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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 5.   1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Nachdruck und Dramatisirung verboten.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.     
Irrende Sterne.
Novelle von Georg Horn.
(Fortsetzung.)


„Meiner Frau scheint es nicht mehr bei mir zu gefallen,“ sagte Erich der Freundin eines Tages.

„Herr von Rechting!“ rief diese erschrocken.

„Ja, ja. Ich muß es so annehmen – das Haus ist ihr zu kalt, zu feucht in dieser herbstlichen Jahreszeit. Sie friert, sie fiebert, sie fühlt sich krank – innerlich und äußerlich. O Regina, wenn eine Frau schwach und kleinlich ist, dann wird sie es gleich in einem Grade, daß Einem das Herz brechen möchte. Hätte Doris erfahren, daß ich verunglückt wäre, daß ihr guter Ruf verloren sei, sie würde es vielleicht ruhiger getragen haben. Aber da sie nur ihr Vermögen eingebüßt hat, Entbehrungen ertragen muß, da sie keine Pariser Roben mehr kaufen kann und jetzt nur soviel Wirthschaftsgeld besitzt, wie sie früher für Handschuhe gebrauchte – da möchte ihr das Herz brechen. O Regina, jeder Tag, jede neue Erfahrung mit Doris bringt mir Eines näher, eine furchtbare Wahrheit, so unausweichlich, wie Elend und wie Sterben – daß Doris mich doch nicht liebt.“

„Erich – Erich!“

„Ich weiß, was Sie mit diesem Anruf sagen wollen: daß ich mich einer Selbsttäuschung hingebe – daß Alles schwarze Laune, tiefer Unmuth. O täuschte ich mich doch! Wie glücklich wäre ich, glücklich zum Frohlocken! Aber – “ und er schlug mit der Hand auf sein Herz – „hier, hier sitzt es. Das hört am besten – das fühlt am ersten – das schmerzt am tiefsten. Wie ein dunkler Refrain des Schicksals tönt es mir da hinein: täusche dich doch nicht, armer Tropf! Sie liebt dich nicht. Der Brief, den ich an meinem Hochzeitstage erhalten – er hatte Recht.“

Bei Erwähnung des Briefes war es, als zuckte Regina plötzlich zusammen, und gleichzeitig schoß aus ihren großen Augen ein Strahl, der wie jähe Hoffnung, wie wilde Freude zu deuten war. Erich hatte nie von dem Briefe gesprochen – zu ihr nicht – zu Niemandem. Sie konnte davon nichts wissen, und doch schien sie ihn verstanden zu haben, so tief, daß ihr der Athem fast stockte, als er des Briefes erwähnte.

Sie fand bald einen Vorwand, sich vom Rechting’schen Hause loszumachen. Sie suchte das Freie; zwischen vier Mauern drohte sie zu ersticken. Wie sie mit großen, hastigen Schritten dahin eilte, die hohe Gestalt in dem weiten dunklen Anzuge – schien sie plötzlich eine Andere geworden zu sein. Das blasse Gesicht glühte, wie man es vorher nie an ihr gesehen hatte; die kalten, grauen Augen sprühten wie in Funken; die Brust rang nach Athem – die ganze Gestalt war von tiefer Leidenschaft bewegt. Sie eilte, um aus dem Häusermeer hinauszukommen, dahin wo Bäume rauschten, wo der hohe Himmel sich über ihr wölbte, wo die Menschen seltener, die Umgebungen freier und lichter wurden. Hier verlangsamte sie ihren Schritt; sie schien ruhiger geworden. Sie gewann ein Plätzchen, wo sie, von Zeugen ungestört, die weite Fläche eines Sees vor sich hatte. Ist doch für eine erregte Seele nichts beruhigender, als eine große Wasserfläche.

„‚Sie liebt mich nicht,’“ flüsterte Regina vor sich hin, wie Jemand, der sich eine frohe, glückverheißende Botschaft im Klange des Wortes verkörpern will. Wie in strahlender Glückseligkeit hoben sich ihre Blicke zum Himmel. Sie hatte das Wort erwartet seit lange; sie wußte, daß es eines Tages von den Lippen Erich’s kommen würde. Und nun hatte sie es vernommen. Hatte er es denn wirklich gesagt oder war es nur die eigene Sehnsucht – die Illusion des Herzens, die es ihr vorgezaubert hatte?

Sie liebte Erich – sie lag vor ihm im Geiste anbetend auf den Knieen. Sein erstes Erscheinen damals im Seebade hatte einen mächtigen Eindruck auf sie hervorgebracht. Er sah diese Liebe nicht – sein Herz war und blieb Doris, seiner Braut, zugewandt. In ihr ging all sein Liebeleben auf. Mit der Sonde der schärfsten Beobachtung trat Regina an das Verhältniß der Beiden hinan. Jeden Laut, jede Bewegung haschte sie mit ihrem eifersüchtigen, fast gierigen Auge, um irgend einen Anhalt der Hoffnung für sich zu finden, bis sie eines Tages mit sich zu dem Resultate gekommen war: Sie liebt ihn nicht.

In der Nacht vor dem Hochzeitstage schrieb sie mit verstellten, aber sicheren Zügen jenen Brief an Erich. Sie wäre gestorben, wenn sie ihrem Herzen nicht damit eine Genugthuung verschafft hätte. Und nun die Bestätigung aus seinem eigenen Munde, daß sie Recht hätte!

Wenn sich die Verhältnisse so weiter entwickelten, dann wurde diese Ehe auch unhaltbar. Eine Frau, sagte sich Regina, der die Lust am Luxus, am Vergnügen wie ein feiner Giftstoff innewohnt und alle gesunden und edlen Organe zu stören droht – die ist nicht durch Worte, nicht durch Bitten oder Mahnungen zu bekehren. Ihr kann nur durch Drang und Noth, durch den Gang bitterer Erfahrungen ein neues Geistesblut zugeführt werden – und nur einer Frau, die ihren Gatten liebt. Was aber dann, wenn die Beiden sich trennten? Ja, was dann! Erich hat den Fluch der Aeußerlichkeit empfunden. Wird er sein Herz nicht dem Gegensatze zuwenden, einem Wesen, das er achtet, das sein Vertrauen besitzt, wie sie, und konnte sie mit ihrem Aeußern nicht [74] getrost neben die Jugend treten? Sie erhob sich mit einer hastigen Bewegung und schritt ganz nahe an das Wasser, das in seinem Spiegel ihr Bild reflectirte. Sehnsucht, Liebe, Freude, Glück und Hoffnung – Alles was in diesem Augenblicke in ihrer Brust zusammenströmte, hatten ihr Aeußeres umgewandelt, verjüngt, verschönt. Ihre hohe, herrliche Gestalt hob sich stolz, und ein leuchtender zu den Wolken sich hebender Blick sprach den Entschluß aus: Ja, ich will. – –

„Von unseren früheren Bekannten kennen uns nur wenige mehr, und wenn sie hier vorüberfahren und mich zufällig in meinem Gärtchen sitzen sehen, so betrachten sie schnell die hübschen Karyatiden am Nebenhause. Sie aber sind uns treu geblieben – das ist brav, edel von Ihnen, Herr Präsident.“

Mit diesen Worten empfing Doris den Genannten. Es war fast um dieselbe Zeit, wo wir Regina hinaus an den See gefolgt waren. Doris fühlte einen kräftigen Druck seiner Hand und zog, von einem brennenden Blicke getroffen, diese fast erschrocken schnell aus der seinigen, ihn halb vorwurfsvoll, halb verwundert ansehend.

„Ich komme heute eigentlich nicht zu Ihnen, gnädige Frau. Ich muß nothwendig Ihren Herrn Gemahl sprechen.“

Doris ging, um Erich von der Anwesenheit des Präsidenten zu unterrichten. Seine Blicke folgten ihr – heiß und verlangend.

Einige Minuten später saß der Präsident mit Erich in dem Arbeitszimmer desselben, das nur durch eine Portière von dem Wohnzimmer geschieden war. Erich bot dem Präsidenten eine Cigarre an. Dieser dankte, zog sein eigenes Etui und reichte es dem Assessor, der es aber höflich zurückwies mit der Bemerkung, daß er sich nicht in seinem eigenen Hause von einem Gaste regaliren lassen könne. Lideman verstand das nicht.

„Es sind keine Regalia – Ambalema,“ versetzte er.

Erich lehnte jedoch jede Aufforderung zum Rauchen ab, sodaß der Präsident zuletzt erklärte, ebenfalls darauf verzichten zu müssen.

„Es wird auch so gehen. Aber jedenfalls hätte das Gespräch oder vielmehr mein Vorschlag ein gemüthlicheres Gesicht bekommen. Sie sind Assessor, mein verehrter Freund – bitte, es soll kein Vorwurf sein – Sie sind immer der tüchtigste Arbeiter im Ministerium gewesen. Verzeihen Sie, wenn ich Sie frage – fassen Sie das nicht als Indiscretion – wie viel Gehalt beziehen Sie vom Staate?“

„So viel, um meine Familie anständig ernähren zu können,“ antwortete mit kurzem Tone Erich.

„Pardon, wenn die Frage ungeschickt war. Man ist darin in Deutschland empfindlicher, als zum Beispiel in England oder Frankreich, wo Jedermann die Marke seines Einkommen gleichsam am Hute trägt. Jedenfalls ist Ihr Einkommen nicht im Verhältnisse zu dem, was Sie dem Staate leisten.“

„Was wäre das für ein armseliger Ausgleich,“ versetzte Erich, wenn man überhaupt für das Gehalt diente, wenn man nicht Pflichten gegen sein Vaterland erfüllte, gegen seine Mitmenschen! Mein Beruf – Recht schaffen, Unrecht abwehren – war mir von Jugend auf eine Lust, ein Bedürfniß des Herzens. Ich hatte eine Leidenschaft für das Recht.“

„Was Sie da gesagt haben, das sind Aeußerungen, die eines so pflichttreuen Beamten, eines so ausgezeichneten Menschen wie Sie würdig sind,“ bemerkte Lideman. „Was würden Sie aber sagen, wenn ich Ihnen den Vorschlag machte, sich an unserem Bankunternehmen zu betheiligen?“

Ein ironisches Lächeln überflog die Züge des Assessors, und er begleitete dasselbe mit den Worten:

„Ich, der vermögenslose Assessor, an Ihrem Bankunternehmen? Wem Sie mir das vielleicht vor sechs Monaten gesagt hätten, wo das Vermögen meiner Frau noch existirte, würde es einen Sinn gehabt haben, aber nun –

„Sie mißverstehen mich, verehrtester Freund, ich fordere keine Capitaleinlage von Ihnen – und doch, eine sehr große: die Ihres Wissens. Sie sollen sich als Rechtsconsulent betheiligen. Ich biete Ihnen für Ihre Beteiligung, Ihre Thätigkeit, Ihre Mühen einen festen Gehalt von zwölftausend Mark und außerdem eine jährliche Tantième, die sich vielleicht auf eine gleiche Zifferhöhe anschlagen läßt. Was haben Sie mir darauf zu antworten?“

Rechting schwieg auf diesen Vorschlag, der ihm einen großen Theil des verlorenen Einkommens wieder in Aussicht stellte. Sein Schweigen war indeß kein Anzeichen seiner Theilnahmslosigkeit. Er dachte an Doris, und wie ihr diese Vermehrung seines Einkommens über so manche Mühen hinweghelfen, ihm so manchen Conflict ersparen würde. Lideman ließ ihm Zeit zur Ueberlegung. Er nahm eine Zeitung vom Tische und blickte hinein, aber nur scheinbar; seine Blicke waren über dieselbe hinweg scharf und fest auf Rechting gerichtet. So mochten fünf Minuten vergangen sein.

„Nun, ist Ihr Schweigen die einzige Antwort auf meine Offerte?“

„Ich weiß nur nicht, wie weit sich diese Art von Thätigkeit mit meinen amtlichen Pflichten vertragen würde,“ bemerkte Rechting nachdenkend.

„Sie werden nicht allzu viel zu thun bekommen, lieber Herr von Rechting. Bei einem so soliden Unternehmen, wie dem unserigen, herrschen einfache, klare Verhältnisse. Es war von Anfang an ein Grundsatz meiner Geschäftsthätigkeit, dem Rechtsanwalt nie viel zu thun zu geben. Wo dieser einmal seine Hand im Geschäft hat, da merkt man überall die Teufelsfinger. Ich würde z. B. nie einen Rechtsanwalt in mein Haus laden, aus Rücksicht für andere Gäste, von denen man ja nicht wissen kann, ob sie nicht durch irgend eine unangenehme Affaire mit ihm zusammenhängen. Aber verzeihen Sie diese Abschweifung! Ist Ihnen die Annahme einer Privatthätigkeit außer Ihrer amtlichen verboten?“

„Das nicht, aber meine Grundsätze könnten durch eine derartige Beschäftigung in Conflict kommen. Sie wissen, daß es in der kaufmännischen Usance Dinge giebt, die nicht für gesetzwidrig – ich will nicht sagen unehrenhaft – gelten, bei denen man noch als sehr coulanter Mann einhergehen kann, und welche doch mit einem difficilen Ehrgefühl, ich will nur sagen: mit streng juristischer Auffassung, sich nicht vertragen.“

„Ah, das klingt fast wie ein Mißtrauen, Herr von Rechting.“

„Bitte, das sollte es durchaus nicht sein. Ich halte Sie mit bestem Gewissen und aus gutem Grunde für einen Mann von Ehre, der nie etwas thun würde, was ihm zur Unehre gereichen oder wodurch er mit dieser meiner Ansicht in Widerspruch gerathen würde.“

„Mein einziger Zweck, mein lieber Herr Assessor, ist, mich dieses excellenten Kopfes zu versichern. Ich biete Ihnen zwanzigtausend Mark festes Gehalt.“

„Sie setzen mich wirklich in Verlegenheit, mein lieber Herr Lideman.“

„Es fällt mir gar nicht ein, Sie zu drängen; überlegen Sie sich die Sache! Ich bin einmal ein so komischer Kerl, der sich über nichts so sehr freut, als wenn es auch anderen Leuten gut geht. Niemand braucht von unserer geschäftlichen Verbindung etwas zu wissen. Sie haben mit meinem Comptoir gar nichts zu thun; Sie erlauben mir blos, daß ich Mittags ab und zu eine Tasse Kaffee oder Abends wieder wie sonst eine Tasse Thee bei Ihnen trinken darf, und da besprechen wir ganz gemüthlich unsere Sachen. Also zwanzigtausend Mark!“

„Nicht so laut! Lassen Sie das meine Frau nicht hören, denn sonst – Sie wissen ja doch, wie Frauen sind. Wer weiß, wozu Doris mich zu verleiten fähig wäre. – Allerdings das Verlorene wäre durch dieses Einkommen zum größten Theile gedeckt.“

Da rückte der Präsident seinen Stuhl näher an den Sitz des Assessors. Seine Stimme nahm einen vertraulichen Ton an.

„Wissen Sie denn, was auskömmliche Verhältnisse für den Frieden und das Glück einer Ehe bedeuten? Wissen Sie, warum Eva in Versuchung fiel? Weil ihr etwas ahnte von Feigenblatt- und Pelzkleidern, die danach kommen würden. Die Geschichte des Kleides ist die Geschichte des Weibes. Eva ist ein Name für alle Reize, alle Tugenden, alle Schwächen des Geschlechtes; der Apfel aber das Symbol für das runde, rollende, verführerische Gold, welches seine Macht auf alle unsere Evatöchter mit ihren unergründlichen Bedürfnissen ausübt. Kann es ihnen der Mann nicht bieten, nehmen sie es, woher sie es bekommen – und wäre es auch von der Schlange.“

„Sie entwickeln da Ansichten über das schöne Geschlecht, vor denen mancher Mann zurückschaudern müßte, wenn er eben nicht bessere Erfahrungen gemacht hätte. Sie müssen viel Schlimmes erlebt haben, daß sich bei Ihnen solche Anschauungen von Eheglück, [75] von Herz und Charakter anständiger Frauen herausbilden konnten. Ich habe mir durch mein ganzes bisheriges Leben den Glauben an die edle Natur des Weibes zu erhalten gesucht, und würde aus tiefstem Grunde meines Herzen nur wünschen, daß ich ihn nicht aufzugeben brauchte. Ich möchte dann nicht mehr leben.“

Tiefe Überzeugungen, wie die Erich’s, so schmucklos sie auch geäußert werden mögen, verfehlen ihre Wirkung nie. Lideman fühlte sich in seinen weiteren Ausführungen so gehemmt, daß er durch einige entschuldigende, unzusammenhängende Worte sich seinen Rückzug deckte. Er nahm die Miene des Weltschmerzes an, sprach von allerdings sehr schmerzlichen Erfahrungen, von seinem Herzen, als einem Grabe, an dem mehrere Frauen die Todtengräber waren, und kam schließlich auf seine Offerte zurück.

„Wenn ich vorhin noch, ich gestehe es ja, schwankend war,“ lautete Erich’s Bescheid, „wenn auch mir dasjenige, nach dem, um ein Dichterwort zu gebrauchen, sich Alles drängt, verführerisch erschien – ich könnte dadurch meine Frau über so Manches heben; ich habe ein Kind, an das ich dachte – aber selbst angesichts dieser Rücksichten gestatten Sie mir jetzt Ihren freundlichen Vorschlag abzulehnen.“

Damit war die Sache abgeschlossen. Lideman versuchte dagegen noch sehr lebhafte Einwendung zu machen – es war vergebens. Das Herz hatte Rechting den richtigen Weg gezeigt. Er sagte mit dieser Willensäußerung, daß er doch noch andere Bande kenne, welche zwei Herzen zusammen zu halten vermöchten, daß er noch eine Macht anerkenne und verehre, die Gott in das Herz des Weibes gelegt. Zugleich aber war Erich die tiefe Kluft sittlicher Anschauungen zwischen ihm und dem bisherigen Hausfreunde vollkommen aufgegangen. So klar, so scharf wie jetzt, hatte sich deren Vorhandensein bei ihm zuvor niemals kund gegeben. – –

„Lideman ist für uns kein ganz passender Umgang,“ äußerte Rechting zu seiner Frau, als der Präsident gegangen war.

Statt aller Antwort fühlte sich Erich von den Armen seiner Frau umschlungen; lieb und gut, wie einst in ihren glücklichsten Zeiten, lächelte sie ihn an, und der Zauber eines verschämten naiven Mädchens sprach aus ihr, als sie ihm vertraute, daß sie hinter der Portière das ganze Gespräch mit angehört habe.

„Wie danke ich Dir, daß Du nichts von ihm angenommen hast, daß Du Dich nicht durch seine Anerbietungen hast verleiten lassen! Ja, ja, ich war oft schwach und kleinlich. Jetzt weiß ich erst, wie weh ich Dir gethan haben mag. Ich will mich ja doch in Allem bescheiden, in Alles fügen, und wenn ich auch entbehren müßte. Denke nicht, mein Erich, daß Du so eine abscheuliche Frau hättest, wie er sie schildert. Hätte ich geahnt, daß er so von uns, von mir denkt, dann würde ich nie gegen ihn freundlich gewesen sein. Ich mußte da in meinem Verstecke immer an mich halten, um nicht hervorzutreten, um nicht Protest einzulegen. Und nun erlaube mir, daß ich mich recht schäme. Aber vor dem Präsidenten, vor dem fürchte ich mich jetzt fast.“




5.

Das war einer der Augenblicke gewesen, wo Erich seiner Frau hätte um den Hals fallen und sie um Verzeihung bitten mögen, daß er sie nicht noch mehr lieben könne, als er es schon thue. Wenn Doris dagegen hätte sagen sollen, was sie bewogen hätte, in dem entscheidenden Momente so zu handeln, würde sie wohl die Antwort schuldig geblieben sein. Sie wußte es selbst nicht. Es war eine Eingebung, eine jener divinatorischen Regungen in der Seele eines Weibes, die den richtigen Ausweg plötzlich da findet, wo ihn die Gedanken eines Mannes oft vergebens suchen. Sie empfand nur das aus dem Vorschlage Lideman’s heraus, daß dieser einen Vorwand, eine Gelegenheit suchte, die Klingel ihres Hauses jeden Tag ziehen zu dürfen. Früher, als sie noch in glänzenden Verhältnissen lebte, hatte sie ruhig die Gefahr ignorirt, welche das Benehmen Lideman’s ihr gegenüber darstellte, und so hatte sie unbefangen mit ihm verkehren können. Jetzt fürchtete sie sich. Als sie Lideman’s Worte vernahm, mit denen er Erich zu umstricken suchte, sah sie seine dunklen Augen mit dem bläulichen Weiß, seine vollen, über den weißen Zähnen halb geöffneten Lippen immer näher an sie heran kommen; sie fühlte den Hauch derselben, mit dem es sich, wie ein fremder Geist und Willen, in sie niedersenken wollte. Eine unaussprechliche Angst überkam sie, und im Geiste stieß sie den Gefährlichen zurück. – –

„Nun hat Doris Alles überwunden, nun ist sie so geworden, wie ein Mann zu seinem Glücke eine Frau nur wünschen kann.“ Das sagte Erich einige Zeit nach diesem Vorfalle zu der einzigen Vertrauten, die er für solche Herzensbekenntnisse sich erwählt hatte, zu Regina.

