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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[593]

No. 36. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Veit bückte sich – ein Stückchen Holz, das vielleicht an einer Stiefelsohle hängen geblieben und zufällig hierher geschleppt worden war, hatte sich drunten in dem seltsamen Spalt des Heiligenbildes eingeklemmt und verhinderte den festen Schluß der Fuge. Da hatte ihm der Papa neulich etwas weismachen wollen, aber prosit – Veitchen war nicht so dumm. Er hatte es gleich nicht geglaubt, und wenn er auch nachher heimlich gesucht und die Lücke nicht wiedergefunden hatte, zusammengeleimt war sie doch nicht, denn kein Tischler war in’s Haus gekommen.

Er zwängte zwei Finger in die Spalte, um das Holzstückchen herauszunehmen, und da wichen die Holztafeln zu beiden Seiten geräuschlos und so willig zurück, als gingen sie auf fleißig geölten Rädern; bei einem weiteren Druck verschwanden auf der einen Seite der Rumpf des Heiligen, auf der andern der ausgestreckte Arm und das unter demselben knieende Weib hinter den erhabenen, mit Arabesken bedeckten Feldern, welche die Legendenbilder rahmenartig unterbrachen.

Mosje Veit war doch ein wenig erschrocken. Er kannte sonst keine Furcht – im ganzen Klosterhause gab es nicht einen entlegenen dunklen Winkel, den er nicht schon durchstöbert hatte; er kauerte oft stundenlang in den unheimlichsten Ecken, um, plötzlich hervorspringend, den ahnungslos Vorübergehenden einen Todesschrecken einzujagen. Aber die Wandöffnung da gähnte ihn an wie ein großer schwarzer Schlund, und eine häßliche, eingesperrte Luft quoll ihm entgegen.

Allein die Neugier überwog jede andere Empfindung. Er bog den Kopf vor und sah, daß dicht an der Oeffnung ein paar Stufen emporführten, Steinstufen, die sich schön glatt anfühlten und ganz hell aus der Finsterniß aufblinkten. Und der schwache Schein des Tageslichtes, der durch den Spalt eindrang, streifte seitwärts neue Bretter – das war die Wand des Schrankes, in welchem die Holzengel und die zinnernen Orgelpfeifen lagen. „Dummes Zeug! Da brauchte man sich doch nicht zu fürchten – das war ja Alles ganz neu. Was wohl der Papa für Sachen darin hat?“

Er hielt sich an der Bretterwand fest, kletterte die etwas steilen Stufen hinauf, ging beherzt zwei Schritte auf glattem Boden weiter und stieß plötzlich an etwas Elastisches, das sich anfühlte wie das Lederpolster an Papas altem Lehnstuhle. Es gab nach und wich weit zurück, wie eine geräuschlos gehende Thür und war weich und dick wie eine Matratze.

In dem Augenblicke, wo dieser seltsame Gegenstand aus dem Wege glitt, hörte der Knabe eine fremde Frauenstimme sprechen, klar und deutlich – sie klang wie eine tiefe Glocke und erzählte von brennenden Häusern und erschossenen Menschen, und von Einem, der sehr krank gewesen war und immer von seiner Mutter gesprochen hatte – es war gerade, als würde aus einem Buche vorgelesen.... Mosje Veit war aber kein Freund von rührenden Geschichten. Er schlug nach den Mägden, wenn sie sich in der Gesindestube Märchen von verlassenen und verirrten Kindern erzählten, oder von dem Opfermuth und Untergang irgend einer sagenhaften Spinnstuben-Gestalt sprachen. .... So riß ihm auch jetzt die Geduld, und dabei dachte er ganz geärgert, wie denn die Frau, die dort sprach, als sei sie zu Hause, auf das Klostergut komme, und er mußte sich besinnen, was das eigentlich für eine Stube sei, in der sie sitze....

Mit seinem verwogensten und boshaftesten Gesichte drang er vor – seine tastenden Hände stießen plötzlich an Holz, und das mußte eine Thür sein, denn er bekam gerade einen Riegel unter die Finger.... Jetzt wollte er aber auch der „dummen“ Frau da drin, die gar nicht aufhörte mit ihrer langweiligen Geschichte, einen solchen Schrecken einjagen, daß sie vom Stuhle fallen sollte.

Er riß den Riegel zurück und zog die Thür herein, und – da stand er hinter einem wunderlichen Gitter; es war gerade, als sei ein starkes, festes, aber durchsichtiges Spitzengewebe aus allerlei Ranken und Verschlingungen da ausgespannt, und dahinter that sich ein weiter, herrlicher Raum auf, flimmernd in farbiger Seide und glänzenden Geräthschaften. Das sah er aber nur, wie von einem jäh niederfahrenden Blitz erhellt –; es verschwand Alles vor der Gruppe, die inmitten des Zimmers ihm gegenüberstand – ein Mädchen, vorgestreckten Fußes, mit weit aufgerissenen Augen ihn glühend anstarrend, und neben ihr ein Hund, gewaltigen Leibes wie ein Tigerthier, zähnefletschend, knurrend und bereit, sich bei der geringsten Bewegung des Eindringlings auf ihn zu stürzen.

Mosje Veit versuchte zu retiriren – aber jetzt rang sich ein furchtbarer Schrei von den Lippen des Mädchens, und mit einem riesigen Satze sprang der Hund gegen das Gitter. Es zerkrachte unter der Wucht seines Körpers, als sei es in der That ein zartes Spitzengeflecht, in zahllose, weithin fliegende Splitter. Der Knabe floh in sprachlosem Entsetzen, aber er stieß an die den Weg halb versperrende Matratzenthür; er strauchelte, [594] stürzte mit der Stirn auf die Steinstufen, überschlug sich und rollte das Gallerietreppchen hinab auf die Dielen der Amtsstube.

In diesem Moment duckte sich aber auch schon das keuchende Thier mit wüthendem Knurren über den hingestreckten Körper, als wolle es Jeden zerreißen, der seinem gestellten Wilde nahe komme.

„Das ist der Mäuseweg,“ rief Hannchen in wildem Jubel. „Gott im Himmel sei Dank! Mein guter, lieber Vater ist’s nicht gewesen. Der Spion war drüben auf dem Klostergut.“

Sie zog die Polsterbank, über welche Pirat hinweggesprungen war, mit einem Rucke von der Wand, lief durch den wundersam geoffenbarten „Mäuseweg“ und riß den Hund von dem Knaben weg. Aber Veit erhob sich nicht – sein Gesicht verzerrte sich und dicker, weißer Schaum trat ihm auf die Lippen; er lag in Krämpfen.

