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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[861]

No. 52. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig• – In Heften à 50 Pfennig.


Ein Seebad.
Von Otto Girndt.
(Schluß.)


Jetzt konnte Angela sich zwanglos der Freude über ihr Schelmenstück hingeben und küßte ihre mitverschworene Tante so oft und stürmisch, daß die bejahrte Frau den Liebkosungen der kleinen Hexe schier erlag. Nun aber mußte das Mädchen nach Venedig zurück, um ihrer Herrin zu verkünden, was sie ausgeführt. Sie flog die etwa acht Minuten lange Chaussee über den Lido bis zum Landungsplatze des Dampfboots in der halben Zeit hinunter, die Aeuglein rechts und links umherschickend. Ihr Opfer entdeckte sie nirgends; vermuthlich war es in eins der Gasthäuser an der Lagune geflüchtet und wollte den Sonnenuntergang zur Fahrt in die Stadt abwarten. Auch von Fabbris gewahrte sie nichts. Doch ja: das Dampfboot ging ihr vor der Nase ab, und auf dem Decke saß Antonio, ihr und dem ganzen Lido den Rücken zukehrend. Aergerlich stampfte sie mit dem Füßchen, daß sie zu spät gekommen. Wie gern hätte sie ihn unter dem rauchenden Schornstein angeredet, um zu hören, wie er jetzt von der schönen Fremden dachte, nachdem er Zeuge der Entwerthung ihres herrlichsten Kleinods gewesen.

Es blieb dem Mädchen nichts übrig, als in einer Gondel dem brausenden Dampfer langsam nachzufahren.

Fabbris erreichte in einer Viertelstunde die Riva. Noch einmal so lange, und er ließ sich im Palast Bevilacqua melden. Der Herzog war wiederum abwesend, doch Erminia befand sich zu Hause und empfing den heimlich Geliebten. Beim ersten Blick fiel ihr seine eigenthümliche Verstörtheit auf.

Kommen Sie, mich an mein Versprechen zu mahnen, Signor Antonio?“ begann sie.

„Hat Ihnen die Gräfin schon Visite gemacht, Hoheit?“ fragte er schnell zurück.

„Allerdings! Aber –“

„Und Sie haben sie eingeladen?“ unterbrach er.

„Nein!“

„Dem Himmel sei Dank! Ich ersuche Sie inständigst, es unter keiner Bedingung zu thun.“

„Welche Sinnesänderung! Was ist geschehen?“

„Ich beschwöre Sie, Hoheit, fragen Sie nicht! Ich kann Ihnen nicht mehr sagen.“

„Ihre Weigerung macht mich erst recht wißbegierig.“

„Ich kann nicht sprechen, bei Gott nicht! Ich schäme mich der Raserei, die mich für ein Weib ergriffen, das –“ er stockte und wiederholte: „ich kann nicht mehr sagen.“

Was Erminia gehört, war genug, sie heiter zu stimmen.

„Setzen Sie sich doch! Sie scheinen sehr aufgeregt; kommen Sie zur Ruhe! Ich als Ihre Freundin, der Sie Ihre Schwärmerei nicht vorenthalten, habe ein gewisses Recht, Ihre Reuebeichte zu hören; nehmen Sie Platz!“

Sie setzte sich – er blieb stehen.

„Ich bin auf Ehre nicht im Stande, Ihnen mitzutheilen, was ich erlebt; liegt Ihnen aber daran, Hoheit –“

„Sie sollen mich ja nicht so unterthänig tituliren,“ fiel sie ihm in’s Wort. „Freilich liegt mir an einer Erklärung!“

„Ich könnte Ihnen, wenn Sie gnädigst gestatten, ein junges Mädchen schicken, eine Fioraja –“

„Angela?“

Er stand frappirt:

„Sie wissen?“

Lächelnd erwiderte sie:

„Ich weiß, daß Angela Sie dankbar verehrt und von der Polin Schaden für Sie fürchtete.“

„Was sagen Sie? Nun wird mir Manches klar. Aber woher Ihre Kenntniß?“

„Das Mädchen kam zu mir mit dem Ansinnen, ich sollte Sie, weil Sie ein Freund unseres Hauses, vor der Gräfin Bariatinska warnen. Das war nun nicht meines Amtes; indeß Angela’s Manieren gefielen mir; ich nahm das Kind in Dienst.“

Antonio’s Verwunderung stieg immer mehr.

„In Ihren Dienst? Wie kam Angela dann diesen Nachmittag auf den Lido?“

„Sie hatte mich gleich gestern und heut nochmals gebeten, ihre Tante, die Badewärterin, besuchen zu dürfen. Es kam so heraus, als wünschte sie die Erlaubniß in Ihrem Interesse, Signor Antonio, deshalb hielt ich sie nicht zurück; allein, was Angela dort vorgehabt, werde ich vielleicht nun von Ihnen erfahren.“

Zum ersten Mal ruhte Antonio’s Blick mit einem Ausdruck von Innigkeit auf Erminia:

„In Ihnen wohnt kein Falsch.“

„Ich denke, nein!“ sagte sie ruhig, und die Augen Beider trafen sich.

Errieth er jetzt, wie es um ihr Herz stand? Es ward ihm heiß in der Brust, aber nicht wie auf dem Marcus-Platz beim ersten Erscheinen der Polin, sondern es war ein wohlthätiges Feuer, das ihn durchströmte.

„Darf ich fragen,“ hob er von Neuem an, „was Sie abhielt, die Gräfin zum Wiederkommen aufzufordern?“

[862] „Einfach das Unbehagen, das sie mir einflößte!“

Er nickte.

„Wie doch eine reine Seele Nichts braucht, als ihr Gefühl, um Menschen richtig zu beurtheilen! Können Sie mir verzeihen?“

„Was?“

„Die Verirrung meiner Leidenschaft!“

„Nach meiner kurzen Unterhaltung mit der Gräfin hoffte ich, Sie würden das Feuer nicht lange nähren.“

„Ich genas, ohne ein Wort mit ihr gewechselt zu haben.“

„Das thut mir leid,“ sagte Erminia, „ich mußte glauben, Sie hatten sich ihr genähert und aus eigner Anschauung –“

„Jawohl,“ fiel er mit ironischem Accent ein: „aus eigener Anschauung im wahrsten Sinne bin ich zur Vernunft gekommen.“

Er athmete tief auf. Sie sah ihn fragend an, aber er erklärte sich nicht deutlicher, sondern faßte ihre Hand, die sie ihm nicht entzog, als er sie an die Lippen drückte und leiser sprach:

„Leben Sie wohl! Ich bin nicht werth –“

Ein Geräusch ließ sich hinter ihm vernehmen. Er wandte schnell den Kopf; Angela stand im Eingang. Als hätte er sie nie gesehen, ging er nach schweigender Verbeugung gegen ihre junge Herrin an ihr vorüber und hinaus. Angela war betroffen. Warum ignorirte er sie völlig? Grollte er ihr, oder wußte er noch nicht, daß sie in den Palast gehörte? Und was hatte er zur Stunde hier zu schaffen gehabt? Ihr rathloses Mienenspiel ergötzte Erminia, die den Finger hob:

„Du, Du!“

„Was denn, Hoheit?“

„Der Cavaliere di Fabbris verleugnet seine Bekanntschaft mit Dir.“

„Sagt er’s?“

„Sein Benehmen sagt es.“

Angela ward wieder guten Muths:

„Das hat seine Gründe. Wüßte ich nur, ob er mir böse ist!“

„Weswegen?“

„Weil ich ihm seine Gräfin verleidet. Lieben kann er sie nicht mehr – es ist rein unmöglich.“

„So?“

„Darf ich jetzt reden, Hoheit? Ich komme vom Lido. Alles ist geglückt, meine kühnste Erwartung erfüllt. Den König wird die Dame wohl in Ruhe lassen. Wenn sie klug ist, macht sie sich bei Nacht und Nebel davon. Ihr Geheimniß kennt jetzt nicht mehr blos ihre gräuliche alte Magd und mein Portier bei Danieli, der sie vorgestern früh bei der Toilette überraschte, sondern ebenso gut und noch besser kennt’s seit ein paar Stunden meine Tante, ich und, was die Hauptsache ist, der Herr Lieutenant. Sie kann sich nicht mehr auf den Marcus-Platz wagen, angenommen selbst, sie hätte Ersatz in ihrem Koffer versteckt.“

Hier schnitt Erminia den Faden ab:

„Was mengst Du wieder durch einander? Wer soll daraus klug werden? Ersatz in ihrem Koffer – wofür?“

„Erlauben Hoheit einen Augenblick!“ bat Angela und umging ihre Gebieterin. Diese folgte mit dem Kopfe der Bewegung.

„Nein, nein,“ fuhr das Mädchen fort, „fest stehen bleiben, Hoheit! Bitte, bitte, nicht den Hals drehen! Ich bin gleich fertig.“

„Was sollen die Possen, Angela? Wirst Du mir eine vernünftige Erklärung geben?“

„Mit unendlichem Vergnügen und gehorsamstem Respect,“ rief der Kobold, „denn ich habe gesehen, was ich sehen wollte: Eure Hoheit trägt nur eigenes Haar.“

„Ah!“ stieß Erminia hervor. „Das Haar der Gräfin –“

„Ist in Folge eines einzigen Seebades ausgegangen.“

„Angela!“

„Wär’ ich ein Bube, ich schlüge Rad wie die Gassenjungen auf der Riva!“ lachte die Fioraja und rapportirte nun, wie sie den Hôtelportier angestiftet, der Gräfin das Seebad plausibel zu machen, wie sie den Lieutenant verlockt, dem Wasserschauspiel beizuwohnen, und wie sie das tragische Ende herbeigeführt.

„Leider,“ klagte die verschlagene kleine Person in ihrem rollenden Redefluß, „entging mir der unmittelbare Eindruck des Schlußeffects auf den Cavaliere di Fabbris, aber mein Stück muß auf die Bühne, auf’s Marionettentheater in San Moisé[1]; da thut eine Neuigkeit noth; über die alten Sachen mit den schalen Witzen auf die Nationalbank und die Kürbisverkäufer kann kein Mensch mehr lachen. Meinen Hoheit nicht, daß die Geschichte sich vorzüglich zum Lustspiel für Gliederpuppen eignet? Und die noch nicht dagewesene Scenerie, die Meerdecoration, die Bade-Anstalt sammt meiner Tante und mir – der Lieutenant auf der Terrasse wird in ein anderes Regiment versetzt –“

„Schweig!“ gebot Erminia mehr heiter, als streng. „Du begreifst doch, daß von der Sache keine Silbe in die Oeffentlichkeit dringen darf? Du wirst auch Deinem Portier ein Siegel auf den Mund drücken, wenn Dir meine Gunst lieb! Hörst Du? Ich werde selbst meinem Vater nichts erzählen.“

Sprach es, kehrte sich um und ging in die anstoßenden Zimmer. Angela, allein gelassen, blickte zur Decke.

„Ich werde selbst meinem Vater nichts erzählen?“ Sie legte den Finger unter’s Kinn. „Das ist viel. Wenn ein Mädchen – und das ist Hoheit doch trotz der Hoheit – so schweigen kann, dann hat es immer – eine – besondere Bewandtniß!“




4.

Antonio ließ sich vor der Ankunft des Königs nicht mehr am großen Canal sehen. Ebenso mied er den Marcus-Platz. Nahmen ihn die Regimentsexercitien nicht in Anspruch, so beschäftigte er sich mit seiner Arbeit. Er wollte das neue Gefühl, das in ihm aufkeimte, die Neigung zu Erminia, ersticken; denn obgleich ihm eine innere Stimme zuraunte, daß die Sympathie der Herzogstochter für ihn früher rege geworden, als die seinige für sie, so konnte er sich doch nicht vorstellen, Bevilacqua werde in eine Verbindung seiner einzigen Erbin mit einem schlichten Lieutenant willigen. Sollte der junge Mann die Schmach einer Abweisung auf sich laden?

Und selbst wenn der Herzog den Wünschen seines Kindes nachgäbe, würde er’s doch nur mit Widerstreben thun; die Hand einer Gattin aber wie ein Gnadengeschenk vom Vater anzunehmen, dagegen sträubte sich Antonio’s Stolz. Wenn er arbeitete, vergaß er die Außenwelt. Daß Erminia um seine schriftstellerische Thätigkeit wußte, ließ er sich nicht träumen. Die Kunde davon war durch den Capitain Bordone zu ihr gedrungen. Der Brave zählte zu den Leuten, die Alles, was sie sehen und hören, weitertragen, überall jedoch, wo sie geplaudert haben, ihre Enthüllungen mit der Bitte schließen, keinen Gebrauch davon zu machen. Bordone hatte, noch ehe er Antonio’s Cameraden eingeweiht, Erminia in einer Familie getroffen, wo Beide der Mutter des Hauses, die von langer Krankheit genesen, ihre Glückwünsche darbrachten; bei der Gelegenheit kam die Rede auf Fabbris, und der Capitain verrieth der jungen Altezza den häuslichen Fleiß ihres Lieblings. Mit stiller Freude vernahm sie die Neuigkeit; bei ihr war der Zusatz, sie möge dieselbe für sich behalten, überflüssig.

Noch viermal wechselte Abend- und Morgenröthe, da hielt der König mit ansehnlichem Gefolge seine Einfahrt in Venedig. Die Gondeln der Nobili, sonst, dem Gesetze gemäß, schwarz und schmucklos wie die Fahrzeuge der niederen Gesellschaftsclassen, erschienen zur Einholung mit dem köstlichsten Sammet drapirt, der in langen, gestickten Schleppen das trübe Wasser des großen Canals streifte. Gekrönte Häupter können bei Rundreisen durch ihr Reich unmöglich viel empfinden, wenn in jeder Stadt von Thürmen und Häusern die Landesfarben flattern, wenn die Kanonen zur Begrüßung dröhnen und Musikbanden die übliche Nationalhymne spielen. Die Lust am Empfang ist ungleich größer auf Seiten des Volks, das an solchen Tagen müßig gehen, gaffen und seine Lungen in Vivatrufen erweitern kann. Die Großen thun genug, wenn sie sich nicht ermüdet und gelangweilt zeigen bei der Annahme längstgewohnter Huldigungen.

Am ersten Abend seines Aufenthalts musterte der König Galantuomo (Ehrenmann), wie das Volk ihn nannte, im Schloß die Honoratioren. Unter den Anwesenden befand sich in vorderster Reihe der Herzog Bevilacqua mit seiner Tochter, die der Herrscher auf’s Huldvollste begrüßte und nach der eigentlichen Cour in ein längeres vertrauliches Gespräch zog, welches den Neid und die Eifersucht mancher minder berücksichtigten Dame wachrief. Den zweiten Abend füllte eine Regatta und Serenade in illuminirten Barken auf der Lagune aus; am dritten Tage inspicirte Victor Emanuel die Garnison. Antonio di Fabbris stand in Reihe und Glied, als der Oberst des Regiments, den der König in seine Suite commandirt, plötzlich während des Ganges längs der Front [863] vom Monarchen angeredet ward und gleich darauf im Laufschritt dem Lieutenant nahte:

„Majestät befiehlt, Sie vorzustellen.“

„Mich?“ stutzte Antonio.

„Rasch, rasch!“

Der junge Officier folgte, ohne sich erklären zu können, was das bedeute, und salutirte vor dem Kriegsherrn. Dieser faßte ihn mit sichtlichem Wohlgefallen in’s Auge, prüfte sein Aeußeres vom Wirbel bis zur Sohle und sagte mit ernster Freundlichkeit: „Lieutenant di Fabbris, Sie haben ein militärisches Werk unter der Feder?“

Antonio erschrak, daß ihm der Säbel fast entfiel.

„Majestät!“

Auch der Oberst machte große Augen.

„Ist es nicht so?“ fuhr der König fort.

Fabbris faßte sich: „Ich kann allerdings den Versuch nicht leugnen, nur weiß ich nicht, wer Eurer Majestät Kenntniß von einem Unterfangen zu geben vermocht, das ich –“

„Ja, der Verräther schläft nicht,“ unterbrach ihn der hohe Herr scherzend.

„Majestät, ich habe Niemand die geringste Mittheilung gemacht,“ versicherte der Officier.

„Ist es ein Unrecht, das Sie begangen? Was behandelt Ihr Werk?“

„Die Truppenaufstellung in der Schlacht, um jeden Augenblick Verstärkungen an gefährdete Punkte führen zu können und dem Feinde das numerische Uebergewicht zu entziehen.“

„Sieh, sieh! Steckt ein junger Feldherr in Ihnen? Wie sind Sie mit der Arbeit?“

„In der letzten Nacht, Majestät, habe ich sie beendet.“

„Das ist gut,“ sagte der König lebhaft, „ich will sie sehen.“

„Majestät –“ zögerte der Autor.

„Schreiben Sie deutlich?“

„Ich glaube, meine Hand ist lesbar, indeß mein Concept –“

„Thut nichts, thut nichts! Die erste Eingebung ist oft die beste. Ich will keine Copie. Bringen Sie mir Ihr Manuscript in’s Schloß! Ich werde Zeit dafür finden. Haben Sie bei Nacht geschrieben, so kann ich auch bei Nacht lesen.“

„Zu Befehl, Majestät! Aber mein gnädiger Herr und König wird die unterthänige Frage vergeben –“

„Ah!“ fiel ihm der Souverain von Neuem in’s Wort, „Sie wollen wissen, wer mir von Ihrem Unternehmen erzählt? Eine Dame! Auf Wiedersehen!“ Ein entlassender Wink – Antonio mußte abtreten, Victor Emanuel schritt weiter.

