faßt mich, da ich steh’
Vor dem Hochamt deiner Steine,
Allerheiligen im Schnee.
Sieghaft predigst du das Leben;
Deiner dunklen Tannen Zier
Und des Epheus grüne Reben
Sind dein offenes Brevier;
Mitten in Zerstörungsschauern,
Wintertod und Winterweh
Schmückt das Leben deine Mauern,
Allerheiligen im Schnee.
Und lebendig im Geranke
Ragst du selbst, verstörter Bau,
Denn der Schönheit Gottgedanke
Wohnt im Steine morsch und grau;
Ob gestürzt der Flammen Wüthen
Dich von deines Glanzes Höh’ –
Dein Gedächtniß wird er hüten,
Allerheiligen im Schnee.
Nicht mit frommen Litaneien
Naht dir mehr der Beter Schaar,
Doch dem Geist, dem göttlich freien,
Bist du jetzo noch Altar;
Und entbehrst du Glockentöne,
Orgelklang und Kyrie –
Heilig macht dich deine Schöne,
Allerheiligen im Schnee.
Die Stirn der Geheimräthin zog sich drohend über den Brauen in Falten: ein häßlicher Verdacht war in ihr erweckt worden.
„Verzeihen Sie, daß ich hier störend eintrete!“ sagte sie, „aber da der Fuß einer Frau stets gebannt sein wird, wo immer sie nur das Wort Herz oder Liebe aussprechen hört, so brauche ich mich wohl nicht zu entschuldigen, wenn ich von dieser kleinen Schwäche meines Geschlechtes keine Ausnahme mache.“
Doris empfand einen Schauer. Im Nu jedoch war sie wieder gefaßt. In solchen Momenten übertrifft die Geistesgegenwart der Frauen die der Männer.
„Allerdings haben Sie recht gehört, verehrte Freundin; ich sprach dem Herrn Präsidenten –“ mit diesen Worten faßte sie Lideman scharf in’s Auge, damit ihr keine seiner Mienen, seiner Bewegungen entgehen sollte – „ich sprach ihm von meiner lieben Else.“
„Von Elschen?“ rief Frau von Wandelt.
Alle Schatten des Argwohns waren mit einem Male der sonnenhellen Freude gewichen. Also das sollte der „Fels in den brandenden Wogen“ bedeuten, und was er „in seinem Herzen so tief fühlte“!
„Ich dachte schon – verzeihen Sie! – aber da es Else bedeutet –“
Dann faßte die glückliche Mutter im Jubel ihres Herzens Doris am Arm und zog sie mit sich fort. Lideman hätte der Geheimräthin einen Dolch in’s Herz stoßen mögen.
Wenn er geahnt hätte, daß Doris schon nach ein paar Minuten wieder allein war! Die Geheimräthin hatte sie mit dem Bemerken verlassen, daß sie nur schnell ihren Mann suchen müsse, denn jetzt müsse das Eisen geschmiedet werden, und Doris hätte nun unaufgehalten den Garten verlassen können; sie that es nicht. Das Wort, das Lideman zu dem jungen Mann gesprochen hatte – es kam ihr nicht aus dem Sinn; es war der Bann, der sie hier fest hielt. „Hat ein Weib, wie es auch in seinem Herzen widerstreben möge, nur einmal den vibrirenden Ton der Leidenschaft gehört, so kann es sich des Mannes nicht mehr erwehren – nie, nie wieder!“
Sie war ja in dieser Lage – hatte er wirklich Recht, und war sie unrettbar verloren? Sie sah ihn wenigstens immer neben sich, als sie durch die stillen, dunklen Gänge des Parkes zum Pavillon hin wandelte. Er ging mit ihr in allen ihren Sinnen. Es war ihr, als würde ihr jetzt erst klar, daß er ein schöner Mann war – daß Nerv zu spüren war in Allem, was er that, was er sprach, in jedem seiner Schritte. Und wenn sich die dunklen Augen mit ihrem bläulichen fast geheimnißvollen Weiß schlossen, wenn aus diesen vollen Lippen ein halbgebrochener Laut, ein Hauch auf sie herüberglitt, wie die Botschaft eines höheren Glückes, einer tieferen Beseligung, als sie bis jetzt an sich erfahren – –
Mit einer jähen Bewegung fuhr sie auf. Aber nicht etwa, weil sie sich diesen Eindrücken entziehen wollte, die ihre Willens- und Denkkraft vollends zu betäuben drohten: ein Vogel hatte sie geschreckt, der sich im dichten Laub schon gebettet hatte und nun, aufgescheucht durch die Anwesenheit eines anderen Wesens, aus seinem Neste davonflatterte. So hätte auch sie aufschrecken müssen – aus diesem Hinträumen, das sich über sie breitete. Aber sie gab sich demselben ohne Widerstand hin. So eigen umfächelte sie der Lufthauch – so mag ihn der Träumer empfinden, den die Flügel des Vampyrs umfächeln; die Wellen rings um den Pavillon, ein leises Aufrauschen, ein Flüstern, der Duft, der von den Jasminblüthen herüber wehte, und jetzt die Töne eines Saiteninstrumentes, nur vereinzelte Töne, wie halb erstickte Seufzer, wie fieberndes Liebesathmen – auf ihren Lippen schwebte ein bebender Laut – ein Name – –
Sie hörte nicht die Schritte, die ihr nahten; erst als eine Gestalt vor dem Pavillon ihr entgegen trat, eine männliche Gestalt, da hob Doris die traumschweren Lider –
„Erich, Erich!“
Es war ein Schrei, ein aus tiefster Brust kommender Schrei, an dem Angst und Freude gleichen Antheil hatten, in welchem reuiges Schuldgefühl und Dank den Weg zu dem Ohre und dem Herzen des Angerufenen suchten. Dann trat ein Moment der Todtenstille ein. Doris glaubte wirklich eine Traumerscheinung vor sich zu haben, die wie ein guter Engel an einem Scheidewege ihr entgegengekommen sei. Dann trat sie einige Schritte weiter zu ihm hin und suchte seine Hand zu fassen. Die Hand entzog sich ihr.