Die Damen in der Fensterecke, der äußeren Umgebung vollkommen entrückt, hatten weder Hannchen’s und Pirat’s seltsames Gebahren und Aufhorchen, noch das überraschende Erscheinen des Knaben in der Wandtiefe bemerkt. Erst bei dem Aufschrei des Mädchens und dem Geprassel der zerberstenden Holzschnitzerei waren sie erschrocken herumgefahren und hatten den Hund in einer erstickenden Staubwolke verschwinden sehen, und während Donna Mercedes, verwirrt und verstört, regungslos auf ihrem Platze verharrte und den ganzen Vorfall, selbst Hannchen’s Jubel nicht begriff, war die Majorin, von einer entsetzliche Ahnung erfaßt, emporgesprungen.

„Der Spion war drüben auf dem Klostergute!“ hatte das Mädchen gerufen.

Unsicheren Ganges, wie von einem Schwindelanfalle ergriffen, durchschritt die Majorin den Salon. „Großer Gott!“ sagte sie und streckte die Arme gen Himmel, als gelte es, eine hereinbrechende große, unauslöschliche Schande abzuwehren.

Ja, das war die Amtsstube, der Raum, in den man durch den schmalen, tiefen Gang hinein sah.... Gerade dort an der gegenüberliegenden Wand stand das altväterische, mit braunblumigem Kattun überzogene Kanapee, und darüber hing das Pastellbild ihres Großvaters, des alten Klaus, des bravsten und tüchtigsten aller Wolfram’schen Männer.... Seine ehrlichen Augen sahen unverwandt herüber in das Haus des adeligen Geschlechts, das eine ehrlose, verrätherische Nachbarschaft gehabt hatte, ohne es zu ahnen. Aber er hatte auch nicht um diesen Mönchs-Schleichweg gewußt, so wenig wie alle Anderen, die vor ihm dagewesen waren, so wenig wie sein Sohn, der jung verstorbene, wackere Vater des „Herrn Rathes“. Nie hatte irgend eine Tradition oder Familiesage auf einen versteckten Verbindungsweg zwischen den zwei Klosterhäusern hingedeutet. Nur der Letzte war dem Lauscherposten der alten Mönche auf die Spur gekommen, der Letzte, der als Knabe ein Heimtückischer, ein boshafter Duckmäuser gewesen war, ohne daß er es seine Umgebung je hatte merken lassen.

Noch lag ein tiefes Dunkel über der unheilvollen Katastrophe; nur so viel ließ sich ersehen, daß Veit dem Treiben seines Vaters nachgespürt habe mußte. Er lag drüben auf dem Boden hingestreckt. Hannchen hatte den Hund am Halsbande von ihm weggerissen, Hannchen, das Kind des Mannes, der einst um jener fremden Niederträchtigkeit willen Ehre und Leben verloren! Nur wenige Schritte entfernt war die Schwelle, an welcher er damals vergebens seine Ehrenrettung erfleht hatte.

„Der Kleine ist krank,“ rief das Mädchen herüber. Sie scheuchte Pirat mit einer drohenden Armbewegung nach dem Gallerietreppchen, und er trabte kleinlaut die Stufen hinauf und trollte sich auf seinen Platz neben José’s Fahrstuhl.

Ein nicht zu beschreibender Kampf war in der Seele der Frau, die zitternd an der gähnenden Oeffnung stand, aus welcher immer noch Staubmassen, mit herabwirbelnden, feinen Holzsplittern gemischt, aufstiegen. Mit dem Spion, dem Horcher an der Wand, den sie in der Welt den „Herrn Rath“ nannten, wollte sie nichts mehr gemein haben – er war todt für sie; er verdiente nicht, daß sie auch nur einen Finger für ihn rührte, ein Wort zu seiner Vertheidigung laut werden ließ. Aber der dort, und mit ihm die lange Reihe der Alten, Braven, die sich nach einem arbeitsvollen Dasein und unausgesetzten Ringen um einen geachteten Namen friedlich zum letzten Schlaf im Todtenschrein ausgestreckt, sie hatten das Recht, von einer ihrer Töchter die ganze Kraft des Willens und Handelns für das Interesse des Wolfram’schen Hauses einzufordern. – „Sieh zu, was zu retten ist an der Reputation die unser höchster Schatz seit Jahrhunderten gewesen!“ schien ihr der ernste, würdige Graukopf von der Wand herüberzurufen.

Und sie biß die Zähne zusammen, preßte die festgeballte Hand auf die schwerathmende Brust und duckte ihre hohe Gestalt unter die zackig herunterstarrenden Trümmer der zerstörten Wandbekleidung. Mit Donna Mercedes, die jetzt den Vorgang in seiner ganzen abscheulichen Tragweite verstand, durchschritt sie den Gang, der sich wie ein Schlagbaum vor die Summe von Rechtschaffenheit und unbescholtenem Leben eines drei Jahrhunderte überdauernden Geschlechts absperrend legte.

Ohne zu sprechen, hob sie den völlig bewußtlosen, mit Armen und Beinen krampfhaft zuckenden Knaben vom Boden auf und bettete ihn mit Hülfe der Anderen auf das Kanapee. Dann ging sie durch die Eßstube in die Küche. Ein erstickender Qualm schlug ihr entgegen; es roch brandig , und im Suppentopf brodelte gurgelnd der letzte Bouillonrest, der nicht mehr über den Rand zu schäumen vermochte.

So schmerzgefangen ihre Seele auch war, so grauenhaft sie auch das Gefühl überwältigte, als sei ihr heute das Herz in der Brust umgewendet – die stereotype, pflichtgetreue Thätigkeit eines ganzen Lebens ließ sie mechanisch nach den Fensterflügeln greifen und sie öffnen; sie riß den Topf vom Feuer und den brennenden Braten aus der Röhre, um Beides auf den steinernen Tisch zu stellen – dann ging sie hinaus und rief einer der erschrockenen, noch am Mauerpförtchen schwatzenden Mägde zu, nach dem Hausarzt zu laufen.




35.

Inzwischen stand Donna Mercedes neben Veit. Er lag einen Augenblick still, aber unter den halbgeschlossenen Lidern sah man nur das Weiße des Auges, und von Zeit zu Zeit knirschte er mit den Zähnen. Mercedes wischte ihm den Schaum vom Munde, tauchte ihr Taschentuch in ein auf dem Tische stehendes Glas Wasser und legte ihm den kühlen Umschlag auf den Kopf.