„Das ist Alles, was man für Sie erbitten oder dessen Dauer man Ihnen wünschen kann,“ war deren Antwort.

Ueber ihre Augen, die vor wenigen Secunden, als sie ihn begrüßte, noch so klar, so hell, so freudig auf ihm geruht hatten, fiel es plötzlich wie ein Schleier. Obwohl sie gekommen war, um den Abend dort zu bleiben, hatte sie wieder die Thürklinke erfaßt. Erich wollte sie zurückhalten; seine Hand berührte die ihre. Diese zitterte.

„Ist Ihnen nicht wohl, Regina? Ihre Hand zittert.“

„Fieber, ein bischen Fieber,“ preßte sie heraus. „Das Alleinsein zu Hause – mit mir – ist das beste Heilmittel. Ich muß fort.“

„Und Sie wollen Doris nicht sehen?“

„Sie ist bei Liddy. Ich will sie nicht stören. Bringen Sie ihr meinen Gruß!“

„Ich hätte sie nicht sehen können,“ sagte sie für sich, als sie das kleine Haus im Rücken hatte. „Ich hätte sie mit dem Auge des Hasses anschauen müssen.“

Vier Wochen darauf war es wieder anders. Da hatte es zwischen den Eheleuten eine Scene gegeben. Warum? Als Erich vom Bureau nach Hause kam, trat ihm Doris strahlenden Auges entgegen – mit einem Kinderkleidchen in der Hand. Sie hatte es selbst gemacht, während sie früher diese Dinge fertig gekauft hatte. Sie hatte die Stunden der Nacht geopfert, denn das Kind sollte an seinem Geburtstage damit erfreut werden. Sie war stolz auf ihr Werk, stolzer noch, daß ihr die Arbeit ein Opfer an Ruhe und Bequemlichkeit gekostet hatte.

War Erich von Arbeit abgespannt, oder hatte sonst etwas ihm den Sinn getrübt – genug, Doris glaubte, daß er an ihrer Arbeit nicht den gebührenden Antheil nehme, die Selbstüberwindung verkenne und die Mühe, mit der sie sich in die neuen Verhältnisse einzufügen suche. Nun kam es zu Anklagen, Vorwürfen; Erich wurde heftig; er kehrte ihr seine Manneswürde heraus; Doris schmollte Tage lang. Es war um diese Zeit das erste Mal in seiner Ehe, daß er des Abends nicht bei seiner Frau zu Hause blieb. Er nahm seinen Hut und ging weg. Wohin? Das wußte er selbst nicht.

Ein beladen Herz ist ein irrend Ding – selten mit bestimmtem Ziel. Plötzlich sah Erich sich in der Straße, wo Regina wohnte. Einige Häuser weiter war ihre Nummer. Die kannte er, da er die Freundin so manchmal des Abends nach Hause geleitet hatte; über ihre Schwelle war er aber nie gekommen. Oben in zwei niedrigen Fenstern brannte Licht. Es konnten nur die ihrigen sein. Er wußte ja, daß sie vorn wohnte, „hoch über den Häuptern der Menschen, wo alle superioren Naturen ihre Schlafstellen haben“, wie sie einst geäußert hatte, nämlich über vier Treppen. Plötzlich sah er sich auf dem letzten Treppenabsatz – er sah nur vor sich in dunklen unbestimmten Umrissen eine Thür und an dieser umhertastend griff er ein rundes Porcellantäfelchen. Aber die Schriftzüge auf demselben vermochte er in der Dunkelheit nicht zu entziffern. Er machte sich mit Hülfe eines Taschenfeuerzeuges Licht und erfaßte rasch auf dem Täfelchen den Namen. Regina Desancto. Dann drückte er leise auf die Klinke; diese gab nach; die Thür war offen; die Lampe brannte in der Stube, aber diese schien leer.

Da hörte er über sich Laute von Stimmen, zuerst einer männlichen, dann Regina’s. Er öffnete die Thür wieder, die nach dem Corridor hinausging, und stieg leise die Stufen der engen Treppe hinauf. Er wollte wissen, was da oben vorging. Von der drittletzten Stufe konnte er in eine Stube sehen, in die Stube des Herrn Warbusch. Die Thür war offen, auch das breite Fenster, gerade wie damals, da Regina zum ersten Male hier eingetreten war als rettender Engel – nur war heute der Himmel, der in das kleine Observatorium schaute, reiner und sternenreicher als in jener Nacht. Regina saß vor dem Teleskop, und Herr Warbusch, in dem Erich den vorletzten Miether des Planethenhäuschens erkannte, stand neben ihr und gab ihr Erläuterungen [76] der Sternbilder, ihrer Wandelbahnen und ihrer einfachen Gesetze.

„Aber der Wunder größtes, leuchtend über alles Firmament, das ist doch der Menschengeist, der sich hinauf in diese Welten geschwungen hat, um ihnen die Geheimnisse des Alls abzulauschen,“ sagte Regina, nachdem sie ihre Blicke von dem Teleskop abgewandt hatte und nun, die Hände auf ihren Knieen faltend, ihre Gedanken in den Sternenraum schweifen ließ.

„Und wenn Sie mir ’mal wieder die Freude Ihres Besuches machen wollen, meine verehrte Freundin, dann werde ich Ihnen noch mehr und Interessanteres von den Geschichten dort über uns erzählen, was ich alles in einsamen Nächten da erlauscht.“

„Ich muß Ihnen im Grunde eine Abbitte leisten, Herr Warbusch, daß ich Sie bisher so gering geschätzt habe, daß ich Ihr geistiges Bedürfniß immer nach dem Wasserkrug beurtheilte, den Sie am Morgen und Abend selbst füllten.“

Warbusch beantwortete diese Aeußerung mit einem fröhlichen Kichern, wobei er ein über das andere Mal die kleinen Beine über einander schlug.

„Mein Wein wird da oben credenzt – im reinen Aether,“ sagte er, und dabei schaute das Auge mit verzücktem Blick hinauf in den Himmel. „Sie dachten sich in mir wohl einen Menschen, Fräulein Regina, in dessen Seele nie ein Strahl höherer Erkenntniß gefallen, so ein Opfer der Ziffern, die ich täglich in mein Hauptbuch einschreiben muß? O, das göttliche Geheimniß der Zahl, mit deren Hülfe ich die Tiefen der Erde ergründen und mich in die Räume des Himmels schwingen kann! Der hundertste, der tausendste Schreibärmelmensch ahnt nichts davon, mit welcher Weltenmacht er täglich und stündlich da hantiert; die Zahl ist ihm das Zeichen, mit der man Procente berechnet, der Schwimmgürtel, mit dem er über dem Wasser des Lebens mühsam sich hält – weiter nichts. Und dabei lebt er dumm wie eine Auster. Heute habe ich Ihnen von dem Sonnenkörper, den Fixsternen erzählt: das nächste Mal reden wir von den wandelnden, den sogenannten Irrsternen.“

„Können Sterne auch irren?“ fragte Regina plötzlich aus Gedanken erwachend.

„Nicht in dem Sinne Ihrer Frage. Am Himmel wie auf Erden hat alles sein festes Gesetz. Wie diese wandelnden Lichtkörper in ihren Bahnen, ihren Bewegungen oft widerspruchsvoll, regellos, abweichend erscheinen, so sind sie doch alle unterthan dem Gesetze in ihrem Verhältnisse zu dem großen bestimmenden Etwas: nennen Sie es Liebe, meinetwegen auch Anziehungskraft der Körper – wie Sie wollen; die Sterne da droben sind es ebenso wie das Menschenherz hier unten.“

„Wie das Menschenherz,“ wiederholte Regina und ging dabei der Deutung in Gedanken nach. Gehörte sie nicht selbst unter diese irrenden Sterne? War sie nicht ein Geschöpf der Sonne der Liebe, erhielt nicht auch sie durch dieselbe ihr Licht und nahm sie nicht von ihr ihre Richtung und ihre Bahn? Wandelnde Sterne droben wie das Menschenherz hier unten!

Kurz darauf stieg Regina die Treppe zu ihrer Stube herab. Beim Eintritt in dieselbe bemerkte sie die dunklen Umrisse einer menschlichen Gestalt.

„Fürchten Sie nichts, Regina, es ist kein Dieb. Ich bin’s. Ich sah Licht bei Ihnen von der Straße aus und wollte Sie überraschen. Wie ist es hier heimlich, traulich, friedlich! Wenn es bei mir zu Hause doch auch so wäre!“

„Erich!“

Dieser sein Name kam zwischen ihren Lippen fast wie ein Freudenruf hervor. Oft schon hatte er ihr sein Herz ausgeschüttet; Regina hatte Doris vertheidigt, ihn getröstet – auch ihm oft die Schuld selbst zugemessen, wo sie ihm hätte sagen mögen: Ja, du hast Recht. Dein Weib liebt dich nicht! Hier ist eine, die dich versteht, die für dich glüht, seitdem sie dich kennt, und die ewig um das deinem Herzen verlorene Glück klagen wird. Das aber sagte sie ihm nicht. Sie hüllte ihr pochendes, sehnendes Herz in leise Scheltworte, ja selbst in Vorwürfe. Sie richtete darin einen Damm zwischen ihr und ihm auf. Und nun war er zu ihr gekommen, was vordem nie geschehen war – und schaute so traurig zu ihr herüber! Sie hatte das Sopha, auf das sie sich einen Augenblick gesetzt, verlassen wollen, er aber litt es nicht, sondern drückte sie leise nieder, so daß sie gezwungen war, auf ihrem Platze zu verharren.

Es ist ein armseliger Trost, wenn diejenigen, welche man liebt und die ihr Herz anderswohin gegeben haben, wenn diese unbefriedigt und unglücklich Zuflucht suchen kommen – ein armseliger Trost und doch wieder ein tief genugthuend Empfinden – die Wollust der Verschmähten. Er saß bei ihr, vor ihr. Er sprach von Allem, von der Einrichtung des kleinen Zimmers, von den Büchern, die in demselben aufgestellt waren, von dem eigenthümlichen Eindruck, den dieses Haus mit den beiden einsamen Insassen machte, mit Regina und mit Warbusch, seinem frühern Miether vom Planetenhäuschen. Dann bemerkte Rechting auch sein Bild, das in einem Rahmen von dunklem Sammet auf der Kommode aufgestellt war; eine Immortelle war darüber eingesteckt.

Wie mit Blut war Regina’s Antlitz übergossen, als er sein Augenmerk auf sein eignes Conterfei richtete.

„Es ist dasselbe Bild, welches Sie mir vorige Weihnachten schenkten,“ bemerkte sie und suchte seine Aufmerksamkeit davon abzulenken.

„Aber ohne die Immortelle, Regina,“ entgegnete er. „Ich erschrak fast, als ich sie bemerkte. Als ob ich schon gestorben und hier ein getreues Andenken mir gesichert wäre!“

„Das wird Ihnen stets werden, Erich, ewig! Das Sterben können Sie immerhin einstweilen unterlassen.“

Sie versuchte, dem letzten Zusatz einen heiteren Ausdruck zu geben, aber es gelang ihr doch nicht.

(Fortsetzung folgt.)




Der Landvogt von zehn Tagen.
Charakterbild aus den Tagen der dänischen Fremdherrschaft.
I.

Von den Ideen und Ueberzeugungen, welche auf dem denkwürdigen Wartburgfeste des 18. October 1817 zu hellem Ausdruck kamen, hat sich manche bewegende und entscheidend gewordene Strömung durch alle ferneren Entwickelungen unserer nationalen Geschicke ergossen. Wenn aber die Geschichtskundigen den wichtigen Tag nach dieser Seite hin zu würdigen suchen, so pflegt dabei eines Ereignisses nicht gedacht zu werden, das sich allerdings in den Aufzeichnungen jener Zeit nur sehr flüchtig notirt findet und von der damaligen öffentlichen Meinung noch nicht gewürdigt werden konnte. Gleichwohl hatte in diesem unscheinbaren Vorgang eine der bedeutsamsten Wendungen deutscher Zukunft ihr erstes Heraufleuchten angekündigt.

Dem ergangenen Rufe der Jenaer Burschenschaft folgend, waren bekanntlich die zahlreichen Deputationen begeisterter Studiengenossen schon am 17. October von den verschiedensten Hochschulen in Eisenach eingetroffen und erfüllten nun hier, erwartungsvoll und in fröhlich-ernster Bewegung, unter jubelnden Begrüßungen und lebhaften Gesprächen den Marktplatz und die ihm angrenzenden Straßen. Schon glaubten die im Gasthaus „Zum Rautenkranz“ tagenden Leiter des Festes die Liste der Teilnehmenden geschlossen, als gegen Abend die Nachricht hereinkam, daß soeben noch frischer Zuzug, eine Schaar von dreißig neuen Gästen unter dem Gesange des alten Lutherliedes durch das Thor geschritten sei. An einem Eindruck der Ueberraschung wird es wohl bei ihrer Meldung nicht gefehlt haben. Denn Gäste waren es im eigentlichen Sinne, die hier noch zur rechten Stunde sich einstellten, Söhne deutschen Stammes zwar, aber doch halbe Fremdlinge auf deutschem Boden, Angehörige jener schleswig-holsteinischen Nordmark, deren Bevölkerungen seit lange unter dem Scepter der Dänenkönige lebten und, trotz ihrer deutschen Sprache und Art, ihres Zusammenhanges mit Deutschland so ziemlich vergessen hatten. Das Ränzel auf dem Rücken, den Ziegenhainer in der Hand, hatten jene dreißig Kieler Studenten den weiten Weg durch die deutschen Lande mit einander zu Fuß gemacht, getrieben von einem mächtig gewordenen

[77]

Das Lornsen-Denkmal zu Rendsburg im Augenblick der Enthüllung.
Für die „Gartenlaube“ aufgenommen von Wilhelm Claudius.

[78] Drang des Blutes, der sie zu ihrem Volke zog. Darum wurden sie in Eisenach mit doppelter Herzlichkeit begrüßt und ihre Sprecher Olshausen, Binzer und Förster sofort zu Mitgliedern des Festausschusses ernannt. Mit den neugefundenen Brüdern durchlebten sie hierauf in inniger Vereinigung alle weihevollen Momente der ergreifenden Feier, deren Gedanke die Kräftigung in der Liebe zum gemeinsamen Vaterlande, deren Zweck der Protest gegen deutsche Ohnmacht und Knechtschaft, das Bekenntniß einer willensstarken Begeisterung für deutsche Einheit und Freiheit, deutsche Sitte und Gesinnung war. Als die Schleswig-Holsteiner unter diesen Eindrücken aus Eisenach schieden, waren die Anfänge jener Bewegung gegeben, welche den abgewendeten Bruderstamm an der Ost- und Nordsee wieder zu Deutschland führen sollte.

Wenn bis dahin in der großen Masse der schleswig-holsteinischen Bevölkerung ein deutsches Nationalgefühl nicht vorhanden gewesen, so war es erklärlich genug. Zur Erweckung eines solchen Gefühls hätte es doch vor Allem einer deutschen Nation bedurft. Eine solche aber gab es noch nicht, und auch in dem jammervoll zersplitterten Deutschland war das eifrigste Bestreben der zahlreichen Souveraine nur auf die Pflege und Befestigung des engen Sondergeistes und kleinen Localpatriotismus in den von ihnen regierten Ländern und Ländchen gerichtet. Wie hätte da eine fremde Macht in ihrer Beherrschung eines deutschen Stammes sich anders verhalten sollen? Abgesehen von ihrer Absicht, die alte Selbstständigkeit der deutschen Herzogthümer zu untergraben und sie als bloße Provinzen mit ihrem Staat zu verschmelzen, hatten übrigens die letzten dänischen Könige ein mildes, der humanen Aufklärung zugeneigtes Regiment geführt und sich dadurch viel anhängliche Treue erworben. Auch in der dänischen Bevölkerung selber, die ihre ganze Bildung aus deutscher Literatur und Dichtung schöpfte, war lange Zeiten hindurch in Bezug auf die Holsteiner und Schleswiger ein Bewußtsein nationalen Gegensatzes so wenig zu Tage getreten, daß es den letzteren nicht schwer gemacht wurde, sich immer mehr als Dänen zu fühlen. Dennoch waren die innerlichen Gegensätze zu stark, als daß ein solcher Zustand widernatürlicher Verschwommenheit für immer hätte andauern können. Fast unbewußt hatte er sich schon seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts durch den damals erfolgenden Aufschwung des deutschen Genius gelockert, den beginnenden Ermannungsproceß unseres Volkes. Diese von Klopstock und Lessing ausgehende Gedankenumwälzung übte auf die eine oder die andere der beiden politisch zusammengeschmiedeten Nationalitäten eine ganz verschiedene Wirkung. Während sie die Dänen in sich aufnahmen wie ein Fremdes, ließen die Gebildeten des urdeutschen schleswig-holsteinischen Volkes sich von ihr ergreifen wie von dem Feuer eines verwandten Geistes.

Ein interessantes und durchaus sprechendes Beispiel dafür war schon der sogenannte Göttinger Hainbund. Dieser im Jahre 1772 gestiftete und für die Entwickelung unserer Poesie fruchtbar gewordene Dichterverein, der an den Teutonismus Klopstock’s anknüpfte, dessen bewegende Seele also eine bis zum schwärmerischen Cultus gesteigerte Liebe zum deutschen Vaterlande war, zählte unter seinen hervorragendsten Mitgliedern bereits vier dänische Unterthanen deutschen Stammes: Boie, Cramer und die beiden Grafen Stolberg waren Schleswig-Holsteiner. Als diese Hainbündler in die Heimath zurückkehrten und zu einflußreichen Aemtern kamen, wurden ihre Wohnsitze Mittelpunkte eines angeregten geistigen Lebens namentlich in den Kreisen des holsteinischen Adels. Es erwachte das Verlangen des Gedankenaustausches; es erwuchs eine deutsche Literatur und Presse; es spann sich aus dem Bedürfniß der Seelen heraus ein unzerreißliches Band idealer Beziehungen und sympathischen Verständnisses nach Deutschland hinüber. Zwar hatten die Schleswig-Holsteiner nachher mit dem deutschen Volke nicht die Zeiten der Napoleonischen Fremdherrschaft durchgemacht, diese große Schule der Leiden, der Erfahrung und Erhebung. In die Netze der dänischen Politik verstrickt, standen sie damals treu auf der Seite derselben, selbst in dem ihnen völlig fremden Kriege zwischen Dänemark und England, der ihnen so viel Noth brachte und dessen ganze Last sie allein tragen mußten. Dennoch ist es erwiesen, daß den Holsteinern nur ein sehnlicher Wunsch erfüllt wurde, als sie, 1815 in den deutschen Bund aufgenommen, an den letzten Acten des Kampfes gegen Frankreich sich betheiligten durften. Der große Tag von Belle-Alliance wurde auch in Holstein als ein Festtag und zum ersten Male in der Kieler Aula durch eine berühmt gewordene, von entschiedenem deutschen Patriotismus beseelte Rede Dahlmann’s gefeiert. Kurz, ein Hauch von dem Geiste der nationalen Befreiungskriege und seiner Helden und Sänger war auch in jene dem deutschem Mutterlande entfremdeten Gaue gedrungen, und er verstärkte sich, als die Dänen mit einem Male einen nationalen Fanatismus hervorzukehren begannen, als sie ihren berüchtigten Krieg wider die deutsche Sprache eröffneten und durch ihre bodenlos schlechte und rücksichtslose Finanzwirthschaft, welche hauptsächlich die deutschen Herzogthümer belastete, hier unbeschreibliche Nothlagen hervorriefen, sodaß Tausende an den Bettelstab gebracht wurden. Dies Alles erzeugte ganz im Stillen eine oppositionelle Haltung wider das Dänenthum zunächst in den wenig zahlreichen intelligenten Schichten. Mit Schrecken nahmen sie jetzt wahr, daß sie von „Fremden“ beherrscht und ausgebeutet seien, und ein mehr oder minder klares Gefühl des Heimwehs lenkte ihre Blicke auf das deutsche Vaterland. Ein Ausdruck dieser Stimmungen war der Zug der Kieler Studenten nach der Wartburg.