„Eine Dame, eine Dame!“ klang es in dem wirbelnden Hirn des Lieutenants nach. Wodurch war eine Dame von seinem Thun und Treiben unterrichtet? „Erminia!“ blitzte es in ihm auf. Aber wie war Erminia hinter sein Geheimniß gekommen? Hochroth nahm er seinen Platz in der Colonne wieder ein.

Als der Monarch das Regiment verabschiedete, drängten sich alle Cameraden um Antonio und wollten hören, was Seine Majestät mit ihm gesprochen. Er lehnte jede Auskunft ab, bis der Oberst kam und ihm die Hand reichte: „Ich gratulire und wünsche Ihnen ferner Glück.“

„Wozu, wozu?“ rief es in der Runde.

„Wenn Lieutenant di Fabbris nicht selbst spricht,“ wies der Commandant die Neugier ab, „fühle auch ich mich nicht befugt.“

So blieb Jedermann unbefriedigt, Antonio aber eilte nach Hause, seine losen Blätter zu ordnen. Bangen ergriff ihn, wie der König den Inhalt beurtheilen werde. Aendern ließ sich nichts mehr daran; der Verfasser hätte auch keine Ruhe dazu in seinem Innern gefunden. Zagend begab er sich in’s Schloß. Dort war schon Befehl ertheilt, ihn ungesäumt vorzulassen.

Der König empfing den befangen Eintretenden mit ermuthigender Güte: „An ein Erstlingswerk darf man keinen zu hohen Maßstab anlegen. Sie sollen meine Ansicht hören, bevor ich abreise.“

Ein gut Theil erleichtert, warf Fabbris sich in die nächste Gondel, die er auftrieb, schweigend, als könne der Fährmann sein Ziel errathen.

„Wohin, Herr Lieutenant?“ hörte er sich gefragt.

„Palast Bevilacqua!“ stieß er heraus, riß den Czako ab und stützte die Stirn, in der es heftig hämmerte, mit beiden Händen. Der Gondolier schüttelte den Kopf; er hielt seinen Fahrgast für sehr unglücklich.

Der Beschließer des Palastes eröffnete dem Eindringlinge, Erminia sei nicht zu Hause. Was nun thun? Antonio forderte Papier und Feder und schrieb mit fliegender Hand:

„Freundin, da Eure Hoheit Ihren Rang verschmähen!

Der König weiß, daß ich ein Manuscript verfertigt. Es ist in seiner Hand. Er weiß es durch eine Dame, die keine Andere sein kann, als Sie. Woher aber Sie es wissen, weiß der Allmächtige besser, als das Menschenkind mit brennendem Kopf, das sich zu nennen wagt

Ihren tiefergebenen
A. di F.“

Der Schreiber schloß das Billet in ein Couvert und entfernte sich. Ob Erminia ihm schriftlich antworten werde? Das blieb die Frage. Er ging heute mit Absicht nicht in’s Arsenal zur Officierstafel; man sollte ihn nicht nochmals über die Worte des Königs ausforschen, auch spürte er in seiner Verfassung wenig das Bedürfniß nach irdischer Speise; nur einen leichten Imbiß nahm er im ersten besten Restaurant und ging dann in sein Quartier. Ein kleiner Brief auf dem Tische? Er kannte Erminia’s Hand nicht, aber das waren unverkennbar Federzüge einer zarten Frauenhand. Bebend vor Begier öffnete er das Couvert und las:

„Ich war zu Hause, nur nicht für Sie. Haben Sie Ihre Freundin so lange vernachlässigt, kann ich nun auch warten, bis die königliche Recension erfolgt ist, ehe ich Sie wiedersehe.

E.“

Die Vernachlässigung, die sie ihm vorwarf, war offenbar nicht der wahre Anlaß, aus dem sie ihn fernhielt. Da sie nicht in Abrede stellte, daß sie den König aufmerksam auf ihn gemacht, gab sie es zu, Antonio merkte aber, sie wolle ihm den Zusammenhang erst entschleiern, nachdem ihre Bemühungen ein Resultat erzielt. Die Absicht, ihn in seiner Laufbahn zu fördern, war der untrüglichste Beweis, wie sehr sie ihn liebte; so ließ er denn auch seine Bedenken fallen, legte sich keine Entsagung mehr auf, sondern gab seine Seele rückhaltlos dem Verlangen nach Erminia’s Besitz hin. Doch sein Zartgefühl verbot ihm, irgend einen Schritt zur Annäherung zu thun. Lang war die Geduldprobe überdies nicht; der König verweilte höchstens noch fünf Tage in Venedig.

Antonio’s Geschick sollte sich früher erfüllen, als er erwartete. Schon am folgenden Morgen klopfte ein Hoflakai an seine Thür und beschied ihn sofort zu Seiner Majestät. Dieses „Sofort“ schien kein ungünstiges Zeichen; dennoch trat der Fuß des jungen Mannes im Schloß nicht eben fest auf. Der König stand in der Mitte des Empfangsaals an einem kleinen Mosaiktisch, auf dem die losen Blätter des Manuscripts in mehrere Schichten abgetheilt lagen. Die Miene des Monarchen war ernst; zwischen den Brauen dunkelte sogar eine Falte.

„Lieutenant di Fabbris,“ klang die Anrede, „ich habe gelesen.“ Eine kurze Pause folgte. Antonio’s Athem stockte. „Ist dies wirklich Ihre erste derartige Arbeit?“

„Zu Befehl, Majestät!“ sagte der Officier beklommen.

„Dafür ist sie sehr bedeutend,“ erklärte langsam der hohe Kritiker. „Ich werde sie dem Kriegsminister und dem Generalstab vorlegen. Ich habe mir hier und da Notizen am Rande gemacht. Ich wünschte einen Kopf wie Sie in meiner unmittelbaren Nähe placirt. Ich habe Sie unter der entsprechenden Rangerhöhung zu meinem persönlichen Adjutanten ausersehen.“ Dem Ueberraschten zitterten die Kniee. „Ma – je – stät!“ stammelte er.

Jetzt blickte ihn der Herrscher wohlwollend an.

„Oder würden Sie nicht gern nach Rom kommen? Fesselt Sie Etwas in Venedig? Es könnte ja sein.“

„Die Gnade meines Monarchen,“ versetzte Fabbris leise, „ist so groß, daß ich ihrer völlig unwerth wäre, empfände ich in diesem Augenblicke etwas Anderes, als tiefste Dankbarkeit.“

Der König unterdrückte ein Lächeln.

„Ihre Dankbarkeit gebührt vor Allem dem Fürsprecher, der mein Augenmerk auf Sie gelenkt. Errathen Sie ihn?“

„Majestät erklärten gestern, es sei eine Dame.“

„Die Sie lieben?“

Antonio schlug den Blick nieder.

„Die ich wohl kaum lieben darf!“

„Doch danken dürfen Sie ihr. Thun Sie das unverzüglich; halten Sie sich aber nicht zu lange auf! Denn ich befehle [864] Ihnen, Ihren Regimentschef noch diesen Vormittag von meinem Willen in Kenntniß zu setzen, und erwarte Sie zur Tafel zurück.“

Antonio’s Antlitz strahlte. Er hätte sich vor Seligkeit seinem hohen Gönner zu Füßen werfen mögen, allein Victor Emanuel trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand, die der in allen Sinnen Berauschte wider alle Regel fast stürmisch küßte.

„Auf Wiedersehen, Herr Adjutant!“ Damit war er entlassen.

Wie Antonio durch die Vorzimmer die Treppe hinab in eine Gondel und in den Palast Bevilacqua kam – er wußte es nicht. Unversehens stand er vor Erminien, vor ihr allein.

Seine Augen sprachen, ehe sein Mund die Worte fand:

„Wie soll ich Sie nennen? Meinen Schutzgeist? Meine Fee? Was haben Sie für mich gethan! Und warum?“

„Warum?“ lächelte sie mit erkünstelter Ruhe. „Wozu haben wir Freunde, wenn sie bei günstiger Gelegenheit Nichts für uns thun wollen? Sie sind Adjutant des Königs?“

„Sie wissen?“ rief Fabbris.

„Unser gütiger Herr glaubte, es würde mich interessiren, und ließ es mir vor einer Stunde anzeigen. Wir werden Sie also im Winter ist Rom finden.“

„Im Winter?“ wiederholte er fragend. „Erst im Winter?“

„Früher,“ entgegnete sie scheinbar gleichmüthig, „geht der Papa nicht mit mir in die Hauptstadt.“

„In keinem Fall?“ Sein Blick hing glühend an ihr.

„Der König,“ sprach Erminia in ihrer vorigen Weise, „müßte denn besondere Pläne mit ihm haben. Gleichzeitig mit der Botschaft an mich erging an ihn ein Befehl, zu Seiner Majestät in’s Schloß zu kommen. Aber ich glaube, ich höre Papa.“

Ein paar Augenblicke später trat der Herzog ein. Auf seinem Gesicht lag eine ungewöhnliche Feierlichkeit.

„Da sind Sie, mein lieber Fabbris! Ich bitte, folgen Sie mir!“

„Herr Herzog?“ fragte Antonio betroffen.

„Ich habe mit Ihnen zu sprechen.“

Der junge Mann verbeugte sich, warf einen Blick nach Erminien zurück, die sich indessen rasch abgewendet, und schloß sich dem Führer an, der mehrere Gemächer durchmaß, bis er sein Privatcabinet vor Fabbris aufthat. Er deutete auf einen Sessel, nahm selbst Platz und begann mit großer Würde, die nur ein leises Vibriren der Stimme etwas beeinträchtigte:

„Mein werther junger Freund! Wir leben in einer Zeit, die dem Talente und Verdienste das Zugeständniß macht, seinen Werth neben angeborenen Rang zu stellen.“

Der Hörer merkte augenblicklich, daß der Herzog nicht aus eigener Eingebung sprach, sondern die Ueberzeugung vom Recht des Talentes soeben durch Einfluß einer höheren Person gewonnen. Er schwieg aber und ließ den Redner fortfahren.

„Sie sind überdies von tadellos alter Familie, die nur in Folge der Ungunst des Weltlaufs ihre ehemalige Bedeutung eingebüßt. Ich zweifle nicht, daß Sie Ihrem Namen neues Ansehen verleihen werden. Seine Majestät, unser allergnädigster Herr, öffnet Ihnen den Weg dazu; ich trage daher kein Bedenken, einem solchen Manne die Bewerbung um die Hand meiner Tochter zu gestatten, da ich über Ihre Neigung zu Erminien, die Sie bisher rücksichtsvoll und bescheiden verborgen gehalten, von glaubwürdigster Seite informirt worden.“

Er hielt inne und schöpfte, wie nach einer großen Anstrengung, tief Athem. Antonio aber sprang auf:

„Herr Herzog, ich fühle, Ihre Großmuth bringt ein Opfer; dennoch, mein Vater, ich nehme es an in der Hoffnung, daß Sie die Zeit erleben werden, wo Sie sagen: ich bereue es nicht.“

Bevilacqua schloß ihn in die Arme und forderte, wie bei seiner Rückkehr aus dem Königspalaste:

„Folgen Sie mir!“

Keine Minute verging, da umfingen zwei andere Arme den Glücktrunkenen, der nun auch erfuhr, wann, wo und durch wen Erminia ihn als heimlichen Schriftsteller kennen gelernt. Gewiß ist niemals eine Indiscretion freudiger verziehen worden, als die des Capitains Bordone.

Und gewiß selten setzen Fürsten sich so heiter, so aufgeräumt zur Tafel, wie an jenem Tage der König Galantuomo. Unter den Geladenen war natürlich der Herzog Bevilacqua mit seiner bräutlichen Tochter. Der König brachte persönlich das Wohl der Verlobten aus, unterhielt sich viel mit seinem neuen Adjutanten, brach aber mitten in einem Satze ab:

„Was mir da einfällt! Mein Kammerdiener hat heute in einer hier erscheinenden Zeitung ein seltsames Geschichtchen gefunden, das uns insofern angeht, als die Heldin sich mit der Idee getragen haben soll, ein Attentat gegen mich durch Amor’s Pfeile zu verüben. Sie sei, heißt es, in Besitz des reichsten goldfarbenen Haares gewesen, das man je gesehen, habe es aber bei einem Seebade am Lido unvorsichtig im Tange hängen lassen und sei die Nacht darauf mit Sack und Pack von dannen gefahren, ohne Angabe ihrer künftigen Adresse. Weiß Jemand Näheres über die Dame?“

„Das war zweifellos,“ rief der Fürst Giovanelli, „die Gräfin Bariatinska aus Polen, die unlängst meinen Palast besuchte!“

„Welch Glück,“ fiel der Herzog Bevilacqua ein, „daß sie mein Dach gemieden!“

Erminia sah vor sich nieder, desgleichen Antonio, und Beide schwiegen. Sie wußten wohl, warum.

Einen Monat später knieten sie Hand in Hand vor dem Priester; dann übersiedelten sie in’s ewige Rom, und Angela folgte ihnen. Der Palast Bevilacqua am großen Canal zu Venedig ward seitdem ein stiller Ort, denn der Herzog lebt mehr bei seinen Kindern, als in der alten Heimath, und freut sich des Ansehens, das sein Eidam über den Tod Victor Emanuel’s hinaus auch bei dessen Nachfolger genießt. Neuerdings hat er sogar den Entschluß gefaßt, das Erbhaus seiner Väter zu verkaufen. Wer achtmalhunderttausend Franken überflüssig hat, kann den Palast zu jeder Stunde erwerben.




Der Eisbrecher.


Während früher die Elemente allein die Umgestaltungen auf der Erboberfläche besorgten, greift jetzt der Mensch selbst überall ein und macht sich jene Mächte mehr oder weniger dienstbar – unter denjenigen aber, welchen er noch ziemlich hülflos gegenüber steht, nimmt der Winter eine erste Stelle ein. Wenn die Aequinoctialstürme sein Nahen verkünden, zieht sich der Mensch zurück, ruft den ältesten Freund seiner Culturentwickelung, das Feuer, zu Hülfe und harrt in passivem Widerstande des Frühlings – der Verkehr schrumpft zusammen und alles Thun richtet sich nach den Launen jenes Despoten.

Ganz besonders scharf kommt der Eingriff des Winters in den Hafenstädten, namentlich an Flußmündungen zum Ausdruck. Wenn über Nacht die sonst von Fluth und Ebbe hin- und hergeschobenen Schollen zu einer festen Decke zusammengewachsen sind, dann ist es, als schritte ein gespenstiger Polizeidiener des Winters durch die Straßen und riefe in Häuser und Geschäfte ein gebieterisches „Feierabend!“ Sobald das Wasser „zu ist“, tritt aller Verkehr, welcher irgend mit der Schifffahrt zusammenhängt, im Comptoir des ersten Hauses wie im letzten Schnapsladen, in ein langsames Tempo, ja erlischt theilweise ganz – aber er erträgt solche Zwangspausen nur, wenn er durchaus muß, dieser unser nimmer rastender Verkehr, und neuerdings ist ihm erfreulicherweise eine siegreiche Waffe eben gegen die Vereisung der Wasserwege geworden – man erfand den Eisbrecher.

Innerhalb der Handelsmarine gab es wohl ab und zu Schiffe, welche sich besonders gut zu Fahrten durch Eis eigneten, allein Schiffe, die als solche nur dem Zwecke dienten, das Eis zu brechen, waren bisher vereinzelt nur in Nordamerika in Gebrauch – Räderdampfschiffe, die mit ihrem flach auflaufenden Vordersteven sich auf eine Eisdecke schoben, dieselbe durch ihr Gewicht zerbrachen und durch ihre Räder weiter zermalmten. Nunmehr hat aber in Hamburg deutscher Unternehmungs- und Erfindungsgeist einen Eisbrecher hergestellt, welcher weit schwierigeren Verhältnissen gegenüber trat, als sie in Nordamerika vorlagen. Auf der Elbe nämlich handelt es sich nicht um glatte Flächen, sondern das Eis besteht hier aus unter und über einander geschobenen und dann zusammengefrorenen Eismassen von oft zehn bis zwölf Fuß Dicke, welche sich zum Theil auf den flacheren Theilen des Fahrwassers und den Sandbänken

[865]

Hamburger Eisbrecher auf der Elbe.
Nach der Natur aufgenommen von F. Lindner.

[866] festsetzen. Diesen Bedingungen gegenüber wäre einer der nordamerikanischen Eisbrecher völlig nutzlos.

Im Jahre 1871 war’s, da trat in Hamburg, unterm Drucke eines harten Winters, eine größere Anzahl von Männern zusammen, um Maßregeln für künftige Verhütung von Eissperrungen zu berathschlagen, und nach eingehenden Prüfungen des Projects wurde auf ein Concurrenzausschreiben hin dem als genialem Schiffsbau-Ingenieur weit auch über die Grenzen unseres Vaterlandes hinaus bekannten Ferdinand Steinhaus der Auftrag[2] zum Bau eines Eisbrechers ertheilt. Der Genannte, seit zwanzig Jahren Lehrer des Schiffbaues und Verfasser bekannter Werke über denselben, hatte namentlich Erfahrungen, welche er aus der Einführung der von ihm erbauten Schraubenbugsirböte auf der Schelde gesammelt, den Plänen zur Erbauung eines Eisbrechers zu Grunde gelegt, Plänen, welche das Resultat langjährigen Studiums bildeten.