Die schlanke, schneeweiße Frauengestalt hob sich seltsam von den Wänden der urdeutschen Bürgerstube, und sie selbst sah sich fremd und staunend um, als sei sie unversehens aus blauen Lüften in düstere, unterirdische Regionen gefallen.

In modernen, luftigen Plantagenhäusern mit üppig heiteren Wandmalereien und weißen, grünumrankten Marmorperistyls war sie groß geworden, und auf deutschem Boden hatte sie, nach Verlassen der eleganten Salons und Cabinen auf dem Dampfschiff, der Schillingshof aufgenommen. Noch nie war ihr Fuß über so uralten Bretterboden gegangen; noch nie hatte sie ein solches Ofenungethüm gesehen, wie es dort in der Ecke dräute. An dem mächtigen Bogenfenster, vor dessen unteren Scheiben nur ein Paar grüne, ausgeblichene Wollgardinen in Ringen liefen, der wunderlichen Holzgallerie mit den geschnitzten Heiligenbildern, den schweren Thüren in den klaftertiefen Wölbungen schlich der Geist vergangener Jahrhunderte hin, und so peinlich und unheimlich auch die Situation war, in welcher sich Mercedes augenblicklich befand, es wurde ihr doch so traumhaft zu Sinne, als lebe und athme sie in der Zeit, aus welcher die deutschen Sagen und Märchen erblüht sind.

Die Majorin kam wieder herein. Sie bog sich forschend über den Knaben und horchte auf seine Athemzüge; dabei sah sie empor zu dem alten Mann, unter welchem der jüngste Sproß seines Hauses, ein markloser Schößling, mit einer der Familie fremden, unheilvollen Krankheit behaftet lag. Und den Blick starr auf das Bild geheftet, als sei sie nur so fähig zu sprechen, sagte sie kurz zu Hannchen:

„Werden Sie von dem soeben Erlebten für Ihre Zwecke Gebrauch machen?“

Die Augen des Mädchens glühten auf wie im Fieber.

„Ganz gewiß werde ich das, Frau Majorin,“ erklärte sie unumwunden und streckte energisch die Hand aus, als lege sie Beschlag auf das unselige Geheimniß. „Ich wäre nicht werth, daß mich die Sonne bescheint, wenn ich schwiege. Und wenn Sie mir Ihr ganzes Vermögen schenken wollten, um mein Schweigen zu erkaufen, ich nähme es nicht. Ich gehe freudig von Haus zu Haus betteln, wenn ich nur sagen darf: Mein lieber, lieber Vater [595] ist unschuldig gestorben – er hat seinen alten Herrn nicht betrogen – Gott sei Dank, Gott sei Dank!“ Sie preßte inbrünstig die Hände auf die Brust.

„Sie haben Recht, und ich – habe meine Schuldigkeit gethan.“ Die Majorin wandte sich von dem Portrait ihres Großvaters ab und stieg die Gallerietreppe hinauf, in die Mauertiefe hinein.

Sie sah im Salon Deborah bei den Kindern stehen, auch Mamsell Birkner war da und blickte ihr mit namenlos erschreckten Augen in das Gesicht. Das Tageslicht, das vom Salon hereinfiel, zeigte ihr, daß die glatte, braune Holzfläche unter den Schnitzarabesken an dieser Stelle eine Thür war, die augenblicklich zurückgeschlagen an der Innenwand lehnte. Seitwärts tretend, um sie vorzulegen, stieß die Majorin mit dem Fuß an einen Gegenstand in der dunklen Ecke; sie bückte sich und nahm ihn auf, und nachdem sie die Thür zugedrückt hatte, schritt sie die Steinstufen wieder herab; sie trug ein silberblinkendes Kästchen in der Hand.

Einen Augenblick stand Donna Mercedes blaß und bewegungslos da wie eine Bildsäule; dann sagte sie mit bebender Stimme: „Nun können Sie Felix’ letzten Brief an seine Mutter lesen – er ist in Ihren Händen.“

„Ich wußte es ja, daß die Mäuse vom Klostergute dagewesen waren,“ murmelte Hannchen, und jenes stille, bittere Lächeln, welches Lucile und die Leute des Hauses für ein Zeichen des Irrsinns erklärt hatten, hob ihre Lippen leicht von den schönen Zähnen. „Aber das geht mich nichts an, gar nichts,“ setzte sie rasch und erröthend hinzu, als schäme sie sich einer unbedachten Bemerkung.

Das Kästchen war auf die Dielen gepoltert, und die Majorin schlug die Hände vor das Gesicht, Veit aber verfiel unter einem schrillen Aufschrei auf’s Neue in heftige Zuckungen.

In diesem Augenblicke sah die Magd durch die Thür der Eßstube herein und meldete, daß der nahe wohnende Arzt sogleich kommen werde.

Die Majorin raffte sich auf; sie ging nach der Thür und schloß sie vor der Nase der verblüfft und neugierig Herüberlauschenden. „Ich habe noch einen harten Strauß auszufechten,“ sagte sie mit ihrer früheren harten, unerbittlichen Stimme zu Donna Mercedes. „Gehen Sie jetzt zu meinen Enkeln! Ich komme nach, wenn ich – zu Ende bin.“

Hannchen hob das Kästchen auf und verbarg es unter einem zustimmenden Blicke der Donna Mercedes in den Schürzenfalten.

Beide kehrten in den Salon zurück, und die Majorin schloß hinter ihnen die braune Holzthür; auch die seltsame Polsterwand, aus deren geborstenem Leder Roßhaare und Wergbündel quollen, legte sie vor und versuchte, den in die Amtsstube mündenden Eingang zu verschließen. Es gelang ihr bis auf eine schmale, klaffende Fuge – sie wußte ja nicht, daß der Eisenstift, welcher den Verschluß bewirkte, in der ehemaligen Orgelbehausung zu suchen war.

Als der Arzt kam, fand er die Frau blaß, aber vollkommen gefaßt, in ihrer bekannten strengen Haltung neben dem erkrankten Knaben sitzen. Er selbst war tief alterirt über das Grubenunglück, das die ganze Stadt in Aufruhr versetzte, und begann schon beim Eintreten davon zu sprechen. Allein die Majorin zeigte stumm auf Veit, und er fuhr sichtlich erschrocken zurück, als sein Blick auf das Kind fiel. Nun forschte er nach der Ursache des Anfalles, constatirte eine heftige Gehirnerschütterung in Folge des Sturzes und erklärte die Erkrankung für einen „sehr schweren Fall“, von welchem der Vater sofort in Kenntniß gesetzt werden müsse. Ohne Verweilen sandte er einen Boten fort....