Erfüllt von den Gedanken und hochsinnigen Vorsätzen der durchlebten Feier, der Blutsverwandtschaft und des inneren Zusammenhanges mit der großen deutschen Volksfamilie ganz sich bewußt, kehrten die Jünglinge zu ihrer heimischen Universität zurück und ließen es alsbald ihr eifriges Bemühen sein, auch in Kiel das seit lange verflachte und verwilderte Studentenleben nach den strengen burschenschaftlichen Grundsätzen zu reformiren. An Empfänglichkeit für diese Absicht fehlte es unter den Commilitonen nicht; es schloß ein Kreis von Gleichgesinnten sich eng an einander, von Jünglingen, in denen die Erkenntniß zum Durchbruche gekommen war, daß nur von der Festhaltung an deutscher Eigenart und Sitte, von der Vertiefung deutscher Bildung, der Förderung deutschen Freiheitsstrebens die Rettung des Landes aus seinen schweren Gefahren zu erwarten sei. Dieser Kreis war es, in dem zuerst ein baumhoher friesischer Student sich Beachtung schaffte, der Sohn eines vermöglichen Schiffscapitains in dem großen Stranddorfe Keitum auf der Insel Sylt.

Wer heute über den freundlichen Paradeplatz der Stadt Rendsburg schreitet, findet in dem imposanten Mannesantlitz, das sich auf der am 1. September des vorigen Jahres daselbst enthüllten Denksäule erhebt, deren Abbildung wir in dieser Nummer unsern Lesern bieten, die energischen Züge jenes friesischen Studenten wieder. Das Lebenswerk des hochverdienten Mannes, dem die Liebe und Dankbarkeit eines ganzen Volksstammes dieses schöne Denkmal errichtet haben, ist außerhalb seines engeren Vaterlandes nur noch Wenigen bekannt, obwohl sein Wirken weit über die Grenzen desselben hinausreichte und sein Name überall genannt werden sollte, wo von den Besten unserer Nation die Rede ist.

Uwe Jens Lornsen war ursprünglich zum Seemanne bestimmt, aber die unruhigen Kriegszeiten ließen es dazu nicht kommen, und er entschied sich nunmehr für die Laufbahn eines Juristen. Nach mehrjähriger Vorbereitung hatte der Vierundzwanzigjährige Ostern 1816 die Landesuniversität bezogen und mag da wohl eine Zeitlang dem hergebrachten wilden Treiben hinlänglich seinen Tribut entrichtet haben. Gewiß aber ist, daß er auch einer der Ersten war, die von dem nun aus Deutschland herüberstrahlenden Ideenlichte im Innersten getroffen und zu ernster Läuterung aufgerüttelt wurden. Sein Eifer für die Zwecke des studentischen Reformbundes war so groß, daß er 1818 nach Jena ging, um auf dieser damals wissenschaftlich so herrlich erblühten und durch den patriotischen Geist ihrer Lehrer und Schüler ausgezeichneten Hochschule sein letztes Studienjahr zu verleben. Auch in Jena erschien der blondgelockte Friese mit seiner Herculesgestalt wie ein Abkömmling untergegangener germanischer Riesengeschlechter. Von seiner außerordentlichen Körperkraft erlebt man bald belustigende Proben. Als einige Commilitonen, unter denen er sich befand, einst beim Billardspiel durch die Spöttereien anwesender Handlungsgehülfen gestört wurden und diese durch alle Zurechtweisungen nicht zum Schweigen gebracht werden konnten, nahm Lornsen den einen der Lästigen unter seinen linken, den andern unter den rechten Arm, trug Beide ruhig auf die Straße hinaus und setzte dann gleichmüthig sein Spiel fort, ohne während der ganzen Procedur auch nur ein Wort verloren zu haben.

Doch nicht blos seine äußere Erscheinung lenkte die Aufmerksamkeit

[79] auf den jugendlichen Nordländer. Da er in demselben Jahre 1818 bereits neben den hervorragendsten Mitgliedern als Vorsteher der Burschenschaft verzeichnet ist, muß er wohl durch Begabung, Charakter, Beredsamkeit und rege Betheiligung hier schnell einen ungewöhnlichen Einfluß erlangt haben. Mit Heinrich von Gagern stand er in naher Freundschaftsverbindung, Und Robert Wesselhöft urtheilte über ihn, daß er ein ausgezeichneter Freiheits- und Vaterlandsfreund und von ihm einst Bedeutendes zu erwarten sei. Auch läßt sich annehmen, daß solche Umgebungen und innige Beziehungen nicht ohne Einfluß auf das Wachsen seines inneren Menschen und auf den Ernst seiner Studien geblieben sind. Als ein Jünger der Lehre vom neuen deutschen Reiche kehrte er im Frühling 1819 von Jena zu seiner deutsch-dänischen Heimathsinsel zurück, um sich daselbst auf sein juristisches Examen vorzubereiten, das er 1820 „mit Auszeichnung“ bestand, worauf er sehr kurze Zeit in einer kleinen holsteinischen Stadt als Advocat lebte. In seiner Tracht, seinen Sitten, der ganzen Weise seines Auftretens und Disputirens hatte sich bis dahin noch viel Auffälliges, Anstößiges und Burschikos-Excentrisches gezeigt, als Merkmal innerer Gährungen. Dies legte und läuterte sich jedoch, und sein Wesen fand sich mehr in den herkömmlichen Lebensformen zurecht, als er die Laufbahn eines Verwaltungsbeamten wählte. Bald darauf erhielt er von Kopenhagen die Genehmigung, dort als Volontair in die schleswig-holsteinische Kanzlei zu treten. Als er zur Abreise am Strande erschien, war das Paketboot, das ihn mitnehmen sollte, schon sammt seinen Habseligkeiten davon gefahren. Rathlos stand er da; im Hafen lag nur ein einziger Ewer, eines jener Fahrzeuge, welche kleine Ueberfahrten und den Transport zu den Schiffen vermitteln.

„Du mußt mich nach Kopenhagen fahren,“ rief er schnell entschlossen den Führer an.

Dieser lachte über die ungeheuerliche Zumuthung, mit dem kleinen und offenen Ding die gefährliche Meerfahrt zu wagen. Lornsen aber, selbst noch ein gutes Stück von einem Seemann, ließ nicht nach und brachte den Mann herum. Noch vor dem Paketboot langten sie an der Zollbude an.

So war denn der deutsche Burschenschafter mitten in das Getriebe der fremden Haupt- und Hofstadt versetzt. Ohne alle Familienverbindungen und Gönnerschaften, ja selbst ohne das, was man in den höheren Kreisen liebenswürdig nennt, hatte er sein allmähliches Fortkommen auf dem erwählten Berufswege allein seiner Tüchtigkeit zu danken. Von der Stellung eines Comptoirchefs und Kanzleisecretärs, zu der er im Jahre 1826 aufgerückt, hatte er es von da bis 1830 zu dem bedeutendem Posten eines Kanzleiraths der schleswig-holsteinischen Oberbehörde gebracht. Der Ernst, mit welchem er weit über das gewöhnliche Maß seinen Amtspflichten oblag, kam ihm schon aus den Gegenständen seines täglichen Geschäftskreises. Mit Nachdruck wiesen sie ihn auf die düsteren Verhältnisse seiner Heimath hin, die ohnedies fortwährend seinen Geist beschäftigten und seine Ruhe trübten. Das Gefühl des Unbehagens, die Beängstigungen wegen der Zukunft des Landes waren in Schleswig-Holstein nicht beschwichtigt, sondern von Jahr zu Jahr gestiegen. Für ihre Hoffnungen auf Rettung aber hatten inzwischen auch dort die Gemüther nach dem Vorgange anderer Länder einen Gedanken ergriffen, in dessen Verwirklichung sie die Erfüllung aller ihrer Wünsche sahen. Der Gedanke hieß Constitution, Verfassung, freilich zunächst nur ein Wort, mit welchem kaum ein Begriff verbunden wurde, aber dennoch ein Ausdruck richtigen Zeitinstincts, der eigentliche Schlachtruf der Epoche, das Triebrad einer mächtigen Weltbewegung. Gestützt auf ihrem Freibrief von 1460, der ihnen, Dänemark gegenüber, Zusammengehörigkeit, Selbstregierung und Steuerbewilligungsrecht für alle Zeiten gesichert hatte, waren die alten Stände und Prälaten der beiden Herzogtümer nicht müde geworden, für die unter der Last unwillkürlich aufgebürdeter Abgaben fast erliegenden Gebiete die Wiederherstellung des alten Landesrechts von der Regierung zu fordern. Diese zeigte sich auch einer Vereinbarung nicht abgeneigt, hielt aber die Angelegenheit in der Schwebe, ohne den Nothzuständen und aller sonstigen Vergewaltigung des deutschen Elements Abhülfe zu verschaffen. Durch den Eintritt Holsteins in den deutschen Bund wurde der Weg nach Frankfurt offen und endlich auch von der Ritterschaft betreten. Der selige deutsche Bundestag aber ermahnte die „Reclamanten“ zum Vertrauen auf die Versprechungen des dänischen Königs. So war auch hier dem offenbaren Volksrecht, der bestehenden Gewalt gegenüber, jede Handhabe genommen, und in den Bureaus der Kopenhagener Regierung wurde nunmehr diese Verfassungsfrage zu den Acten gelegt.

In der schleswig-holsteinischen Bevölkerung aber konnte der einmal im Keimen begriffene Gedanke nicht wieder erstickt werden, und auch die jungen deutschen Regierungsbeamten in der dänischen Hauptstadt hörten nicht auf, ihn zu besprechen und in ihren Herzen zu bewegen. Fleißig hielten sie zu diesem Zwecke Zusammenkünfte, deren bewegende Seele kein Anderer als Uwe Jens Lornsen war. Mit seiner gewohnten Schärfe verscheuchte er hier zunächst alle nebelhaften Vorstellungen, sowie alle unklaren und abgelebten feudalen Begriffe in Betreff der Fragen, um welche es bei einer Verfassung des neunzehnten Jahrhunderts sich handelte. Vor Allem kam man darin überein, daß wider die dänischen Trennungsabsichten unerschütterlich an der Zusammengehörigkeit und Untrennbarkeit der beiden Herzogthümer festgehalten werden müsse. An eine Loslösung vom dänischen Staate aber dachte damals noch Niemand; als höchstes und kühnstes Ziel aller Forderungen hatte Lornsen vielmehr nur den Vorschlag einer sogenannten Personalunion in die Debatte geworfen. Auf sein Andringen und seinen Betrieb aber wurden alle diese Punkte von den Freunden nicht wie ein äußerliches Programm und Glaubensbekenntniß aufgestellt, sondern in umfassenden und gewissenhaften Erörterungen bis in das Speciellste durchgearbeitet. In solcher gründlichen Gedankenarbeit, die ihre Ausstrahlung jedenfalls auch in die Heimath hinübersandte, offenbarte sich vor Allem der gewaltige Einfluß Lornsen’s auf diesen Kreis gebildeter Landsleute, die bald in liebevoller Bewunderung zu ihm aufblickten. Wie die dumpfe Unzufriedenheit der Schleswig-Holsteiner in seiner Person zu vollständig klarem und sicherem Bewußtsein sich durchgerungen hatte, so war dieser Volksbewegung in ihm auch der bisher ihr mangelnde Führer erwachsen, der die Geister zu rufen und im rechten Augenblicke das rechte Wort zu sprechen wußte.

Inzwischen hatten öfter wiederkehrende Krankheitsleiden, die immer mit starken Anwandlungen einer eigenthümlichen Schwermuth verbunden waren, vielfach sein amtliches Wirken gestört. Er sehnte sich nach einer ruhigeren und zugleich selbstständigeren Stellung, die ihm auch mehr Muße zu schriftstellerischer Thätigkeit ließ, für welche er einen besonderen Beruf in sich fühlte. Auf seinen Wunsch wurde ihm der Posten eines Landvogts von Sylt verliehen, wodurch ihm die lange ersehnte Rückkehr in die Heimath und zu den Seinen ermöglicht ward. Dies geschah im Jahre 1830, dem Jahre der Julirevolution und ihrer welterschütternden Wirkungen.

Von einer solchen Bewegung des Welt- und Zeitgeistes mit dem er eine so starke Fühlung hatte, mußte ein Charakter wie Lornsen bis in das Innerste durchschauert werden. Mit Recht sah er die Freiheitsbestrebungen der Zeit um ein halbes Jahrhundert ihrem Ziele näher gerückt, und im Bewußtsein seiner Befähigung und seiner Willenskraft meinte er, „daß es die Pflicht jedes streitbaren Mannes sei, in diesem thatenvollen Moment sich wohlgerüstet finden zu lassen“. Alsbald nach seiner Ankunft in Kiel setzte er sich mit den hervorragendsten Vertretern der Intelligenz in’s Vernehmen.

Theodor Olshausen, der ihn damals zum erstem Male sah, schrieb noch vierzig Jahre später (1869) über den Eindruck der Persönlichkeit Lornsen’s. „Ich habe niemals einen Mann gesehen, der eine so anziehende Wirkung auf mich ausgeübt. Und dieser Eindruck ist mir bis zum heutigen Tage geblieben … sein Edelmuth, seine begeisterte Freiheitsliebe, seine selbstvergessende Hingebung übertreffen in meinen Augen noch immer Alles, was ich bei Anderen gesehen.“

Einem so gearteten Menschen, der überdies ein angesehener Beamter war, konnte die entsprechende Wirkung nicht fehlen, als er einem engen Kreise von Gleichgesinnten seine Absicht zu erkennen gab, in den Herzogtümern eine kräftige Agitation hervorzurufen für eine Verfassung und für die Rückführung der Verbindung mit Dänemark auf eine bloße Personalunion. Der Gedanke zündete bei allen Kieler Notabilitäten derselben Richtung, und als nächstes Mittel wurden Massenpetitionen an den König aus allen Bezirken und Städten bezeichnet. Zu kräftigem Betriebe der Sache unternahm Lornsen sofort eine Rundreise, um vertrauenswürdige

[80] Männer liberaler Gesinnung zu bestimmen, binnen zehn Tagen zu einer gemeinsamen Berathung in Kiel zu erscheinen. Diese Zusammenkunft kam jedoch nicht in dem beabsichtigten Umfange zu Stande. Furcht, Schwerfälligkeit, hier und da wohl auch auch Zweifel an der Zuträglichkeit des Schrittes hielten selbst viele sonst Gleichgesinnte zurück. Dennoch fanden sich am 1. November in Kiel mehr als dreißig ehrsame und einflußreiche Männer des Landes zusammen, denen Lornsen statt aller Erörterung der Fragen das Manuscript einer inzwischen von ihm verfaßten an das Volk gerichteten Darlegung. „Ueber das Verfassungswerk in Schleswig-Holstein“ vorlas. Dieses geschichtlich so wichtig gewordene, nur sechszehn kleine Seiten umfassende Schriftchen liegt in seinem sehr wenig eleganten Originaldruck auf grauem Löschpapier hier vor uns. Im knappster Fassung, ohne ein überflüssiges Wort, in schärfster, jedem Bauer verständlicher Gedankenentwickelung, legt es nicht blos die Unmöglichkeit einer Trennung der beiden Herzogthümer, ihr unbestreitbares Recht auf Herüberlegung ihrer Oberbehörden und auf eine gemeinsame und volksthümliche Repräsentativverfassung dar, sondern begründet auch die unabweisliche Nothwendigkeit derselben schon durch den unwürdigen und gefährlichen Umstand, daß die Staatsbürger bisher in vollständiger Unwissenheit über die Höhe und den Stand ihrer öffentlichen Schuldenlast gelassen wurden. Die Grundzüge einer solchen Verfassung werden sodann in einigen Punkten ebenso kurz wie einleuchtend entwickelt. In Betreff der Trennung der Verwaltung von Dänemark findet sich das bedeutsame Wort: „Zwar haben die Dänen seit Jahren ein Bestreben an den Tag gelegt, uns mit sich zu einem Volke zu verschmelzen und selbst in den neuesten Zeiten, in welchen bei den Deutschen das Volksgefühl kräftiger als je sich kundgethan, hat man sich nicht enthalten, uns auf unser Streben zuzurufen, wir möchten uns doch freuen, lieber etwas, nämlich Dänen, als gar nichts, nämlich Deutsche, zu sein. Spott und Hohn hat zwar die mächtigste und edelste Nation Europas wegen ihrer heillosen Zerstückelung von jeher und von allen Seiten und Völkchen auf sich laden müssen. Aber die Zeit hat gezeigt und sie wird fernerhin zeigen (!!), daß auch der Deutsche jedes unwürdige Ansinnen mit Nachdruck zurückzuweisen wissen wird. Jeder Gedanke an eine Verschmelzung beider Völker werde daher aufgegeben. Laßt uns Hand in Hand gehen als Brüder; nur der König und der Feind sei uns gemeinschaftlich!“

Am Schlusse heißt es: „Es sind Bedenken laut geworden, daß die gewünschten Reformen unserem König mißfällig sein könnten. Aber so darf sich die Liebe zum König in der Brust des Mannes nicht kund thun. Wir dürfen uns nicht in die Lage setzen, unsere dringlichste Angelegenheit hinausschieben zu müssen bis zu dem Ableben des Königs, dem wir die Unsterblichkeit wünschen. Unser König ist ein geborner Bürgerkönig.“

In diesen Stellen offenbart sich uns hinlänglich die ganze Ueberlegenheit des Mannes und der Geist, der ihn beseelte, wenn wir uns nur in die Zustände jener Zeit zurückversetzen und nicht an die heute nach langen Kämpfen so glücklich errungene Gestaltung der Dinge denken. In der Presse und auf den Rednerbühnen Süddeutschlands wurden damals freilich die betreffenden Grundsätze viel rücksichtsloser geäußert, das zahme und geduldige Schleswig-Holstein aber hatte eine solche Sprache bis dahin noch nicht gehört, und gerade in ihrer vorsichtigen Gemessenheit trug sie dort die Bürgschaft ihrer Wirkung. Von der Kieler Versammlung wurde deshalb die Schrift auch mit der freudigsten Zustimmung begrüßt, auf Beschluß auch sofort in den Druck gegeben und mit Aufforderungen zum Erlasse von Petitionen in zehntausend Exemplaren über das Land verbreitet. So weit war durch Lornsen die Thatkraft der Genossen erweckt worden. Was ihn selber betrifft, so besaß er ganz die Einfalt hochsinniger Menschen. Er hatte gethan, was er für nothwendig und unerläßlich hielt, und er hatte es nicht blos aus innerster Ueberzeugung, sondern mit Bedacht und Ueberlegung gethan. Daß er als Beamter damit Anstoß erregen, Zorn und Haß wider sich heraufbeschwören könne, das war ein Punkt, der bei einem so großen und hohen Zwecke ganz außerhalb seiner Erwägungen lag. Sofort sandte er daher auch ein Exemplar seiner Schrift nach Kopenhagen an den Präsidenten der schlewig-holsteinischen Kanzlei, Grafen von Moltke, und fügte ein Begleitschreiben hinzu, in welchem er seine Agitation als eine vollkommen loyale und gesetzliche motivirte, und als einen der Gründe der Uebersendung schließlich auch anführte, daß ihm alles geheime und versteckte Treiben zuwider sei.

In seiner Auffassung dieser Verhältnisse aber hatte er sich geirrt. Am Kopenhagener Hofe hatte man bereits Wind von der Sache bekommen und war allerdings im ersten Augenblicke von einem Gefühl der Furcht gelähmt. Man beruhigte sich jedoch schon, als aus den Herzogtümern selbst ein Entrüstungsschrei aller dort vorhandenen Bedienten- und Philisterseelen sich vernehmen ließ über den gegen den König verübten „Frevel“. Im Uebrigen hatten sich die sämmtlichen europäischen Cabinete bereits von den ersten Schrecken des letzten Sommers erholt und waren überall mit einer Neubefestigung jener Wälle beschäftigt, welche in der That das alte Regiment der Willkür noch achtzehn Jahre hindurch gegen jedes Andringen des Volksgeistes mühsam zu schützen vermochten. Dies alles gab der dänischen Regierung bald den Muth zu einem angreifenden Vorgehen, und ihr thätiger Anhang warf bereits die bekannten reactionären Stichworte aus von den „Ehrlosen“ und „Böswilligen“, die ein friedliches und zufriedenes Volk aufzureizen suchen. Natürlich richtete sich der Ingrimm hauptsächlich gegen den Urheber des Schrittes, der inzwischen ruhig sein neues Amt angetreten hatte und von seinen freiheitliebenden Friesen mit besonderen Auszeichnungen empfangen worden war. Aber nicht länger als zehn Tage hatte er unter den Landsleuten geweilt, als ein Obergerichtsrath mit polizeilicher Begleitung in Keitum erschien, um den neuen Landvogt von Sylt zu – verhaften.