Unter den Laien im Binnenlande namentlich herrscht allgemein die falsche Auffassung, als sei der Eisbrecher ein ungefähr in Form eines Rammschiffes gebautes Fahrzeug, das einschneidend in das Eis dringe und dieses spalte – bei solcher Construction würde der Eisbrecher aber beim ersten Stoße im Eise festsitzen.

Als Princip für die Construction ist vielmehr zunächst festgehalten, dem Eise überall rund und schrägliegend geformte Flächen entgegen zu stellen. Aus diesem Grunde ist auch der Vordersteven nach einer solchen Curve gebildet, um es dem Schiffe zu ermöglichen, etwas auf das Eis hinauf zu laufen und dann durch seine Schwere einen Durchbruch zu erzeugen. Eine wichtige Rolle spielt der Winkel, welchen die Curvenrinne des Stevens mit der Horizontale bildet, da das Schiff bei zu spitzem Winkel allzu weit auf das Eis hinauf laufen und darauf sitzen bleiben, bei zu stumpfem Winkel dagegen vom Eise abstoßen, in beiden Fällen eben darum seinen Zweck völlig verfehlen würde.

Aus demselben Grunde ist ferner die Maschine von 600 Pferdekräften so weit nach vorn gerückt, als es die Form des Schiffkörpers nur gestattet.

Das Schiff selbst ist als Schraubenschiff construirt, die innere Einrichtung sehr einfach: zwei Dampfkessel, von denen jeder einzelne vermöge seiner Größe nöthigenfalls allein die Maschine zu speisen im Stande wäre, zwischen ihnen und der Maschine ein quer durch das ganze Schiff sich erstreckender Kohlenraum, circa 100 Tonnen haltend und durch einen Tunnel mit dem Maschinenraume verbunden; hinter dem Maschinenraum die Logisräume der Besatzung, welche aus vierzehn Mann besteht, sechs zur Bedienung der Maschine, acht für das Deck. Die Capitainscajüte befindet sich auf Deck; ebendaselbst, ist einem erhöhten Deckhause, die Steuereinrichtung. Das Deck selbst ist, wie das ganze Schiff, von Eisen, und da alle Räume desselben durch Dampfheizung erwärmt werden, so ist auch das Deck stets warm und vor Glatteis geschützt.

Der Eisbrecher ist mit Wasserballasträumen versehen, wodurch sein Tiefgang hinten von 11 Fuß 6 Zoll englisch auf 16 Fuß 10 Zoll englisch gebracht werden kann; die Füllung respective Entleerung erfordert nur den kurzen Zeitraum von 10 Minuten, da Selbstentwässerungsröhren und kräftige Dampfpumpen hierfür vorhanden sind.

Im December 1871 war der Bau auf der Reiherstiegschiffswerfte vollendet; das Schiff hatte auf 130 Fuß englisch in der Länge, eine Breite von 82 Fuß englisch und ist der Mitte eine Tiefe von 16 Fuß 6 Zoll englisch. Der Preis betrug 190,000 Reichsmark.

Dieser so construirte Eisbrecher, dessen Abbildung den Artikel begleitet, hat sich ganz vorzüglich bewährt. Eine Eismasse von 8 bis 10 Fuß Dicke, ja zusammengeschobenes Eis bis 16 Fuß Dicke wird ohne Schwierigkeit beseitigt, Eis von 3 Fuß Dicke und überhaupt glattes Eis von jeder möglichen Stärke ohne bemerkenswerthen Aufenthalt durchbrochen. Einen Begriff von der Leistungsfähigkeit giebt die Thatsache, daß der Eisbrecher z. B. Eisschwierigkeiten binnen einer halben Stunde beseitigte, an deren Entfernung ungefähr 1000 Arbeiter eine Woche lang hätten arbeiten müssen. So hat der Eisbrecher ferner z. B. zwei deutsche Meilen feststehenden Eises in 5 Stunden fahrbar gemacht, sodaß 12 bis 16 Schiffe an die Stadt kommen konnten. Und bei dieser Thätigkeit bewegt sich das Schiff nicht nur frei im Eise nach allen Richtungen, sondern bugsirt noch zu gleicher Zeit.

Der Ausdruck „der Mensch im Kampfe mit den Elementen“ tritt kaum irgendwo in drastischerer und zugleich imposanterer Weise in die Erscheinung, als bei diesem Ankämpfen des Eisbrechers gegen die winterlichen Eismassen – vor dem Schiffe geht ein Donnern und Krachen her – mächtige Eisstücke bäumen auf und dazwischen quillt schäumend die dunkle Fluth hervor – dahinter wirbeln Strom und Schraube die geborstenen Schollen durch einander – weithin über den Strom aber, bis zum fernen linken und rechten Ufer, laufen blitzschnell die gesprengten Risse laut knatternd, als schalle Pelotonfeuer von allen Seiten herüber. Die Großartigkeit des Bildes wird noch erhöht, wenn eine stattliche Flotille von Schiffen dem Eisbrecher im freigewordenen Fahrwasser folgt.

Nach dem oben Gesagten braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, von welch eminenter Bedeutung ein Eisbrecher, welcher sich in solchem Grade bewährte, für den Handel einer Stadt wie Hamburg sein muß – eine Erfindung, welche es ermöglicht, daß selbst bei äußerst strengem Winter der Handel nicht einen Tag gehemmt wird, während er sonst oft Monate lang unterbrochen war. Der Hamburger Staat erkannte dies denn auch ungesäumt dadurch an, daß er den ersten Eisbrecher übernahm und zugleich einen neuen, noch stärkeren zum Preise von 275,000 Reichsmark erbauen ließ, da bei der Art des Dienstes Beschädigungen, namentlich Schraubenbrüche, leicht möglich sind und bei starkem Froste ein gleichzeitiges Durchbrechen elbaufwärts und -abwärts wünschenswerth schien.

Die Erfindung hatte nur einen Fehler: ihrer Nutzbarmachung in weiterer Ausdehnung stand die Kostspieligkeit des Baues hindernd im Wege, und diese war um so größer, als nicht nur Bau und Material in Rücksicht auf den Zweck besonders gediegen sein müssen, sondern auch der Betrieb sich dadurch erheblich vertheuert, daß die Schiffe sich im Sommer, Bugsirungen ausgenommen, nicht weiter verwerten lassen.

Dem gegenüber kam nun Ferdinand Steinhaus auf die Idee, Schiffe, welche zum Zweck von Baggerungsarbeiten erbaut wurden, in der Form von Eisbrechern herzustellen; durch die Ausführung dieser Idee erscheint das Problem, die Eisbrecher auch im Sommer zu verwenden, als vollkommen gelöst. Hiermit ist das bedenklichste Hinderniß für weitere Verbreitung der Eisbrecher in Wegfall gekommen und dem Handel und Verkehr eine Förderung gewährt, welche den schwer empfundenen winterlichen Stockungen gegenüber nicht hoch genug angeschlagen werden kann.

F. Lindner.




Erinnerungen an Java.

Von Dr. Fr. Traumüller.

2. Die Bewohner der Insel. (Schluß.)

Kein Javaner geht selbst im tiefsten Frieden ganz unbewaffnet; sein unzertrennlicher Begleiter ist der Kris, ein etwa zwei Fuß langer Dolch mit wellenförmig gebogener Klinge, den er in den Gürtel steckt oder an einem Riemen trägt. Der Kris wird gewöhnlich an der linken, im Hofcostüm aber an der rechten Seite geführt, weil außerdem noch ein kleines Messer in einer Scheide und ein großes Hackmesser (Wadung) getragen werden müssen, als Symbol der Bereitwilligkeit des Trägers, auf Befehl seines Herrn Gras zu schneiden oder einen Baum zu fällen. Zum Kriegscostüm gehören drei Krisse; der eine wird an der rechten, der andere an der linken Seite und ein dritter hinten im Gürtel getragen; außerdem hängt noch ein Schwert (Klewang) an einer besonderen Koppel zur Linken, und als die wichtigste Waffe des javanischen Soldaten kommt die lange Lanze hinzu. Von den Krissen gehört der erste dem Krieger; die zweite ist ein Erbstück der Familie und der dritte ein Hochzeitsgeschenk des Schwiegervaters. Javanische Soldaten in dieser Ausrüstung dürfen aber gegenwärtig nur noch der Susuhanan (Kaiser) von Surakarta und [867] der Sultan von Djokjokarta halten; sonst tragen alle im Dienst der holländischen Regierung stehenden eingeborenen Soldaten holländische Uniformen, wobei sie seltsamerweise barfuß gehen.

Sowie der Kris, gehört auch der Sonnenschirm (Pajung) zu dem Costüm der Javaner. Da dieselben großen Werth auf Titel und äußere Abzeichen legen, so hat die holländische Regierung als Abzeichen für die verschiedenen Rangstufen des Adels und der Beamten in den sogenannten Fürstenländern, und auch in den anderen Residenzschaften, verschieden bemalte Pajungs vorgeschrieben. Goldene Pajungs dürfen nur der Susuhanan und der Sultan tragen.

Das Hauptnahrungsmittel der Javaner ist der Reis. Sie nehmen gewöhnlich täglich nur zwei Mahlzeiten ein, des Mittags und des Abends. Früh Morgens wird nichts gegessen, sondern nur ein Ausguß von heißem Wasser auf getrocknete Kaffeeblätter oder auf eine geringe Sorte zerstoßenen Kaffees getrunken. Gewöhnlich aber kauft sich der Javaner, wenn er zur Arbeit geht, in einem am Wege stehenden Warong (Garküche) Eßwaaren und Obst, wofür er selten mehr als zwei bis drei Cents bezahlt. Der große Warong ist das Kaffeehaus, der Verkaufsladen für Eßwaaren und die Herberge. Hier entfaltet sich fast immer ein buntes Volksleben und findet man den ganzem Tag über eine zahlreiche Gesellschaft von Javanern, die sich lachend und scherzend unterhalten, und häufig führen hier die herumziehenden javanischen Schauspieler und Tänzerinnen ihre Stücke auf. Die einfachste Form der Warongs sind zwei große Körbe, die mit einem Bambusstock über die Schultern getragen werden und Eßwaaren und Früchte enthalten. Gewöhnlich befindet sich in dem einen Korbe ein Ofen zum Kochen des Reises und Wassers. Zu dem in Dampf gekochten trockenen Reis, der mit einer aus verschiedenen Gewürzen und Cocosmilch bereiteten gelben Sauce (Kari) übergossen wird, werden kleine gesalzene Fische, mit Tamarinden gebratenes Hühnerfleisch nebst einer Menge von Zuspeisen, z. B. spanischem Pfeffer, gegessen. Als große Delikatesse gelten dicke gebratene Käferlarven und die geflügelten Termiten. Die prachtvollen Obstsorten, die während der verschiedenen Zeiten des Jahres reifen, spielen eine wichtige Rolle im Lebensunterhalte der Javaner. Die einzigen künstlichen Getränke sind Aufgüsse von Kaffeeblättern, geringen Kaffeebohnen und Ingwer, sowie der aus den zuckerhaltigen Säften der Palmen bereitete Palmwein (Tuak). Da der Koran den Javanern den Genuß geistiger Getränke verbietet, so ist das Laster der Trunksucht unter den geringen Leuten ganz unbekannt, und wenn auch die vornehmen Javaner durch ihren Umgang mit Europäern sich dem Genusse von Wein hingeben, so beobachten sie dabei doch die größte Mäßigkeit. Aber ein noch furchtbareres Laster als die Trunksucht, nämlich das Opiumrauchen, richtet viele Leute zu Grunde, und gar häufig sieht man Javaner, die diesem Laster fröhnen, fast zum Skelet abgemagert einhergehen.

Sehr interessante Gebräuche lernen wir bei den Hochzeitsfeierlichkeiten der Javaner kennen. Wie im ganzen Archipel, besteht auch auf Java die Sitte des Brautkaufs; wenn jedoch der Bräutigam kein Vermögen besitzt, so muß er bei seinem künftigen Schwiegervater längere oder kürzere Zeit in Dienst treten. In der Regel knüpfen sich zwischen den Eltern oder Verwandten schon früh über die spätere Verheiratung ihrer Kinder Verhandlungen an. Bei der Verlobung ist der Bräutigam höchstens fünfzehn und die Braut zehn Jahr alt, doch erfolgt die Verheiratung erst einige Jahre später. Als Verlobungspfand giebt der Vater des Bräutigams einen Ring, einige Kleidungsstücke und Leckereien. Einige Tage nach der Uebersendung des Verlobungspfandes erfolgt die des Kaufpreises der Braut und des Geschenkes für die Eltern der Braut. Bei wohlhabenden Javanern besteht das letztere in einem oder mehreren Büffeln, Geflügel, Reis, Früchten und kupfernen Küchengeräthschaften; bei ärmeren Leuten beschränkt es sich auf einige Früchte. Wenn die Braut das älteste oder jüngste Kind ihrer Eltern ist, so werden die Hörner des Büffels mit Gold und Silber verziert und um den Nacken des Thieres wird ein Lappen von geblümtem Seidenzeug gebunden. Gleichzeitig senden die beiderseitigen Eltern an ihre Verwandten und Freunde Geschenke von Eßwaaren und lassen Einladungen zu den bevorstehenden Hochzeitsfeiertichkeiten, die mehrere Tage dauern, ergehen. Die Gebräuche bei Hochzeiten sind im östlichen und westlichen Java verschieden.

Auch beim Namengeben der Kinder beobachten die Javaner besondere Gebräuche. Das Kind bekommt nicht den Namen der Eltern, sondern diese nehmen vielmehr den Namen des Kindes an und geben ihren frühern Namen auf. Bekommt z. B. ein Knabe den Namen Sariman, so nennt sich der Vater desselben Pak- oder Pa-Sariman, das heißt Vater von Sariman, oder die Mutter Bok-Sariman, das heißt Mutter von Sariman. Die Eltern sind von dieser Zeit an nur unter diesem Namen im Dorfe bekannt. Die Geburt weiterer Kinder bringt keine Veränderung, denn die Eltern behalten den Namen des Erstgeborenen. Nur der Tod desselben in jugendlichem Alter giebt eine Veranlassung zur Aenderung des Namens. In Mitteljava nimmt der Vater dann seinen alten Namen wieder an, während in Ostjava der Name des zweiten Kindes angenommen wird, oder der Vater behält den Namen des ersten Kindes, wenn keine Kinder mehr vorhanden sind. Oft wird auch der Name der Kinder bei Krankheiten verändert. Ferner nehmen Flüchtlinge einen anderen Namen an, um der Polizei zu entgehen oder Beamte bei Erhöhung oder Erniedrigung des Ranges.

Dieses „Karang-Anak“, das heißt das Sichnennen nach seinem Kinde, ist aber nicht bei Javanern der höheren Stände in Gebrauch. Diese legen sich gewöhnlich bei ihrer Verheirathung oder bei Annahme eines Amtes einen Namen bei, der aus zwei Kawiwörtern zusammensetzt ist. Nehmen sie später einen höheren Rang ein, so wechseln sie den Namen wieder, oder wenn sie den Rang verlieren, so gehen sie auf den Kindernamen zurück.

Unsere Kenntniß des Lebens der Javaner würde aber unvollständig sein, wenn wir nicht auch eine kurze Schilderung der Volksbelustigungen gäben.

Von allen Bewohnern des malayischen Archipels besitzen nur die Javaner ein eigenartiges Schauspiel und eigene Musik, und auch hierin ist wieder der Einfluß der Hindu ganz unverkennbar. Bei den theatralischen Aufführungen, den Wajangs, treten anstatt Personen nur mißgestaltete Puppen auf, wobel der Vorzeiger die javanischen Heldensagen recitirt. Es giebt verschiedene Arten von Wajangs, die nicht nur in den Formen der Puppen, sondern auch in ihrer ganzen Anlage und musikalischen Begleitung sich unterscheiden. Das Wort Wajang bedeutet Schatten, in Bezug auf die Puppen, deren Schatten sich auf erleuchteten Schirmen zeigt. Die Vorstellungen finden gewöhnlich in der Veranda oder unter einer besonderen Halle statt und dauern die ganze Nacht hindurch. Auf ein gegebenes Zeichen wird der Recitator von der Musik der Gamelang unterbrochen; er selbst muß zuweilen singen. Da die Wajangspieler gewöhnlich weder lesen noch schreiben können, so müssen sie die Sagenstoffe von anderen erlernen; sie erhalten für ihre Vorstellungen gewöhnlich keine Belohnungen, sondern außer der Verköstigung müssen die Bewohner des Dorfes für sie die Frohndienste verrichten und die Steuern zahlen. Die Wajangspieler in den größeren Städten können meist lesen und schreiben und die in den Stücken vorkommenden Kawiwörter erklären.