Es hatte lange, lange Zeit ein unveränderlicher Glücksstern über dem alten Klostergute gestanden. Er hatte Sonnenschein und Regen, Säen und Ernten wohl behütet, auf daß die goldene Frucht des Reichthums, des Familienansehens immer üppiger anschwelle, und als das biderbe Geschlecht zu erlöschen drohte, da war er scheinbar noch einmal höher aufgeglüht und hatte die kümmerliche Menschenblüthe angestrahlt, die der alte Stamm getrieben – nahezu mit dem ersten Augenaufschlag des Kindes zugleich war ja die neue Goldquelle im kleinen Thale für die Wolframs zu Tage gesprungen – und nun erlosch er urplötzlich. Nicht heraufziehende, wieder verwehende Wolken verdeckten sein Licht, nein, er zerstob in Trümmer und riß den Wolfram’schen Namen mit sich in die ewige Nacht. –

Hier, im Klosterhause, hing die Hoffnung des Wolfram’schen Geschlechtes an einem dünnen Fädchen, draußen im Thale aber empörte sich fast zur gleichen Stunde ein furchtbares Element gegen die Hand, die gierig und räuberisch in den Eingeweiden der Erde gewühlt hatte, um Schätze auf Schätze zu häufen – die Nemesis ging schweren Trittes über den Schuldigen hinweg, aber sie zertrat dabei auch Menschenleben, die nicht mitgesündigt hatten.

Man hörte auf dem Schauplatze des Unglückes immer noch Hülferufe aus der Tiefe, allein den Abgesperrten, die das Wasser in unerbittlicher Consequenz unter sich steigen sahen, ohne daß sie auch nur noch um eine Linie höher zu klettern vermochten, war schwer beizukommen. Was Menschenkraft vermochte, das geschah. Man arbeitete, daß das Blut unter den Nägeln hervortrat, und der Rath war der Thätigsten Einer, aber das beschwichtigte und versöhnte die Gemüther nicht.

Alles, was sich an Haß und Groll seit langen Jahren in der Bevölkerung gegen den reichen, gewaltthätigen ehemaligen Oberbürgermeister aufgespeichert hatte, es kam jetzt zum Austrag. Er war stets mit malitiösem Lächeln an den Leuten vorübergegangen, wenn sie mit bösen Blicken, aber dennoch unterwürfig den Hut vor ihm gezogen; denn ein Mächtiger war und blieb er auch noch nach seinem Rücktritte vom öffentlichen Amte, ein Mächtiger an Capital und Einfluß.

Jetzt lächelte er nicht der murrenden Menge gegenüber. Alles, was an schmähenden und beschuldigenden Zurufen sein Ohr traf, sagte ihm mit vernichtender Kritik, daß er nicht allein tödtlich gehaßt, sondern auch verachtet werde, daß der alte Klaus nicht wiederkommen dürfe, weil er sehen müsse, daß Einer seiner Nachkommen das alte Ansehen der Wolframs beim Publicum durch seine zuchtlose Habgier, sein brutales und anmaßendes Auftreten völlig untergraben habe.

In diesen inneren und äußeren Sturm hinein kam die ärztliche Botschaft vom Klostergute. Das zum Hinablassen in die Tiefe bestimmte Seil, welches der Rath eben herbeischleppte, entfiel seinen Händen; einen Augenblick stand er wie vom Blitz getroffen; dann verließ er seinen Rettungsposten, um nach der Stadt zu eilen.

Zwar hatte die Gensdarmerie bereits eine Art engen Cordons um die Unglücksstätte zu ziehen gewußt, aber die Menschenmassen, denen immer neue von der Stadt her zuströmten, standen doch so nahe und dichtgedrängt, daß sich die Fortgehenden eine förmliche Bresche erzwingen mußten.

„Haltet ihn! Er will entwischen, weil er weiß, daß den armen Teufeln da unten nicht zu helfen ist,“ rief es plötzlich aus der Menge, durch welche sich der Rath den Weg suchte.

Sofort griff ein Dutzend Hände nach ihm – der Hut flog ihm vom Kopfe; sein Rock wurde zerrissen, und die wüthende Masse hätte den Verhaßten zertreten, wenn nicht die Sicherheitsbeamten zu seinem Schutz herbeigeeilt wären und ihn bis zu den ersten Häusern der Stadt begleitet hätten.

Ohne Hut, mit Staub und Schweiß bedeckt, verstört im Gesicht bis zur Unkenntlichkeit – so trat er in die Amtsstube.

„Was ist mit Veit?“ stieß er athemlos heraus, und in seiner Stimme mischte sich mit der bebenden Angst doch auch noch der Ingrimm über die eben erlittene Mißhandlung. An die dunkle Macht, die bereits mit einem Fuß in seinem Hause stand, an den Tod seines Lieblings, schien er doch, trotz der dringenden Botschaft des Arztes, nicht im Entferntesten zu denken.

Der Knabe lag augenblicklich wieder ruhig – bei flüchtigem Hinsehen konnte man meinen, er schlafe.

„Er hat einen seiner gewöhnlichen Anfälle gehabt,“ sagte der Rath erleichtert, aber auch fast überlegen und im Ton impertinenter Zurechtweisung dafür, daß man ihm um deswillen einen solchen Schrecken eingejagt habe.

„Ja – die Anfälle wiederholen sich nur in etwas rascher Aufeinanderfolge,“ versetzte der Arzt ohne alle Empfindlichkeit, aber auch ohne den Rath anzusehen. Er hatte sich an einen Tisch gesetzt und schrieb mit dem Bleistift ein neues Recept.

„Wie kommt das?“ fragte der Rath immer noch unbesorgt.

„Er hat eine Gehirnerschütterung erlitten; er ist gestürzt –“

„Vom Birnbaum?“

„Nein,“ sagte die Majorin vom Fenster herüber. Sie hatte sich beim Kommen ihres Bruders in die tiefe Mauernische zurückgezogen und war bis jetzt nicht in seinen Gesichtskreis getreten. [596] Er fuhr herum, und ein diabolisch triumphirendes Lächeln schlüpfte um seinen Mund. „Ei, da bist Du ja, Therese!... Wie – ich meinte vor wenigen Stunden wirklich, es sei ein Auseinandergehen für’s ganze Leben; so tragisch war Deine zurückweisende Geste. – Und nun hast Du doch den Weg auf das Klostergut zurückgefunden?“

„Ja, einen seltsamen,“ bestätigte sie in fast geisterhaftem Ton, während der Arzt das Zimmer verließ, um sein Recept fortzuschicken.