(Schluß folgt)




Ueber Heizung und Ventilation von Wohngebäuden.
Auch ein Beitrag zur Gesundheitslehre.


Warum müssen wir im Winter noch immer in eiskalten Kirchen frieren, warum noch immer in unventilirten Theatern und Vergnügungssälen uns amüsiren, in rauchigen und qualmigen Bier- und Weinstuben Zerstreuung und Erheiterung suchen? Einfach, weil der Laie es für unmöglich hält, auch in alten Gebäuden moderne Heizungen und Ventilationen einzurichten oder weil er Geldopfer scheut, die hier um so schwerer fallen, als Jedermann sich einbildet: „Wärme dürfe nicht viel kosten und frische Luft müsse umsonst beschafft werden können!“

Auf dem Gebiete der Heizung und Ventilation sind in den letzten beiden Jahrzehnten, wie auf allen Gebieten der Industrie und Wissenschaft, bedeutende Fortschritte gemacht worden, die leider dem großen Publicum aus Mangel an Literatur auf diesem Felde noch immer unbekannt geblieben sind. Es ist das um so mehr zu bedauern, als die Mehrzahl unserer Handwerksmeister, auf welche in kleinen Städten der Bauherr angewiesen ist, von diesem Zweige der Technik wenig Kenntniß besitzt. In größeren Städten allerdings hat sich in neuester Zeit eine Zahl von Ingenieuren niedergelassen, die sich mit Anlegung von Heizungen und Ventilationen beschäftigen, aber die Hauptquelle ihrer Existenzmittel sind der Staat und die Communen mit ihren größeren Gebäuden oder industrielle Etablissements. Der Privatmann fängt erst zögernd an, sich die Erfahrungen der neuesten Zeit zu Nutze zu machen.

Eine gute Heizung und eine zuverlässige Ventilation sind nur dann zweckentsprechend, wenn sie beide Hand in Hand gehen. Dabei muß aber nicht allein Sorge getragen werden, die schlechte Luft abzuführen, sondern gleichzeitig auch Sorge für Zuführung angewärmter frischer Luft. Andernfalls schleicht sich kalte Luft zum Ersatze durch Thür- und Fensterritzen ein, strömt mit Gewalt durch die geöffnete Thür und erzeugt den Jedermann unangenehmen Zug. Diese Zuführung frischer, warmer Luft läßt sich, ebenso wie die Abführung der verdorbenen, mit fast jeder Heizung verbinden.

Unser guter alter Kachelofen ist einer der besten Luftreiniger unserer Wohn- und Schlafzimmer, so lange er geheizt wird. Durch das Feuer, welches in ihm brennt, saugt er die Luft aus [81] dem Zimmer, und hört damit auf, sobald die luftdichte Thür oder die Ofenklappe geschlossen wird. Für eine Zuführung frischer warmer Luft sorgt er nicht ohne Weiteres, sondern es bedarf dazu noch besonderer, aber sehr einfacher Vorrichtungen, die jeder Töpfer beim Neusetzen der Oefen anbringen kann.

Legt man nämlich zwischen die Balken eines Zimmerfußbodens unterhalb der Dielung ein Blech- oder Thonrohr, welches durch die Außenwand des Gebäudes in’s Freie und gleichzeitig vom andern Ende aufwärts durch den Ofen hindurchgeführt wird, sodaß es oberhalb der Ofendecke in das Zimmer mündet, so hat man die denkbar einfachste Vorrichtung zur Zuführung frischer warmer Luft in unsere Wohnzimmer. In dieses Luftrohr ist dann noch eine gewöhnliche Verschlußklappe an beliebiger Stelle einzulegen, um den Luftstrom reguliren oder abschließen zu können.

Das Princip ist folgendes: Das in dem Ofen befindliche Rohr wird durch die Feuerung desselben erwärmt und dadurch in demselben eine warme Luftsäule erzeugt, die vermöge ihrer vergrößerten Leichtigkeit das Bestreben hat, nach oben zu entweichen. Hierdurch entsteht ein Nachströmen und Erwärmen der äußeren kalten Luft oder, wie der Techniker sagt, ein Ansaugen oder Anlocken derselben durch die entweichende Luft. Dieses Spiel setzt sich so lange fort, als das Eisenrohr in dem Kachelofen warm bleibt, was bei guten Kachelöfen ja bis zum Abend der Fall ist. Ist der Ofen erkaltet, so wird die Luftklappe geschlossen.

Die Abführung der verdorbenen Luft in den Schornstein läßt sich in gleich einfacher Weise entweder mit dem Kachelofen selbst durch ein zweites hindurchgelegtes eisernes Rohr verbinden, oder man benutzt eine besondere Schornsteinröhre, durch welche freiliegend das gußeiserne Rauchrohr in den Schornstein führt und welche, bis zum Zimmerfußboden reichend, dort durch eine Oeffnung die verdorbene Luft absaugt. Das freistehende eiserne Rauchrohr erwärmt nämlich die dasselbe umgebende Luft, welche in Folge dessen in den Schornstein entweicht und die Zimmerluft absaugt.

Derartige Oefen sind in neuester Zeit öfters ausgeführt und von Romberg und Mehlmann mit besonderen Vervollkommnungen für schnelle Zimmererwärmung eingerichtet worden.

Ganz ähnliche Einrichtungen sind ausgeführt, um Fußböden vor der so sehr zerstörenden und gesundheitsgefährlichen Schwammbildung zu sichern. Man verbindet mit dem Kachelofen des betreffenden Raumes eine Ventilation der Balkenzwischenräume des Fußbodens, welche frische Luft von draußen erwärmt und wieder in’s Freie leitet. Hierdurch entsteht unter dem Fußboden eine Luftcirculation, die der Schwammbildung die erste Existenzbedingung, die stagnirende Luft, entzieht.

In vorteilhaftester Weise hat man in neuester Zeit auch die eisernen Oefen zu Ventilationszwecken ausgebildet und vervollkommnet. Man umgiebt dieselben mit einem Blechmantel, welcher oben offen ist; die zwischen ihm und dem eisernen Ofen liegende Luftschicht wird erhitzt, strömt empor und saugt die äußere Luft an, die nun innerhalb des Mantels erwärmt wird und wieder ausströmt. Es gehören in diese Kategorie namentlich die verbesserten Meidinger’schen Füllöfen, Wolpert’s Regulirfüllöfen, und wie sie alle heißen mögen. Fast jede größere Eisengießerei construirt solche eiserne Oefen in den mannigfaltigsten Combinationen und Ausstattungen.

Eins nur ist hier noch über die eisernen Oefen zu sagen, daß man sich nämlich vor all jenen älteren Constructionen hüten soll, die nicht ein Erglühen des Ofens verhindern. Neuere Versuche haben nämlich gezeigt, daß glühendes Eisen durchlässig ist für das so stark gesundheitsgefährliche Kohlenoxydgas, das Jedermann fürchtet, der nicht Selbstmörder werden will. Außerdem verbrennen aber auch an den überhitzten Wandungen des Ofens die in der Luft befindlichen Verunreinigungen, Sonnenstäubchen genannt, die wir in jedem einzeln einfallenden Sonnenstrahle wahrnehmen, zu Asche und erzeugen alsdann das bekannte unangenehm trockene, kitzelnde Gefühl im Halse und auf der Haut. Außerdem steht längst fest, daß eiserne Oefen die Zimmerluft zu stark austrocknen.

Die Füllöfen haben wieder den Nachtheil, daß in dem Berge von Kohlen, mit welchem dieselben gleich von vornherein beschickt werden, anfänglich nur eine unvollkommene Verbrennung des Heizmaterials und damit eine sehr starke Kohlenoxidgasbildung bedingt wird, gegen welche noch keine Verdichtung der Fugen zwischen den einzelnen Ofentheilen ihre Undurchdringlichkeit auf die Dauer bewiesen hat. Im Uebrigen hört man starke Klagen, daß die Füllöfen argen Staub verursachen, welcher durch das Einschütten des Brennmaterials und die dadurch fortfliegende ganz feine Asche entsteht.

In neuester Zeit werden für Wohngebäude häufiger auch die Centralheizungen angewandt, bei denen die einzige Feuerstelle im Keller angelegt wird. Mit diesen Centralheizungen läßt sich am einfachsten eine geeignete Zuführung und Abführung von Luft verbinden; sie ermöglichen bei rationeller Anlage eine fast gleichmäßige Erwärmung aller Räume, eine Heizung der Treppenhäuser und Corridore, wodurch der Zug beim Oeffnen der Thüren vermieden wird, halten Rauch und Kohlenstaub von den bewohnten Räumen ab und schließen ein Betreten der Zimmer durch das Heizpersonal aus.

Die bis jetzt noch am wenigsten angewendete Centralheizung für Wohnungen ist die Dampfheizung, welche Wasserdampf nach schlangenförmig gewundenen Röhren oder orgelpfeifenartigen sogenannten Registern in den zu heizenden Zimmern führt. Ihre Anlage ist nur da rationell und billig, wo Fabrikgebäude in der Nähe liegen und überschüssiger Dampf aus dem Maschinenbetriebe vorhanden ist, ihre Behandlung erfordert viel Aufmerksamkeit, damit kein Platzen der Dampfröhren eintritt.

Viel häufiger angewendet sind die Heißwasser- und die Warmwasserheizung. Erstere hat ihren Namen daher, daß heißes Wasser in einem vollständig geschlossenen Röhrensysteme, welches einer Dampfbildung vorbeugt, zur Circulation gebracht wird. Der vollständige Schluß des Systems ermöglicht es, die Wassertemperatur bis zu 200 Grad Celsius zu steigern, ähnlich wie im Papin’schen Topf. Hierbei sind wegen der großen Pressung des überhitzten Wassers Gefahren einer Explosion nicht ausgeschlossen, und wenn diese Heizung schon deswegen nicht gern für Wohngebäude gewählt wird, so hat sie außerdem noch den Nachtheil, daß sie, wie auch die Dampfheizung, kein Wärmereservationsvermögen hat; es tritt eine fast sofortige Abkühlung des Systems ein, sobald das Feuer im Keller erlischt. Die Heizkörper, die hier gleichfalls in Schlangenrohren oder Registern bestehen, müssen durch seine Bronzegitter oder Eisengitter jeder möglichen Berührung entzogen werden. Man kann mit denselben leicht die Fensternische unterhalb des Fensterbrettes füllen, und so den sonst im Winter stets zugigen Fensterplatz zu einem höchst angenehmen, gemüthlich warmen Plätzchen gestalten.

Am meisten empfiehlt sich als Centralheizung für Wohnungen die Warmwasserheizung, welche das erforderliche Wasser im Keller mittelst eines Kessels nicht ganz bis zur Siedetemperatur erhitzt. Das System ist offen, denn es wird in dem Dachraum ein Wasserreservoir, nur mit einem leichten Deckel verschlossen, aufgestellt, von welchem aus sich einzelne Röhren nach dem Kessel und weiter nach den Heizkörpern abzweigen. Dieses Reservoir fehlt der Heißwasserheizung. Die Heizkörper bestehen meistens aus den bekannten runden, lackirten Blechöfen, obwohl man auch häufig in die Fensternischen kleine Heizkästen legt. Die Betriebskosten dieser Heizung sind sehr mäßig, obwohl sie von allen Centralheizungen die relativ höchsten Anlagekosten erfordert. Da die Oefen mit einer großen Menge Wasser gefüllt sind, so halten sie die Wärme auf lange Zeit fest, sodaß häufig des anderen Tages noch eine laue Temperatur in ihnen zu spüren ist. Explosionsgefahren sind fast ganz ausgeschlossen, dagegen muß man auch hier, wie bei allen Wasserheizungen, auf die Verhinderung des Einfrierens Bedacht nehmen.

Bei der Warmwasserheizung hat man die sehr große Annehmlichkeit, das warme Wasser derselben zu kleinen häuslichen Zwecken benutzen zu können. Das Badezimmer, das sich heutzutage wohl jeder Mensch in seiner Wohnung wünscht, hat immer warmes Wasser zur Disposition, sodaß ein Heizen des Badeofens vor dem jedesmaligen Bade nicht nöthig ist. Auch die Brause, die sonst fast nur mit kaltem Wasser versehen wird, kann leicht mit einer Mischvorrichtung in Verbindung gebracht werden, die ein Douchen mit warmem Wasser, herabsteigend bis zur Temperatur der Wasserleitung, ermöglicht. Sehr häufig werden jetzt in den Schlafzimmern die Waschtoiletten an die Wasserleitung angeschlossen, und da kann man denn neben dem Auslaßhahn für kaltes Wasser sich noch einen solchen für warmes aus der Heizung anlegen lassen. Daß natürlich mit dem warmen Wasser hier sparsam umgegangen werden muß, ist wohl erklärlich, weil sonst der

[82] Heizeffect dadurch herabgemindert wird, daß das abgelassene warme Wasser selbstverständlich aus der Wasserleitung durch kaltes ersetzt werden muß.

Die letzte der Heizungen in dieser Reihe ist die Luftheizung, wozu noch die möglichen Combinationen derselben mit den vorgenannten Heizmethoden kommen. Sie ist, beiläufig bemerkt, die älteste der Centralheizungen. Für die Anlage einer Luftheizung wird in einem fensterlosen Raume des Kellers, der nur eine Zuführungsöffnung für die frische Luft von außen hat, ein entsprechend großer Heizofen aufgestellt, welcher die Luft dieser sogenannten Heizkammer erwärmt. Von hier aus steigt die Luft in die darüberliegende Mischkammer, wird hier mit zugeführter kalter Luft zu der erforderlichen Temperatur gebracht und nun durch gemauerte Canäle in den Wänden nach den zu heizenden Räumen geführt.

Auf die Art und Größe des Heizofens in der Heizkammer kommt hauptsächlich die Leistungsfähigkeit und Brauchbarkeit der Heizung an. Ist der Ofen aus Eisen construirt und so angelegt, daß ein Glühendwerden desselben eintreten kann, so hat die Heizung dieselben Nachtheile, wie die Benutzung eines gewöhnlichen Ofens. Die Luft wird trocken, enthält Kohlenoxydgas und Aschentheilchen und wird zum Athmen untauglich. Ist nun noch dazu der Heizapparat undicht, so kommen auch noch Verbrennungsgase mit in die warme Luft, und es wird in allen Zimmern tagelang nach Rauch riechen, wenn der Schornsteinfeger die Heizkammer hat betreten müssen, um die Züge des Heizofens zu reinigen, wie das bei fehlerhafter Anlage vorgekommen ist.

Alle diese Uebelstände sind aber durch die neuesten Einrichtungen beseitigt.

Man benutzt heutzutage zur Erwärmung der Luft in den Heizkammern statt des Ofens eine eigene Dampfheizung und erhält so eine Dampfluftheizung, auf welche ein Traum der Zukunft sich gründet. Man will nämlich von einer Centralstelle aus einen ganzen Häusercomplex in dieser Weise heizen, wie man jetzt für Zuführung von Gas und Wasser sorgt. Erwärmt man die Heizkammerluft mit einer Heiß- oder Warmwasserheizung, so entsteht die Heißwasserluft- respective Warmwasserluftheizung. In ganz ähnlicher Weise giebt es auch Dampfwasserheizungen.

Diese Combinations-Luftheizungen sind heutzutage nach Aufgeben der alten Luftheizungen am meisten angewendet, da sie alle Schäden, die vorher aufgeführt wurden, vermeiden. Einer Austrocknung der Luft in den Heizkammern muß übrigens bei jeder Luftheizung durch aufgestellte Wasserverdunstungsgefäße vorgebeugt werden.

Bei großen öffentlichen Gebäuden werden alle diese Centralheizungen in den mannigfaltigsten Combinationen angewendet. Ein eigenes Heizer- und Maschinistenpersonal sorgt für die prompte Ausführung der Heizungs- und Ventilationsvorschriften und wird im Keller durch elektrische Thermometer von den Temperaturgraden der einzelnen Räume unterrichtet, um dafür sorgen zu können, daß die gewünschte Temperatur überall durch die Heizung erzielt wird. Anemometer (Luftzugmesser) zeigen an, ob die geforderten Luftmengen durch die Ventilationscanäle wirklich abgegeführt und durch frische, genügend erwärmte Luft ersetzt werden, und Hygrometer (Feuchtigkeitsmesser) weisen nach, ob die Luft mit so viel Wasserdämpfen gesättigt ist, wie zum Athmen für den Menschen dienlich erscheint. Bei Wohngebäuden ist eine so eingehende Wartung der Heizung und Ventilation nicht möglich, und deshalb treten, namentlich bei fehlerhafter Anlage, so häufig Störungen und Unzuträglichkeiten ein, die dann immer gleich fast sämmtliche geheizte Räume betreffen. Am wenigsten Wartung und Pflege bedarf eine gut angelegte Warmwasserheizung, die auch deshalb immer für Wohngebäude die beste Centralheizung bleiben wird.

Ganz mit Recht ist nun aber in Norddeutschland der Kachelofen, namentlich wenn mit ihm eine Ventilationseinrichtung verbunden ist, der beliebteste Heizapparat, und nicht genug kann man sich darüber wundern, daß die Franzosen und Italiener in kalten Tagen noch immer am Kamin frieren. Der Kamin ist zwar gesundheitlich und ästhetisch gerechtfertigt, verbraucht aber eine ungeheure Menge Brennmaterial, ohne den gewünschten Nutzen zu liefern. Nur die strahlende Wärme wird hier ausgenutzt; die leitende kommt gar nicht in Betracht.

Am Rhein ist der eiserne Ofen noch immer fast allein im Gebrauch; sogar auf ihren Wohnungsumzügen belästigt er die Leute mit Schmutz, denn dort gehört der Ofen zum beweglichen Mobiliar und wird von den Miethern aus einer Wohnung in die andere mitgenommen.

Kamin und eiserner Ofen läßt sich aber mit dem Kachelofen so gut vereinigen, daß man eigentlich in dieser Beziehung Jedem gerecht werden kann. Allbekannt sind in Berlin die Kaminöfen, deren sich in letzter Zeit das moderne Kunstgewerbe mit so viel Glück angenommen hat. Unsere Ausstellungen haben hierfür Musterstücke genug in gewähltester Glasur und Technik aufzuweisen.

Diese Kaminöfen gewähren den reizvollen Anblick des Holzfeuers auf offenem Kamin, führen aber die Feuerluft in Zügen durch einen oben aufgesetzten Kachelofen und nutzen dieselbe so für eine dauernde Erwärmung des Zimmers aus. Sie sind außerdem so gebaut, daß seitlich sich noch eine Feuerungsöffnung mit luftdichtem Verschluß befindet, die eine Benutzung des Kamins ausschließen kann. Das Kaminfeuer kann man daher unabhängig von Ofenfeuerung seitlich benutzen und umgekehrt; den Anblick des offenen Holzfeuers, kann man sich für trauliche Dämmer- und Plauderstündchen aufsparen.

Als Combinationen der eisernen Oefen mit den Kachelöfen sind die sogenannten Duvigneau’schen, als die am meisten verwendeten, zu erwähnen, deren Lob ich sehr oft habe aussprechen hören. Der kleine eiserne Ofen steht hier frei im Bauche des Kachelofens und berührt die Kacheln nur am Fuße und da, wo die Feuerluft aus ihm in den Kachelofen überströmt. Wird dieser Ofen ungeschickt gebaut, sodaß der eiserne seitlich mit dem Kachelofen sich berührt, so treibt ersterer, indem er sich bei der Heizung ausdehnt, unfehlbar die Kacheln aus den Fugen. Eine durchbrochene eiserne Thür, meist fein polirt, entzieht den kleinen eisernen Ofen dem Auge des Betrachtenden. In früheren Jahren waren die nach demselben Principe gebauten sogenannten Feilner’schen Oefen in Gebrauch; sie haben sich nicht bewährt, weil da Kachel- und eiserner Ofen nicht von einander getrennt waren.