Eine andere Art dieser theatralischen Aufführungen sind die Topeng-Vorstellungen, bei welchen anstatt der Puppen Menschen handelnd auftreten. Das Wort Topeng bedeutet Maske. Man unterscheidet zwei Arten von Topeng-Vorstellungen. Die eine derselben, der Topeng dalang, wird immer nur in der Veranda des Hauses gegeben, und dabei recitirt der Leiter die javanische Geschichte, die Vorstellungen bei dem Topeng barangan oder babakan geben reisende Künstler an den Straßen oder in den Warongs. Bei der ersten Art der Topeng-Vorstellungen werden die Masken aus leichtem und feinem Holze geschnitten und sorgfältig bemalt. Die Augen sind schwarz, groß und rund, mit gebogenen Augenbrauen, dile Nasen sehr groß und von allerlei sonderbaren Formen; die Zähne nach dem javanischen Geschmack geschliffen und gefärbt. Die Hauptdarsteller sind auf verschiedene Weise aufgeputzt. Die Frauen tragen um den Hals eine Schärpe von Kattun oder Seide.

Die Topeng-Vorstellungen in Batavia sind aber meist nur Possenspiele, und bei denselben werden häufig Chinesen, Priester oder sogar holländische Polizisten persiflirt.

Keine Wajang- oder Topeng-Vorstellung oder irgend welche Festlichkeit ist für den Javaner ohne Musikbegleitung denkbar. Das große javanische Orchester trägt allgemein den Namen Gamelang und besteht aus verschiedenen Saiten-, Blas- und Schlaginstrumenten, deren Zusammenstellung je nach dem Charakter der Festlichkelt verschieden ist; die wichtigsten Instrumente sind mehrere große Metallbecken, welche in verschiedener Größe entweder an einem Gestell hängen und durch einen hölzernen, mit Zeug umwickelten Klöppel [868] angeschlagen werden, oder horizontal liegen. Ein vollständiges Gamelang-Orchester fordert ungefähr vierundzwanzig Spieler, die mit ihren Instrumenten am Boden sitzen und ohne Noten spielen.

Sowie wir im häuslichen Leben der Javaner überall den Einfluß fremder Völker erkennen, so hat sich auch das sociale Leben in Folge der langen Berührung mit den Hindu und seit der Annahme des Islam vielfach verändert. Die früheren gesellschaftlichen Einrichtungen haben die Holländer, die gegenwärtig im Besitz von ganz Java sind, so weit es die Umstände erlauben, unangetastet gelassen, und die Javaner stehen auch jetzt noch unter der Leitung ihrer eigenen, von Seiten der Regierung angestellten oder anerkannten Fürsten, die schon von Alters her eine Lehnsherrschaft ausübten.

Ganz Java, mit Ausnahme der sogenannten Fürstenländer Surakarta und Djokjokarta, ist in Residenzschaften eingetheilt, in welchen ein europäischer Beamter unter dem Namen Resident die oberste Behörde ist; ihm stehen wieder einige Assistent-Residenten und Controlleurs zur Seite, deren Zahl von der Anzahl der Districte, in welche die Residenzschaft zerfällt, abhängt. Damit aber die Befehle der europäischen Beamten sicherer dem gemeinen Manne mitgetheilt werden können, ist in jedem der Districte ein adeliger Javaner, der den Titel Regent führt, von Seiten der holländischen Regierung angestellt, der alle Befehle des an seinem Platze wohnenden holländischen Beamten empfängt und durch javanische Unterbeamte der Bevölkerung bekannt machen läßt. Die Zahl dieser Regenten auf Java beträgt etwa sechszig, die nach der Größe ihrer Districte ein monatliches Gehalt von 400 bis 1200 Gulden beziehen und überdies noch große sonstige Einkünfte haben.

Der Regent ist eine sehr wichtige Person und übt den größten Einfluß auf die niederen Volksclassen aus. In den Augen der Javaner sind diese Vorsteher Fürsten, aber in Wirklichkeit sind sie von der holländischen Regierung angestellt, besoldet und gänzlich abhängig, werden wie holländische Beamte betrachtet und können daher versetzt und pensionirt werden. Im Allgemeinen wählt man als Regenten die directen Nachkommen der früheren Fürsten, aber das Amt ist keineswegs erblich; nur durch Eifer, Gewissenhaftigkeit und Kenntnisse sich auszeichnende Personen werden damit betraut, und es können daher sogar Javaner von niedrigerer Abkunft zu einer solchen Stellung gelangen. Viele der Regenten sind wohlgestaltete Leute und zeichnen sich durch Intelligenz und Bildung vor dem gemeinen Javaner aus. Gegen Europäer sind sie kriechend höflich, gegen ihre eigenen Landsleute aber hochtrabend und herrschsüchtig; dieselben dürfen ihnen nur in gebückter Haltung oder am Boden kriechend nahen, und diese Unterwürfigkeit verlangt der Regent sogar von seinen eigenen Kindern und nächsten Verwandten.

In seiner Lebensweise hält der Regent die Mitte zwischen derjenigen der Europäer und der seiner Landsgenossen. Er bewohnt ein großes steinernes Haus, vor dem ein mit Waringi-Bäumen beschatteter Platz liegt, wo die Javaner, mit über einander geschlagenen Beinen am Boden sitzend, auf seine Befehle harren. Sein Haus nebst den Wohnungen seiner zahlreichen Dienerschaft und den Pferdeställen liegt in einem von Mauern umgebenen Garten. Die Wohnräume, und besonders die Veranda, auf der er sich Tags über aufhält und Audienz ertheilt oder Gäste empfängt, sind theils mit javanischen, theils mit europäischen Möbeln sehr geschmacklos ausgestattet. An den Wänden der Pandoppo hängen zahlreiche Gemälde und kostbare Waffen, und von der Decke große Ampeln. Da die Regenten glauben, daß sie Alles aufbieten müßten, um ihren Untergebenen gegenüber standesgemäß aufzutreten, so scheuen sie auch keine Kosten sich schöne Wagen, Pferde, kostbare Waffen aller Art anzuschaffen. Doch sehr oft übersteigt die Kauflust die verfügbaren Geldmittel, und die Folge ist eine große Schuldenlast, welche sehr häufig von der holländischen Regierung übernommen wird, um nicht das Ansehen der Regenten beim niederen Volke zu schmälern.

In ihrer Kleidung huldigen sie einem sonderbaren Geschmack, indem sie sich zum Theil auf europäische, zum Theil auf javanische Weise kleiden. Außer der mit breiten Goldborden versehenen kurzen Jacke und den nach europäischem Schnitt gemachten und ebenfalls mit goldenen Galons verzierten Hosen nebst europäischen Schuhen tragen sie Kopftuch und Sarong vom feinsten Stoff, und in der Rückseite des Gürtels steckt ein Kris, dessen Scheide und Griff reich vergoldet oder sogar mit Diamanten eingelegt sind. Sie fahren gewöhnlich in einem mit vier schönen und schnellen Pferden bespannten Wagen, vor und hinter welchem zahlreiche uniformirte Diener reiten. Sobald der große Sonnenschirm mit seinem vergoldeten Knopf irgendwo sichtbar wird, müssen sich alle auf dem Wege gehenden Javaner zu Boden werfen und die Reiter von ihren Pferden steigen und so lange am Boden liegen bleiben, bis der Regent vorbeigefahren ist.

Uebrigens sind sie, wie bemerkt, im Allgemeinen gebildete Leute, welche lesen und schreiben können und außer der holländischen Sprache oft noch Französisch und Englisch verstehen. Für die Erziehung ihrer Kinder sorgt schon seit vielen Jahren die holländische Regierung; dieselbe schickt besonders intelligente darunter sogar zur Ausbildung nach Holland. Der große Nutzen und die politische Tragweite dieser Maximen treten unverkennbar hervor; denn nur durch tüchtige und der Regierung treu ergebene Regenten kann die Herrschaft der Holländer auf Java erhalten und befestigt werden, und nur durch eine so ausgezeichnete Verwaltung, wie sie die Holländer auf Java eingeführt haben, war es möglich, die Bevölkerung zur Arbeit zu erziehen und die von der Natur so reich ausgestattete Insel in ein blühendes Culturland umzuwandeln.




Dämonen.

Von E. Werber.

(Schluß.)

Am späten Abend war ich bei Suhra. Sie saß in einem kleinen Gemache, welches ganz mit rosenrother Seide behangen war. Goldgestickte Pantöffelchen bekleideten ihre Füße, die, über einander gelegt, auf einem seidenen Kissen ruhten. Ich hatte ihr mein junges Leben geschildert, meine Kindheit, meine Jünglingsjahre mit den furchtbaren Seelenleiden, auch die Wirkung ihres Bildes. Alles hatte ich ihr erzählt, nur von Theresa hatte ich nicht gesprochen. An jenes heilige Wesen, das vielleicht in derselben Stunde mit hoher Liebe meiner gedachte, wagte ich nicht zu rühren. Als ich meine Erzählung geschlossen hatte, bat ich:

„Und nun, Suhra, sagen Sie mir, was soll aus mir werden?“

„Maurus – ich kann die Deine nicht werden, Du hast eine Braut.“

Das Wort durchzuckte mich. „Jenes Wesen verehre ich zu sehr, als daß ich es länger täuschen dürfte,“ erwiderte ich. „Ich liebe Theresa nicht, ich liebe Dich!“

„Du willst sie mir opfern?“

„Suhra, Du hast grausame Worte! Kann ich dafür, daß Du mein ganzes Wesen entzündet hast? Kann ich dafür, daß ich das Schöne vom Häßlichen unterscheide? Kann ich dafür, daß ich zu lieben glaubte, ehe ich Dich sah? Verlangst Du von mir, daß ich mich der Philosophie zuschwöre, wenn das Glück mit goldenem Hammer an meine Thür klopft? Verlangst Du, daß ich mich von Dir wende, nachdem Du gesagt: ‚In der Wüste will ich wohnen’?“

Ich lag zu ihren Füßen, ergriff ihre weißen Hände und vergrub mein Gesicht darin.

„Maurus!“ sagte sie weich, und da ich aufblickte, lag eine Verführung in ihrem Auge, über der ich erschrak. Es war mir einen Augenblick, als befände ich mich nicht auf der Erde und nicht einem menschlichen Wesen gegenüber. Es schwindelte mir und ich rief:

„Suhra, mit diesem Blicke könntest Du einen Menschen in den Tod und in die Verdammniß reißen! Wer bist Du?“

Sie legte ihre Hände, die nach Rosen dufteten, mir auf die Augen und sagte: „Frage nicht so ungestüm!“

Da fragte ich noch einmal fester: „Suhra, wer bist Du?“

[869] „Ich bin die Schönheit, die Dich versöhnen will!“

Betroffen zog ich ihre Hände von meinen Augen herab und blickte in ihr Gesicht, das jetzt einen stolzen Ausdruck hatte.

„Suhra, Du bist göttlich!“ rief ich und küßte den Saum ihres Gewandes. „Du lässest Dich lieben von mir, dem Häßlichsten aller Sterblichen? O! Ich will Dich lieben mit der Größe und der Gluth vergangener Zeiten, wo die Menschen sich noch erinnerten, daß ein Titane das Feuer aus dem Himmel für sie stahl! In meiner Seele wirst Du Träume lesen, stolz und strahlend wie Dein Auge, und mein Herz wird Dir Hymnen singen, brausend wie das Meer im Sturme und süß, Suhra, süß wie in der Mainacht das Lied der Nachtigall!“

Sie ließ ihre Finger durch mein Haar gleiten und sagte leise: „Maurus, Du bist ein wunderbarer Mensch!“ Und in ihrem Blicke schimmerte wieder jene unbeschreibliche Verführung. Beinahe wehmüthig mußte ich fragen: „Suhra, kamst Du aus einem schwarzen Abgrund oder kamst Du von den Sternen? Denn wie ein irdisches Wesen erscheinst Du mir kaum –“

Mit einer raschen Bewegung zog sie den Pfeil aus ihren Haaren, die wie Schlangen ihr auf Brust und Arme niederfielen: „Komm, laß Dich binden, gefährlicher Sclave!“ flüsterte sie und umwand mir damit die Handgelenke. Es beschlich mich dabei ein unheimliches Gefühl, und ich fragte: „Suhra, wirst Du einen Sclaven lieben können?“

„Ja, mehr, weit mehr als einen Gebieter.“

„Und wird mein Gesicht Dein Auge nie beleidigen?“

Sie lächelte und sagte: „Der Mann, mit dem man mich vermählte, war schön, so schön wie ich. Unsere Vereinigung war kein Mißklang, aber auch keine Harmonie, sondern ein einziger verstärkter Ton, langweilig, einschläfernd, erdrückend. Ich suchte oft sehnsüchtig in seinen Zügen nach einer unregelmäßigen, einer excentrischen Linie, aber ich fand keine. Und so war auch sein inneres Wesen; es hatte keine Höhen und keine Tiefen, es war eine Ebene, eine untadelhafte Ebene, langweilig, einschläfernd, erdrückend. Da fing ich an, von hohen Bergen und tiefen Abgründen zu träumen, und zeichnete mit meinen ungeübten Fingern häßliche, seltsame Physiognomien, und ich wünschte heimlich, die Natur möchte ein solches Menschengesicht geschaffen haben und mir begegnen lassen.“

Eine wonnige Gluth bemächtigte sich meiner und ich rief: „Sei Du mein Heil oder mein Verderben, ich bin Dein, Suhra! Führe mich, wohin Du willst, in das Leben oder den Tod – mein Wille ist ausgelöscht!“

Ich vergrub mein Gesicht in den Falten ihres Kleides; ich hatte das Gefühl einer süßen Vernichtung. So blieb ich eine Weile. Als Suhra dann leise sagte: „Gehe jetzt, Maurus!“ erhob ich mich. Auch sie stand auf und reichte mir ihre Hand; sie stand vor mir wie eine Göttin und – wie das Schicksal.

Als ich in die Nacht hinaustrat und zu den Sternen hinaufblickte, kamen sie mir ganz seelenlos vor, und mir war, als sei ich ein anderer Mensch geworden.

Nun war ich Suhra rettungslos verfallen, und mein Stolz, von ihr bevorzugt zu sein, wuchs mit meiner Leidenschaft. Ich sah das Lächeln und hörte die höhnenden Bemerkungen der Menschen. Wenn ich mit Suhra ausging, blieben die Leute auf der Straße stehen, und es entschlüpften ihnen laute Ausrufe der Verwunderung über den entsetzlichen Gegensatz unserer Erscheinungen. In den Kunstsälen, in den Concerten und Theatern zogen wir die Aufmerksamkeit ausschließlich auf uns.

Einige tiefere Menschen empfanden vielleicht eine Art unheimlichen Interesses, das Schönste und Häßlichste in der Schöpfung neben einander zu sehen; aber die Menge belustigte sich an dem außerordentlichen Anblicke. Einige empörte die maßlose Dreistigkeit, mit der ich meine Häßlichkeit neben dieser Schönheit zeigte, und es ward mir offenbar, daß ich mich bis zum Verluste der Achtung lächerlich machte. Und je mehr meine Häßlichkeit auffiel, desto mehr fiel natürlich auch Suhra’s Schönheit auf. Man sprach überall von der Schönheit der Tscherkessin und von der Häßlichkeit ihres Begleiters. Suhra wurde die gefeiertste Frau, und ich der lächerlichste Mann. Ich wußte es, aber die Stärke meiner Leidenschaft hatte die Scham in mir erstickt.

Und was errang ich von ihr, die mich an sich gebunden mit allen Zaubern der Schönheit und der Verführung? Nichts!

Nicht Eine Gunst! Aber viele heiße Versprechungen. – Wochen, Monate, Jahre vergingen, ich folgte ihr und ihrem kränkelnden Bruder von Land zu Land und half ihr, die Triumphe der Schönheit feiern. Ich durchschaute in meinem Fieber nicht die Grausamkeit, mit der sie mich ausgesucht hatte zum Opfer ihrer Triumphe. In ihr lebte nichts als das Bewußtsein ihrer Schönheit und der Hunger nach Huldigung. Wahrlich, sie hatte Glück! Nicht jeder Schönheit ist vergönnt einem solch schreienden Gegensatze zu begegnen, wie sie ihn in mir fand. Und ich, dessen Stolz und Stärke mit dem Meere hatte wetteifern und ein heiliges Glück in der Einsamkeit hinter geschlossenen Pforten genießen wollen, ich zog einem herzlosen Weibe nach von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, und ließ mich von der Menge begaffen, wie auf Jahrmärkten merkwürdige Mißgeburten begafft werden! – Und in Rouen saß einsam ein edles Mädchen und weinte um mich oder – verachtete mich! Meine Briefe an Theresa waren kühler und seltener geworden, und zuletzt, als ich den Zwang nicht mehr ertragen konnte, hatte ich ihr geschrieben:

„Vergiß mich, ich bin Deiner nicht mehr würdig.“

Ihr Andenken trug ich im Herzen wie den Verlust des Göttlichen, wie einen Gewissensbiß; und wie der Kranke heftige Schmerzen mit Mohnsaft betäubt, so betäubte ich meine Gewissensbisse mit Suhra’s Schönheit.