Der Rath schwieg betroffen und fast verwirrt durch den verachtungsvollen Drohblick, der ihm aus den dunklen Augen entgegenfunkelte. Aber er hatte ja nicht die leiseste Ahnung von dem, was geschehen war, und so kam ihm plötzlich die Gewißheit, daß die Schwester nicht reumüthig, wie er im ersten Augenblick triumphirend gemeint hatte, sondern nur in der Absicht zurückgekehrt sei, das Ihrige zu holen und einzufordern. Eine stille Wuth kochte in ihm.

„Seltsam allerdings,“ wiederholte er spöttisch ihren eigenen Ausspruch. „Es fragt sich dabei nur, ob er auch mir convenirt, ob ich Dir nach einem solchen Fortgehen das Wiederkommen sans gêne in meinem Hause gestatten will. Und darauf hin sage ich Dir: Mit nichten, meine Therese! Wir haben nichts miteinander zu schaffen, und zu dem Giebelzimmer steht Dir der Weg nicht mehr offen – hier ist der Schlüssel!“ Er schlug gegen die Brusttasche seines Rockes. „Willst Du mehr wissen, so wende Dich an das Gericht. Dort werde ich Dir schon antworten.“

Das Blut wallte in ihr nach dem Gehirn und raubte ihr den letzten Rest von Besonnenheit.

„Ach so, Du willst mich als Bettlerin vom Klostergut jagen?“ rief sie mit heiserer Stimme. „Du glaubst, ich krieche aus Angst um mein rechtmäßiges Hab und Gut zu Kreuze, während ich doch nur hier stehe, um Dich zu fragen, wie der letzte Brief meines Sohnes an seine unglückliche Mutter in Deine Hände gekommen ist?“

Er wurde kreideweiß, lachte aber doch sofort hart und gezwungen auf.

„Ein Brief des Landstreichers? Wie möchte ich mir damit die Finger beschmutzen!“

Die Majorin biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien vor Empörung und wahnsinnigem Mutterschmerz. „Dann soll ich wohl denken,“ murmelte sie und trat ihm näher, „Du habest das Kästchen an Dich genommen um seines Silberwerthes willen?“

Er prallte zurück, als öffne sich die Erde zu seinen Füßen.

Mit gehobenem Arm zeigte sie auf die klaffende Fuge in der Holzwand, fast wider Willen folgten seine Augen der Richtung, und ein jäher Schrecken durchfuhr ihn.

Dort ist Veit gestürzt – er ist Dir auf Deinem Schleichweg nachgegangen bis in das Zimmer des fremden Hauses,“ sagte sie mit gedämpften aber harter, unerbittlicher Stimme. „Dort hast Du einst gestanden und dem alten Freiherrn sein Geheimniß schurkisch abgelauscht; den Weg der Schmach bin ich vorhin von dort herübergegangen, und mit mir Adam’s Tochter. Das Mädchen jubelt, und nicht um alle Reichthümer der Welt wird sie den Mund verschließen – sie schweigt nicht. Morgen wird man an allen Straßenecken der Stadt Feuerjo! schreien über den Scandal auf dem Klostergute, über den Spion, den ehrlosen Schleicher, der die Nachbarhäuser unsicher macht –“

„Schweige – oder ich erwürge Dich mit diesen meinen Händen!“ raunte er und schüttelte seine geballten Hände dicht vor dem Gesicht der Schwester. „Glaubst Du, ich gehe solch einem Spatzenschrecken, wie ihn der Weiberklatsch da drüben zurechtgemacht hat, aus dem Wege? Meinst wohl gar, ich solle mein Bündel schnüren und mit meinem Jungen eines solchen hirnlosen Gewäsches wegen Haus und Hof verlassen, damit Du Dich mit Deiner Brut hineinsetzen kannst? Das Schlupfloch kenne ich“ – er deutete nach der Fuge – „aber wer will mir beweisen, daß ich je darin gewesen bin?“

Er stieß ein wildes, halbunterdrücktes Hohngelächter aus und sprang mit einem Satz die Gallerietreppe hinauf. Es war das Werk einer Secunde, daß er die neue Wandschrankthür zurückschlug, mit einem Arm in die Tiefe griff und geräuschlos den festen Schluß der Holzwand bewerkstelligte.

Wie ein listiges Raubthier stand er da mit den geschmeidigen Bewegungen seiner immer noch elastischen Gestalt, ungebeugt, sichtlich entschlossen, der Wucht der auf ihn einstürmenden Ereignisse mit an seiner wilden Energie, seiner juristischen Meisterschaft die Stirn zu bieten.

Sorgfältig schloß er die Schrankthür zu und wollte eben den Schlüssel herausziehen; aber er blieb plötzlich wie erstarrt in dieser Stellung stehen und wandte nur den Kopf mit dem Ausdruck eines jähen Entsetzens nach dem Sopha, auf dem Veit’s Körper wieder von den Krämpfen gepackt und grauenhaft, fast schraubenförmig verdreht und emporgehoben wurde; dabei entrang sich anhaltendes, schrilles Pfeifen der gepreßten kleinen Kehle.

Unwillkürlich fuhr der Rath mit den Händen nach dem Kopfe.

„Um Gottes willen, was ist das, Doctor?“ rief er dem Arzt entgegen, der eben wieder in das Zimmer trat.

Der Doctor zog die Schultern empor, und zu dem Kranken tretend, versetzte er gedrückt:

„Ich sagte Ihnen ja schon von der beängstigend raschen Aufeinanderfolge der Anfälle.“

Wie ein Wahnwitziger eilte der Rath die Stufen herab.

„Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Gefahr vorhanden sei?“ stotterte er ton- und athemlos.

Der Arzt schwieg.

„Mann, foltern Sie mich nicht! Muß – muß mein Veit sterben?“ stöhnte er und schüttelte den Arm des Mannes.