„Komm’, Doris. Dieser Pavillon am Wasser – Du könntest Dich hier erkälten. Es ist nicht gut gethan, wenn junge Frauen sich von der übrigen Gesellschaft absondern.“ Er reichte ihr seinen Arm, um sie zur Gesellschaft zu führen.
„Wie kommst Du aber hierher?“ stammelte sie. „Ich hatte Dich nicht so früh zurück erwartet.“
„Das glaube ich – sonst würdest Du wohl auch der Einladung nicht gefolgt sein.“
„Die Geheimräthin wollte es durchaus! Ich konnte mich ihrer nicht erwehren. Ich trage eigentlich die geringste Schuld daran – frage sie selbst, und sie wird es Dir bestätigen. Auch Regina meinte – –“ sie blickte zögernd zu ihm auf.
Erich sprach kein Wort. Lautlos gingen Beide durch die Gänge des Gartens dahin; der Sand knisterte unter ihren Füßen.
„Hat sich denn etwas Außerordentliches ereignet, daß Du so früh zurückkehrst? Geht es Dich persönlich an, Erich? O sprich doch! Eine namenlose Angst preßt mir das Herz –“
„Mir ist sehr wohl. Nur als ich nach Hause kam und Dich überraschen wollte – ich hatte Dir deswegen nicht telegraphirt – und das Haus dann leer fand und das Bettchen Liddy’s unbewacht von dem Auge der Mutter – da – da –“
[137]
[138] Doris fühlte, wie die Bewegung ihm den Athem versetzte.
„Da wurde mir denn gesagt, daß Du ein schönes Kleid angezogen habest und Dich hier vergnügtest.“
„Es ist kein Vergnügen, Erich.“ Doris stöhnte diese Worte mehr, als sie dieselben sprach.
„Wir kommen gerade recht; man setzt sich eben zu Tische.“
„Wir wollen nicht fort, Erich?“
„Nein, wir bleiben. Ich sagte Dir doch, daß ich mich auch amüsiren will.“
„Allein ich will nicht. Ich bitte Dich, Erich.“
Sie wollte sich von seinem Arme losmachen. Er aber preßte diesen an sich, und ebenso zwingend klang sein Wort. „Du bleibst!“
So gingen sie nach dem Landhause; der Weg dahin war dunkel. Wenn Erich nicht seine Schritte angehalten hätte, würde Doris nicht bemerkt haben, daß sich bei ihrem Nahen eine männliche Gestalt aus dem Wege in das Gebüsch drängte. Ihre Nerven waren derart afficirt, daß sie das Fallen eines Blattes erschreckt haben würde. Ihre Blicke gingen unwillkürlich nach der Gestalt. Sie hatte den Mann nie gesehen; wäre er bei der Zahl der Gäste gewesen, würde sie ihn gekannt haben. Aber ihrem Manne schien er bekannt zu sein, denn er trat auf den Unbekannten zu; derselbe legte wie salutirend die Hand an die Mütze. Erich sagte nichts, machte nur eine Geberde des Einverständnisses und setzte dann seinen Weg mit Doris fort.
Sämmtliche Gäste waren im Landhause versammelt. Es war unter ihnen jene lärmende, unbehagliche Stimmung verbreitet, die jedem Tischplacement vorangeht. Die Geheimräthin warf wüthende Blicke auf ihre Tochter, daß diese Herrn von Rechting sich zum Tischnachbar erkoren und damit die Absichten der Mutter durchkreuzt hatte, die natürlich den Platz an der Seiten des Präsidenten für sie bestimmt hatte, und dazu machte der Geheimrath ihr noch Vorwürfe, daß sie ihn vor zwei eng an einander gerückte Tischbeine gesetzt hatte. Rechting zog einen Augenblick eine finstere Stirn, als er sah, wie Lideman seiner Frau den Arm bieten wollte. Er schien zufrieden, als er sah, wie diese mit einer geschickten Bewegung diese Absicht vereitelte und am Arme des jungen Lichtner zu Tische ging. Aber zuletzt ist Essen und Trinken der beste Regulator für die Stimmung.