Suhra besaß eine Gewalt über mich, die alle meine Kräfte niederhielt, nur die eine nicht: die Leidenschaft. Wenn sie in Huldigungen geschwelgt und Lächeln und Blicke mit göttlicher Anmuth gespendet hatte und ich dann in Ausbrüche der Eifersucht gerieth, dann sagte sie ruhig:

„Maurus, das ist ja nichts, was ich Jenen gebe! Du aber hast mein Herz!“

Ihr Herz! Ich glaubte damals noch, daß sie eines habe! Aber, wenn ich ganz aufrichtig sein will, so muß ich gestehen, daß ich nicht ihr Herz, sondern ganz allein ihre Schönheit liebte.

Zuweilen beklagte ich mich über ihre Launenhaftigkeit, über ihre Kälte, und bat sie, Mitleid mit mir zu haben; dann sah sie mich mit einem räthselhaften Lächeln an, und die Kühlheit ihrer strahlenden Augen machte mich verstummen.

Einmal sagte ich:

„Suhra, Du bist unbegreiflich! Nichts scheint Dich zu bewegen; kein Unwille und keine Traurigkeit umwölken je die Ruhe Deines Angesichtes – Du bist schön wie ein steinernes Bild. O! Wenn ich Dich einmal weinen sähe!“

„Weinen? Ich weinen?“

„Ja, Suhra! Du wärst dann menschlich schön!“

„Ich will nicht menschlich schön sein,“ rief sie.

„Suhra, wenn einmal Deiner Brust ein Schluchzen sich entränge und ein heißer Tropfen aus Deinem Auge fiele, ein Tropfen des Mitleids oder des Schmerzes – wenn Deines Mundes Siegeslächeln unterginge in einem Weh – ich warte immer darauf.“

„Du bist thöricht, Du bin klein, Maurus,“ erwiderte sie. „Du willst, daß meine Züge im Schmerze sich verzerren? Du willst, daß meine Augenlider roth werden und der Thränen beißendes Salz mir die Haut verderbe? Würdest Du mich dann vielleicht mehr lieben? Die Schönheit ist ein göttliches Geschenk; soll ich sie durch menschliche Schwäche verlieren, verderben, beschädigen? Wenn Du Durst nach Thränen hast, so steige zu Jenen herab, die weinen. Ich weine nicht.“

Und dann sah sie mich mit verführerischem Blicke an, der mir jedesmal die Seele lähmte.

Wir waren in Rom; Suhra hatte mir seit einiger Zeit Zeichen des Ueberdrusses gegeben, die ich mit feiger Geduld hinnahm. Eines Nachts träumte mir, die marmorne Göttin, welcher ich mein Gesicht auf den Busen gezeichnet hatte, käme zu mir. Sie hatte die Zeichnung noch auf der Brust, aber die Züge waren nicht schwarz, sondern feurig, und die Göttin hatte Suhra’s Gesicht. Sie beugte sich über mich, ihre Augen bohrten sich wie Dolche in mein Herz – und ich erwachte mit einem Schrei. Es war finster in meinem Zimmer, und den Traum noch vor Augen, sah ich die weiße Gestalt sich auflösen und wie Dunst verschwinden.

Ich erhob mich und blickte in die Nacht hinaus: der Himmel war gewitternd, die Luft schwül und vom heißen Dufte der Orangeblüthen erfüllt. Die Wasser des Springbrunnens plätscherten [870] sanft von jenseits der Gebüsche herüber, sie klangen wie heimliches Schluchzen.

Es kam eine Sehnsucht über mich, o, eine Sehnsucht! Die Orangenblüthen flüsterten von Liebe, und die Wasser drüben schluchzten. Suhra – Theresa – O, meine arme Seele, wer hilft mir bei dieser Noth?! – Ich sank mit der Stirn auf die Fensterbrüstung und weinte bitterlich. –

Als ich am nächsten Vormittage mit einem festen Entschlusse nach Suhra’s Hause ging, fand ich sie nicht daheim; man sagte mir, sie sei ausgefahren und am Nachmittage war sie noch nicht zurück. Ich wartete auf ihre Rückkehr mit brennender Ungeduld, denn der Traum der vergangenen Nacht hatte mich aufgerüttelt aus meiner Sclaverei.

Es war spät am Abend, als Suhra, strahlend von Schönheit und Frohsinn, in den Saal trat, wo ich auf sie gewartet hatte. Ich ging ihr einen Schritt entgegen:

„Wo warst Du heute, Suhra?“ fragte ich.

„Rom drückte mich; ich bin in die Campagna hinausgefahren.“

„Warum ließest Du mich nicht holen, damit ich Dich begleitete?“

„Maurus, ich liebe diesen tadelnden Ton nicht; frage mich in einem anderen!“

„Setze Dich zu mir, Suhra,“ bat ich, nahm das Tuch, mit dem sie ihre Schultern bedeckt hatte, und legte es auf einen Stuhl.

„Wie feierlich Du heute bist!“ erwiderte sie mit spöttischem Lächeln.

„Ja, ich bin feierlich, Suhra, und ich will Ernstes mit Dir sprechen.“

„Laß mich, ich bin müde!“

„Dann ruhe Dich in meinen Armen aus –“ und mit diesen Worten wollte ich sie an mich ziehen.

„Maurus – ich will nicht in Deinen Armen ausruhen,“ rief sie und bannte mich mit ihrem kalten Blicke.

„Suhra, seit ich Dich kenne, hast Du nur eine Güte für mich gehabt, die: mich immer fester an Dich zu ketten! Du hast Dir nicht nur eine unumschränkte Gewalt über mich bewahrt, sondern auch eine Selbstbeherrschung und eine Stärke meiner Leidenschaft gegenüber, die mir beinahe übermenschlich dünkt. Du hast nichts darauf zu erwidern?“

Als sie schwieg, fuhr ich fort: „Du weißt, daß ich die Schönheit verachtete bis zu dem Tage, wo ich Dich sah ‚Ich will Dich versöhnen,’ sagtest Du zu mir an jenem Abend, wo ich zum ersten Male zu Deinen Füßen lag; aber Du hast mir nicht die Versöhnung gebracht, sondern ein verheerendes Feuer in mir entflammt und gießest täglich, stündlich Oel darauf und niemals einen Tropfen Wasser!“

„Du bist ungenügsam!“

„Ah, ungenügsam!“ Ich lachte bitter. „Suhra, ich habe in der vergangenen Nacht einen merkwürdigen Traum gehabt –“

„Einen Deiner Wüstenträume?“

„Er gab mir viel zu denken.“

„Wirklich? Was zum Beispiel?“

„Dies: Ob Du ein Weib seiest oder ein Dämon –“

Mit einer Bewegung der Ungeduld legte sie ihren Kopf auf den Polster des Divans und sagte:

„Es gährt in Deiner Wüste – laß mich – ich versichere Dich, Du langweilst mich.“

„Suhra, für dieses Wort tödte ich Dich,“ schrie ich und riß sie an mich. Sie aber drückte mir ihre beiden Hände auf’s Gesicht und es strömte von ihnen in meine Sinne ein betäubender Wohlgeruch, eine entnervende Gluth; die Muskeln meiner Arme erschlafften und ich sank machtlos zu Boden.

Wie lange ich dort gelegen in dumpfem Halbbewußtsein, das weiß ich nicht. Als es klar in mir wurde, erhob ich mich und tastete mich durch die Finsterniß bis zu Suhra’s Schlafgemach; ich lauschte an der Thür, und als ich das Rauschen ihres Kleides hörte, da rief ich langsam und feierlich:

„Weib, Göttin oder Dämon – wer Du auch seiest, vernimm mein letztes Wort: Du hast meine Seele gemordet – sei verflucht auf der Erde, in der Hölle und im Himmel!“

Dann tastete ich mich durch die Säle zurück bis in die Vorhalle, wo ein Licht brannte. Es brannte düster, wie meine Gedanken. Ich floh aus dem Hause, elend, vergiftet, zerstört. –

Ja, zerstört! Ich hatte an der Quelle der Schönheit getrunken und von dem Trunke das Fieber bekommen, und wie ich auch rang und kämpfte und Kühlung und Genesung suchte, ich genas doch nicht.

Alphonsens Liebe zur Schönheit war eine Andacht, und er hatte ihr sein Vermögen geopfert; die meinige war ein Wahnsinn; ich opferte ihr mein Vermögen, meine Würde und – Theresa! Ich verkaufte, da meine Einkünfte mir jetzt nicht mehr reichten, stückweise meine Güter und dann auch das väterliche Haus. Die Hand voll Gold, schlich ich mich demüthig wie ein Bettler vor die Thüren der Schönheit, und wenn der Abscheu oder das Lachen mir als Antwort ward, dann warf ich das Geld handvollweise auf den unreinen Opferherd.

O unerbittliche Göttin, ziehe Deinen Zorn von mir zurück!

De profundis clamavi!




Drei Jahre hatte ich so mit kranker Seele gelebt, war ich so mit ruhelosem Herzen gewandert.

Eines Tages – es war in Marseille – ging ich am Meeresstrande auf und nieder und blickte den Strand entlang mit schwermüthigem Herzen; da ward mein Auge durch einen Mann gefesselt, der sich mit beiden Armen auf die Hafenbrüstung stützte und in’s Meer hinunter blickte. Er war wie zu einer Reise gekleidet, und der breite Rand seines Hutes verdeckte sein Gesicht; als ich mich näherte, blickte er auf – es war Alphons.

Erbleichend streckte er mir die Hand entgegen:

„Leb’ wohl, Maurus!“ sagte er mit schmerzlichem Lächeln.

„Leb’ wohl!? Ist dies ein Gruß, Alphons?“ rief ich, ihn in meinen Armen fast erdrückend.

„In einer Stunde besteige ich jenes Schiff dort; ich verlasse Frankreich und Europa – ich wandere aus – nach Südamerika.“

„Warum?“

„Ich habe nichts mehr.“

„Nichts mehr?“

„Höre: Da Niemand mehr mir borgen wollte und die Gläubiger auf die unverschämteste Weise mich bedrängten, verkaufte ich meine Bibliothek, die Bilder und meine Göttinnen und Halbgöttinnen, meine Götter und Halbgötter. Das war der schwerste Tag meines Lebens! Als alle Gläubiger befriedigt waren, blieb mir noch genug, um meine Ueberfahrt zu bezahlen und nicht als Bettler in Amerika zu landen.“

Ich bebte. So konnte auch mein Loos sich gestalten.

„Alphons, ich habe auch viel, sehr viel gebraucht, aber ich besitze doch noch mehr als Du – bleibe, bleibe bei mir!“

Er schüttelte den Kopf.

„Aber wohin willst Du, und was willst Du thun?“

„Ich werde in’s Innere der La Plata-Staaten gehen und dort laufen, laufen, als ein echter Conihoult, laufen mit den Indianern und den wilden Pferden auf den weiten Grasebenen. Die freie Luft, der weite Blick und die ungehemmte Bewegung werden mir gut thun; ich denke, dieses Nachspiel meines Lebens soll mir gefallen.“ Und der arme Alphons lachte.

Aber als ich ihn fragte: „Und Suleika?“ da seufzte er tief. „Wer hat sie gekauft, Alphons?“

„Gekauft?!“ rief er. „Glaubst Du, ich hätte Suleika verkauft?“

„Dann hast Du sie verschenkt; wem?“

„Maurus! Glaubst Du, ich ertrüge den Gedanken, daß Jemand ein Kunstwerk besitze, das mein war, wie meine Seele mein ist? Ein Kunstwerk, das meine geistige Frau war?“

„Aber was hast Du mit ihr gemacht?“

„Das einzig Mögliche; ich habe sie zerbrochen.“

„Zerbrochen? Und die Trümmer?“

„Habe ich in die Seine geworfen.“

Er blickte auf’s Meer hinaus, das im Morgendufte mit dem Horizont verschmolz, und sagte nach einer Weile:

„Ich war vor einigen Tagen in Rouen und habe die letzten Blumen aus dem Conihoult’schen Garten auf meiner Mutter Grab gelegt; ich hatte dort eine schwere Stunde. Aber“ – er fuhr sich mit der Hand durch’s Haar – „sie ging vorüber. Es geht ja Alles vorüber. Alles!“

Dann fragte er mich nach meinen Erlebnissen, und ich beichtete ihm.

„Geh’ mit mir,“ sagte er. „Du bist krank an der Seele, [871] und wenn Du Dir selbst überlassen bleibst, so wirst Du nicht gesund, armer Maurus!“

Ich fühlte, daß er Recht hatte; allein mir war, als sagte eine Stimme in mir: Geh’ nicht!

„Alphons, jetzt kann ich nicht mit Dir gehen, nicht so plötzlich. Laß mir ein wenig Zeit zur Ueberlegung!“

Er nickte.

Es lag eine stille Freudigkeit über dem Meere, und Alphons bestieg das Schiff mit heiterer Stirn; als er mich aber in seine Arme schloß, ward sein Auge dennoch feucht.

„Mache Dir keine Sorge um mich,“ sagte er leise, „und wenn Deine Zeit hier um ist, so komme zu mir. Leb’ wohl, lieber, lieber Maurus!“

Den letzten Menschen, der ein Theil von mir selber war im Blut und in der Seele, verlor ich jetzt! Heiß stürzten die Thränen aus meinen Augen, als ich in seinen Armen lag – zum letzten Mal.

„Sei stark,“ sagte er und riß sich von mir los.

Ich verließ das Schiff und ging am Strande bis zu einer Stelle, von welcher ich es lange im Auge behalten konnte. Schwarzer Rauch und feurige Funken fuhren aus dem Schlote – Hurrah! tönte es vom Verdecke, und dann glitt das stolze Schiff majestätisch an mir vorüber. Am Ende des Verdeckes stand bleichen Angesichtes Alphons und rief, seinen Hut schwenkend:

„Leb’ wohl, Frankreich! Leb’ wohl, Maurus!“

Das Schiff ging schneller und schneller und warf einen rauschenden silbernen Wasserschweif hinter sich; Alphons’ liebe Züge und seine liebe Gestalt verschwammen vor meinem Auge, und es kam der Augenblick, wo ich sie nicht mehr sah. Lebe wohl, Alphons!

Mit verstörten Sinnen ging ich am Strande weit hinaus; die Wellen netzten mir den Fuß und sagten: Komm! Da erhob sich in meiner Seele mit sanftem Glanze ein Bild – Theresa! Ihre schwarzen Augen blickten mich groß an und mit ganz unsäglicher Trauer, und auf ihren Lippen lag himmlische Sanftmuth.

Ich erbebte. Was war aus ihr geworden? Grämte sie sich? Verachtete sie mich? War sie todt?

„O!“ sagte ich mir, „wende Deine Gedanken von jenem reinen Wesen ab! Du bist nicht werth, an sie zu denken.“

Und ich erhob mich und trug mein Fieber und mein Elend wieder in’s Gewühl der Städte und ließ mich von der Schönheit beleidigen, wie ich sie einst beleidigt hatte.

So lebe ich noch und trinke an der vergifteten Quelle. Ich bin ein Kranker! Ich bin ein Feuer, das nichts löschen kann!




Ein Jahr ist vergangen, seit ich die vorstehenden Blätter schrieb, und manche Schmerzen kamen noch über mich. Alphons ist todt! Er stürzte, als er zur Vertheidigung einer von betrunkenen Europäern beleidigten Indianerin über die Prairie sprengte, vom Pferd und brach das Genick. Er liegt auf der Prairie begraben, und der Hufschlag der Pferde geht über sein Gebein. Einsam liegt er und verloren unter dem hohen Grase.

Als ich die Nachricht erhielt, wurde es völlig Nacht in mir. Ich hatte jetzt Alles verloren!

Monate lang war ich die Beute des Grames und des Trotzes; bald erlahmte ich, bald bäumte ich mich. Mir graute vor der furchtbaren Zerrissenheit meines Innern und flehend erhob ich meine Arme in der Finsterniß der Nächte und betete zu der furchtbaren Göttin um Erlösung.

Da kam der Frühling; es wehten die Märzstürme, die den Veilchenduft ankündigen und die Sehnsucht, und es fing etwas in mir zu stürmen an: der Drang nach der Ferne! Und dann kamen die sanfteren Lüfte und es reifte in mir der wehmütige Entschluß, auszuwandern. Vielleicht, sagte ich mir, finde ich noch die Hütte, welche Alphons sich gezimmert hatte, und vielleicht genese ich durch Arbeit. Vielleicht auch finde ich dort einen schnellen Tod, wie er.

Ich ging nach Rouen und nahm Abschied vom Grabe meiner Großmutter. Ich litt sehr an jenem Grabe. Sohn und Enkel, beide zu Grunde gerichtet!

Aber ich sagte mir, daß ich noch schwerer leiden müsse; ich legte mir die Buße auf, auch von Theresa’s Hause Abschied zu nehmen, doch wartete ich, bis es dunkel wurde. Dann ging ich mehrmals an ihrem Hause vorüber, und ich hatte ein Gefühl, als sollte ich eintreten und zu Theresa’s Füßen niedersinken. Aber da ich plötzlich Licht hinter den Fenstern sah, ergriffen mich Angst und Scham.

Ich wollte mich vor ihr zeigen? Und was wollte ich ihr sagen? Nachdem ich Dich verlassen und Jahre lang, Dich und meine Manneswürde beleidigend, zum Gespötte der Menschen vor den leichtfertigen Altären der Schönheit auf den Knieen gelegen, jetzt komme ich wieder zu Dir!?