„Meine Hoffnung ist eine ganz geringe.“

„Lüge! Wahnwitz! Sie sind ein Stümper – Sie haben keine Ahnung von einer Diagnose. Da sollen und müssen mir Andere her.“

Er stürzte hinaus, und nach wenigen Secunden liefen die Mägde und einige inzwischen aus dem kleinen Thal zurückgekehrten Taglöhner nach allen Richtungen hin, um die Aerzte, deren sie habhaft werden konnten, herbeizuholen. – –

Einige Stunden später lag ein völlig gebrochener Mann zu Füßen des Lagers, auf welchem ein junges Leben in rapider Schnelligkeit seiner Auflösung entgegenging – mit dem letzten Pulsschlag dieses jungen Herzens wurde er selbst in das Nichts hineingerissen. Was war er ohne das eine Ziel, dem er in fieberhafter Anstrengung, über Ehre und Gewissen hinweg, unausgesetzt Goldklumpen zugewälzt? Er hatte für seinen Abgott nach jener Höhe gestrebt, an deren Fuß sich das „Menschengesindel“ zusammendrängt und ehrfürchtigen Blickes hinaufschaut zu dem Capital, das von einem blendenden Nimbus umfunkelt wird, mag es auch mit dem boshaftesten Menschenantlitz in die Welt hineinblicken, mag sein Träger an Geist, Fleisch und Bein die kümmerlichste Jammergestalt sein.

Nun hatte er sich mit halberschöpfter Körperkraft und verlorener Seele hinaufgearbeitet; nun stand er droben und sah – in ein Grab, und in den Staub und Moder hinein konnte er seine Schätze nicht werfen. Wohin damit?

Er hatte die Hälfte dessen, was er zusammengescharrt, den Aerzten geboten für ihre rettende Hülfe; er hatte gerast und sich mit den Fäusten die Brust zerschlagen und in wahnsinniger Verzweiflung Gott angerufen und ihn zugleich verlästert und seine Allmacht und Barmherzigkeit mit dem beißendsten Hohn in Frage gestellt – und inzwischen waren die Krämpfe des Knaben in immer kürzeren Intervallen mit grauenhafter Consequenz wiedergekehrt; nicht ein einziges Mal mehr hatte ihn der kluge Blick, der sein Stolz gewesen, bewußt gesucht. Das Denken war längst erloschen, während der Körper noch rang und kämpfte – dieser Körper, den er einst wie ein Königskind in jauchzendem Glücksgefühl aus den Händen der Hebamme entgegengenommen, den er in Daunen, unter grünseidenem Baldachin gebettet.

Angesichts dieses entsetzlichen Endes stieg der Anfang, stiegen jene Tage, da Veit geboren wurde, in grausamer Deutlichkeit vor ihm auf. Er sah sein Weib sterben – sie hatte ihre Schuldigkeit gethan und konnte die Welt getrost verlassen, hatte er damals hartherzig gemeint und keinerlei Schmerz empfunden. Er sah die wahrhaft fürstlichen Zurüstungen zu dem Taufschmaus im ehemaligen Refectorium der Mönche, sah „die stolze Gevatterschaft in Sammet und Seide“ glückwünschend unter den Myrthen- und Orangenbäumen stehen – aber er hörte auch das nervenerschütternde Krachen, mit welchem die uralte Orgel am Tage nach Veit’s Geburt in sich zusammengebrochen war.

Und er vergrub das Gesicht tiefer in die Decke, welche den zuckenden Körper seines Kindes verhüllte. Er wollte nicht mehr

[597]

Obdachlos.
Nach dem Gemälde von A. Heyn.

Was Feuers Wuth ihm auch geraubt,
Ein süßer Trost ist ihm geblieben:
Er zählt die Häupter seiner Lieben,
Und sieh, ihm fehlt kein theures Haupt.

[598] denken, er wollte nicht mehr die grauenvolle Stimme hören, die ihm in das Ohr flüsterte, daß dort in der Mauertiefe auch Anfang und Ende beisammen lägen, daß sich sein Veit in diesem Augenblick wohl draußen unter dem strahlend blauen Spätnachmittagshimmel fröhlich und ausgelassen tummeln würde, wenn die alten, zinnernen Pfeifen, die Holzengel noch an dem Platze ständen, wo sie die Hand des musikbegabten Abtes aufgestellt, und wo sie Jahrhunderte hindurch harmlos auf die harten aber braven Köpfe der Wolfram’s, auf ihr Thun und Treiben niedergesehen, nie verrathend, daß ein Schleich- und Diebsweg neben ihnen die Wand durchbohre. Verflucht, verflucht bis in alle Ewigkeit sollte der Tag sein, wo sich das Geheimniß dem letzten Wolfram enthüllt und er der Versuchung erlegen war.

So war die Nacht hereingebrochen, und ein Arzt nach dem andern hatte sich verabschiedet; nur der geschmähte alte Hausdoctor war geblieben, und die Majorin hatte es nicht vermocht, vom Klostergut zu gehen, während dort ihr heißgeliebter Familienname mit seinem jüngsten Träger für immer erlosch.

Sie hatte für diese wenigen Stunden das Regiment im alten Vaterhause stillschweigend wieder übernommen. Es war ihr zu Muthe, als müsse sie sich verbluten und sterben an den tiefen Wunden, die ihr der heutige Tag geschlagen, aber sie ging umher mit dem blassen Steingesicht, wie es die Leute des Hauses an ihr gewohnt waren. Sie holte das Nöthige aus der Speisekammer, und auf dem Herde brodelte, ihrem Befehl gemäß, ein warmes Abendbrod für das Gesinde, welches um sein Mittagessen gekommen war. – Aus dem kleinen Thale kam eine Nachricht um die andere, dringende Botschaften voll Jammer und Unglück – sie ließ keinen der Boten hinein zu dem Mann, der nun nicht mehr helfen konnte und am Sterbebette seines Kindes furchtbar büßte, was er gesündigt.

Ihr Bruder sah sie nicht. Er hob nur einmal den Kopf und knirschte wie ein Wahnwitziger mit den Zähnen, als ihm eine der Hausmägde mitleidig ein Glas mit Wein gemischten Wassers als Labung bot – er stieß voll Abscheu den Trunk von sich. Auch den treu ausharrenden Arzt beachtete er nicht. Er seufzte nur tief auf, und ein Schauder lief durch seine Glieder, wenn sich die kleinen Füße, neben die er seinen Kopf gelegt hatte, zwar immer matter, aber in pünktlicher Wiederholung der Krämpfe zusammendrehten.

Es wurde immer stiller in der Amtsstube. Das Plätschern des Laufbrunnens im Vorderhof drang eintönig durch das offene Fenster herein, und daneben war es, als gehe ein Erschauern durch die Lindenwipfel – der Nachtwind schlich durch die Blätter, kam wie auf Geistersohlen über den Steinsims her und rührte an die Papiere, die auf dem Tisch in der Fensterwölbung lagen.