Während die Dienerschaft des Präsidenten die Platten unter den Gästen umherreichte, flüsterte die Geheimräthin ihrem Manne immer etwas in’s Ohr. Dann, als er gar nicht darauf einzugehen Lust zeigte, stieß sie ihn an – erst leise, dann stärker.
„Ja doch, mein Engelchen, ich will ja, wie Du willst – aber warte nur bis zum Sect! Das heißt, ich hoffe doch, daß es Sect geben wird. Siehst Du, da ist er schon.“
Man brachte die Flaschen in Eiskübeln. Die Diener gingen mit den Flaschen um den Tisch und gossen ein. Der Geheimrath trank einige Gläser bis auf die Nagelprobe aus.
„Menagire Dich,“ flüsterte seine Gattin ihm zu, „denn sonst kannst Du nicht reden.“
„Später, später, meine Nachtigall.“
„Nein, nein, jetzt will ich.“
Und sie ließ von einem silbernen Löffel das Glas erklingen und gab ihrem Manne einen leisen Stoß, zum Zeichen, daß der feierliche Moment des Sprechens gekommen sei. Als gehorsamer Ehemann erhob sich dann der Geheimrath und begann nach einigen Augenblicken tiefen Sinnens:
„Meine verehrten Freunde und theuren Gäste. Ich muß Ihnen eine höchst erfreuliche Nachricht mittheilen –“
„Was ist Ihnen, liebe Else?“ flüsterte Erich der Tochter des Ehepaares zu. Er hatte soeben gefühlt, wie sich die Hand des Mädchens krampfhaft auf die seine legte.
„Meine Verlobung mit dem Präsidenten soll verkündet werden,“ war ihre fast klanglose Antwort. „Eher gehe ich in’s Wasser.“
Erich blickte sie an und ließ das Auge so lange auf ihr weilen, bis der Geheimrath den verlorenen Faden wieder gefunden hatte.
„Eine höchst erfreuliche Nachricht,“ fuhr Else’s Vater fort, „die Sie alle auf das Angenehmste überraschen wird –“
Aller Augen hingen an seinen Lippen, er aber schwieg wieder, den Gedanken im Innern suchend, bis die Geheimräthin ihm zuflüsterte – dann von seiner Seite neuer Anlauf:
„Einer unserer strebsamsten und verdienstvollsten Männer – eine Familie, die Sie alle kennen –“
Neues Stocken – und tiefer Blick in das vor ihm stehende Glas voll perlenden Sects. Nun aber erhob sich Rechting und ergriff statt seiner das Wort:
„Was mein Herr Vorredner, bewegt und überwältigt von freudigen Gefühlen, Ihnen, meine Herrschaften, mitzutheilen nicht fähig war, das mögen Sie aus meinem Munde erfahren! Ja wohl – einer unserer strebsamsten, verdienstvollsten Männer, der liebenswürdige Wirth dieses Hauses, Herr Geheimrath von Wandelt, ist in Anerkennung seiner hohen Verdienste um den Staat mit dem Stern des Verdienstordens zweiter Classe von unserem allergnädigsten Herrn ausgezeichnet worden. Herr Geheimrath von Wandelt lebe hoch!“
Allgemeines Hoch und Gläserklingen! Dem Geheimrath blieb fast das Gesicht stehen, vor Erstaunen, vor Rührung.
Seine Frau theilte diese Empfindung indessen nicht; sie hätte den unliebsamen Unterbrecher mit ihren Blicken in die Erde bohren mögen. Was hatte sie von dem Sterne, wenn ihr der Coup mit der Tochter mißglückt war! Der günstige Augenblick, der ganze Effect war dahin. Aber wie bewegt drückte Else dem Sprecher die Hand – wie dankerfüllt! Gerührt fiel der Geheimrath dem jüngeren Collegen in die Arme.
„Wenn Sie wüßten, wie lange ich nach diesem schönsten aller Gestirne geschaut habe! Alle Collegen hatten ihn schon an der Brust; nur ich nicht – Und jetzt – aber woher wissen Sie denn? Natürlich vom Minister!“
„Sie haben es errathen.“
„Constanze, Geheimräthin, wie wird Dir? Du hast jetzt einen gesternten Mann.“
„Ja, daß Du einen Stern hast, leider Gottes! das merke ich; denn sonst hättest Du die Geschichte nicht so albern anfangen können. Deine Gedankenschwachheit – die wird immer bedenklicher. Und was der Stern zu bedeuten hat, das weiß ich. Nächstens kommt Deine Pensionirung. Und dabei keine Partie für unser Kind!“
Nach Tische zerstreute sich die Gesellschaft in den Garten. Der Präsident hatte noch für Ueberraschungen aller Art gesorgt, um seine Gäste zu ergötzen. Auf dem Wasser schwammen flammende Schwäne; Blumen- und Pflanzengruppen stiegen in farbigem Lichte aus der Nacht auf, wie hervorgezaubert aus tiefem Schatten in glühendes Licht, und aus Bosquets schmetterten plötzlich fröhliche Fanfaren einer vollen Regimentsmusik, die Festlust der Gäste mit bekannten heiteren Melodien beschwingend.