Nein, nein! Diesen Schmerz gebe ich Dir nicht zu trinken, Theresa!

Ich könnte Dich ja auch nicht von dem Unglaublichen überzeugen, daß ich Dich nie vergessen habe, daß Du in meiner Nacht voll Irrlichtern der einzige Stern warst, meiner Seele Sehnsucht und meines Gewissens Qual!

Fort, fort! Wohl Dir, wenn Du mich vergessen hast!

Aber noch mehr wollte ich büßen: ich wollte auch von meiner Eltern Hause Abschied nehmen.

Es war im April und gegen Abend, als ich dem Meeresstrande nahe kam. Das Meer lag ruhig und bereit, die Sonne zu empfangen; unnennbar weich war die Luft, und aus dem Garten drang süßer Fliedergeruch zu mir. Da lag es, das Haus mit den zwei spitzigen Thürmen, traulich vom Epheu umschlungen. Das Herz klopfte mir mit wilden Schlägen – ich dachte an meine blonde Mutter, an meinen braunen Vater und an die selige, selige Kindheit!

Ich näherte mich dem Hause in der Absicht, einen Epheuzweig abzupflücken. Wer mag es wohl bewohnen? fragte ich mich. Die Fenster waren, zwei ausgenommen, alle geschlossen, aber die Hausthür stand offen. Ich dachte, es sei vielleicht nur während der Sommermonate bewohnt und in der übrigen Zeit des Jahres durch Jemanden aus dem Dorfe beaufsichtigt, und dieser Gedanke gab mir den Muth, einzutreten. Ich athmete beklommen, als ich die breite, braune Treppe betrat und dem großen Fenster mit den farbigen Scheiben entgegenstieg. Mein Eigenthum und nicht mehr mein Eigenthum! Und jetzt stand ich vor der Thür des großen Saales; es war so stille im Hause wie in einer Ruine. Ueber der Thür blickte im braungoldenen Rahmen eine spinnende Normannenkönigin auf mich herab, und ihr vorwurfsvoller Blick drang bis in die Tiefen meines Herzens. Wie ein Verbrecher, der entdeckt zu werden fürchtet, spähte ich nach beiden Seiten des Ganges und drückte dann leise auf die Thürklinke. Sie ging leicht, doch als die Thür beim Oeffnen ein wenig knarrte, schreckte es mir alle Nerven auf. Dennoch trat ich ein, langsam und leise – und es war Niemand im Saale.

O Jahre, vergangene, verlorene, wie kommt ihr über mich! Es befiel mich ein Zittern, ich mußte mich an die Wand lehnen, denn meine Kniee drohten zu brechen. Die Wände riefen mir zu: Heimathloser, was willst Du hier? Fürchtest Du nicht, daß wir auf Dich stürzen, Ungetreuer, der Du uns verkauft hast, uns, die Deine Kindheit schützten vor Regen und Sturm, die Deines Vaters Leiche sahen und den Jammer Deiner Mutter?

Da schrie ich auf und bedeckte mir das Gesicht mit beiden Händen, und ich wünschte, die Wände möchten einstürzen und mich begraben. Fort, fort auch von hier! – Und wie mir die Hände vom Gesichte sanken und ich noch einen Blick über den Saal warf, da stand unter der Thür zu meiner Mutter Zimmer eine Gestalt – und als ich zusammenfuhr, sagte die Gestalt mit Theresa’s sanfter Stimme:

„Maurus!“

Ich wurde kalt am ganzen Körper, und der Athem verging mir. Da trat die Gestalt zu mir her – und es war Theresa! – Sie nahm meine Hand und sprach:

„Sie sind unglücklich, Maurus – ich sehe es.“

Und sie blickte mich wehmütig an. Ich rang nach Worten – endlich konnte ich zu ihr sagen:

„Theresa, warum stehst Du nicht vor mir wie der Racheengel mit dem feurigen Schwert? Warum stehst Du vor mir wie ein Engel der Güte?“

„Maurus,“ sagte sie bewegt, „komm’, setze Dich zu mir, Du zitterst ja, Du kannst ja nicht mehr stehen!“

Und sie führte mich langsam und schonend zu einem Sitze und nahm neben mir Platz. Ich vermochte nicht, sie anzusehen; gesenkten Blickes sprach ich:

[872]

Um Nichts!
Nach dem Gemälde von E. de Peerdt.
Mit Verwendung einer Photographie aus dem Verlage von Edwin Schloemp in Leipzig auf Holz übertragen.

[873] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [874] „Theresa, Du sitzest neben einem Unwürdigen; ziehe Deine Hand aus der meinen – laß mich fliehen!“

„Fliehen?“

„Ja, Theresa. Hätte ich gewußt, daß ich Dich hier finden würde, nimmermehr wäre ich hergekommen, denn ich muß vor Deinem inneren Auge wie ein häßlicher Flecken stehen.“

„Maurus, thu’ mir nicht so weh!“ sagte sie bittend.

„Kann ich Dir noch wehe thun, Theresa? Was für ein Wesen bist Du denn, daß Du mich nicht verachtest?“

„Ich habe keinen Grund Dich zu verachten, ich habe Dich beklagt und habe mit Dir gelitten, denn ich wußte, daß Du nicht glücklich würdest.“

„O Theresa, nie möge Dir im Gemüth eine Ahnung aufgehen von den Martern, die ich gelitten habe! Aber Eins lasse mich Dir gestehen: mein Herz war nicht in der Verirrung, nur meine Einbildungskraft und meine Sinne waren es. Und wie hinter Nebel und Wolken die Sterne in ihrem reinen, fernen Lichte stehen, so standest Du stets in meinem Herzen hinter der Wirrniß, dem Rausche und dem Wahnsinne. Und wenn es für Augenblicke still und klar in mir wurde, dann sah ich Dich und verging in Gewissensbissen und in Sehnsucht. Aber heiße mich schweigen, Theresa, sonst sage ich Dir Dinge, die ich Dir nicht sagen darf. Ich gehe – ich bin ein Kranker und ein Schiffbrüchiger – verzeihe mir und – lebe wohl!“

Ich sank auf die Kniee vor ihr.

„Verzeihe mir, Theresa, um der schönen Erinnerungen willen! Verzeihe mir um der Leiden willen! O, sei nicht so stumm! Habe Erbarmen mit mir! Du weißt nicht, was die Qualen des Schuldigen sind, aber glaube mir, sie sind entsetzlich!“

Theresa zitterte und es fielen Thränen auf ihre Hand.

„Aber,“ sagte sie schluchzend, „wohin willst Du gehen?“

„Ueber’s Meer – ich will auswandern.“

Sie sank zurück und schloß die Augen.

„Theresa, was ist Dir?“

Sie suchte meine Hände, und als ich sie ihr gereicht hatte, drückte sie dieselben mit der Kraft des Schmerzes; dann blickte sie mich an mit fast gebrochenen Augen und sprach:

„Auswandern? Das thun die armen Leute. – Bist Du denn arm?“

„Beinahe ein Bettler.“

„O Du armer Maurus!“

Die Thränen liefen über ihre blassen Wangen herab – ich hatte das Verlangen, aber nicht den Muth, sie zu trinken.

„Maurus – höre mich jetzt ruhig an: Ich habe dieses Haus gekauft, weil – weil es Dein Haus ist. Nimm es zurück!“

„Theresa!“

„Entsetze Dich nicht! Denke – denke, Du seist mein Bruder und ich hätte es Dir gehütet. O nimm es zurück!“

Und sie hob flehend die Hände zu mir auf.

„Theresa – Du bist ein himmlisches Wesen, Du bist meine Schwester nicht! Und Du wirst sie nie sein! Ich habe vergeudet, laß mich büßen – laß mich gehen!“

„Maurus – daran werde ich sterben.“

„So weit geht Dein Mitleid für mich?“

„Nein,“ rief sie, die Hände ringend, „nicht mein Mitleid, aber meine Liebe!“

„O! – Süße, süße Erlöserin!“

Jetzt küßte ich ihr die Thränen von den Augen und den Wangen. Und nun, Vorhang, falle! Falle gleich einer ehernen Pforte zwischen der Welt und meinem unverdienten Glücke!




Zusammengesetzte Portraits.
Das Compagnie-Portrait im Stereoskop. – Der Wettstreit der Sehfelder und seine Wirkungen. – Das Compagnie-Portrait als Prophet. – Die Mischung in größerem Maßstabe. – Fixirung auf photographischem Wege. – Gewinnung von Typen; Verbrechertypus; Rasse- und Familientypen. – Durchschnittsportaits: von Lebenden; von verstorbenen Berühmtheiten. – Idealportraits. – Versuche zur Gewinnung körperlich wirkender Portraits und die Lehmann’schen Raumbilder.

In jedem Familien-Album wird man Brustbilder finden, die in nahezu derselben Größe und Wendung des Antlitzes photographirt worden sind. Mit solchen Portraits lassen sich Experimente anstellen, die ebenso anziehend wie lehrreich sind und sehr werthvolle Perspectiven eröffnen. Wohl die meisten meiner Leser werden sich eines Jugendspielzeugs erinnern, welches aus Köpfen, Bruststücken und Unterkörpern menschlicher Figuren bestand, die auf verschiedene Kärtchen gemalt waren und durch deren beliebige Zusammensetzung man sehr drollige Wirkungen erzielte. Eine bei Weitem merkwürdigere Mischung kann man sich vollziehen sehen, wenn man zwei in den oben angedeuteten Richtungen übereinstimmende Visitenkarten-Portraits in ein Stereoskop bringt: sie verschmelzen, mögen sie einander noch so unähnlich sein, zu einem Mischbilde, welches zwar mit jedem der beiden Theilhaber der Firma Aehnlichkeit zeigt, aber doch keinem allein gleicht, vielmehr eine völlig eigenartige, lebendige Individualität darstellt. Die freundlichen Augen des Einen blicken uns aus den ernsten Zügen des Andern entgegen, aus der gebogenen spitzen und der aufgerichteten stumpfen Nase ist eine ganz annehmbare Mittelnase hervorgegangen; die vorhandenen Härten und Unschönheiten haben sich, so weit sie nicht von der nämlichen Art waren, gegenseitig ausgeglichen; das Compagnie-Portrait hat einen eigenthümlichen Reiz, ja eine Art von Mienenspiel erhalten. Es giebt keine zwei Gesichter in der Welt, die sich nicht in dieser Weise mit einander kreuzen ließen: Männer und Frauen, Kinder und Greise, Kaukasier und Neger – sobald nur die Aufnahmebedingungen dieselben waren.

So ergötzlich dieses Spiel ist, namentlich wenn wir unser eigenes Conterfei betheiligen und uns mit unseren Bekannten in Wechselwirkung setzen: es hat seine ernste Seite, es ist mehr als ein Spiel. Zunächst lehrt es uns noch viel eindringlicher, als das Stereoskop an sich, daß das Sehen ein geistiger Vorgang ist und nicht im Auge selbst stattfindet, denn nicht ein rohes Uebereinanderlegen, sondern nur ein geistiges Verschmelzen kann so vollkommene Mischungen hervorbringen wie wir sie bei geeigneten Vorlagen erhalten. Zwar gelingt auch, wie wir bald sehen werden, ein rein mechanisches Verschmelzen der einzelnen Züge, aber den damit gewonnenen Portraits fehlt das Leben, welches die direct aufgenommenen Mischbilder auszeichnet. Wenn wir nämlich ein solches Mischbild länger betrachten, so bemerken wir, daß die Aehnlichkeit bald mehr nach der einen, bald mehr nach der anderen Seite hinüberneigt, das Gesammtportrait bald froher und kühner, bald ernster oder niedergeschlagener dreinschaut, bald etwas jünger, bald etwas älter erscheint. Es ist das eine Folge des sogenannten „Wettstreits der Sehfelder“, indem bald das eine, bald das andere Auge vorübergehend ermüdet und die Empfindung des andern dann ebenso lange das Uebergewicht erhält. Sehr anziehend wird dieser Vorgang, wenn eine Person ihr eigenes photographisches Abbild in gleicher Größe und Stellung aus zwei weit auseinander gehenden Lebensaltern besitzt. Sie wird sich dann nicht nur damit vergegenwärtigen können, wie sie in der Zwischenzeit ausgesehen hat, sondern sie wird sich vor ihren Augen altern und verjüngen sehen und so, vermöge des mitwirkenden geistigen Processes, allmählich alle Stufen ihrer körperlichen Entwickelung zu Gesicht bekommen.

Wenn man sorgfältig colorirte Portraits der verschiedenen Menschenrassen in geeigneten Aufnahmen besäße, so würde man auf optischem Wege leicht aus Neger und Europäer den Mulatten, aus Indianer und Europäer den Mestizen hervorbringen können, ja auf einem nachher zu erörternden, etwas complicirteren Wege würde man sogar die zusammengesetzteren Mischrassen Creolen, Quarteronen, Quinteronen etc., direct hervorbringen können. Hier bietet sich ferner ein Mittel dar, um der natürlichen Neugierde eines Ehepaares zu genügen, welches gern wissen möchte, wie seine Sprößlinge aussehen könnten, wenn sie in das augenblickliche Alter der Eltern gekommen sein werden. Durch den Wettstreit der Züge von Vater und Mutter unter einander werden sich abwechselnd die Züge der männlichen und der weiblichen Linie in den Vordergrund drängen, und so vermag man gewissermaßen vermöge dieses einfachen optischen Kunstgriffs in den Zukunftsspiegel zu schauen, denn in gewissem Grade werden sich meistens die Züge der Eltern in den Kindern vermischt finden, namentlich [875] wenn die Kinder zu entsprechenden Jahren gekommen sind. Eine erwachsene Person würde manchmal Veranlassung finden zu erstaunen, wenn sie ihr gegenwärtiges Aussehen mit dem Mischbilde ihrer Eltern aus ähnlichen Jahren vergleichen könnte.

Indessen darf man hierbei selbstredend keine vollständigen Uebereinstimmungen erwarten. Die Gesammtheit der Züge des Vaters oder der Mutter geht zwar oft mit wunderbarer Treue auf einen bestimmten Sohn oder eine Tochter über, und es kommt gar nicht selten vor, daß sich sogar die unbedeutendsten Einzelnheiten wiederholen, in der Mehrzahl der Fälle aber findet eine Art Vertheilung und Zersplitterung des leiblichen Erbes statt, sodaß man von dem einen Kinde sagt, es habe die Augen oder die Nase von dem Vater oder der Mutter geerbt, während ein anderes die Stirn, den Mund, das Kinn etc. bekommen hat. Es geschieht dies nach demselben Gesetz, nach welchem in Darwin’scher Anschauung die Verschiedenheiten der gesammten Lebewelt entstanden sein sollen. Gleichwohl wird der Blick eines Fremden in den Zügen der noch so sehr ungleichen Geschwister meistens die sogenannte „Familienähnlichkeit“, das heißt das gemeinsame Gepräge herausfinden können, und daher wird das Mischbild eines Sohnes und einer Tochter dem Mischbilde der Eltern meist noch näher kommen, als ein Einzelbild. Den vollkommenen Familientypus würde man aber natürlich nur dadurch vollenden können, wenn man die Bilder von allen Geschwistern, so viel ihrer da sind, mit einander vereinigen könnte.

Mit der Auflösung dieses in noch vielen anderen Beziehungen wichtigen Problems haben sich seit Jahren die berühmten englischen Anthropologen Herbert Spencer und Franz Galton, ein Neffe Darwin’s, beschäftigt, und in jüngster Zeit ist namentlich der letztere Forscher, der sich viel mit den Gesetzen der Erblichkeit beschäftigt hat, zur Auffindung sehr interessanter Methoden für diesen Zweck gelangt. Unter Anderem fand er in dem isländischen Doppelspath ein besonders geeignetes Mittel, denselben zu erreichen. Wenn man durch diese glashellen Krystalle von kohlensaurem Kalk irgend einen Gegenstand betrachtet, so sieht man ihn in Folge der ihnen eigenthümlichen Doppelbrechung der Lichtstrahlen zweimal, und betrachtet man auf diese Weise zwei Photographien, so sieht man vier Bilder, von denen sich leicht zwei zur Deckung bringen lassen. Legt man nun zwei solcher Kalkspathkrystalle auf einander, oder bringt vor jedes Stereoskopenglas einen solchen, so kann man vier verschiedene Bilder zur Vereinigung bringen, und wendet man beide Methoden gleichzeitig an, so lassen sich acht verschiedene Portraits mit einander verschmelzen.

Ist nun auch ein solcher Apparat wegen der Möglichkeit einer sofortigen Verschmelzung von zwei, vier, sechs oder acht Portraits für den Anthropologen sehr interessant, so dürfte von allgemeinerer Anwendbarkeit ein anderes Verfahren werden, welches ebenfalls von Herrn Franz Galton erdacht worden ist, nämlich eine photographische Verschmelzung einer beliebigen Anzahl von Portraits mit einander. Denn dadurch erhalten wir ein Mittel, den Typus einer einzelnen Familie sowohl, wie einer ganzen Rasse oder bestimmter Menschenclassen auf einem vollkommen mechanischen Wege zu erhalten, das dennoch viel vertrauenerweckender ist, als die bisherigen Versuche von Reisenden, selbst wenn sie Portraitisten vom Fache waren.

Das Verfahren ist in Kürze folgendes.