Zum Schlusse noch eine kurze Bemerkung über die jetzt so häufig in vielen Restaurationen, Cafés und Weinstuben angewendete Ventilationsart mittelst einer in einer Schornsteinröhre brennenden Gasflamme. Das ist im Princip richtig, denn die Gasflamme erwärmt die Luft in dem Rohre; diese entweicht nach oben und saugt so die Luft aus dem Zimmer hinter sich her. Leider aber ist das Schornsteinrohr viel zu eng, als daß es so viel schlechte Luft aus dem Raume herausbefördern könnte, wie nöthig ist, um eine erträgliche Luft herzustellen. Der Querschnitt dieser Ventilationsrohre beträgt gewöhnlich 0,03 Quadratmeter; die Geschwindigkeit der Luft in denselben kann sich in günstigen Fällen auf 2,5 Meter pro Secunde steigern, sodaß also stündlich 0,03.2,5.60.60 == 270 Cubikmeter Luft abgeführt werden. Soll nun in einem Locale, in welchem geraucht wird, eine erträgliche Luft hergestellt werden, so muß pro Person stündlich ein Luftquantum von circa 80 Cubikmeter zugeführt und als verbraucht durch die Ventilation abgeführt werden. Man ersieht leicht, daß obiges Schornsteinrohr für circa 4 Menschen genügt, während derartig ventilirte Räume häufig von der fünffachen Personenzahl benutzt werden. Die Ventilationseinrichtung ist also nicht ausreichend. Man hat in diesem Falle die Röhrenzahl den Verhältnissen entsprechend zu vermehren, beziehentlich ihren Querschnitt zu vergrößern. Bei öffentlichen Gebäuden nehmen die Ventilationscanäle, wenn sie schließlich in 1 oder auch 2 oder 3 Schloten vereinigt sind, ziemlich bedeutende Dimensionen an und erregen mit ihrer Masse und den krönenden Deflectoren, welche die Windströmungen auch noch zur Absaugung der schlechten Luft benutzen sollen, oft genug beim Publicum Fragen nach der Bedeutung dieser thurmartigen Schornsteine.

Möchten doch unsere leider nur oft casernenartig angelegten Wohnhäuser mit Rücksicht auf gute Heizung und Ventilation gebaut werden, namentlich so weit es sich um die ungesunden Keller- und feuchten Erdgeschoßwohnungen handelt! Frische Luft in richtiger Temperatur ist für Gesundheit und Leben des Menschen ein unschätzbares Gut, ist Medicin.

Ahrendts, Regierungsbaumeister.



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Venetianische Tage.
Von Otto Girndt.


„Das ist Venedig?“ – „Dieses trübe, schmale Wasser der weltberühmte Große Canal?“ So fragten wir beiden Reisegefährten beim Heraustreten aus dem Bahnhof und sahen uns mit langen Gesichtern an. Am liebsten wären wir spornstreichs umgekehrt. Aber wir hatten einmal Wohnung vorausbestellt; die schwarze Wasserdroschke, Gondel genannt, nahm bereits unser Gepäck auf – so mußten wir uns denn bequemen, den festen Boden zu verlassen.

Der Octobertag goß eine Wärme aus, wie in Norddeutschland der Juli, und doch schlug eine Thurmuhr schon die vierte Nachmittagsstunde, als die Canalfahrt begann. Der Gondolier wies bald rechts, bald links auf Gebäude mit glanzlosen Fenstern und geschwärzten Säulen, die aussahen, als hätten sie über Nacht einer Feuersbrunst widerstanden, und dabei flossen von seiner rauhen Lippe historisch bekannte Dogen- und Heldennamen, deren Träger einst hinter den verwitterten Marmorwänden auf ihren Lorbeeren geruht. Uns sank das Herz von Minute zu Minute tiefer. Diese Bauten, die man eher für alte Spitäler halten möchte, waren die stolzen Paläste der venetianischen Großen? Und jetzt zeigt sich gar im zweiten Stockwerk eines der hervorragendsten ein hexenartiges Weib und schüttet ihre Müllschippe auf den Balcon des ersten Stocks. Sind wir wirklich am Hofe der Königin der Adria? Da – wir nähern uns der Rialtobrücke. Sie entspricht unsern Vorstellungen so wenig wie Canal und Paläste. Nun aber vollends erst die kleineren Canäle, in deren einen die Barke plötzlich einbiegt, um schneller unser Ziel, die Riva degli Schiavoni (den Slavonier-Quai) zu erreichen! Eine gemischtere Gesellschaft von Düften, als die uns in den engen Wassergassen den Odem versetzt, ist undenkbar, und daß die Pest sich hier nicht in Permanenz erklärt, bleibt ein Wunder. Körperliches Uebelbefinden gesellt sich zu unserer Niedergeschlagenheit; wir murmeln Dante’s Hölleninschrift: „Ihr Eintretenden, laßt alle Hoffnung schwinden!“

Auf einmal schießt die Gondel unter einer dunklen Brücke hervor. Was ist das? Ein Traum? Nein, die Riva, und mit ihr Licht und Luft in mächtiger Fülle! Die weite Wasserfläche der Lagunen (Strandseen) dehnt sich vor dem Blick, mit ruhenden und schwebenden Schiffen besäet, im Hintergrunde auf Inseln schimmernde Kuppeln und schlanke Thürme, die Kirchen San Giorgio Maggiore und Maria della Salute: ein prachtvolles Hafenbild! Doch uns bleibt keine Zeit, uns von der Ueberraschung zu erholen und betrachtend zu genießen, denn der Nachen legt an; so viel Gepäckstücke wir haben, so viel Lastträger stürzen sich darauf. Man zweifelt, ob man bestohlen oder bedient wird. Eilig folgen wir den Vorläufern, die in unserm Gasthof verschwinden. Er ist ein „deutsche Haus“, doch wo in der Heimath haben wir uns durch ähnliche Gänge treppauf, treppab gewunden? Die Entfernung von der Landungsstelle bis in unser Obdach betrug kaum hundert Schritte: trotzdem fordern die Lastträger für ihre „ungeheure Mühe“ einen Lohn, als hätten sie Hercules-Arbeiten verrichtet. Der Zank und Handel mit den Burschen ernüchtert die Seele wieder, die beim Anblick des Hafens willens war, an Venedigs Schönheit zu glauben. Desgleichen verstimmt uns die Musterung der niedrigen Räume, die wir bewohnen sollen. Aber ein Schritt an die Fenster, und wir sind ausgesöhnt: wir schauen geradehin über die grünliche Fluth bis zum Lido, der langgestreckten Insel, welche die Lagunen vom eigentlichen Meere trennt; wir sehen links die halbkreisförmige Riva in dem Grün der „öffentlichen Gärten“ enden; wir entdecken rechts den Dogenpalast und den Marcusthurm, das Häusergewirr siegreich überragend.

Hinter der majestätischen Santa Maria della Salute, an der Mündung des Großen Canals, sinkt die Sonne, und gleichzeitig taucht im Osten die Mondsichel auf. Zu unseren Füßen auf der Riva neigt sich aber das Leben des Tages nicht zum Ende, im Gegentheil, es scheint erst recht zu erwachen. Zeitungsverkäufer eilen dahin, ihre Blätter ausbietend; dazwischen preisen wandernde Obsthändler in langgezogenen Rufen ihre Limonen, Pfirsiche, Trauben und Nüsse an; Andere schleppen paarweis kleine Tische voll gerösteter Kürbisstücke daher, eine Speise, die dem Nichtkenner eher Schauder, als Begierde erregt; Froschtöne werden hörbar: „acqua, acqua!“ von Wasserträgern ausgestoßen; die Stimmen überschreien einander, sie alle betäubt indessen der Lärm der Straßenjugend, die sich balgt und rauft, als sollten die Köpfe abgerissen werden, und sich dann unverhofft lachend umhalst. Diese Rangen sind die ausgelassensten, lustigsten, die irgend auf Erden toben können. Sieh’, da klettert ein halbes Dutzend in’s Takelwerk eines Fischerbootes, und ein Haufen von Cameraden jauchzt am Ufer ihren Luftkunststücken zu, bis der Schiffsbesitzer, der vor dem Kaffeehause in der Nähe sein Pfeifchen geschmaucht, sich Bahn durch den Knäuel bricht, in sein Fahrzeug springt, die lebendigen Früchte vom Mastbaume schüttelt, der Reihe nach über’s Knie legt und die weichgeprügelten wie große Fische über Bord an’s Land wirft. Weint und winselt nun etwa die bestrafte Brut? Bewahre! Nur unbändiger lacht und tanzt sie.

Die Sonne ist verschwunden. Wallende Silberfäden streut der Mond über den Wasserspiegel, sie hier und da zu blitzenden Schleiern verwebend. Maria della Salute steigt zusehends von ihrer Insel auf Feuersäulen hinunter in die Fluth – der Widerschein angezündeter Laternen bewirkt das blendende Schauspiel. Jetzt lautet die Losung: „Marcusplatz!“, der seinen höchsten Effect hervorbringen soll, wenn man seine erste Bekanntschaft am Abend macht. Die Luft ist so weich und lau – es wäre lächerlich, Mäntel mitzunehmen. Auf der kurzen Strecke passiren wir vier weiße Marmorbrücken und stehen zwischen den beiden Riesensäulen, die den Marcuslöwen und den heiligen Theodor, den frühesten Schutzpatron Venedigs, tragen. Rechts der rothe Dogenpalast, links die ehemalige Bibliothek, vielleicht das harmoniereichste Bauwerk der Stadt, beide begrenzen die Piazzetta, gleichsam die offene, einladende Vorhalle des Marcusplatzes. Neben der Bibliothek ragt der freistehende Marcusthurm, und an den Dogenpalast schließt sich vorspringend die Marcuskirche mit ihren Rund- und Spitzbogen, Frescogemälden, Nischen, Statuen, Statuetten und Arabesken, so bunt wie ein Marcipan-Gebilde, wenige Schritte vorwärts wie eine Theaterdecoration in Märchenspielen wirkend. Augen links: der Marcusplatz liegt vor uns, von den alten und neuen Procuratien nebst ihrem Verbindungsflügel eingefaßt. Gascandelaber erleuchten fast taghell das große Rechteck, in dessen Mitte Militärmusik ein tragbares Orchester besteigt. Die Arcaden der Procuratien empfangen ihr Licht durch sich selbst aus den Gewölben der Korallen-, Goldschmuck-, Bilderhandlungen und Cafés, die sich in steter Abwechselung an einander reihen.

Und wie vor Sonnenuntergang die Riva den Tummelplatz der barfüßigen Jugend abgegeben, so findet sich beim Abendconcert das erwachsene Publicum auf dem Marcusplatze zusammen. Die Capelle spielt unentgeltlich, als wäre Venezia noch Republik. Auch der Eindruck, den die Zuhörer machen, ist republikanisch; denn alle Stände sind gleichmäßig vertreten. Weiße Weste und Augenglas, Schifferblouse, Uniform, Oberrock, Jacke wogen hart neben einander hin, und der Pariser Damenhut, der leichte schwarze Schleier über dem bloßen Scheitel des Bürgermädchens, die künstlichste Frisur, wie die ursprünglichste Haartracht, die nie der Zahn eines Kammes getroffen, berühren sich im Gewühl, aber – berühren sich zart. Die verstreuten Sicherheitsbeamten sind nur zu eignem Vergnügen da; sie finden keinen Wirrwarr zu lösen, nirgend Hader zu schlichten; denn die Ordnung bleibt von selbst Herrscherin unter der Menge. Ueberall, so belebt die Unterhaltung sein mag, wird sie ohne Getöse geführt, und der Fremdling gewinnt die Ueberzeugung, daß in der Bevölkerung Venedigs großes Anstandsgefühl wohnt. Nimmt er vor einem Café Platz und schaut sich das Treiben an, so kommt eine Behaglichkeit und Ruhe über ihn, die ihn mit Lächeln an seine Einfahrt in den Großen Canal zurückdenken läßt. Als wäre der Marcusthurm der Thurm zu Babel, fängt unser Ohr ein Gewirr von Sprachen auf, zu dem die Nationen Afrikas und Asiens Laute liefern, wie alle Völker Europas; denn dem schwarzen nubischen und dem braunen indischen Schiffer ist der Zutritt so wenig verschlossen, wie russischen Fürsten und britischen Lords. Verdi’s schluchzende, Meyerbeer’s schmetternde Melodien locken mit jeder Viertelstunde mehr Freunde des Promenadenconcerts herbei. Aber italienische Frauenschönheit kommt uns selten zu Gesicht, und das rothgoldene Haar des

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Gemüsemarkt an der Rialtobrücke zu Venedig.
Nach einer Skizze von P. Burmeister in München.


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WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [86] Tizian’schen Zeitalters scheint ausgegangen. Freilich weilen die vornehmen Venetianer mit ihren Familien jetzt auf ihren Landsitzen; sie kehren erst kurz vor dem Carneval heim. So sind wir denn auf die Musterung des zarten Geschlechts aus den mittleren und niederen Ständen beschränkt, und da entdecken wir häufig nicht blos geschminkte Stirnen und Wangen, sondern den bösen Puder bis über die Ohren aufgelegt. Die Kleidung zeigt mehr Nachlässigkeit als Sorgfalt; elegante Erscheinungen sind sicherlich Fremde. Stattlicher, auch straffer treten die Männer auf; den schlanken, mäßig großen Figuren ist in der Ruhe wie in der Bewegung eine unbewußte Grazie eigen, welche sie zu trefflichen Modellen für Maler macht.

Groß ist die Zahl der Besitzlosen und Armen in Venedig, allein der Mangel tödtet nicht den musikalischen Sinn der „misérables“. Auf den Stufen der Kirche und der drei kolossalen Flaggenstangen davor, die ehedem mit den Bannern der unterworfenen Königreiche Candia, Cypern und Morea geschmückt waren, kauern Männer und Weiber in Lumpen, still den Klängen der Concertstücke lauschend, die Köpfe nach dem Tacte wiegend, und im Schooße der Mütter schlummern halbnackte Kinder, von den Tönen eingelullt. Ob der Mond, der über die Piazzetta fällt, den Kleinen Träume von einem bessern Lebensloose, als ihre Eltern gezogen, in’s Herz küßt?

Doch welche Bewegung der Menge plötzlich gegen die Riva? Folgen wir dem Strome! Schwarzblauer Schimmer, den kein Pinsel treu darzustellen vermag, fließt über das lautlose Wasser. In ihm schwimmen schwarze Schwäne mit glühenden Augen und ziehen, wenn sie den Mondenstrahl streifen, lange blitzende Furchen hinter sich her. In Wahrheit sind es nur Nachtgondeln, aber die gehobene Stimmung des Menschengemüths verwandelt die Bilder der Gegenstände. Und von links her, wo die Laternenkette des Ufers goldene Pfeiler in die feuchte Tiefe wirft, wie wenn das Schloß des Meerkönigs sich dort in vollem Glanze aufthäte, nähert sich das Zauberschiff aus „Tausend und eine Nacht“, unsichtbare Sänger unter farbigen Lampen bergend. Weiße Gestalten heben sich schwankend vom dunkeln Grunde ab; das sind in schneeigen Matrosencostümen die Ruderer, die einen Männerchor zur Serenade in den Großen Canal führen. Magisch wirken die Stimmen; aller Reiz des Geheimnißvollen umfängt uns, und vernehmen wir von dem Liede gleich nur die öfter im Forte wiederkehrenden Worte deutlich: „O Venezia“ und „cosi bella“, so setzen wir sie doch, unwillkürlich nachlallend, in der Muttersprache zusammen: „O Venezia, so schön!“ Das Schiff schwebt weiter; bengalische Flammen spielen an seinem Bord, doch schöner spielt das Mondlicht mit den Rudern, die im Niedertauchen gediegenem Silber gleichen. Stiller und leerer wird’s am Ufer, die rothen Wachtlichter des großen Ostindienfahrers im Hafen funkeln wie Sterne erster Größe; sie zeigen uns die Richtung nach unserem Asyl. Halb träumend verfolgen wir sie, ohne zu sprechen; erst an der Thür, als wir den Blick noch einmal wenden, entringt sich dem Munde ein Wort. Es ist dasselbe, mit dem wir aus dem Bahnhofe an den Canal getreten; nur zittert es nicht mehr als beklommene Frage, sondern jubelt entzückt:

Das ist Venedig!“ –

Herrlich werden wir schlafen, in Hoffnung frohen Erwachens. Aber gefehlt! Wir haben vergessen, daß es hier liebe kleine geflügelte Geschöpfe giebt, die sich Zanzare oder Moskitos nennen und einen Instinct für Ausländer besitzen, gleich den Lastträgern und Bettlern. Sie lassen sich surrend und summend auf unsere Leiber nieder, daß wir uns in den breiten Betten winden wie der heilige Laurentius weiland auf seinem Rost. Unser einziger Trost ist die Erinnerung an Shakespeare’s Worte im „Macbeth“: „So lang ist keine Nacht, daß endlich nicht der helle Morgen lacht.“

Und wirklich, er lacht hell. Die aufgehende Sonne bestrahlt den rothen und weißen Marmor von San Giorgio Maggiore, daß wir einen Riesen-Flamingo schwimmen zu sehen glauben. Blicken wir dorthin, nicht in den Spiegel, wo wir vor uns selbst erschrecken; denn die Nachtmücken haben uns zugerichtet wie Masern einen Kindskopf. Beim Frühstück erklärt uns der bewanderte Kellner: „Die Deutschen werden gegessen am meisten von die Moskitos.“

Wir brechen auf, um von den 137 größeren Kirchen der Stadt die bedeutendsten in Augenschein zu nehmen. Was sie an Pracht und Reichthum aufweisen, das spottet jeder Beschreibung, namentlich aber, wo es sich um die von venetianischen Adligen gestifteten Capellen der Barfüßerkirche handelt. Armer Orden der Barfüßer, du bewährst wie kein anderer die Wahrheit des Sprüchwortes: „Wer gut zu betteln versteht, kommt gut durch die Welt.“

Vier heilige Stätten haben wir betreten, und nun erwacht der Weltsinn wieder in uns; wir steuern einem der namhaftesten Paläste zu. Der Wasserweg führt unter der Rialtobrücke hindurch, die uns Tags zuvor so wenig imponirt. Jetzt ist die Gelegenheit zu günstig, als daß wir uns nicht näher mit ihr bekannt machen sollten. Also ausgestiegen und hinauf! Ein Menschengewühl empfängt und umdrängt uns, ähnlich jenem, das Vater Jacob im Traum auf der Himmelsleiter von Engeln geschaut. Zu beiden Seiten der marmornen Brückenstufen Laden an Laden, vollgepfropft mit Trödelwaaren aller Art, zwischen denen die Verkäufer kaum Platz zum Hantiren habend. Vor Jahrhunderten hausten in diesen Läden ausschließlich Goldschmiede und Wechsler. Aber woher kommen die zahllosen Marktkörbe, deren unsanfte Berührung uns keinen festen Standpunkt gewinnen läßt? Vom nahen Fischmarkt und vom Gemüsemarkt, wo die Hausfrauen und Köchinnen ihre Tagesbedürfnisse erstanden. Der Geruchssinn ist unser Wegweiser zu den Märkten; das Treiben dort müssen wir sehen. Und wahrlich, es verlohnt sich der Mühe; denn waten wir gleich auf dem Fischmarkt durch Lachen und Pfützen, so leiden dadurch höchstens die Stiefeln; das Auge wird ergötzt durch den unfreiwilligem Congreß sämmtlicher Arten von Seegethier, die der List des Fischers erlegen und theils noch lebend, wie der Taschenkrebs und die Seespinne, in großen Kübeln krabbeln, theils zerstückelt liegen wie der riesige Tonno (Thunfisch), theils schon gekocht oder gebraten der Vertilgung warten wie der Tinten- und der Stockfisch. Es herrscht kein Mangel an Leuten, die ihre Mahlzeit hier im Freien halten, und der Gemüsemarkt liefert ihnen gekochte Bohnen, Zwiebeln, Kartoffeln, Birnen, geröstete Kastanien, rohes Obst für wenige Kupfermünzen in Fülle dazu. Gefeilscht um die Eßwaaren wird nicht: denn jeder Fruchtkorb trägt auf Stäbchen Zettel, die den Preis des Kohls, Granatapfels, der Weintraube, Apfelsine etc. anzeigen. So geht der Handel rasch von Statten. Daß uns bloße Neugier über die Märkte führen kann, stellen die Insassen sich nicht vor; denn stehen wir nur einen Moment still, so preisen uns halbwüchsige Burschen mit einer Zungengeschwindigkeit, welche die Sprache rädert, den wunderbaren Wohlgeschmack jedes Gewächses der hesperischen Flur, während die lieben Eltern der redseligen Kobolde das Koch- und Bratgeschäft auf Rosten und Handöfen besorgen.