Durch einen seiner Diener wurde Lideman abgerufen. Der Mann hatte ihm etwas in’s Ohr geflüstert und nach einem kleinen Pavillon gezeigt, der in der Nähe des Landhauses lag. Mit einer gewissen Hast schlug Lideman die Richtung nach dem Pavillon ein. In den Schatten des Gebäudes tretend, schien er Jemand zu suchen. Niemand war da. Im Begriffe, sich eben wieder zu entfernen, wurde er plötzlich von einem jungen Menschen angeredet, der eine Mütze mit irgend einer Auszeichnung trug. Es war keine militärische, sondern eine, wie sie die Diener größerer Häuser tragen.
„Pechner, was thun Sie hier?“ war die hastige, fast erschrockene Anrede an den jungen Menschen. „Habe ich Ihnen nicht verboten, zu mir zu kommen, wenn Leute bei mir sind?“
„Ja, ja,“ flüsterte der Andere, „aber wenn Gefahr im Verzuge ist –“
„Gefahr? Unsinn! Wie so?“
„Mein Herr scheint den Braten gerochen zu haben. Er fragte diesen Abend nach dem Schriftstücke und nahm mich in’s Gebet. Aber ich – ich leugnete Alles.“
„Daran haben Sie recht gethan. Bleiben Sie dabei! Aber nun gehen Sie und seien Sie vorsichtiger!“
Lideman drückte ihm etwas in die Hand. Der Bursche wollte sich entfernen, aber dann kehrte er noch einmal um.
„Heute Morgen,“ sagte er, „sah ich den Polizei-Präsidenten aus dem Zimmer meines Herrn kommen und hörte, wie er beim Abschiede zu diesem sagte: ‚Es ist bereits Jemand abgeschickt worden, um an Ort und Stelle die Sache zu untersuchen, weitere Spuren des Schuldigen zu verfolgen. Wir werden wohl auf seine Fährte kommen.’“
„Still, still!“ Man kommt.“
Damit drängte er den Burschen auf die Straße hinaus. [139] Es hatten sich allerdings Schritte vernehmen lassen, und wenn Lideman sich in dem Augenblicke umgewandt hätte, so würde er eine Gestalt bemerkt haben, die sich an der Wand der Gebäude hinschlich, um sie Beide zu beobachten. Es war die nämliche Erscheinung, die kurz vorher an Erich wie an einen Vorgesetzten herangetreten war. Als Lideman seine Schritte der Gesellschaft wieder zuwandte, war der Mann verschwunden. – –
Peinvollere Stunden, als die während der Tafel, hatte Doris noch nie durchlebt. Das Gefühl ihrer Schuld lastete schwer auf ihr, und welches Gesprächsthema auch der Tischnachbar anschlagen mochte, er bekam nur halbe Antworten, oder die Antwort war vollständiges Schweigen. Lichtner suchte das Gespräch auf Else zu lenken, und wurde nicht müde, immer wieder dieses Thema anzuregen, so unbefriedigend auch die Auskunft war, welche er von Frau von Rechting erhielt; diese war ihm als eine der liebenswürdigsten Frauen geschildert worden, und gerade ihm gegenüber zeigte sie das jetzt so wenig.
Ihre Blicke gingen forschend, fragend, bittend, betheuernd nach ihrem Mann hinüber, aber Erich hatte deren nicht Acht. Er schien an der Seite Else’s in der heitersten Laune zu sein, und von der herben Strenge, die er seiner Gattin gezeigt hatte, war nichts mehr in seiner Stimmung zu entdecken; Doris hätte in Thränen ausbrechen mögen. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht aufstehen und den Saal verlassen sollte. Sie machte wirklich Miene, unter irgend einem Vorwande sich von ihrem Nachbar zu entfernen. Da traf sie der Blick Erich’s – gebietend, bannend. Sie blieb. Wie eine Erlösung empfand sie es, als die Geheimräthin das Zeichen zum Aufheben der Tafel gab.
„Wollen wir nicht nach Hause gehen, Erich?“ fragte sie scheu.
„Nur noch einige Augenblicke!“ erwiderte er. „Es hat mich Jemand um eine Unterredung gebeten.“
Damit begnügte sie sich. Sie verlangte nicht zu wissen, wer dieser Jemand war. Das Wort ihres Mannes war ihr genügend; denn dieses Wort war Wahrheit allerwegen. Vielleicht würde selbst auch dann nicht ein Gefühl von Eifersucht in ihr Herz Eingang gefunden haben, hätte sie gesehen, daß Else auf Erich wartete und dieser mit dem jungen Mädchen nach einer Stelle des Gartens sich begab, wo sie Beide unbelästigt von Zeugen waren.
Die innere Bewegung führte Doris weiter; sie wurde von der Macht ihrer Empfindungen, von dem Anstürmen ihrer Gedanken fortgezogen.