Eine Anzahl von Personen irgend einer besonderen Gemeinschaft wird nach einander aus gleicher Entfernung und bei gleicher Richtung der Augen, sei es nun nach vorn oder nach der Seite blickend, photographisch aufgenommen. Die einzelnen Brustbilder werden dann auf zwei durch seitliche Löcher gehende Drähte aufgereiht, sodaß die Höhe der Augen und die Lage der Nasenwurzel bei allen einander genau entsprechen. Es geschieht dies am besten mit Hülfe eines in einem Rahmen von der Größe der Bilder eingespannten Zwirnfadenkreuzes, welches man derart über jedes Bild legt, daß der Längsfaden durch die Nasenwurzel und der Querfaden durch die beiden Pupillen der Augen geht. Wenn dann an den äußern Enden des Querfadens gleichmäßig die beiden Aufreihungslöcher in jedes Bild gestochen werden, so werden, trotz mannigfacher Größenunterschiede, Nasenwurzel und Augen bei allen Bildern entsprechende Lage haben.

Nehmen wir nun an, die Sammlung bestehe aus zehn Blättern, die, wie die Blätter eines Kartenspiels auf einander geschichtet, auf einem festen Hintergrunde befestigt sind, um nun, eins nach dem andern auf dieselbe Platte des davorgestellten photographischen Apparates zu wirken; die Stärke des herrschenden Lichtes soll für ein Bild hundert Secunden Photographirzeit erfordern. Man wird also dann das erste Bild zehn Secunden wirken lassen, darauf den vor der Linse angebrachten Deckel schließen, das vorderste Bild wegnehmen, sodann das zweite und die folgenden Bilder aus der fixirten gleichen Stellung je zehn Secunden lang wirken lassen, bis man den Deckel zum letzten Male schließt, weil das Bild nunmehr im Negativ vollendet ist. Das davon erhaltene Positiv zeigt die vollkommenste Verschmelzung der zehn Einzelportraits, indem es mit jedem derselben Aehnlichkeiten darbietet, und doch keinem derselben gleicht.

Hierbei ist also eine Operation vollbracht, die sonst nur im Geiste des Beobachters möglich war; die individuellen Züge sind verwischt, die gleichbleibenden typischen Züge mit verstärkter Kraft festgehalten. Es sind diese letzteren dieselben Züge, die wir zunächst erblicken, wenn wir zum ersten Male in eine Gesellschaft von Negern, Nubiern, Beduinen etc. eintreten. Auf den ersten Augenblick scheint es uns, als ob sich diese Menschen alle so sehr glichen, daß wir sie niemals unterscheiden lernen würden. Bei genauerem Betrachten und nach einiger Zeit finden wir jedoch bald auch die individuellen Züge heraus, die indessen, eben weil sie in jeder Person wechseln, bei der Verschmelzung nicht so zur Wirkung kommen, wie der immer wiederkehrende, weil Allen gemeinsame Grundzug oder Typus. So bietet sich also damit ein einfaches Verfahren, die Rassentypen in einer von dem schwankenden Urtheil des Einzelnen unabhängigen Weise festzuhalten, und das ist für die Anthropologie eine sehr wichtige Erfindung.

Man möchte es kaum für möglich halten, daß ein mechanisch wirkender Apparat dasjenige zu Stande bringen könnte, was in den oben erwähnten Fällen erst die innere Anschauung vollendet: die vollkommene Verschmelzung der Bilder. Man setzt als sicher voraus, es müßten in der zusammengesetzten Photographie mannigfache Umrisse durch einander spielen, sich kreuzen und verwirren. Dies ist indessen durchaus nicht der Fall, vielmehr sind die Umrisse des Durchschnittsbildes so sicher, daß Herr Galton auf die Idee kam, ein solches zusammengesetztes Bild in Holz schneiden zu lassen, um es den Berichten über seine Versuche beidrucken lassen zu können.

Er hatte seine Versuche mit Bildern aus einem englischen Verbrecheralbum begonnen, weil sich dieselben wegen der bei der Aufnahme beobachteten Gleichmäßigkeit der Stellung und Größe besonders gut dazu eigneten. So konnte in gewissem Sinne ein Typus der Räuber und Mörder erhalten werden, das heißt eines Menschenschlages, der unter geeigneten Umständen vielleicht mehr als ein anderer dazu geneigt ist, solche Verbrechen zu begehen. Ein solches dreifaches Verbrecherportrait, welches allen drei Theilhabern ähnlich sah, aber durchaus keinem derselben glich, war auf Holz photographirt worden, um von einem geschickten Xylographen direct in Linienschattirung übersetzt zu werden. Aber bei diesem Verfahren ist es doppelt schwer, die Aehnlichkeit genau einzuhalten, und in der That gelang dies dem Holzschneider nicht. Merkwürdiger Weise aber glich sein Portrait auf das Genaueste einem der drei Theilhaber, dessen Bild er nicht für sich gesehen hatte, dessen Züge doch also noch erkennbar in dem Mischbilde liegen mußten, wie ein Maler zuweilen einem Kinde genau die Züge des Vaters oder der Mutter giebt, indem er den Anteil der andern elterlichen Hälfte übersieht oder nicht wiederzugeben im Stande ist. Auch dies ist ein Beweis, wie weit die Photographie in solchen Aufgaben das Vermögen des Zeichners übersteigt; ihre Leistungen blieben sich gleich, wenn man zum Beispiel die Reihenfolge der Einzelaufnahmen umkehrte oder beliebig änderte.

Im Uebrigen gestattet das Verfahren noch mancherlei Abänderungen. Gesetzt, man beabsichtigte aus den reinen Rassentypen diejenigen von Mischlings-Rassen zu gewinnen, so würde man zur Erzielung des ersten Mulatten-Typus beispielsweise den kaukasischen und den Neger-Typus gleich lange auf die Silberplatte wirken lassen. Wollte man aber direct ein Bild des Quarteronen- und Quinteronen-Typus erzielen, so würde man das Bild der Kaukasier zwei- oder dreimal so lange wirken lassen müssen als das der Neger. Wenn man nach demselben Verfahren den Typus einer einzelnen Familie zusammensetzen wollte, so würde man unter Umständen gut thun, auch entferntere Verwandte, in denen großelterliches [876] Blut rollt, zur Verschmelzung herbeizuziehen, aber man würde, nach der Ansicht des Herrn Galton, die Bilder der elterlichen Geschwister und Geschwisterkinder nur die Hälfte oder ein Viertel der den engeren Familiengliedern zugemessenen Zeit wirken lassen dürfen. Man ersieht hieraus, daß es sehr empfehlenswerth sein würde, Familien-Albums mit in gleichem Formate und gleicher Manier aufgenommenen Bildern anzulegen, wenn dieselben zugleich wissenschaftlichen Zwecken dienen sollen.

Ein gleiches Verfahren hat auch für dieselbe Person, die sich in verschiedenen Lebenslagen und Altersstufen aufnehmen läßt, einen besonderen Werth, und es würde sich für Personen, die nicht gerade auf Abwechselung erpicht sind, mithin sehr empfehlen, immer das letzte Bild mitzubringen, damit der Photograph darnach möglichst dieselbe Anordnung wie damals treffen könnte. Wir haben schon angedeutet, daß man aus mehreren Einzelbildern derselben Person Bilder zusammensetzen kann, die dem Originale ähnlicher sind, als jedes einzelne für sich.

Jeder meiner Leser wird in seinem Leben mit Persönlichkeiten zusammengetroffen sein, welche behaupten, noch niemals ein wirklich ähnliches photographisches Abbild von sich erhalten zu haben, und die deshalb weitere Aufnahmen verweigern. Sie werden darnach öfter für allzu anspruchsvoll gehalten, aber in vielen Fällen thut man ihnen Unrecht. Wenn man ihre angeblich mißlungenen Bilder vergleicht, so scheint in der That jedes eine andere Person vorzustellen. Und doch ist es dieselbe, die nur jedes Mal eine andere Miene aufgesetzt hat. In dem Gedächtnisse der ihr Nahestehenden, wie in ihrem eigenen, lebt sie als die Mischung dieses wechselreichen Mienenspiels, aus dem vielleicht gerade der reizendste und anziehendste Theil dem Bilde der dunklen Kammer nicht zu Gute kam. Das ist der große Abstand zwischen der besten Photographie und einer gelungenen Künstlerleistung, daß der Maler die besten Züge vereinigen, den besten Augenblick erfassen, den am häufigsten wiederkehrenden Charakter voranstellen kann, und hier sehen wir vielleicht einen Weg, wie die Photographie zur wirklichen Kunst erhoben werden kann. Solche Personen, die so schwer zu treffen sind, weil sie nicht immer dieselben scheinen, sollten sich in allerlei Stimmungen und an verschiedenen Tagen photographiren lassen, um daraus eine gesammelte Ausgabe ihrer Vorzüge zusammenstellen lassen zu können.

Vielleicht wäre dies auch der beste Weg, das wahre Gesicht einiger historischer Personen, die auf jedem Oelgemälde, auf jedem Stiche anders aussehen, noch nachträglich festzustellen. Unter den unzähligen und mitunter nicht wenig von einander abweichenden Bildern bestimmter Fürsten, Staatsmänner, Gelehrter, Dichter und Maler, ausgezeichneter Frauen etc. – ich erinnere an die einander oft höchst unähnlichen Bilder der Königin Louise, Schiller’s, Rembrandt’s, Luther’s und Anderer – giebt es gewiß manche, die sich verschmelzen ließen, um aus diesem optischen Schmelztiegel, von den Schlacken gereinigt, mit höherer Aehnlichkeit hervorzugehen.

Damit sind wir bei der Frage von den Idealportraits angelangt. Ich weiß im Augenblicke nicht, war es Phidias, Praxiteles oder Apelles, der eine Revue über die schönsten griechischen Mädchen abhalten durfte, um in seinem Urbilde der Schönheit nicht, wie es meistens geschieht, die Züge einer einzelnen schönen Erscheinung, sondern die schönsten Züge einer großen Gesammtheit zu vereinigen. Auch für solche Zwecke dürfte das Galton’sche Verfahren, indem es von einer ganzen Schönheitengallerie nur die bleibenden Züge festhielte, das Vergängliche aber entschlüpfen ließe, von einem gewissen Erfolge sein, um so mehr, da man auf gewöhnlichem Wege nicht mehr im Stande zu sein scheint, Antlitzformen wie die der schönen Göttin von Melos oder der Raphael’schen Madonnen zu schaffen.

Eine von Herrn Austin in Neuseeland, der die Möglichkeit, verschiedene Portraits mit einander zu verschmelzen, selbstständig beobachtet hat, aufgeworfene Frage geht dahin, ob man auf diesem Wege wohl auch körperlich wirkende Stereoskopbilder schaffen könnte. Er glaubt, daß dies durch Verbindung zweier verschiedener Personen, die nach demselben Principe, wie die Doppelbilder ein und derselben Person, aufgenommen worden sind, geschehen könne. Besser würde es sein, zwei gleiche Abzüge der photographischen Zusammensetzung neben einander in’s Stereoskop zu legen, denn diese bringen, wie ich den Lesern der „Gartenlaube“ früher einmal (Jahrgang 1874, S. 340) mitgetheilt habe, einen ziemlich körperlichen Effect hervor. Auf einem eigenthümlichen Wege hat ein deutscher Erfinder, Herr E. H. Lehmann, in Stargard (Pommern), die Vereinigung zweier Aufnahmen zu einem sogenannten „Raumbilde“ angestrebt und darauf auch im vorigen Frühjahr ein deutsches Patent erhalten.

Wie ich in dem eben erwähnten Aufsatze des Weiteren ausgeführt habe, ist jedes Gemälde und besonders jede Photographie ein einäugiges Bild, das heißt eine Darstellung der Dinge, wie sie einem einäugigen Menschen erscheinen, weshalb man sie auch am genußreichsten mit einem Auge betrachtet. Ja, die Photographien sind sogar Bilder, wie sie einem Cyclopen mit seinem Riesenauge erscheinen müßten, wie Polyphem die Dinge erblickt haben würde. Um nun Photographien zu erhalten, die der Wirklichkeit mehr entsprechen, hat Herr Lehmann einfache Bilder mit einer Art Doppellinse aufgenommen, bei denen also die Verbindung der beiden etwas verschiedenen Ansichten, die wir mit dem linken und rechten Auge aufnehmen, statt im Geiste des Menschen, schon auf der Platte vollzogen wird. Der Unterzeichnete hat derartige „Raumbilder“ gesehen, die in der That, abgesehen von einigen Nachtheilen der Doppelaufnahme, einen nicht üblen, allerdings keinen körperlichen Effect hervorbrachten, denn dadurch, daß wir sie mit zwei Augen betrachten, zerstören wir die beabsichtigte Illusion wieder zum Theil, indem wir uns auf das Sicherste überzeugen, daß wir ein Bild und keinen körperlichen Gegenstand vor uns haben. Aber auch dieses Verfahren zeigt, wie leicht und vollkommen die Verschmelzung mehrerer nicht völlig gleicher Bilder auf der photographischen Platte vor sich geht.

Carus Sterne.





Ein schwerhöriges Familienmitglied.
Beitrag zur Lehre vom gesellschaftlichen Verkehr.


Mit Recht bezeichnen wir das Auge als das edelste aller Sinnesorgane, und der Blinde darf um so mehr auf die Theilnahme seiner Mitmenschen rechnen, als der Verlust des Sehvermögens ihn der Selbstständigkeit seines Auftretens beraubt. Gerade diesem Umstande ist es zu verdanken, daß Mitgefühl und Nächstenliebe aller Orten sich den Blinden zuwenden, daß Unterricht und Versorgung derselben vielfach zum Gegenstande der staatlichen und Privatwohlthätigkeit geworden sind.

Anders steht es um die Gehörleidenden.

Wir brauchen nicht einmal die Extreme völliger Blindheit und Taubheit einander gegenüber zu stellen – schon der Vergleich der Schwachsichtigkeit und Schwerhörigkeit läßt den Unterschied erkennen. Wohl mag der Kurzsichtige die Folgen seines Leidens persönlich oft schwer empfinden, aber nur selten wird dieser Uebelstand im Verkehr mit der Gesellschaft störend hervortreten, und durch die Erfindung der Brillen erscheinen seine wesentlichsten Unannehmlichkeiten für das praktische Leben beseitigt.

Weit übler daran ist der Schwerhörige, den die Natur zwar nicht der Sprache, aber doch des Genusses derselben theilweise beraubt hat. Vom wesentlichsten Hülfsmittel des Gedankenaustausches ausgeschlossen, sehen wir ihn die meiste Zeit auf sich selbst angewiesen, und daher darf es uns nicht Wunder nehmen, daß davon sein Geistesleben auf das Innigste beeinflußt wird. Selbst wenn die Gehörschwäche erst im höheren Alter hervortritt, übt sie noch eine Charakterveränderung auf den von ihr Betroffenen aus. In ganz anderer Weise machen sich jedoch die Folgen des abnormen Zustandes geltend, wenn der Leidende von seiner ersten Kindheit an der Schwerhörigkeit verfallen war.

Zunächst tritt, da sich das Kind so oft von der Theilnahme am Gespräch ausgeschlossen fühlt, bei ihm das Bestreben hervor, durch wiederholtes Fragen über eine besprochene Angelegenheit Auskunft zu erhalten, und so wird es begreiflich, warum schwerhörige Kinder sich in der Regel durch Fragesucht und kaum zu befriedigende Neugierde bemerklich machen. Es wird aber auch [877] dadurch erklärlich, wie leicht Menschen von geringer Bildung, Güte und Geduld in ihrem Benehmen gegen solche Schwerhörige abstoßend werden, wenn sie sich nicht gar erlauben, sie zum Gegenstand ihrer Necklust zu machen, und in solchen Erfahrungen derselben ist die Quelle des Mißtrauens zu suchen, das sehr häufig den Umgang mit den hart genug Heimgesuchten für sie und Andere noch schwerer macht.

Im reiferen Alter veranlaßt den Leidenden das erwachende Ehrgefühl, durch verdoppelte Aufmerksamkeit, oder, wenn dies erfolglos bleibt, durch Vermeidung überflüssiger Gespräche jeder Gelegenheit aus dem Wege zu gehen, bei welcher er sich durch verkehrte Antworten bloßstellen könnte. Besitzt er einen gewissen Grad von Beharrlichkeit, so entwickelt sich daraus diejenige Charakterfestigkeit, welche ihm in seiner schwierigen Lage durchaus nöthig ist. Mit seinen Gedanken mehr auf sich selbst angewiesen, vermag er es, auch allein sich wohl zu fühlen, ja bei Vielen geht diese Eigenschaft in ihr Extrem, in eine ausgesprochene Liebe zur Einsamkeit über. Hunderte von Erfahrungen, welche jeder Andere dem Verkehr mit der Außenwelt verdankt, gehen dem Schwerhörigen verloren; mehr aus sich selbst schöpfend, erfolgt seine Geistesentwickelung in vielen Punkten abweichend von der des Gesunden, und dies kann zum Vortheil oder Nachtheil seines Charakters ausschlagen. Concerte, Theater und Vorträge gehören nicht in den Kreis seiner Zerstreuungen, wenn er sie auch ungern entbehrt; dafür wird er um so größeren Gefallen an anderen finden, deren Genuß durch sein Leiden nicht gehemmt wird, also an Naturbetrachtungen und Bücherstudien.