So interessant das Geschwirr und Gewimmel ist, wir sind doch froh, wenn wir die stille Gondel wieder erreicht haben, um jenseits im Canal anzulegen und venetianische Palastgeheimnisse zu ergründen. Sie thun sich dem Eindringling auf wie alte, werthvolle Handschriften voll köstlichem Gehalt, die ein abgegriffener, modriger Einband umgiebt.

Wir steigen vor einem der glorreichsten Canalpaläste aus, der seine geschwärzte Physiognomie dem Einfluß der Meeresluft verdankt, wie alle seine marmornen Geschwister. Beim Eintritt in den quadratförmigen Vorhof schon ahnen wir an den Bildhauerwerken alter und neuer Meister, daß diese venetianischen Paläste noch heute „königliche Hallen“ bergen. Freilich gelangt man zu diesen erst im zweiten Stockwerk; das untere enthält nur niedrige und meist kleine Zimmer, die sich in langer gerader Linie, durch Portièren geschieden, an einander reihen, sodaß man aus dem ersten bis in’s letzte blickt. Aber mit welcher behaglichen Eleganz und mit welchem Geschmack sind diese Familiengemächer ausgestattet! Derselbe schwerseidene Stoff, der die Polster der Möbel überzieht, bekleidet als Tapete die Wände, und in jedem Zimmer andere Stoffe von anderer Farbe, mit der die Zierrathen, die aus Kunstschätzen vergangener Jahrhunderte bis in’s Alterthum bestehen, malerisch harmoniren. Ist es hier überall ungemein traulich, so giebt die Wanderung in die hohen Festsäle und Gemäldegallerien des oberen Geschosses einen Begriff von der Ueppigkeit bei Gelagen, von dem selbstbewußten Stolz, den der Hausherr auf sein Besitzthum haben durfte.

Die heutigen Besitzer der Paläste sind mit der Republik auch um den alten Patriziersinn gekommen; mit Fürsten- und Herzogstiteln behängt, lassen sie das ehrwürdige Erbe ihrer Vorfahren, in denen sich Handels- und Kriegergeist vereinte, meist

[87] leer stehen und krümmen den Rücken als Schranzen am Hofe in Rom. Freilich entschuldigt sie die Erkenntniß, daß Venedig seine weltgeschichtliche Rolle ausgespielt hat und nie wieder eine gebietende Stellung unter den Städten Europas einnehmen kann. Ein Gefühl der Trauer beschleicht auch uns über den Wandel und Hinfall alles Irdischen, wenn uns die Gondel wieder schaukelt, doch wir dürfen nur unter dem tiefblauen Mittagshimmel an der Riva hin zurückgleiten, um mit neuer Lust die Gegenwart zu genießen, ja ihre Vorzüge vor „dem, was einst war“ zu empfinden; denn der Anblick des undurchsichtigen Marmorbogens, der vom Dogenpalast als „Seufzerbrücke“ zu den alten Staatsgefängnissen führt, flößt uns heute kein Entsetzen mehr ein; in den winkeligen Gassen droht kein Stilet mehr, und rudern wir am Nachmittage in die „öffentlichen Gärten“, wo die Kinder mit bezaubernder Drolligkeit spielen, mit reizender Zärtlichkeit auf den Rasenplätzen schäkern, so will uns bedünken, daß die moderne Zeit die liebenswürdigste Umwandlung am Charakter des italienischen Volks vollzogen hat. Von der angeborenen Tücke, die ihm nachgesagt wird, von leidenschaftlichem Zorn zeigt sich bei Klein und Groß nicht die geringste Spur, vielmehr tritt im ganzen venetianischen Leben eine harmlose Gemüthlichkeit zu Tage, um die manche heut auf ihrer Höhe stehende Großstadt des Nordens, die ihre „Gemüthlichkeit“ als drittes Wort im Munde führt, die entthronte Herrscherin der Adria beneiden könnte.




Am Sarge des Erstgebornen.


Vier kleine Bretter – zwei noch klein’re Brettchen –
Ein Kissen und ein Leintuch, weiß wie Schnee –
Dazu ein Blumenkranz – das ist das Bettchen,
An dem ich jetzt gebrochenen Herzens steh’.

5
Mein Kind, mein Liebling! Todt! Ach, kein Erwachen

Mit nach mir ausgestreckten Aermchen mehr!
Verstummt Dein klug’ Geplauder, wie Dein Lachen –
Das einst so rege Haus – wie öd’ und leer!

Was solltest Du mir einst nicht alles werden,

10
Was hab’ ich nicht gewünscht, geträumt, geglaubt!

Was gut und schön und edel ist auf Erden –
Zum Kranze wand ich’s für Dein theures Haupt.

Dahin, dahin! Es sagt’s die bittere Thräne
Im Auge mir. Zerronnen ist der Traum,

15
Und meine Wünsche, Hoffnungen und Pläne

Umschließt jetzt dieser enge, kleine Raum.

Die stumm Du kniest in tiefem, herbem Leide,
Den müden Blick dem Sarge zugewandt –
Komm’, stehe auf und tritt an meine Seite,

20
Und laß mich fassen Deine liebe Hand!


So standen wir einst selig am Altare,
Gelobend, eins zu sein in Leid und Freud’.
So steh’n wir jetzt an uns’res Kindes Bahre;
So werde heute unser Schwur erneut!

25
Nie standen zwei an heiligerem Orte,

Noch schloß sich weihevoller je ein Bund –
Nie sprach ein Priester je beredt’re Worte,
Als stumm sie predigt dieser kleine Mund.

Hier sind ja Blumen auch und hier die Kerzen;

30
Altar ist uns’res Kindes Todtenschrein –

Und wie im Glücke einst, so jetzt in Schmerzen
Geloben wir: In Allem eins zu sein.

Sieh’, unser Liebling lächelt! – Ruh’ in Frieden!
Du hast die Eltern neu und fest vereint.

35
Gieb, Mutter, ihm den letzten Kuß hienieden –

Jetzt komme! – Gott sei tausend Dank – sie weint!


Cincinnati, O.
B. Bettmann




Pater Gregor.
Ein Seelengemälde von E. Werber.
(Schluß.)


Eines Morgens wurde der Klostergang frisch angestrichen, und Maria war verschwunden. Ich war ganz in Verzweiflung und wagte doch nicht zu fragen, wohin man sie gebracht habe. Am nächsten Tage aber, als ich von einem Krankenbesuche zurückkam, stand Bruder Anton auf einem Stuhle und hielt das Bild in die Höhe. „Kommt Pater Josias, habt die Güte das Bild aufzuhängen! Ihr habt längere Arme als ich,“ sagte er und stieg vom Stuhle herab. Heilige Scheu und heilige Wonne durchzitterten mich, als ich das Bild in die Hände nahm und Maria sich so geduldig von mir in die Höhe heben ließ. Ich sah nicht recht, als ich die eiserne Schlinge des Bildes in den Haken fügen sollte, aber endlich gelang es mir doch. Ehe ich vom Stuhle herabstieg, blickte ich Maria an: sie hatte noch die himmlische Liebe auf den Lippen, und ich fühlte, daß sie mir nicht böse war. In meinem gequälten, unschuldigen Herzen bat ich sie. „O Maria, wirst du denn nie die Augen aufschlagen?“

In einer gewitterhaften Nacht schlug Maria die Augen auf, schwarze, zauberhafte, flammende Augen, die ich im Leben nimmermehr vergessen kann.

Es war um Mitternacht; wir waren zum Gebet im Oratorium versammelt, als die Glocke an unserer Pforte mit Heftigkeit gezogen wurde. Man kam, um für einige Reisende Beistand zu erbitten, welche durch einen Sturz des Postwagens verletzt und in einer Schenke untergebracht waren; Einer derselben glaubte zu sterben und verlangte Beichte und Oelung.

Pater Gregor sagte, er selbst werde hinunter gehen, und wählte mich zum Begleiter. Die Nacht war finster und schwül; leise Donner zogen wie schwermüthige Träume durch die Luft. Eine Laterne in der Hand, stiegen Pater Gregor und ich den steilen Pfad hinab, neben welchem die Wasser ihre geheimnißvollen Melodien sangen. Im Thale brannte kein einziges Licht, aber wenn dort Einer wachte und in die Nacht hinausblickte, so mußten unsere wandelnden Lichter einen seltsamen Eindruck auf ihn machen.

Das Gewitter brach los. Gleich Feuerschlangen fuhren die Blitze am Gebirge herunter, und ehe noch ein Donnerschlag mit erlöschendem Grolle in den Klüften verhallt war, folgte schon ein anderer. Wir waren ganz in Donner eingehüllt, und Pater Gregor sagte:

„Wenn Einer, der etwas auf dem Gewissen hat, bei einem solchen Gewitter im Sterben liegt, so mag ihm fürchterlich zu Muthe sein.“

Der Mann, welcher uns geholt hatte, erzählte, es seien drei Personen äußerlich verletzt, der Mann aber, der einen Beichtvater verlangt habe, scheine einen innern Schaden bekommen zu haben; ein junges Fräulein, seine Tochter, sei unbeschädigt.

Die Schenke lag an der Landstraße. Wir wurden in das obere Stockwerk geführt, wo man in einem Tanzsaale drei Betten auf den Boden gebreitet hatte: hier lagen drei verwundete Männer. Zwei unverletzte Reisende, von welchen der Eine ein junger Arzt war, leisteten ihnen die nöthige Hülfe. Als wir uns den Betten näherten, trat der Arzt auf uns zu und sagte:

„Verehrte Väter, in der Stube nebenan liegt ein Herr, welcher am schlimmsten daran ist. Er hat etwas im Leibe gebrochen, und es ist möglich, daß er daran stirbt. Er wünscht die Sacramente zu empfangen.“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür jener Stube, und ein junges, schlankes Mädchen that einen Schritt in den Saal:

„O, ich bitte einen der Patres, schnell zu meinem Vater zu kommen, schnell! Er verlangt so sehr nach einem Geistlichen,“ sagte sie angstvoll.

„Maria!” rief der Kranke; sie eilte in die Stube zurück, und Pater Gregor folgte ihr und schloß die Thür hinter sich. [88] Ich trat zu einem der Verwundeten und kniete an seinem Bette nieder – da ertönte in der Nebenstube ein Schrei des Schreckens, ein so schauervoller Schrei, daß er mir wie ein Messer durch’s Gebein fuhr. Die Thür wurde aufgerissen, und Maria rief:

„Pater, Pater! O kommt!“

Und als ich gekommen war, da sah ich einen Mann mit dem Ausdrucke höchsten Entsetzens aufrecht im Bette sitzen, sich auf seine Fäuste stützend. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten Pater Gregor an, und den bleichen, zuckenden Lippen entrangen sich die Worte:

„Entsetzliches Gespenst, verschwinde! Warum kamst Du aus dem Grabe? – Jetzt, in dieser Stunde?“

Pater Gregor stand ruhig wie ein Fels und heftete seine Augen auf das Gesicht des zitternden Mannes, bis dieser wie unter einem Zauber zusammenbrach und auf die Kissen zurücksank. Dann wandte er sich zu mir:

„Pater Josias,“ sagte er, „empfanget statt meiner die Beichte dieses Mannes!“ Und mit einem stummen Gruße zu Maria verließ er die Stube. Mich überlief es kalt.

Ich stand noch wie gebannt, als Maria meine Hand erfaßte und flüsterte: „Pater, was war das? O, bleibet bei meinem Vater – und bei mir! Ich fürchte mich.“ Und ihre Hände drückten bittend meine Hand, und ihr Blick sank bittend in den meinen. Er sank noch tiefer – er sank mir in das Herz.

„Seid ruhig, Fräulein! Ich bleibe hier,“ erwiderte ich, löste sanft meine Hand aus der ihren und trat zu ihrem Vater. Da seine Augen geschlossen waren, so fragte ich. „Könnt Ihr mir antworten?“

Er öffnete die Augen und blickte mich mit Schrecken an: „Ist der Andere fort?“ flüsterte er.

„Ja, Eure Tochter und ich sind hier; Niemand sonst.“

„War der Andere ein Gespenst?“

„Nein, ein Mensch und ein Kapuziner, wie ich.“

„Ein Kapuziner!“ Dumpf war der Ton, mit dem er diese Worte sprach.

„Wenn Ihr stark genug seid, noch mehr zu sprechen, so bin ich bereit, Euch jetzt die Beichte abzunehmen. Oder wollt Ihr bis morgen warten?“

„Nein,“ sagte er, „ich könnte sterben.“

Maria stand schluchzend am Fußende des Bettes und bedeckte ihr Gesicht mit den schmalen, feinen Händen.

„Maria,“ sagte der Kranke, „entferne Dich jetzt! Ich will mich zum Tode vorbereiten.“

„O Vater, stirb nicht!“ rief sie und entfernte sich händeringend in eine neben der Stube liegende Kammer.

Das Gewitter ließ nach; sanfte verhallende Donner zogen mit den Wolken in’s Weite. Ich stellte die brennende Lampe seitwärts, setzte mich an das Bett und sprach ein Gebet; dann bedeckte ich mein Gesicht mit einem Tuche und sagte:

„Wessen klaget Ihr Euch an?“

Was der Mann in jener Stunde mir bekannte, bleibt ein Geheimniß zwischen Gott, ihm und mir. –

Nachdem ich ihm die Absolution und die Oelung ertheilt, wurde er ruhiger und schlief ein. Ich stand auf und klopfte sanft an der Kammerthür. Maria trat mit roth geweinten Augen herein und blickte nach ihrem Vater hin.

„Er schläft,“ sagte ich leise. Wenn es Euch recht ist, bleibe ich hier und wache bei ihm; so könnt Ihr Euch niederlegen und ruhen.“

„Pater, wie ist Euer Name? Verzeiht!“

„Josias.“

„O, Pater Josias, bleibet hier und laßt mich mit Euch wachen!“

Ich rückte mir einen Stuhl an das Kopfende des Bettes. Maria setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in ihre Hand. Die natürlichste Richtung meiner Augen war die zu ihr hinüber. Es fiel ein Strahl der Lampe auf ihr goldbraunes Haar und auf ihr sanftes Profil; die schwarzen, zauberhaften, flammenden Augen verbargen ihre Gluth hinter den müden Lidern. Ich saß zwischen der Sünde und der Unschuld und draußen wandelte einsam in der Nacht Pater Gregor und erklomm den Felsen, von dem er der Welt seine Verachtung zugeschleudert hatte. Was ging jetzt wohl in seiner Seele vor? –

Maria erhob das Haupt und sagte:

„Pater Josias, warum ist mein Vater so erschrocken vor dem anderen Pater?“

„Euer Vater hat es mir nicht gesagt; allein ich vermuthe, daß ihn die Blässe und die großen dunklen Augen des Pater Gregor erschreckt haben.“

„Aber,“ entgegnete sie, „Ihr seid auch blaß und habt auch große dunkle Augen, und mein Vater ist nicht vor Euch erschrocken!“

„Vielleicht,“ stammelte ich, „weil ich noch jung bin.“

Auf diese einfältige Antwort sah sie mich mitleidig an, und ihre Augen ertödteten in mir die Gebete, welche ich für den Kranken hätte verrichten sollen.

„Seid Ihr schon lange Kapuziner, Pater Josias?“ fragte sie.

„Seit acht Jahren.“

„Acht Jahre! – Ich hatte auch schon den Wunsch, in ein Kloster zu gehen, aber meine Mutter, welche todt ist, sagte, man sei im Kloster nicht glücklich. – Seid Ihr glücklich, Pater Josias?“

O Marter! Was sollte ich ihr antworten? „Verzeiht,“ sagte ich, mich erhebend, „ich will einen Augenblick nach den anderen Verwundeten sehen.“

Sie hatten Schmerzen und fieberten; während ich bei ihnen blieb, ging der Arzt in die Nebenstube, wo Maria’s Vater lag. Maria war sehr jung, und ich hoffte, sie habe den Grund meiner Entfernung nicht errathen. Als der Arzt zurück kam, sagte er: „Ich habe Hoffnung, daß jener Herr zu retten ist.“

Der Morgen graute, ich ging in die Stube zurück und setzte mich wieder an’s Bett; Maria war eingeschlafen; ihr Kopf lag auf dem Arme. Was in meinem Herzen vorging , als ich neben ihr saß, das kann Keiner, der nicht Mönch war, errathen noch empfinden. Ich vermöchte auch nicht, es auszudrücken, aber es war süß, heilig und entsetzlich.

Zuweilen erwachte der Kranke, und ich gab ihm dann zu trinken; einmal erwachte auch Maria, und da sie mich gewahrte, erröthete sie. Langsam zum Bette tretend, beugte sie sich über ihren Vater:

„Glaubt Ihr, Pater Josias, daß mein Vater sterben muß?“

„Es ist möglich, daß er stirbt, aber es ist wahrscheinlich, daß er nicht stirbt.“

„Wenn man Gott recht inbrünstig um die Erhaltung eines Lebens bittet, wird die Bitte erhört?“

Maria, was für Dinge fragtest Du mich! Ich senkte den Blick und erwiderte:

„Wenn es zu unserm Besten ist.“

„Aber, Pater Josias, der Tod meines Vaters wäre ja ein Unglück für mich. Wie könnte er zu meinem Besten sein?!“

„Wir wissen das nicht. Gott ist weiser, als wir sind.“

Sie blickte eine Weile vor sich nieder.

„Nicht wahr, ich bin nicht fromm?“ sagte sie dann und sah mich schüchtern an. „Wenn mein Vater ein wenig besser ist, so möchte ich Euch wohl auch beichten.“

Mir wurde schwül in der Seele und in den Sinnen.

„Möchtet Ihr Euch jetzt nicht zur Ruhe legen?“ fragte ich, und ich erschrak über den harten Ton meiner Stimme.

Maria erschrak auch; sie faltete die Hände und flüsterte:

„O, seid nicht ungehalten auf mich, Pater Josias! Ich habe noch zu keinem Geistlichen ein so – ein so wunderbares Vertrauen gehabt wie zu Euch. Zürnt mir nicht, weil ich so viel zu Euch spreche; es würde mich sicher unglücklich machen! Ich habe ja nicht gewußt, daß man mit den Kapuzinern nicht sprechen darf.“

„Man darf mit uns sprechen,“ entgegnete ich leise, meine zitternden Hände in den Aermeln meiner Kutte verbergend.

„Ich gehe jetzt. Wenn mein Vater nach mir fragt, so klopfet mir, Pater Josias!“

Darauf ging sie in die Kammer und schloß geräuschlos die Thür.

„Mönch, Du bist selig und unselig,“ rief es in mir. „Diese Maria ist noch mächtiger, als die andere. Wenn sie fort geht, was wirst Du dann thun? Wirst Du die Hände zum Gebete falten oder wirst Du Dir die Brust mit Fäusten zerschlagen? O Pater Gregor, wenn Du wüßtest, was mir geschah! Soll ich zu ihm gehen und ihn bitten: Schicket einen Anderen hinunter, es ist eine Maria dort, an der ich vergehen muß? Oder soll ich bleiben, bleiben und die süße Marter austrinken bis zum letzten Tropfen?“

[89] Um die neunte Morgenstunde kam Pater Thomas, um mir im Krankendienste beizustehen, da der anwesende Arzt gesagt, er könne sich nicht länger als bis zum Mittag in der Schenke aufhalten. Es wurde nach einem Arzt in der nächsten Ortschaft geschickt, und unter seiner Leitung blieben Pater Thomas und ich als Krankenpfleger.

Ich hatte dem Pater in den ersten fünf Tagen die Pflege von Maria’s Vater überlassen, um der Verführung zu entgehen; allein ich begegnete ihr zuweilen auf der Treppe und jedesmal sagte sie mit niedergeschlagenen Augen:

„Gott grüß’ Euch, Pater Josias!”

Am sechsten Tage fühlte sich ihr Vater etwas wohler und verlangte nach mir.

„Warum seid Ihr nicht bei mir geblieben, Pater Josias?“ fragte er.

Ich erröthete.

„Da ich stärker bin als Pater Thomas, so habe ich die drei Verwundeten übernommen und ihm den leichteren Dienst bei Euch überlassen.“

Während ich sprach, war Maria hereingetreten und hatte sich an’s Fenster gestellt; da ihr Vater sie rief, kam sie näher.