„Und das Weib schauete an, daß von dem Baume gut zu essen wäre und lieblich anzusehen, daß es ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte.“ Diese Worte kamen ihr in die Erinnerung, Eva und Magdalena! In diesen beiden Namen ist die Leidensgeschichte, die pathologische Seite des Weibes erzählt, all das Schwanken und Wollen und Kämpfen, all die Zuckungen zwischen Schuld und Reue, Versuchung und Zerknirschung, Genuß und Abscheu, Jubel und Thränen, Taumel und Verzweiflung eng geschichtet in ein Herz, mag dieses unter den Bäumen des Paradieses wandeln, oder in modernster seidener Robe durch die glänzende Pracht unserer Salons rauschen. Das Herz des Weibes ist Eva und ist kein anderes geworden, nur die Toilette hat es gewechselt. Und was hat Doris mit Eva und Magdalena gemein? Alles Schritt für Schritt. Eva – ja. Aber Magdalena? Es ist wahr, sie hat nichts gethan, was ihr äußerlich den Nimbus einer unbescholtenen Frau hätte rauben können; und doch bekannte sie sich schuldig! Es giebt ein Magdalenenthum des Gedankens, des Gewissens, und dem war Doris verfallen.
Ein Geräusch weckte sie aus ihrem tiefen Sinnen. Sie sah sich wieder in dem Pavillon am Wasser – sie war nicht allein. Ein Schreckenslaut entfuhr ihren Lippen.
„Herr Präsident – was soll das? Was wollen Sie von mir?“
„Eine Antwort auf die leise, discrete Frage, welche ich in meinem Geschenke an Sie gerichtet habe – weiter nichts.“
„In welchem Geschenke?“ stotterte Doris.
„Deuten Sie es nicht schlimmer, als es ist! Es ist ja nur ein stammelnder Ausdruck meiner Gefühle für Sie. Was soll ich sagen? Treiben Sie mich nicht zum Aeußersten. O bleiben Sie! Bringen Sie mich nicht ganz von Sinnen!“
Diesmal blieb Doris nicht. Mit ein paar Schritten war sie aus dem Pavillon. Erich, Erich! rief, wie um Hülfe flehend, Alles in ihr; ihr pochendes Herz, ihre flammenden Blicke, ihre jagenden Schritte. Da kam Erich ihr entgegen. Wie gebrochen sank sie in seine Arme, und mühsam kamen die Worte von ihren Lippen:
„Erich – dort – ein Bube! O, wohin habe ich mich verirrt!“
Mit fliegendem Athem erzählte sie ihrem Manne, was ihr begegnet war. Er suchte sie zu beruhigen. Er führte sie in das Haus, mit der Weisung, daß sie ihn hier erwarten möchte. Er würde gleich zurück sein.
„Was willst Du thun? O bleibe! Dieser Mann ist zu Allem fähig!“
„Ruhig, mein Kind! In fünf Minuten bin ich wieder zurück.“
Erich nahm den Weg nach dem Pavillon. Auf halbem Wege traf er Lideman.
„Herr Präsident,“ trat er auf diesen zu, „nun ist mir ja auf einmal klar, warum mein Haus so große Anziehungskraft auf Sie geübt hat.“
„Ah! Ihre Frau Gemahlin hat Ihnen erzählt? Ein kleiner Scherz. Verzeihen Sie! Sie verrechneten sich. Fräulein Else ist ein sehr niedliches Mädchen, und Sie scheinen dort in jener Laube eine sehr intime Unterhaltung mit ihr gehabt zu haben.“
„Sie sind ein Verleumder.“
„Herr von Rechting!“
„Ich wiederhole es nicht einmal – tausendmal, wenn Sie wollen. Vor der ganzen Gesellschaft hier. Sie sind ein Meister der Lüge – ein Schurke. Nur ein solcher konnte mein Vertrauen täuschen, nur ein solcher – hier hob sich Rechting’s Stimme – als geheimer politischer Agent Verrath am Vaterlande üben, wie Sie das gethan haben.“
Nur die wie gezückte Dolche auf einander gerichteten Blicke der beiden Männer sprachen – sonst war es still um sie. Auch die Musik hatte eine Pause gemacht. Lideman schien von den Anklagen Rechting’s wie erstarrt, seine Lippen bebten, die fahle Blässe in dem brünetten Antlitze gab diesem etwas Leichenhaftes.
Sie waren nicht mehr allein; die Gäste sammelten sich um den Präsidenten, den factischen Gastgeber. Geheimrath von Wandelt an ihrer Spitze brachte ein Hoch auf denselben aus, ein bengalisches Feuer beleuchtete die ganze Gesellschaftsgruppe. In vollem Strahlenlichte trat jetzt jene unbekannte Gestalt aus dem Gebüsche heraus und legte die Hand auf die Schulter des Präsidenten mit den Worten:
„Im Namen des Gesetzes sind Sie verhaftet.“
Mit einem Schrei sank die Geheimräthin in den Arm ihres Mannes. Entsetzen hatte sich der übrigen Gäste bemächtigt. Während der Diener des Gesetzes mit dem Präsidenten abging, intonirte die Musik ein Potpourri mit der Melodie: „Ein freies Leben führen wir.“
Weiße Sclaven in den Vereinigten Staaten. Etwa dreißig Meilen nördlich von Philadelphia fängt gleich hinter North-Wales, einer kleinen als Sommeraufenthalt bekannten Stadt, Montgomery-County an, dessen unfruchtbare Hügel, den Betrieb der Landwirtschaft ausschließend, nichts desto weniger mit unzähligen kleinen Wohnungen bedeckt sind, in denen täglich bis spät Abends das Geräusch der Nähmaschinen die Beschäftigung ihrer Bewohner anzeigt; es wohnen nämlich hier nur Schneider, die von den großen Kleidergeschäften, durch ihren Mittelsmann – Schneiderherrn dürfte wohl der passende Ausdruck dafür sein – ihre Arbeit erhalten.