Doch muß das Uebel schon einen bedenklichen Grad erreicht haben, wenn der Träger dadurch für die Freuden der Geselligkeit ganz abgestumpft werden soll. In höheren Gesellschaftskreisen, wo die Unterhaltung dem Zwange der Etiquette unterliegt, wird der Harthörige sein Gebrechen am schwersten empfinden und daher nicht selten die Rolle des müßigen Zuschauers vorziehen. In zwanglosen Cirkeln aber, wo sich leicht Zwiegespräche mit den Nachbarn anknüpfen lassen, sehen wir ihn von einer vortheilhafteren Seite. Keine äußeren Förmlichkeiten verhindern ihn hier, dicht an den Fragenden heranzutreten, wodurch ihm Gelegenheit zum Meinungsaustausch gewährt wird. Das Gleiche trifft bei gemeinschaftlichen Promenaden zu, und das Bestreben des Schwerhörigen wird stets darauf gerichtet sein, ein paarweises Zusammengehen der Theilnehmer zu veranlassen. Neben einem einzigen Begleiter oder in der Mitte von Zweien zu gehen, ist hierbei für ihn Bedürfniß.

Diese Abhängigkeit im Gespräch und namentlich die Befangenheit beim ersten Zusammentreffen mit Unbekannten würden gewiß den Schwerhörigen seltener irgend welchen Rücksichtslosigkeiten in der Behandlung aussetzen, wenn nicht Eitelkeit oder eine gewisse Scheu viele derselben zu dem Streben verleitete, ihr Gebrechen zu verheimlichen. Daraus entstehen gewöhnlich Irrungen, bei welchen leider der Schwerhörige die Kosten der Komik trägt. Ein verständiger und gebildeter Schwerhöriger wird jeden ihm Fremden, mit dem er sprechen soll oder muß, vor Allem offen mit seinem Leiden und dem Grade desselben bekannt machen, wie dies beispielsweise eine Dame mit dem Verfasser that.

„Setzen Sie sich hierher,“ sprach sie, auf den Stuhl zu ihrer Linken deutend, „ich werde Sie hier besser verstehen; ich habe mein einst sehr feines Gehör fast verloren. Und nun sprechen Sie einmal, wie Sie es im Zimmer gewohnt sind.“ – Ich sprach, wie sie es wünschte. – „Das ist für mich zu leise,“ bemerkte sie da; „bitte, probiren Sie es etwas lauter.“ – Ich mochte wohl das „Etwas“ zu stark genommen haben, denn sie winkte mir mit der Hand ab und rief: „Oho, das war zu viel, möchten Sie nicht etwa die Mitte von beiden Graden versuchen?“ – Ich versuchte es, und freudig nickend sagte die Dame dann: „So ist’s das rechte Maß, so werden wir uns recht gut unterhalten können.“

Trotz meiner Folgsamkeit und Aufmerksamkeit mußte ich nach einiger Zeit doch noch eine Lehre hinnehmen. Nachdem die Dame, welche die Beobachtung meiner Lippenbewegung beim Sprechen zu Hülfe nahm, lange mit mir zufrieden gewesen war, gerieth ich in einen Erzählungseifer, der mich zu sehr raschem Reden fortriß. Da erhob sie abermals die Hand, um dem Strome Einhalt zu thun, und sagte: „Bitte, bitte, hängen Sie die Worte nicht so eng an einander, sprechen Sie, wie ein gut gedrucktes Buch, das zwischen den Worten ein wenig Raum freiläßt!“ Natürlich geschah dies. Für letzteren Wunsch haben wir eine treffliche Erklärung. Es besteht nämlich zwischen den Gehör- und Sehnerven eine große Uebereinstimmung. Von Seiten der Netzhaut erfolgt die Aufnahme des Lichteindruckes bekanntlich nicht augenblicklich, sie bedarf vielmehr eines, wenn auch sehr kurzen Zeitraumes, um diese Empfindung zu fixiren und dem Bewußtsein zu übermitteln. In gleicher Weise hält sie den Eindruck über die Dauer der Einwirkung hinaus eine kurze Zeit fest, die etwa den zwanzigsten Theil einer Secunde bekrägt. Eine schnell im Kreise geschwungene glühende Kohle macht aus diesem Grunde in der Dunkelheit auf unser Auge den Eindruck eines geschlossenen Feuerringes.

Etwas Aehnliches findet beim Gehörnerven statt, bei dem kranken oft mehr als beim gesunden. Folgen die Schallwellen nämlich zu schnell auf einander, so empfindet der Harthörige meist nur einen einzigen verworrenen Laut, sein Gehör vermag keine Gliederung in den Gesammteindruck zu bringen. Werden dagegen die einzelnen Worte langsam ausgesprochen und durch entsprechendes Absetzen getrennt, so ist es dem Zuhörer weit leichter, dem Gange der Unterhaltung zu folgen. Beim schnellen Sprechen dagegen wird jeder vorhergehende Eindruck von dem nachfolgenden überholt, ehe der Lauschende Zeit hat, sich den Sinn desselben klar zu machen.

Nicht minder ist die Gewöhnung an das Organ des Sprechenden von wesentlichem Einfluß. Bekannte Stimmen werden daher besser vernommen, als fremde, und ein in den Familiencirkel neu eingeführter Gast wird häufig den Eindruck aufnehmen, daß seine lauten Fragen und Antworten von dem Leidenden nicht so genau verstanden werden, wie die leiser gesprochenen Bemerkungen der Familienmitglieder. Bei längeren, öfter wiederholten Zwiegesprächen wird dieses Hinderniß durch die Gewöhnung verringert, und der Besucher gewinnt dadurch die irrthümliche Ueberzeugung, daß das Gehörleiden seines Wirthes sich gebessert habe. Auch von der unmittelbaren Umgebung des Letzteren wird dieser Umstand, aber in entgegengesetzter Weise, beobachtet: der Angeredete scheint des Morgens beim Kaffeegespräch schlechter zu hören, weil er sein Gehör an jedem Tage gleichsam von Neuem den Organen der Fragenden anpassen muß.

Noch mancherlei andere Umstände tragen dazu bei, den Verkehr mit Schwerhörigen zu erleichtern, respective zu erschweren. Direct in das Ohr gelangende Schallwellen reizen den Gehörnerven in weit stärkerem Grade, als gebrochene, weshalb jeder rücksichtsvolle Mensch darauf achten wird, daß er dem Gehörleidenden bei der Anrede das Gesicht zuwendet. Dieser nimmt außerdem, wie bereits angedeutet, die Mundbewegungen des Redenden zu Hülfe und vermag häufig aus ihnen allein den Sinn der Worte zu enträthseln, selbst wenn er keinen Laut vernommen hat. Diese Mitwirkung des Auges erklärt uns, weshalb der Schwerhörige so ungern der Letzte beim Spaziergange ist, da ihm dieses Hülfsmittel verloren geht, sobald ihm die Vorausgehenden den Rücken zuwenden, und weshalb in der Dunkelheit der Verkehr mit demselben ein auffallend schwierigerer wird.

Von nicht geringerer Bedeutung für das gesellschaftliche Leben des Schwerhörigen ist schließlich eine andere Kleinigkeit, die Vielen auf den ersten Blick geradezu lächerlich erscheinen mag, wir meinen die richtige Wahl seines Platzes bei Tische, bei Familienfestlichkeiten u. dergl. m. Da wundert man sich beim Abendessen, daß derselbe so einsilbig und theilnahmlos dasitzt, während er bei anderen Gelegenheiten heiter und aufgeräumt sein konnte. Faßt man aber die näheren Umstände in’s Auge, so wird man gewahr, daß sein Platz für eine wirksame Anstrengung seines Ohres und Auges ungünstig gewählt ist. Kleine Aufmerksamkeiten auch nach dieser Richtung muß man sich zur Pflicht gegen solche Leidende machen.

Dagegen muß auch der Schwerhörige es als seine Pflicht anerkennen, alles zu vermeiden, was seine Lage verschlimmern könnte, und jedes Mittel zu benutzen, um dieselbe erträglicher zu machen. Wie der Blindgeborene auch nach glücklich ausgeführter Augenoperation die Größe und Entfernung der Gegenstände erst beurtheilen lernen muß, um von dem wiedererlangten Sehvermögen richtigen Gebrauch machen zu können, so soll auch der Gehörleidende sich in der richtigen Auffassung der gesprochenen [878] Worte üben, und Jeder, welcher im Laufe der Zeit eine Besserung seines Zustandes zu bemerken glaubt, ist es sich selbst schuldig, durch eigene Anstrengung der Natur zu Hülfe zu kommen. Es ist eine sehr zu tadelnde Angewohnheit Gehörleidender, daß sie sich aus völliger Apathie gar nicht mehr die Mühe geben, dem Gespräche mit Aufmerksamkeit zu folgen. Der Gedanke: „Davon verstehe ich doch nichts, also will ich mich nicht noch mit dem Zuhören plagen,“ sollte gänzlich verbannt werden, da diese verkehrte Anschauung den Betreffenden nicht selten verleitet, seinerseits auch leise und undeutlich zu sprechen, wodurch die Theilnahme der Außenwelt gewiß nicht vergrößert wird. Umgekehrt ist lautes und deutliches Sprechen eins der besten Mittel, sich selbst zu helfen, da der Angeredete unwillkürlich zur Nachahmung des Beispiels veranlaßt wird.

Vor einiger Zeit ging die Rede, daß in Anregung der Erfindung des Mikrophons ein Apparat für Schwerhörige erfunden worden sei, welcher für das Ohr dasselbe wäre, wie die Brille für das Auge. Seither ist es wieder still davon geworden. Indeß ist die Annahme keine abenteuerliche, daß es über kurz oder lang, wie schon im Mittelalter der Optik für Schwachsichtige, so endlich auch der Akustik gelingen werde, für Schwerhörige ein Linderungsmittel aufzufinden, dessen Einführung Millionen als die größte Wohlthat ihres Lebens empfinden würden.

H. K.




Blätter und Blüthen.


Um Nichts!
(Mit Abbildung Seite 872 und 873.)


Ein Schuß – und noch ein Schuß! Mit heiserm Krächzen
Hebt sich ein Rabe vom beschneiten Ast;
Zu Boden weht die winterliche Last –
Lebendig wird der Wald: ein schneidend Aechzen,
Das rasch erstirbt – ein Fluchwort: klagend bricht’s
Von Männerlippen – nun ein Murmeln, Laufen – –
Nur ein Duell! Ein ritterliches Raufen
     Um Nichts!

Da liegt das Opfer mit der Kugelwunde;
Starr jeder Muskel, der von Leben schwoll!
Ein Bild von Kraft, so jung, so zukunftsvoll – –
Der alte Diener kauert auf dem Grunde
In leisem Beten, und des armen Wichts
Eisgraues Haupt schwankt, und die Augen weinen –
Den Eltern bringt er todt ihn – todt den Einen –
     Um Nichts!

’S ging Alles richtig zu, nach guter Sitte:
Die Secundanten da, die Zeugen auch,
Dabei der Arzt. Vergeblich, wie es Brauch,
War die Vermittlung, und man maß die Schritte –
Es war kein Mord – bewahre! Des Gerichts,
Wohl auch des Fürsten Macht läßt Milde walten;
Die Ehre zwang, der Kugel stillzuhalten –
     Um Nichts!

Um Nichts? O nein! Es fiel ein Wörtchen eben –
Ein scheeler Blick, in Ungeduld, im Rausch.
Ein Menschenleben nur verlangt der Tausch,
Nichts als ein armes Fünkchen Menschenleben.
Und doch: warum so fahlen Angesichts
Die Männer dort, die unruhvoll-verstörten?
Ist’s, weil ein Geisterwort sie seufzen hörten:
     „Um Nichts!“?

Und du, den’s fürder nicht im Lande duldet,
Du Kain – nun? Die Kugel traf nicht schlecht –
Weshalb so traurig? Sieh, du bist gerächt!
Das Gottesurtheil sühnte, was verschuldet! –
Ein Gottesurteil Ew’ger Geist des Lichts,
Dein Urtheil das ein Mensch vom Blei erschlagen,
Gebrochne Herzen, Jammer, nicht zu sagen –
     Um Nichts!?

Wer nimmt die Schmach von kommenden Geschlechtern?
Wer schlägt den Unsinn, daß er heulend flieht?
Er bleibt, wie viel sich auch Vernunft bemüht –
Der Wahnwitz beugt sich keinen Weisheitswächtern!
Ein Moloch, freut er fort sich des Gerichts
Von Menschenopfern, blutig-thränenvollen,
Die sich ihm weih’n – trotz Wollen und trotz Sollen! –
     Um Nichts!

B.




Kleiner Briefkasten.

K. in Zinna. Sie fragen uns, ob es richtiger sei, zu sagen, die Stangenbohne winde sich links herum, wie es Ihnen erscheint, oder ob man sagen müsse, sie winde sich rechts herum, wie Ihre Techniker sagen. Die Unterscheidung von Rechts und Links wurde schon von dem großen Gräcologen Buttmann, als er mit Schleiermacher in den Freiheitskriegen der freiwilligen Bürgerwehr beigetreten war, für eines der schwierigsten Probleme der Wissenschaft erklärt, und oft, wenn beim Exerciren Rechtsum oder Linksum commandirt wurde, starrten sich die beiden Nachbarn im Gliede plötzlich an und wendeten dann voll Schrecken ebenso plötzlich wieder um, so daß sie sich den Rücken zukehrten oder wieder ansahen. Doch Scherz bei Seite, die Unterscheidung, was in der Natur rechts oder links ist, hat vielen Streit gegeben, und noch heute erklären die Botaniker meist das für rechts, was die Zoologen links nennen, und umgekehrt. Der Botaniker betrachtet die Pflanze als sein Object und sagt, vor die Bohnenstange tretend, die Bohnenpflanze (und mit ihr die meisten Schlinggewächse) winde sich links um die Stange, nur der Hopfen und wenig andere rechts herum. Der Zoologe findet das höchst unwissenschaftlich. Mit demselben Rechte, sagt er, müßte ich, von mir selbst ausgehend, den rechten Fuß eines mir entgegenkommenden Menschen für den linken erklären; ich muß mich also, um Rechts und Links eines Naturdinges richtig zu bezeichnen, in dasselbe hineindenken, und mithin eine Schnecke, die ebenso gewunden ist wie die Bohnenranke des Botanikers, als rechts herum gewunden bezeichnen. Sie sehen, es kommt, wie bei so vielen Fragen im Leben, einzig auf den Standpunkt an, den man ihnen gegenüber einnimmt, und ob man sich nach den Dingen oder die Dinge nach sich orientirt. Den Wenigsten freilich ist es gegeben, sich in eine fremde Lage hineinzudenken. Man muß das in Betracht ziehen und z. B. in einer fremden Stadt niemals entgegengesetzt herkommende Leute fragen, ob man nach rechts oder links gehen müsse, um nach einem gesuchten Orte zu kommen. Man frage immer dieselbe Richtung Verfolgende, da wird man seltener angeführt! Bei der Beurtheilung der Richtung von Spiralwindungen, die immer einiges Vorstellungsvermögen voraussetzen, würde man am besten sagen, mit dem Sonnenlauf oder gegen den Sonnenlauf gewunden.

S. H. A. Fehlgeschossen! Der Name des Autors ist übrigens Redactionsgeheimniß.

Ein alter Abonnent. Der Genannte ist allerdings ein Curpfuscher.




An unsere Leser.

Wieder schließt die „Gartenlaube“ einen Jahrgang ab, den siebenundzwanzigsten, und wieder können wir mit Freude und Genugthuung constatiren, daß in all der schweren Noth der Zeit die Schaar der Freunde unseres Volks- und Familienblattes in fester Treue zu ihm gestanden hat. Wir stellen dieser Thatsache dankbar das Versprechen gegenüber, auch in dem kommenden achtundzwanzigsten Jahrgange das Mögliche zu thun, um für die warmherzige Pflege deutschen Volks- und Familienlebens wirksame Impulse zu geben, um dem gesunden Kern unserer Nation in Belehrung und Aufklärung ein zuverlässiger Wegweiser, in Durchbildung und Kräftigung des Charakters ein unentwegter Beistand, in Unterhaltung und Gemüthserhebung ein anregender Hausfreund zu sein.

Wir sind in der glücklichen Lage, wiederum sehr Werthvolles auf dem Gebiete der Erzählung versprechen zu können, darunter:

„Frühlingsboten“ von E. Werner, „Ledige Kinder“ von Herman Schmid, „Der Weg zum Herzen“ von Robert Byr, sowie weiteres Novellistisches von Hieronymus Lorm, A. Godin, Ernst Ziel, C. Lionheart und Anderen.

Auch für die übrigen Gebiete der Lectüre, welche die „ Gartenlaube“ pflegt, weisen unsere Vorräthe des Bedeutsamen genug auf, und so dürfen wir auch diesmal vertrauensvoll unsern Lesern ein „Auf Wiedersehen im neuen Jahre!“ zurufen.



Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Neujahr aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig.




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. San Moisé ist ein Stadttheil in Venedig mit sehr engen Gassen; in einer der engsten liegt das Marionettentheater.
  2. Vorlage: „Anftrag“