„Maria,“ sagte er, „dieser Pater hat mir viel Gutes erzeigt, mehr als ich Dir sagen kann. Bewahre sein Andenken in Deinem Herzen und segne ihn!“

Da schlug Maria die schwarzen Augen auf voll Angst und Betrübniß und sagte sehr leise:

„Pater Josias, ich werde immer an Euch denken in meinem Herzen und ich segne Euch.“

Und als ob sie meine Antwort nicht nur vernehmen, sondern auch sehen wollte, sah sie mich immer noch an, da sie schon nicht mehr sprach. Ich weiß nicht, was ich ihr darauf sagte, aber ich weiß, daß die Mönchsmaske mir vom Gesichte fiel, und daß Maria in meinen Zügen den Schmerz und vielleicht auch die Liebe des Mannes las.

„Ich danke Euch, Pater Josias,“ sagte sie und ging in die Kammer zurück.

Von diesem Tage an theilte ich mit Pater Thomas die Pflege ihres Vaters, dessen Zustand sich rasch besserte. Wenn Maria in der Stube war, so nahm ich, am Bette sitzend, mein Brevier und las darinnen; ich las Buchstaben, aber keinen Sinn. Der Himmel, von dem das Brevier sprach, verschwamm, zerfloß, verschwand vor dem Himmel, der in Maria’s Angesicht und in Maria’s Stimme lag.

Maria wußte nun, wohin meine Anbetung ging, wenn ich die Augen auf’s Brevier senkte, und ich fühlte von ihrem Herzen zu dem meinen einen Strom gehen, in welchen ich immer tiefer versank.

Ihr Vater werde sein Leben lang leidend bleiben, hatte der Arzt gesagt; bei diesen Worten hatte sich der Kranke mit wilder Geberde aufgerichtet und ausgerufen:

„Lebenslang leiden?! Habe ich nicht genug gelitten seit sechszehn Tagen? Dann besänftigte er sich und fügte leise hinzu: „Ich muß mich zufrieden geben. Der Mann ist jetzt in mir gebrochen, wie in einem Mönche.“

Maria’s Vater hatte kein sympathisches Gesicht; seine Lider bedeckten zur Hälfte das graue Auge, welches die Personen, mit denen er sprach, niemals frei anblickte. Er hatte einen kalten, beinahe grausamen Zug um die Lippen, und auf seiner Stirn lag mehr List als Muth.

Nach der dritten Woche erklärte der Arzt, Maria’s Vater könnte weiterreisen. Ich zitterte, da ich es vernahm.

„Pater Josias, sagte am nächsten Tage Maria, „morgen muß ich Abschied von Euch nehmen.“

Ich unterdrückte einen Schrei und biß mir die Lippen.

„Pater Josias,” sagte sie, “wißt Ihr auch, daß ich im Herzen blute?“

Da schloß ich die Augen und stöhnte: „Maria, vergesset mich!“

„Nie!“

Ich hörte ihr Gewand rauschen, und als ich die Augen aufschlug, war ich allein. – – –

Ihr Vater rief mich etwas später und sagte: „Setzet Euch einen Augenblick zu mir, ich habe eine Bitte an Euch.“ Er zog aus seinem Busen einen dicken versiegelten Brief und legte ihn vor sich auf den Tisch. „Wie heißt der Pater, der in jener entsetzlichen Nacht wie ein Gespenst vor mir stand?“

„Pater Gregor heißt er.“

Er nickte und schrieb auf den Brief: Seiner Hochwürden, dem Pater Gregor.

„Habet die Güte, nehmet diesen Brief, traget ihn in’s Kloster und bringt mir die Antwort, welche Ihr darauf erhalten werdet.“

Widerstreitende Empfindungen bewegten mir die Seele, als ich das Kloster oben an der schwarzen Felswand vor mir sah. Langsam erklomm ich die Steigung, wie ein Kranker, und als ich die Glocke zog, ging es wie ein Riß durch mich.

Pater Gregor war in seiner Zelle und las.

„Ah, Pater Josias!“ rief er und blickte mich lange und wohlwollend an. „Ihr habt eine schöne Pflicht dort unten erfüllt und traget jetzt gewiß ein schönes Bewußtsein in Euch.“

Da ich schwieg, sagte er: „Sind die Verunglückten alle geheilt?“

„Nein, die Beiden, welche Arme und Beine brachen, liegen noch; der am Kopfe verwundet war, ist schon vor mehreren Tagen abgereist, und der Herr, der innerlich verletzt wurde, wird morgen abreisen.“

„Geht und ruhet jetzt! Ich dispensire Euch heute vom Abendgebet. Wünscht Pater Thomas einen Bruder zur Hülfe?“

„Er wird mich zur Hülfe haben; ich gehe wieder hinunter, heute Abend noch; ich kam blos, weil ich Euch einen Brief zu bringen hatte.“

„Einen Brief? Von wem?“

„Von dem Herrn, welchem ich statt Euer die Beichte abnahm. Er erwartet eine Antwort.“

Pater Gregor nahm den Brief aus meiner Hand und legte ihn auf den Tisch; dann stand er auf, zündete eine Kerze an, verbrannte den Brief und warf die Asche zum Fenster hinaus.

„Aber,“ fragte ich erschrocken, „was soll ich ihm nun sagen?“

„Sage ihm, was Du gesehen hast!“ erwiderte er ruhig und groß und entließ mich mit einer königlichen Handbewegung.

„Pater Gregor,“ sagte ich leise, als ich den Klostergang entlang schritt, „ich möchte wohl ein Kapuziner sein wie Du. Aber nicht Jeder ist zum Adler geboren.“ –

Als ich in die Schenke zurückkam und vor Maria’s Vater trat, blickte er mich mit Aufregung an und fragte hastig:

„Nun, Pater, wo ist die Antwort?“

„Ich habe keine.“

„Keinen Brief?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann habt Ihr eine mündliche Antwort?“

„Auch nicht!“

„Gabet Ihr dem Pater meinen Brief nicht?“

„Doch, aber er verbrannte ihn, ohne ihn geöffnet zu haben.“

Da fuhr er sich mit den zitternden Händen in die Haare und rief: „So hast Du keine Großmuth mehr? O Mönch, Mönch! So nimmst Du mir die Scorpionen nicht aus der Brust? So lässest Du mir die Gewissensbisse und den Haß? Denn je größer Du bist, desto größer sind meine Qualen. Und je mehr Du mich verachtest, desto mehr muß ich Dich hassen! Wie eine Krankheit trage ich den Haß in mir, den ohnmächtigen. Und so lange ich lebe, wird ein Mönch vor meiner Seele stehen, ein Kapuziner, mein Opfer und mein Richter.“

Ich stand erschüttert. „Pater Gregor,“ dachte ich, „Du bist gerächt.“

Maria trat herein und legte ihre Arme um ihres Vaters Hals: „Was quält Dich so?“ fragte sie.

„Maria,“ sagte er dumpf, „Du hast jetzt einen kranken Vater, der Pflege, aber auch Nachsicht braucht. Ich bin reizbar geworden – sei Du um so sanfter, um so geduldiger! Und – sprich nie mit mir von jener Nacht, in der wir verunglückten!“

Maria küßte ihres Vaters Stirn; ich entfernte mich, die Brust voll Weh und die Augen voll Wasser. Arme Maria! Süße Maria! Heilige Maria!

Am nächsten Vormittage hielt ein Wagen vor der Schenke. Pater Thomas und ich hoben Maria’s Vater hinein, und dann nahm Maria Pater Thomas’ Hand, küßte sie und sagte: „Gott segne Euch, Pater!“ Mir bebten die Kniee, als sie zu mir trat und sagte: „Gott segne Euch, Pater Josias!“ Und als sie meine Hände ergriff und ihre Lippen darauf drückte mit der Gewalt des Schmerzes, da konnte ich den Schrei in mir nicht unterdrücken, aber ich wandelte ihn um in ein lautes Gebet. Und

[90] während ich es sprach ohne Gedanken und Bewußtsein, preßte ich ihr die Hände, und je weher ich ihnen that, desto süßer brannten ihre Lippen auf meiner Hand.

„Amen!“ rief Pater Thomas in mein Gebet, und da hörte ich auf zu sprechen. Maria löste ihre Lippen von meinen zitternden Händen, und blickte mich noch einmal an; dann zog sie ihren Schleier vor das blasse Gesicht und stieg in den Wagen. Es wurde mir schwarz vor den Augen – ich hörte den Wagen fortrollen – und dann wankte ich sinnlos in’s Haus zurück. – Ich habe Maria nicht wieder gesehen. – –

Zwei Monate waren vergangen und mit ihnen der Sommer. Ich lebte, ohne zu leben: ich betete ohne Gedanken; ich arbeitete ohne Lust. Oft fiel jetzt zur Nachtzeit Schnee in der Region des Klosters, und wenn dann die Sonne heraufstieg, rannen die Wasser reichlich von der Felswand, und das gelockerte Gestein fiel kollernd herab; zuweilen schleuderte der Südwind es in’s Thal hinunter. Manchmal sanken die Nebel bis an den Fuß der Berge, und wenn sie sich gar über das Thal ausbreiteten und ich von meiner Zelle in die graue, leere Unendlichkeit hinausblickte, dann tauchte aus der Nebelwüste plötzlich eine Fata Morgana, die schwarze, zauberhafte, flammende Augen hatte und Maria hieß.

Als ich an einem Vormittage Pater Gregor eine schriftliche Arbeit brachte, sagte er: „Ihr sehet leidend aus, Pater Josias, seid Ihr krank?“

„Nein, ich bin schwermüthig.“

„Studiret Ihr wieder die Malerei?“

„Nein, die Liebe zum Bilde ist mir vergangen.“

„Ihr habt irgendwo eine lebendige Maria gesehen, Pater Josias?“

„Ja. Ich biß mir die Lippe wund, als sie sagte: ‚Morgen muß ich von Euch Abschied nehmen’ – und dann sagte sie noch: ‚Wißt Ihr auch, Pater Josias, daß ich im Herzen blute?’“

Pater Gregor fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Diese Worte waren Euch süß, Pater Josias?“ fragte er weich.

„Ja, und ich sage sie mir immer vor. Immer!“

Nach einer Weile stand er auf und ging, die Hand im Barte vergrabend, langsam die Zelle zweimal auf und nieder; endlich sagte er, seinen Blick, der aus einer mächtigen Tiefe zu kommen schien, in den meinen senkend: „Hast Du einen Entschluß gefaßt?“

„Nein, es ist mir Alles in der Schwermuth versunken.“

Wieder ging er auf und nieder und sagte dann. „Ich denke, es thut Euch gut, nächsten Sonntag eine Predigt drunten im Städtchen zu halten, die Predigt von der Zerstörung Jerusalems. Es wird Euch aufrütteln, wenn Ihr die blutigen Männer seht und den Rauch und die Flammen, und wenn die Mauern niederstürzen und der Schrei: Jehova! zwischen dem Dröhnen der Schilde ertönt, dann wird etwas in Euch wachsen – der Mönch oder der Abtrünnige. Dann werdet Ihr wissen, ob Ihr bleibet oder fliehet.“

„Und wenn ich fliehe, Pater Gregor – verdammt Ihr mich?“

„Ich Dich verdammen, mein Sohn? Nein, nein! – Aber vielleicht beklage ich Dich.“

„Pater Gregor, stärket mich durch einen Händedruck!“

Da nahm er meine Hand mit seiner Rechten und drückte sie dreimal. „Gehet jetzt, Pater Josias! sagte er mild, „und machet aus Eurer Predigt ein großes Schlachtengemälde mit einem biblischen Hintergrunde!“

Ich ging. „Ja,“ sagte ich mir, „Jerusalem soll in mir brennen, und was aus der Asche aufersteht – daraus will ich mir das Leben erbauen.“

Die Elemente unterstützten mich bei meiner Arbeit: zuerst der Wind, der die Schornsteine vom Dache riß und Tannen entwurzelte, dann die furchtbaren Regengüsse, welche ihm folgten und tosende Bäche über die Felswand herabgossen und kleine und große Felsstücke mit sich rissen. Es war eine Musik voll düsteren, wilden Zaubers.

In der Nacht vom Freitag auf den Samstag hörte der Regen auf, aber als am Morgen die Sonne hervorkam, da beleuchtete sie eine entsetzliche Zerstörung. Erdreich und Bäume und Felsstücke lagen im Thale, und die Felswand war wie geschoren. Keine Tanne und kein Gesträuch grünte mehr an ihr; überall war der nackte Fels, und aus seinen Spalten und Klüften stürzten die Wasser, und von den Abhängen fielen die Steine. Es war mir, als vernehme ich neben dem Rauschen des Wassers und dem Kollern der Steine noch ein anderes Geräusch, einen dumpfen, reibenden Ton, der aus dem Innern des Felsens zu kommen schien. Ich fragte später Pater Thomas, der neben mir am Mittagstische saß, ob er es nicht auch höre. „Wohl, wohl,“ erwiderte er, „dieses Geräusch hört man jedes Mal nach einer Regenfluth.“ Als ich dann am Nachmittag in meiner Zelle saß, um meine Predigt auswendig zu lernen, erschrak ich plötzlich – ich hatte eine Erschütterung des Bodens gefühlt, und als ich jetzt das Fenster öffnete und lauschte, vernahm ich jenen dumpfen, reibenden Laut viel stärker, deutlicher, näher. Ich dachte, alle Mönche müßten es wahrgenommen haben, und trat auf den Gang und ging die Treppe hinab, aber ich begegnete und sah keinen der Patres. Da ging ich in den Garten, wo der Bruder Anton die geknickten Blumen aufrichtete und stützte.

„Hört Ihr nicht ein seltsames Geräusch, und habt Ihr nicht eine Erschütterung des Bodens gefühlt?“ fragte ich.

„Meint Ihr, Pater, die Wasser arbeiteten sich sanft und lautlos durch die Felsen, und die Felsstücke fielen herunter leicht wie Schneebälle? Ihr kennt eben das Gebirg und seine wilde Sprache noch nicht. Im nächsten Spätjahre werdet Ihr besser unterrichtet sein.“

Ich ging in meine Zelle zurück, und als ich zwei Stunden später zum allgemeinen Gebete in’s Oratorium herabkam, fühlte ich wieder eine Erschütterung des Bodens.

Unsere Betstühle waren in der Form eines Hufeisens aufgestellt, und Pater Gregor hatte seinen Platz in der Mitte. Er las das vierte Capitel Jeremias’ und in seiner tiefen Stimme brannte die Flamme eines Jeremias. Und als er die Worte gesprochen: „Ich sehe auf die Berge und siehe, sie beben, und alle Hügel wanken“, da dröhnte es über unseren Häuptern; die Thür wurde aufgerissen und der Bruder Pförtner stürzte herein.

„Fliehet, fliehet!“ schrie er, „der Rachenfels bewegt sich: er sinkt; er kommt. Die Seitenfelsen bersten – fliehet, rettet Euer Leben! Herr Gott, beschütze uns! Wehe! Hab’ Erbarmen!“

Die Mönche fuhren von den Sitzen empor und drängten sich zur Thür. Pater Gregor aber blieb in seinem Stuhle sitzen und sein Auge funkelte.

„Feiglinge!“ rief er, „habt Ihr noch nicht genug gelebt? So fliehet denn! Ich bleibe.“

„Pater Gregor!“ rief ich flehend, beschwörend, und wie im Wahnsinn folgte ich den Anderen durch den Gang, über den Hof und den jähen Pfad hinab. Hinter uns donnerte das Gebirg und Steine fielen und trafen unsere flüchtige Ferse. Und in der Todesflucht schrie ich nach Pater Gregor, und meine Adern wollten reißen vor Schmerz.

„Links!“ rief einer der Patres und riß mich fort. Wir eilten. Ich wußte nicht, wohin.

„Herr Gott, erbarme dich! Jesus, erbarme dich! Maria, bitt’ für mich!“ riefen die Mönche.

Da – da krachte es, als ob der Erdball zerberste, und hundert Berge über einander fielen. Die Erde bebte unter meinen Füßen: die erschütterte Luft erdrückte mich; ich sank zu Boden, und im Getöse der stürzenden Felsen und des Widerhalles erstarben mir die Sinne –

Als mir das Bewußtsein wiederkam, war die Stille des Todes um mich. Und als ich mich erhob und zur Felswand hinüberblickte, war das Kloster verschwunden. Ein großer Mensch lag unter seinen Trümmern begraben.




Blätter und Blüthen.


Ein Helfer der stotternden Menschheit. (Mit Portrait S. 91) Ueber die von Rudolf Denhardt in Burgsteinfurt angewendete Methode zu durchgreifender Heilung des Stotterns ist bereits von ihm selber in Nr. 13, 1878 der „Gartenlaube“ ein ausführlicher Bericht erstattet worden. Aus dem glänzenden Zeugniß, welches der verewigte Begründer und Redacteur unseres Blattes damals jenem Aufsatze hinzugefügt, sowie aus seinem in Nr. 35 desselben Jahrgangs mitgetheilten Lebensbilde werden die Leser auch ersehen haben, wie lebhaft das Interesse, wie tief und warm die achtungsvolle Anerkennung und Erkenntlichkeit war, welche Ernst Keil selber dem neuen Heilverfahren und seinen

[91] überraschend glücklichen Resultaten gewidmet hatte. Diesem Gefühl eines ungemein herzlichen Dankes entsprang in ihm der Vorsatz, dem Publicum auch einmal das Bildniß des Mannes vorzuführen, dem es möglich geworden, ihm endlich, entgegengesetzt allen anderweitigen erfolglos gebliebenen Versuchen, wirklich gründliche Befreiung von einem Leiden zu bringen, das unter allen Völkern und zu allen Zeiten unzählige Gemüther verschüchtert und herabgedrückt und peinigende Störung in unzählige Lebenswege geworfen hat. Der leider so schnell hereingebrochene Tod Ernst Keil’s verhinderte diesen an der Ausführung seiner Absicht, und die jetzige Redaction übernimmt es, durch Veröffentlichung des nebenstehenden Portraits zugleich pietätsvoll dem Wunsche des Verstorbenen und der noch von ihm getroffenen Anordnung zu entsprechen, um so lieber, als

Rudolf Denhardt.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

ihr eine außerordentliche Zahl dankbarer Zuschriften von Lesern der „Gartenlaube“ zugegangen sind, welche auf die gegebene Anregung hin an der nämlichen Stelle Hülfe gesucht und gefunden haben. Die zahlreichen Freunde Denhardt’s, denen er geholfen, oder die sein rüstig liebreiches Wirken gesehen, werden hier gern seine Züge erblicken, in Anderen, zu denen bisher sein Ruf noch nicht gedrungen, werden sie unzweifelhaft das Vertrauen in die Persönlichkeit erwecken, dessen der Helfer vor Allem bedarf. Bemerkt sei hier nur noch, daß wir auch in einem seit längerer Zeit vor uns liegenden Programme eine lange Reihe schöner Zeugnisse gefunden, in denen nicht blos Privatpersonen, sondern auch Regierungen, Behörden und berühmte medicinische Autoritäten der verschiedensten Länder bekunden, daß es eine durchaus wissenschaftlich-rationelle Methode ist, durch welche Rudolf Denhardt, ohne Operationen und Medicamente, Stotternden jeden Alters binnen Kurzem zu fließendem Gebrauch ihrer Sprache verholfen hat.




Cichorien-, Gesundheits- und Feigenkaffee. Wir lesen jetzt alle Tage in den Anzeigen der illustrirten Blätter, daß der Liebhaber einer ausgezeichneten Tasse Kaffee, wie man sie in Karlsbad und Wien zu trinken bekommt, sich diesen Genuß einzig mittelst eines kleinen Zusatzes von Feigenkaffee verschaffen könne. Schon lange, ehe der Feigenkaffee in Aufnahme kam, waren die böhmischen Bäder wegen ihres guten Kaffees bekannt, dessen Vorzüge man ehemals lediglich dem Freibleiben von Surrogaten, der guten Bereitung und einem ganz kleinen Zusatze von doppelt-kohlensaurem Natron zuschrieb. Schreiber weiß nicht, ob das richtig ist, aber so viel weiß er, daß Norddeutsche, die an einen guten Kaffee gewöhnt sind, wenn sie in Tirol oder in der Schweiz mit „Feigenkaffee“ bewirthet werden, sich gar sehr nach ihren Hamburger Kaffeetöpfen zurückzusehnen pflegen. Wer wirklich ein Feinschmecker im Kaffee ist, der wird sich schwerlich jemals mit Surrogaten befreunden, die im Allgemeinen einen ganz anderen Zweck haben, als die Geschmacksverbesserung. Kaffee ist, wenn er gut sein soll, ein theures Familiengetränk, und daher hat man seit der Zeit, in welcher sein Genuß allgemeiner wurde darnach gestrebt, einen billigeren Familienkaffee herzustellen, die Bohnenbrühe, wie der Volksmund sagt, „langzuziehen“. Es geschieht dies bekanntlich, indem man kochendes Wasser mit einer beliebigen bitterlich schmeckenden gerösteten Masse so dunkelbraun färbt, wie ein guter Kaffee-Aufguß sein soll, und dabei, um den Schein zu retten und das Gewissen zu beruhigen, ein klein wenig echten, wirklichen Samen vom Kaffeebaum mit in den Färbebeutel thut. Das Aussehen thut eben viel, und die Hausherren, welche dunkle Biere wegen ihres größeren „Gehalts“ den hellen vorziehen, sollten nicht über ihre lieben Schönfärberinnen in der Küche schelten, denn die dunklen Biere sind eben auch nur gefärbte helle Biere, und mit den nährenden und berauschenden Bestandtheilen des Bieres hat die dunkle Farbe ebenso wenig unmittelbar zu thun, wie die rote des Rothweines. Um nun dem unbestreitbaren ökonomischen Vorzuge der Surrogate ein Mäntelchen umzuhängen, hat man seit jeher behauptet, der Kaffee sei ein bedenkliches Gift und die Surrogate seien viel gesünder.