Wenn auch gerade nicht arge Noth in diesem District herrscht, so ist doch der Verdienst bei sehr langer täglicher Arbeitszeit nur ein geringer, und wer sich einmal hier niedergelassen hat, dem ist es beinahe unmöglich, selbst mit schweren Opfern, diesen District verlassen zu können.
Die Bedingungen, die ihm der Arbeitgeber stellt, sind etwa folgende: Er verlangt von dem Arbeiter, daß dieser ein kleines Grundstück mit genügender Wohnung käuflich von ihm übernimmt und Alles, was er zu seinem Geschäft braucht, wie Nähmaschinen, die nöthigen Bedürfnisse des Lebens etc., von ihm und durch ihn bezieht; dafür verspricht letzterer ihm beständig Arbeit, natürlich zu einem Lohne, den er selbst festsetzt und von dem wöchentlich eine bestimmte Summe zur Abzahlung der Vorschüsse [140] und Abtragung der Schulden auf Haus und Hof zurückbehalten wird. Will der Arbeiter nun dieses in der Noth eingegangene Verhältniß lösen, so hat er den größten Theil der so gemachten Ersparnisse zu opfern. Er findet seinen Besitz unverkäuflich, da er ihn nur wieder an einen Schneider verkaufen könnte und dieser im Falle des Kaufs von keinem der Schneiderherren Arbeit erhalten würde; so sieht er sich denn gezwungen, mit dem seinigen sich auf einen Vergleich einzulassen, dessen Ausgang nicht schwer zu errathen ist, denn auch hier macht dieser, wie bei der Arbeit, seine eigenen Preise.
Um jedoch ihr Geschäft betreiben zu können, müssen die Schneiderherren über ein großes Capital zu verfügen haben, da sie gewöhnlich einige hundert solcher Familien beschäftigen. Ist auch in jenem District der Grund und Boden billig, und sind auch die Wohnungen sehr einfach erbaut, so ist die Capitalanlage doch eine bedeutende; ferner steckt in den Nähmaschinen, deren manche dieser Familien vier oder fünf braucht, ein hübsches Stück Geld, und endlich erfordert der Nebenbetrieb eines kaufmännischen Geschäfts, das Alles, was zum Leben nöthig ist, zu liefen im Stande sein muß, sehr bedeutende Geldmittel. Hat der Schneiderherr seine Contracte mit den Engroskleidergeschäften geschlossen, die manchmal die Anfertigung vieler tausend Anzüge bedingen und wobei die Concurrenz die Preise schon sehr gedrückt hat, so muß er noch eine bedeutende Caution diesen Geschäften gegenüber für gute Ausführung der Arbeit und für richtige und gute Ablieferung der ihm übergebenen Kleiderstoffe stellen. Er hat eine Menge Gespanne zu halten, welche den Waarentransport von und nach der Eisenbahn besorgen, geübte Leute, die den Verkehr mit den einzelnen Arbeitern vermitteln, Commiß, welche die complicirte Buchführung besorgen, Alles Ausgaben, die bestritten werden müssen; sein Verdienst besteht nun natürlich in dem Unterschiede des Preises, den er als Arbeitslohn von dem Engroshause erhält, und dessen, welchen er seinen Arbeitern zahlt, und da sich dabei immer der letztere nach ersterem zu richten hat, so begreift sich, wie kärglich der Verdienst der Arbeiter oft genug ausfällt.
Das Engrosgeschäft liefert die Kleidungsstoffe fertig zugeschnitten in Paketen; jedes derselben enthält ein Dutzend Anzüge derselben Größe und desselben Schnittes verpackt, dem alle nöthigen Zubehöre an Futter, Watten, Fäden, Knöpfen etc. beigepackt sind, und so werden sie auch dem Arbeiter übergeben, der sich nun mit der ganzen Familie bis hinunter zum Kinde von fünf oder sechs Jahren an die Arbeit macht; letzteres näht wenigstens die Knöpfe an die billigen Fünf-Mark-Sommeranzüge, die dann allerdings auch nur bis zu dem Augenblicke halten, wo man sich ihrer bedienen will. Noch spät Abends kann man diese Familien in emsiger Arbeit beisammen finden. Kommt es nun zur wöchentlichen Abrechnung und ist dann von dem zuweilen durch sechszehnstündige Tagesarbeit schwer erworbenen Wochenlohne die Abschlagszahlung auf Haus und Hof, auf die Nähmaschinen gemacht, und die nicht unerhebliche Rechnung des Ladens bezahlt, so bleiben nur wenige Pfennige – der etwaigen Strafgelder für schlecht oder zu spät gelieferte Arbeit gar nicht zu gedenken. Vergebens strengt der Arbeiter sich an, jene unsichtbare Kette socialer Verhältnisse zu sprengen, die ihn zum Sclaven gemacht hat.