Nun schlug es draußen auf dem Benedictinerthurm die elfte Stunde, und ehe noch der letzte Schlag verhallt war, streckte sich der Körper des Sterbenden in seiner ganzen Schlankheit aus, und als der Rath mit einem Schrei aufsprang und sein Ohr an den geöffneten Kindermund legte, da war schon der letzte Athemhauch Veit’s in den Lüften verflogen.

Minutenlang hielt der Rath den entseelten Körper an die Brust gedrückt und küßte wiederholt das noch warme, kleine Gesicht; dann strich er das Kopfkissen zurecht, bettete den Kopf des Knaben vorsichtig darauf, schloß ihm die Lider über den starren Augen und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, schweigend hinaus.

Die Majorin hatte sich in die unbeleuchtete Eßstube zurückgezogen. Die Thür stand offen, und so konnte sie das Sterbelager im Auge behalten. Sie hörte, wie der Rath ohne Aufenthalt die Hausflur und den Vorderhof durchschritt und das Mauerpförtchen hinter sich zufallen ließ.

„Er geht wohl nach dem kleinen Thale,“ flüsterte der Arzt, als sie lautlos zu ihm trat. „Und so schlimm es draußen auch stehen mag, für ihn ist es gut so. Es treten schwere Aufgaben an ihn heran, und die werden ihm über seinen großen Schmerz hinweghelfen.“

Auch er verließ das Haus. Die Majorin schloß die unteren Fenster der Amtsstube, zog die Gardinen vor und öffnete dem Luftzug die oberen Flügel. Einen Augenblick verharrte sie erschüttert vor der Leiche des Knaben, der nur über die Erde gegangen war, um mit jeder seiner kleinen Fußstapfen Unheil und Leiden für Andere aus dem Boden zu stampfen – und sie legte die Hand auf die Brust und sagte sich, daß auch sie voll Schuld sei, daß sich ihr glühender, fast frevelhafter Wunsch, den Wolfram’schen Namen fortleben zu sehen, in seiner Erfüllung strafend auch gegen sie selbst gerichtet habe.

Sie löschte das Nachtlicht aus, schloß die Thüren und ging in die Küche. Dort kauerten die Mägde auf der Thürschwelle und waren ermüdet eingeschlafen. Ohne sie zu wecken, zog sie den Docht zu einem ungefährlichen Flämmchen tiefer in die Lampe und ging hinaus, über den Hof hinweg in den Garten. Sie wußte zum ersten Male in ihrem Leben nicht, wohin sie ihr Haupt legen sollte. Der Rath hatte sie aus seinem Hause gewiesen, und den Schlüssel zu dem Giebelzimmer, dem Raum, der trotz alledem augenblicklich noch ihr unbestrittenes Eigenthum war, trug er in der Tasche. So setzte sie sich auf die Gartenbank und wollte das Frühroth erwarten, um dann am Schillingshof um Einlaß anzuklopfen.

Die Sterne funkelten in seltener Pracht über dem Klosterhause, über den alten Giebeln und Mauern, in denen sie als glückliches Kind gespielt, als stolze Braut geträumt und als Frau und Mutter unbeschreiblich gelitten hatte – durch eigenes Verschulden. Und was der Tag mit seinen Stürmen nur halb vollzogen, das vollendete nun die stille, schweigende, feierliche Nacht – die Läuterung der Frauenseele, die sich selbst heute Nachmittag noch einmal erbittert, voll auflodernder Eifersucht und Rachegefühl empört hatte bei der Nachricht, daß der böslich verlassene Mann, der heute noch geliebte, mit einer Andern glücklich geworden war und sie, die Unversöhnliche, vergessen hatte. Da hatte sie mit sich ringen müssen, um nicht plötzlich voll Haß mit den Händen nach der herrlichen Frauengestalt zu stoßen, die das Kind jener verhaßten „Zweiten“ war. Aber auch das war nun vorüber und niedergekämpft zu den Schlacken, die der sturmvolle Läuterungsproceß von ihrer Seele schüttelte.

Am andern Morgen lief die erschütternde Nachricht durch die Stadt, daß der Herr Rath Wolfram selbst in seinen Gruben verunglückt sei. Die Leute erzählten, er sei des Nachts wie ein Trunkener oder ein vom Schwindel Befallener zu ihnen hinausgekommen, sei allen Abmahnungen zum Trotz mit der Rettungsmannschaft in die Gruben hinabgefahren und plötzlich, kaum nach Beginn der Einfahrt, lautlos von ihrer Seite verschwunden – der Schwindel müsse ihn in die gähnende Tiefe hinabgerissen haben.




36.

Große Aufregung herrschte in allen Kreisen der Stadt. In wenigen Stunden hatte durch Wolfram’s Schuld eine Schaar kräftiger Männer, Väter und Söhne, eines furchtbaren Todes sterben müssen. In all dem Jammer, der grenzenlosen Erbitterung war es deshalb Vielen ein wahrer Trost, eine tiefe Genugthuung gewesen, daß der Rath Wolfram die ganze Schuld allein auf seine Schultern werde nehmen müssen.... Nun war er selbst das Opfer der Katastrophe geworden, noch dazu in derselben Nacht, wo er sein einziges Kind hatte sterben sehen. Vielen war das die sichtbare Hand Gottes, die ihn strafend in die Tiefe geschleudert, Andere aber munkelten bereits, daß sein jähes Ende nicht ohne seinen eigenen Vorsatz erfolgt wäre....

Ueber die Todesart Veit’s verlautete noch nichts im Publicum. Groß war die Sensation im Schillingshofe. Hannchen war sofort in das Atelier gegangen und hatte dem Herrn des Hauses das Geschehniß angezeigt, und Mamsell Birkner hatte auch keine Veranlassung gehabt, im Souterrain über Adam’s glänzende Rechtfertigung zu schweigen. Die Nachricht hatte wie eine Alarmtrommel das ganze Dienstpersonal zusammengetrieben.... Wie – es war nicht der Geist des armen Bedienten gewesen, der hinter den Holzwänden des Salons gespukt hatte? Wirkliche Finger und Füße von Fleisch und Bein hatten an der spukhaften Stelle getappt und getastet, und das vermeintliche Gespenst wandelte stolz und hochmüthig durch die Straßen der Stadt, ließ sich „Herr Rath“ tituliren, war der Reichste unter den Reichen im weiten Umkreise und hatte es nie der Mühe werth gefunden, den ehrlichen Domestiken des Schillingshofes für ihren ehrerbietigen Gruß auch nur mit einem Augenwink zu danken?