Schon die wohlthätigen Erfinder der Cichorien-Fabrikation, Major von Heine und C. G. Förster, welche um’s Jahr 1763 den Cichorien-„kaffee“ einführten, und am 1. October 1770 ein ausschließliches Privilegium für den Anbau der Cichorie und die Verarbeitung ihrer Wurzel im preußischen Staate erhielten, betonten diesen Punkt ganz besonders. Die aus ihrer Berliner Fabrik hervorgehenden Cichorienpäckchen trugen neben der Firma das Bild eines deutschen Mannes, welcher mit der einem Hand Cichorien säet und mit der anderen mehrere von den in der Ferne sichtbaren Kaffee-Eilanden hersegelnde Kaffeeschiffe zurückweist, indem er ausruft: „Ohne Euch gesund und reich!“ Es ist ja ganz sicher, daß für manche nervös leidende Personen der Kaffee nicht gesund ist, ja daß es sogar vielleicht ganz im Allgemeinen besser wäre, wenn wir, wie die alten Deutschen, des Morgens unsere Hafergrütze äßen, allein der Mensch hat einen wahren Heißhunger nach Erregungsmitteln, die ihm die Misèren des Lebens erträglicher machen, und unter ihnen ist der Kaffee lange nicht das Schlimmste. Es giebt sogar auf der anderen Seite Gesundheitsräthe, welche die Cichorie für noch bedenklicher als den Kaffee halten, da sie die Verdauung stören soll, und die in ihr und dem Branntwein den wahren Quell der Socialdemokratie suchen. Mit dem Branntwein mögen sie zum großen Theil Recht haben, mit dem Cichorienkaffee ist das wohl nicht ganz so schlimm. Das in allen solchen Wurzeln und Samen beim Rösten entstehende und also auch im Kaffee selbst nicht fehlende Röstbitter scheint die Verdauung etwas zu verlangsamen, eine Eigenschaft, die wohl mit dazu beiträgt, daß Kaffee den Hunger stillt. Das Einzige, was man diesen färbenden Bitterstoffen mit Recht vorwerfen kann, wäre, daß ihr Ursprung oft so dunkel wie ihre Farbe ist: neben den Cichorienwurzeln kommen Runkelrüben und Schlimmeres zur gelegentlichen Verwendung, das Surrogat wird selber surrogirt. Ja, was sollen die armen Cichorien-Fabrikanten machen, wenn die blaue Blume mal nicht geräth?

Nicht viel besser mag es mit den gebrannten Eicheln und den gebrannten Feigen zugehen, denn auf dem abschüssigen Wege des Surrogatprincips kommt es natürlich einzig darauf an, daß das Präparat kräftig färbt und nicht gar zu übel schmeckt. Einem Berliner Fabrikanten warfen die Zeitungen kürzlich vor, daß er seinen „Feigenkaffee“ vorzugsweise aus Lupinensamen brenne, und wenn die Lupinenbohne auch nach einer neuern Auslassung nur den geringeren Surrogaten hinzugefügt wird, um ihnen „Consistenz“ zu verleihen, so giebt das schon einen Vorgeschmack davon, was alles in dieser schwarzen Kaffeefarbe sein Ende findet. Die Feigen, welche man in Wälschtirol erntet, haben gegen süditalienische, griechische und kleinasiatische Feigen den Nachtheil, sich nicht so gut zu halten. Man hat daher schon alles Mögliche versucht um sie zu verwerthen, z. B. Branntwein daraus gebrannt, und nun ist man darauf gekommen, sie zum Kaffeefärben zu verbrauchen. Die Verwerthung schlechter Feigen ist somit der vornehmste Zweck des Feigenkaffees. Das Vorhaben, den Geschmack guten Kaffees damit zu verbessern, kommt unseres Erachtens auf dasselbe hinaus, als wenn man das feine Arom guten chinesischen Thees mit Vanille, oder gar, wie es früher Mode war, mit Sternanis erstickt. Die geröstete Feige giebt dem Kaffee eine Weichlichkeit, die ja Manchem angenehm sein mag, Anderen entschieden unangenehm ist und jedenfalls eine Fälschung des reinen Kaffeearomas herbeiführt. Indessen über Geschmack und Mode läßt sich nicht streiten. Denjenigen, die den Kaffee nicht vertragen können und doch der süßen Gewohnheit des schwarzen Trankes nicht entsagen wollen, möchten wir rathen, sich selbst Roggen oder Weizen zu rösten und ihn als „Gesundheitskaffee“ zu verbrauchen; sie wissen dann wenigstens, was sie trinken.



Wie schwächere Thiere von der Kraft und Geschicklichkeit stärkerer Nutzen ziehen. Nr. 42 des vorigen Jahrgangs dieser Zeitschrift brachte unter dem Titel „Seltsames Phänomen aus dem Leben der Wandervögel“ die höchst interessante Beobachtung, daß kleinere Singvögel mit geringerem Flugvermögen, insbesondere Bachstelzen, die großen Reiherarten, namentlich Störche, als Luftschiffe benutzen und sich von diesen über’s Meer tragen lassen. Diese überraschende Thatsache war allerdings auch meines Wissens bisher der Wissenschaft noch unbekannt, der Bericht verdient aber, wie ich hier hervorheben möchte, volles Vertrauen, da noch viele andere schwächere Thiere auf ähnliche Weise aus der Kraft [92] der stärkeren Vortheil zu ziehen suchen, wovon ich hier einige besonders interessante Beispiele anführen will.

Der sogenannte Schiffshalter, ein zur Gattung der Makrelen gehöriger Fisch, heftet sich zur rascheren Ortsveränderung nicht nur an Schiffe, sondern auch an die allgemein gefürchtetsten Raubfische, an Thune, Schwertfische, Haifische und andere, und diese müssen den „blinden Passagier“ gleich einem Parasiten ruhig dulden; abstreifen können sie ihn im freien Wasser nicht, und dann ist er auch viel zu gewandt, als daß sie ihm sonst wie etwas anhaben könnten.

Ein weit interessanterer Fall kommt in der Insectenwelt vor. Die Larve des Oelkäfers kriecht, sobald sie geboren ist, aus der Erde heraus, sucht die nächste blühende Pflanze auf, klettert an derselben empor bis zur Blüthe, und hier wartet sie ruhig auf eine Biene. Kommt nun eine solche zur Blume, um sich Honig und Blüthenstaub zu holen, so kriecht ihr die Käferlarve auf den Rücken – und wozu das? Sie läßt sich von der Biene gemüthlich nach dem Bienenstock tragen. Während nun die unfreiwillige Kindermagd beschäftigt ist, ihren Honig in eine mit dem Ei versehene Zelle zu thun, gleitet die junge Larve ganz sachte von ihrer Trägerin herunter in die Zelle, aber nicht etwa um der Biene nun ihren Dank abzustatten, sondern – um das Bienenei zu fressen. „Undank ist der Welt Lohn.“ – Die Larve des Blasenkäfers, der sogenannten spanischen Fliege, hat dieselbe Gewohnheit.

In anderen Fällen suchen kleinere Thiere die Nähe größerer Raubthiere auf, in deren Gesellschaft sie gegen gefährlichere Feinde vollkommen geschützt sind, ziehen also Nutzen aus dem Räuberberufe Anderer.

Im Neapolitaner Aquarium fiel mir seit längerer Zeit die merkwürdige Thatsache auf, daß die Garneelen, kleine durchscheinende Krebse, sich haufenweise in der Nähe der Pulpen (Polypen) aufhielten. Ich wunderte mich hierüber anfangs um so mehr, als ich wußte, wie sehr alle übrigen Krebse diesen Seeräuber fürchten und seine Nähe zu meiden suchen. Aber bald wurde mir das Verhältniß klar. Diese kleinen freischwimmenden Krebse können mit ungemeiner Gewandtheit blitzartig zurückfahren; kein Fisch ist im Stande, sie zu erhaschen, und auch der Polyp, welcher nach diesen Thieren äußerst lecker sein mag und sehr oft seine Armspitzen entrollt, um eines derselben zu packen, vermag nie zu seinem Ziele zu gelangen: die kleinen Kruster sind zu flink. Dagegen bewohnen zwei furchtbare Feinde der zarten Krebse das Meer, gegen welche ihnen kein Zurückschnellen, kein Verkriechen zwischen die Steine und in die Ritzen hilft und gegen welche sie nur in der Nähe des vielgefürchteten Polypen sicher sind: das sind der Tintenfisch und die Sepia. Diesen gelten die Garneelen als Lieblingsspeise, und so flink sich auch letztere im Entfliehen zeigen, die Tintenfische und Sepien sind mit ihren zwei Fangarmen noch viel gewandter. Wie ein Blitz werden die sonst immer zurückgezogenen Fangapparate mit ihren zahlreichen Saugnäpfen hervorgeschnellt, und das Opfer zuckt zwischen den Armen, die es zum Munde führen. Wo diese Kopffüßler Garneelen finden, da ist es um dieselben geschehen; nur in der Nähe des Polypen nicht. Der achtarmige Seeräuber ist von seinen Vettern viel zu sehr gefürchtet, als daß sich diese verleiten lassen würden, ihm zu nahe zu kommen.

Auf dieselbe Weise ist wohl das Verhältniß des Lootsenfisches zum Haifische zu erklären. Nach den älteren Berichten soll zwischen diesen beiden Meeresbewohnern ein sehr intimes dienstliches Freundschaftsverhältniß existiren. Der Lootsenfisch soll dem Hai, der allerdings auch nach meinen Beobachtungen schlecht zu sehen scheint, die Beute auskundschaften und seinen Gebieter darauf hinführen, ihm also als Lootse dienen, dafür aber von demselben Abfälle erhalten. In der That werden nun die beiden Fische nach vielfachen Beobachtungen häufig in Gesellschaft angetroffen, aber nach meinem Urtheile hauptsächlich aus dem oben angedeuteten Grunde. Der Lootsenfisch weiß dem Hai bei etwaigen Angriffsversuchen geschickt zu entschlüpfen, ähnlich wie die Garneele dem Pulpen gegenüber; dagegen sind ihm andere Raubfische, wie die Makrelenarten, etwa der Thun, weit gefährlicher, in Gesellschaft des Hai ist er aber auch diesen gegenüber gesichert. Dabei mag es auch vorkommen, daß sich die ungleichen Gesellschafter bei der Nahrungssuche absichtlich oder unabsichtlich nützen.

In der Vogelwelt ist ein ähnliches Verhältniß beobachtet worden. Singvögel, besonders Finken und Sperlinge, miethen sich oft in den Horsten der Adler ein, weil sie sich dort, wie es scheint, vor Falken und anderen Raubvögeln sicher wissen. Der Mietherr duldet aber jedenfalls die Eindringlinge nicht etwa aus Großmuth; er würde dieselben ebenso gut seinen Jungen als Speise vorlegen wie andere Beute, wenn sie der verhältnißmäßig schwerfällige Vogelkönig nur erwischen könnte.

Auch bei dem Nahrungserwerb machen sich gar oft listige Thiere die Geschicklichkeit und Kraft anderer zu Nutze. Ich erinnere besonders an den Fregattvogel, die Schmarotzermöven und Schmarotzermilane. Ersterer paßt, wie beobachtet den Delphinen und Meerschweinen bei ihrer Fischjagd auf, bis diese irgend welche Beute gemacht haben. Noch ehe sie zum Verschlingen derselben kommen, hat sie ihnen der Fregattvogel vom Maule weggeschnappt; ja dieser zwingt andere fischende Seevögel oft, die schon verschlungene Beute wieder herzugeben; und die Schmarotzermöven haben dieselbe liebenswürdige Gewohnheit. Auch die Schmarotzermilane, Gabelweihen etc. lassen andere Vögel, besonders den Edelfalken, für sich jagen. Sie passen ihm genau auf, warten, bis er eine Beute in den Krallen hält, überfallen ihn dann und quälen ihn, bis er ihnen die Beute überläßt.

Eine höchst eigenthümliche Arbeit verlangt der Kormoran vom Pelekan. Letzterer vermag Eisschichten viel leichter zu durchbrechen als sein schwächerer Herr Vetter. Das weiß dieser recht gut, und will er eine Wasserbahn im Eise haben, so quält er den Pelekan so lange, bis dieser um des lieben Friedens willen auf das Eis geht und es für seinen Verwandten einschlägt.

Nach diesen Thatsachen kann die oben erwähnte neue Beobachtung über die Benutzung der Reisegelegenheit nicht befremden. Nur muß man nicht glauben, daß die Störche die kleinen Sänger aus Großmuth oder etwa deshalb mit über’s Meer nehmen, weil sie durch den Gesang der munteren Passagiere dafür unterhalten würden. Jede Bürde ist bei einer solchen Reise unangenehm, und der Storch wird sein lebendes Eilgut oft genug, wenn auch erfolglos, abzuschütteln suchen. Daß übrigens junge Schwimm- und Reihervögel oft der Mutter auf den Rücken steigen und sich von derselben über’s Wasser, ja durch die Lüfte tragen lassen, ist vielfältig beobachtet worden.

Dieses Schutzsuchen bei der Mutter ist bei den Hühnervögeln besonders üblich und allgemein bekannt, und manche Säugethiere, wie die Affen, Maulthiere, Aeneasratten, geben ebenfalls Beweise rührenden Mutterschutzes. Aber selbst von den Fischen, welche sich im Allgemeinen um ihre Jungen wenig kümmern, ist doch ein interessanter Fall kindlicher Schutzbedürftigkeit und väterlicher Fürsorge bekannt. Die jungen Lumpfische heften sich an den Vater, der die Brut in’s sichere Versteck trägt.

Eine weit merkwürdigere Beobachtung dieser Art wollte einst ein Diener des Neapolitaner Aquariums bei den Seerosen (Actinien) gemacht haben. Torillo – so heißt derselbe – hat ein ungemein scharfes Auge und weiß überall die winzigsten Wesen gleich ausfindig zu machen. Seine unübertreffliche Fähigkeit hierin ist allen in der zoologischen Station arbeitenden Gelehrten gar wohl bekannt. Was keiner der Herren Fachzoologen, selbst mit der Loupe bewaffnet, aufzufinden weiß, das sieht Torillo mit bloßen Augen und zeigt es ihnen. „Sehen Sie, Herr Dr. N…, die jungen Spyrographen (Röhrenwürmer) und hier junge Pentacten (Seegurken),“ ruft er gar oft und zeigt auf winzige Geschöpfchen kaum von der Größe eines Stecknadelkopfes, die an den dunklen Steinen

sitzen, und welche kein anderes Auge bemerkt haben würde. Als wir nun einst am Bassin der Seerosen standen, behauptete er, einige Tage vorher ein solches Blumenthier gesehen zu haben, welches überall mit Jungen bedeckt gewesen sei; das alte Blumenthier sei darauf fortgerutscht, habe die junge Colonie an einem andern Orte abgesetzt und sei dann auf seinen alten Platz zurückgekehrt, und diese Beobachtung behauptete er in allem Ernste gemacht zu haben. Das wäre ja von einem Korallenthiere eine große Geistesthat und eine höchst interessante Beobachtung, wenn sie nur mehr Wahrscheinlichkeit für sich hätte. Nach der Entwickelungsstufe aller Pflanzenthiere, insbesondere der festsitzenden, und nach dem Larvenleben der Seerosen kann man diesem Berichte vorerst nur wenig Glauben schenken.
G. H. Schneider.


Das Chloroformiren der Pflanzen. Am 11. Februar wird ein Jahr vergangen sein seit dem Tage, da der größte Physiologe Frankreichs und vielleicht seines Jahrhunderts, Claude Bernard, sein verdienstvolles Leben beschlossen. Um die Erinnerung an ihn frisch zu erhalten, wollen wir einige interessante Experimente mittheilen, die er kurz vor seinem Hingang über die Reizbarkeit der Pflanzen anstellte. Wenn die Pflanzen, dachte er, ähnliche Reizbarkeit wie die Thiere besitzen, dann müßten sie dieselbe unter der Einwirkung narkotischer (betäubender) Stoffe verlieren. Bernard wählte zu diesem Zwecke Aether und Chloroform, und der Erfolg der Versuche war überraschend.

Bekanntlich giebt es fleischfressende Pflanzen, deren Blätter mit der Fähigkeit ausgestattet sind, sich bei leiser Berührung zusammenzuziehen; setzen wir sie aber dem Einfluß der Chloroformdämpfe aus, so verlieren sie diese Eigenschaft, um nach kurzer Zeit sich wieder zu erholen und wie früher zu functioniren. Sie waren also betäubt, eingeschläfert durch das Chloroform.

Es ist eine bekannte Thatsache, daß die grünen Pflanzenzellen unter dem Einfluß des Sonnenlichtes athmen, das heißt daß sie Kohlensäure absorbiren und Sauerstoff ausstoßen. Taucht man aber die Blätter in Wasser, in dem sich Aether oder Chloroform befindet, so werden die grünen Theile betäubt; ist diesem Zustande den Sonnenstrahlen ausgesetzt, athmet die Pflanze wie in der Nacht, sie absorbirt Sauerstoff und haucht Kohlensäure aus. Entfernt man aber das Chloroform, so erwacht die Pflanze aus ihrem Schlummer, und die grünen Zellen arbeiten wie früher.

Kinder pflegen Erbsen in’s Wasser zu werfen, um zu sehen, wie sie aufquellen und dann zu keimen zu beginnen. Nehmen wir dazu Wasser, das mit Chloroform vermengt wurde, so sehen wir freilich unter der mechanischen Einwirkung der Flüssigkeit die Erbsen aufquellen, aber nicht keimen. Dagegen gewinnen sie ihre Entwickelungsfähigkeit sofort wieder, wenn sie in reines Wasser geworfen werden.

Das Geheimniß der Gährung ist insofern aufgeklärt, als wir wissen, daß die Zuckerlösung durch kleine, einzellige Pilze, die unsere Hefe bilden, in Alkohol und Kohlensäure zerlegt wird. Nehmen wir nun frische Hefe und tauchen sie in eine Zuckerlösung, zu der Aether oder Chloroform hinzugemengt wurde, so treten keine Gährungserscheinungen ein. Die Hefe arbeitet nicht, sie ist betäubt; sie schläft. Waschen wir aber dieselbe Hefe aus und bringen sie in chloroformfreie Zuckerlösung, so beginnt sie sofort zu arbeiten und verwandelt den Zucker in Alkohol und Kohlensäure.

Wir sehen, was uns ein vollständiges Räthsel gewesen, das Fühlen der Pflanzen beginnt an einem Punkte wenigstens sich zu klären. In das dunkle Gebiet, auf dem in der Phantasie unserer Vorfahren Elfen und Zwerge sich tummelten, hat die Sonne der Wissenschaft einen Strahl geworfen. Hoffen wir, daß es den Nachfolgern Bernard’s bald gelingt, das Verhältniß zwischen dem thierischen und pflanzlichen Leben genau zu erforschen!



Nachträgliches. Bezüglich unseres Feuilleton-Artikels „Ein Unterrichtsmittel für Schule und Haus" (Nr. 51, 1878) geht uns vom „Geographischen Institut“ im Weimar die Mittheilung zu, daß der Preis für die dort erwähnten mit Reichspatent versehenen Erdgloben nicht, wie irrthümlich angegeben wurde, 23 bis 24 Mark, sondern 2 bis 53 Mark (je nach Größe) beträgt.