Eben weil der Arbeitslohn bei den fertig gemachten Kleidern ein so geringer ist, der noch durch die Vermittlung der Lebensbedürfnisse bedeutend geschmälert wird, ist es möglich, diese Kleider ungewöhnlich billig zu liefern, wodurch dann dieses Geschäft mit fertigen Kleidern eine so ungeheure Ausdehnung gewonnen hat. Man kauft in den von den Montgomery-County-Schneidern versorgten Läden factisch einen Anzug billiger, als derselbe bei einem guten, auf Kundschaft arbeitenden Schneider an Arbeitslohn kosten würde.
Mein zahmer Canarienvogel. Beinahe in jeder Haushaltung findet man heutzutage einen Canarienvogel, aber die Leute lassen sich von ihm nur etwas vorsingen und bekümmern sich nicht weiter um ihn, als daß sie für sein tägliches Futter sorgen. Und doch, wie dankbar zeigt sich gerade dieses Vögelchen, wenn man sich verständnißvoll mit ihm beschäftigt, wie reichlich lohnt es die geringe Mühe durch die vielen heiteren Stunden, die es in solchem Falle gewähren kann! Ich habe zwei Canarienvögel, von denen der eine ein Jahr, der andere sehr alt ist. Die Zähmung des erstern hat mir viel Vergnügen gemacht, und ich will hier zur Nachahmung mittheilen, wie ich dieselbe erreicht und wie weit sie möglich wurde.
Als das Vögelchen anfangs sehr scheu war, stellte ich den Käfig an meinen Schreibtisch dicht neben mich und hielt ihm hin und wieder einen mit ein wenig Zuckerpulver bestreuten Finger zwischen die Stäbchen des Käfigs und zwar so lange, bis er sich beruhigte und den Zucker pickte. Später öffnete ich die Thür des Bauers, und als er sich herauswagte, fing ich ihn behutsam, behielt ihn ein Weilchen in der Hand, streichelte ihn sanft, bot ihm zwischen meinen Lippen Zucker und andere Leckereien, legte dann dieselben auf meinen Pult und setzte ihn nun sacht neben mich. In den ersten Tagen flog er immer schleunigst fort, aber schon am dritten blieb er sitzen, zunächst schüchtern, bis er dann bald dreist wurde und die Leckereien verzehrte. Weiterhin setzte ich ihn ebenso auf meine Schulter, meine Hand etc., und in solcher Weise beschäftigte ich mich täglich eine Viertelstunde mit ihm. Nach vier Monaten war der „Hans“ schon überaus zahm.
Wenn ich jetzt des Morgens in’s Zimmer trete, ruft er mir sogleich sein „schiep“ entgegen und flattert so lange erregt im Bauer, bis die Thür geöffnet ist; dann hüpft er mir auf die Schulter, und ich gehe mit ihm in’s Nebenzimmer, um Kaffee zu trinken. Hier muß er auf meiner Schulter bleiben, da ich nicht dulde, daß er sich auf den Tisch setzt; er macht einige Rundflüge im Zimmer und kehrt immer wieder auf seinen Platz zurück, wo er hin und her trippelnd aus Leibeskräften singt, bis ich ihm zwischen den Fingern oder den Lippen seine Bröckchen reiche, die er dann vorsichtig abpickt. Während ich die Zeitungen lese, bleibt er auf meiner Schulter, zupft nun aber hin und wieder am Ohr oder Haar, bis ich mich umwende und mit ihm spreche, worauf er, auf meiner Schulter oder Stuhllehne sitzend oder hüpfend sein Lied schmettert. Beachte ich ihn einmal trotz seines Rufens, Pickens und Zupfens nicht, so klettert er mir auf die Brust, bis er mir mit einem Fuße im Bart steht und auf die Lippen pickt, bleibe ich auch dann noch ruhig, so spreizt er ein wenig die Flügel und fängt an in den süßesten Tönen zu flöten, indem er mir dicht vor dem Munde sich hin und her wiegt, bis ich endlich mit ihm spreche und ihn lobe. Von der Brust klettert er nun hastig wieder auf die Schulter, läuft hier eilig auf dem Arme entlang bis zur Hand, in der ich die Zeitung halte, und zupft vor Freude am Papier oder pickt an meinen Fingern.
Der Vogel hat sich so sehr an mich gewöhnt, daß er mich schon erkennt, wenn ich von einem Ausgange heimkehrend im Corridor oder Nebenzimmer bin; er beginnt sogleich sein rufendes Piepen, bis ich zu ihm an das Bauer getreten bin; dann wird er ganz still, bis ich ihn auffordere zu singen, worauf er erst sein Lied erschallen läßt. Wenn ich mich Nachmittags für eine kurze Frist zur Ruhe auf’s Sopha lege, so kommt er ebenfalls, setzt sich mir auf die Brust, zupft an meinem Bart herum, dann aber begiebt auch er sich zur Ruhe, sträubt die Federn, schließt die Augen und schläft, bis ich mit ihm aufstehe.
Mit dem andern, alten Canarienvogel beschäftige ich mich fast gar nicht; ich darf es nämlich nicht thun, denn aus Eifersucht wird mein zahmer Hans überaus bösartig. Die beiden Canarienvögel, deren Bauer, und zwar einige Stunden des Tags geöffnet, neben einander stehen, vertragen sich gewöhnlich ganz gut, sobald ich aber rufe: „Komm, Hans, hopp!“ spreizt dieser die Flügel und beißt nach dem andern, als wenn er sagen wollte: „Das geht dich nichts an, damit bin nur ich gemeint,“ und dann erst kommt er schnell zu mir geflogen. Wehe aber, wenn ich einmal den alten fange und ihn hätschele! Da geräth der Hans außer sich, fliegt höchst aufgeregt hin und her, folgt mir Schritt für Schritt und setzt sich auf meine Schulter. Streichle ich nun den alten, so sträubt Hans vor Wuth sein Gefieder, daß er aussieht wie ein Federball, und die Federn auf dem Kopfe stehen hoch empor, und wenn das nicht verfängt, stürzt er hinzu und hackt wüthend auf meine Hand und den Rivalen los. Als dies zum ersten Mal geschah und ich seine Bosheit noch nicht kannte, hielt ich es für eine Aeußerung seiner Angst, daß ich dem Cameraden etwas zu Leide thun werde; mein Irrthum trug aber die Schuld daran, daß dem bedauernswerthen anderen der Kopf blutig gehackt worden ist.
Ein landesväterliches Edict aus guter alter Zeit. Wie es mit der sogenannten landesväterlichen Fürsorge für die getreuen Unterthanen in der „guten alten Zeit“ beschaffen war, davon giebt nachfolgendes, aus dem betreffenden Gesetzblatte hier abgedrucktes Edict einen höchst charakteristischen Beweis. Interessant wäre es dabei, zu erfahren, ob dieses Edict vielleicht bis zur Einführung der Gewerbeordnung in Preußen bestanden hat oder schon früher aufgehoben worden ist. Das Edict lautet:
Nachdem Seine Königliche Majestät in Preussen, etc. etc., unser allergnädigster Herr, vermöge emanirten und öffentlich bekannt gemachten Edicti vom 6ten Julii 1717. in Gnaden verordnet haben, daß das Tragen der hölzernen Schuhe und Pantoffeln auf den sämmtlichen Dörfern der Churmarck künftighin gänzlich nachbleiben und abgeschaffet werden solle; Gleichwohl aber höchst mißfällig vernehmen müssen, daß Dero allergnädigsten Willens-Meinung hierunter nicht gebührend nachgelebet, sondern in verschiedenen Dörffern zum Schaden und Nachtheil der Schuster, denen solchergestalt ihre Nahrung entzogen wird, dem vor-angezogenen Edicti contraveniret und zuwider gehandelt werde, allermassen noch jüngsthin bey geschehener Haus-Suchung viele Paar hölzerne Schuhe und Pantoffel hin und wieder gefunden und weggenommen worden:
Als haben höchstgedachte Seine Königl. Majestät sothane Verordnung nicht nur gegenwärtig reïteriren und wiederholen wollen, sondern befehlen auch anderweit in Gnaden und darneben alles Ernstes, daß das Tragen der hölzernen Schuhe und Pantoffeln auf den Dörffern überall gäntzlich abgestellet und unterlassen werden solle, in Entstehung dessen aber, und da jemand darüber betroffen, auch dergleichen hölzerne Pantoffeln und Schuhe bey ihm gefunden würden, derselbe sodann zu gewärtigen, daß wieder ihn nach Befinden mit der Strafe des Hals-Eisens oder Gefängnisses verfahren werden solle. Gestalt denn zugleich den Gerichts-Obrigkeiten und Schultzen jedes Orts hiermit ernstlich, und bei Vermeidung 200. Ducaten zur Recruten-Casse zu erlegenden Strafe, welche unausbleiblich beygetrieben werden sollen, injungiret und anbefohlen wird, alle Quartale in den unter ihrer jurisdiction und Gerichtsbarkeit stehenden Dörffern eine genaue Visitation deshalb anzustellen und mit allem Fleiß darauf zu sehen, damit dieser Verordnung gehorsamste Folge geleistet und gehörig nachgelebet werde. Uhrkundlich unter Seiner Königlichen Majestät Höchsteigenhändigen Unterschrift und beygedruckten Königlichen Insiegel. So geschehen und gegeben zu Berlin, den 7. Decembr. 1726.
Also der arme geplagte, leibeigene Bauer, gezwungen zu Hofe-, Frohn- und Jagddiensten, welche fast ein Drittel seiner Arbeitstage consumirten, verpflichtet zur Zehntenlieferung von Getreide aller Art, von Schafen, Gänsen, Hühnern, Bienen, außerdem Abgaben an Küster und Pastor etc., durfte nicht einmal zur Bekleidung seiner eigenen und seiner Kinder Füße selbstgefertigte hölzerne Pantoffeln tragen – damit nicht ein ehrbares Schustergewerbe dadurch geschädigt werde!