Nie hatten sich die braven Leute so viel in der Flurhalle und im Corridor zu schaffen gemacht, wie an diesem Nachmittage, wo sie hofften, durch eine offengelassene Thür einen Einblick in [599] den interessanten Salon zu gewinnen und die Verwüstung zu begucken, die der „tapfere“ Pirat mit der Wucht seines Sprunges angerichtet. Allein Jack stand wie eine schwarze Marmorfigur ernsthaft vor der Thür, und die stolze Bewohnerin des Zimmers, die sonst immer um diese Zeit in den Garten ging, verließ heute nicht ihre Gemächer.

Zudem erschien plötzlich Baron Schilling, und wenn er auch, durch Jack angemeldet, nur für wenige Minuten im Salon verblieben war, um sich als Herr des Hauses vom Sachverhalte zu überzeugen, so konnte er doch jeden Augenblick wieder kommen, und der finster, verweisende Blick, mit welchem er die Wißbegierigen in der Flurhalle gemessen hatte, war Allen in die Glieder gefahren.

Am Morgen des anderen Tages aber standen sie doch schon wieder insgesammt am Eisengitter des Vorgartens; sie schielten flüsternd nach dem Klosterhause und sprachen mit den Vorübergehenden, die auch zu Haufen stehen blieben – der Bäckerjunge hatte die Nachricht vom Tode des Rathes mitgebracht.

Die Leute waren nicht wenig erstaunt, als eine Magd vom Klostergute mit verweinten Augen hastig und schweigend an ihnen vorüber nach dem Säulenhause schritt und gleich darauf mit Donna Mercedes zurückkam. Sie hielt sich in scheuer Entfernung hinter der schönen, schlanken Frau, die ein schwarzes Spitzentuch über den Kopf und die Büste geworfen hatte und die kleine Paula an der Hand führte.

Alles wich scheu zur Seite vor der schwebenden majestätischen Erscheinung, die mit ihren feinbekleideten Füßen zum ersten Mal das Trottoir hinter dem Eisengitter betrat, um gleich darauf im Mauerpförtchen des Klostergutes zu verschwinden.

Es war der Majorin nicht so gut geworden wie sie gehofft und gewünscht: sie hatte nicht am Schillingshof anklopfen und Einlaß begehren können, um bei den Enkeln, den einzigen Wesen auf der Welt, die zu ihr gehörten, Trost und Beruhigung zu suchen. Als der erste Schein des ersehnten Frührothes am Himmel aufgeflogen war, die Vögel im Gebüsch sich geregt und die Haushähne auf dem Hinterhof ihren Weckruf in die Morgenstille hineingeschickt hatten, da war auch ein seltsames Raunen und Regen jenseits des Hintergebäudes laut geworden. Sie hatte gehört, wie die Mägde nach ihr riefen und sie im ganzen Hause suchten. Aber sie hatte sich nicht finden lassen wollen; für sie gab es keinen Weg mehr zu dem Bruder zurück.

Sie war von der Bank aufgestanden und an die Thür geflohen, die in die öde Straße führte, bis der alte Knecht des Hauses, Thomas, suchend den Kopf durch die Gartenthür gesteckt und ihr eine grauenhafte Botschaft nachgerufen hatte.

Vorbei war Alles, Alles! – Auf der verhüllten Tragbahre, die man inmitten der Hausflur niedergestellt, lag das Ende eines mehr als dreihundertjährigen Wirkens und Strebens, lag der Stürmische, Gewaltthätige, der zuletzt mit bösen Dämonen gerechnet, in der wahnsinnigen Sucht, Alles weit zu überbieten, was die Altvorderen geleistet.

Thränenlosen Auges war sie nach dem Refectorium gewankt, hatte die Thür weit zurückgeschlagen und den Leuten stumm gewinkt, den letzten Herrn des Klostergutes in das stolzeste Zimmer des Hauses zu tragen. Sie hatte eigenhändig seinen kleinen Sohn neben ihn gebettet und dann an den getäfelten Wänden die massiv silbernen Armleuchter befestigt, die zum letzten Mal bei Veit’s Taufe gestrahlt hatten; noch einmal sollte ihr Kerzenlicht aufflammen – dann leuchteten sie keinem Wolfram wieder.

Wie eine Schlafwandelnde ging sie umher; ihre Schläfen hämmerten, und ihr Blut fieberte, aber was geschehen mußte, das wurde gethan mit fast übermenschlicher Selbstüberwindung, und später, als es im festverschlossenen Hause still geworden war, ließ sie Donna Mercedes sagen, sie könne heute nicht kommen – sie müsse Todtenwache auf dem Klostergute halten.

Da war es nun freilich, als schwebe über den Grüften, die sich in der einen verhängnißvollen Nacht aufgethan, eine holde Psyche empor – das kleine, blondlockige Mädchen im weißen Kleide flatterte an Donna Mercedes’ Hand in die düstere Flur des Klosterhauses, aber es sah sich plötzlich mit großen, erschreckten Augen um und steckte das kleine Gesicht in die Kleiderfalten der Tante, genau so wie es einst der arme, kleine Knabe im blauen Sammetröckchen gethan.

Und die Frau, die damals ihr Kind heftig gescholten hatte, weil sie stets der Meinung gewesen war, es gäbe nichts Stolzeres, Gediegeneres, kein Haus, das mehr anheimeln könnte, als ihr Vaterhaus auf dem Klostergute, sie ließ jetzt unwillkürlich den Blick über die Wände und das schwarzbraune Deckengebälk hinfliegen, und da war es, als sei droben Alles verschoben und verzogen, wie ein über Nacht gealtertes, aus den Linien gegangenes Gesicht, als sei mit dem letzten gebrochenen Manneswillen, der drinnen auf der Bahre lag, auch das uralte „Falkennest“ der Wolframs morsch geworden, und die schiefen Balken müßten demnächst wie Spähne zersplittern unter der Wucht der von oben herabstürzenden Mauertrümmer, in welche der düstere Mönchsbau zusammensinke.

„Meines Bleibens ist hier nicht länger, als es die Pflicht verlangt,“ sagte sie, wie unbewußt, mit zuckenden Lippen, und nahm das Kind vom Boden auf, um es beruhigend an ihr Herz zu drücken; Donna Mercedes aber streckte sie lebhaft, wie von einem plötzlichen unwiderstehlichen Impuls getrieben, ihre Rechte hin. Die majestätische junge Frau, die stolzes Geblüt in den Adern hatte, war gekommen wie eine treue Tochter, um ihr Trost zu bringen und sie zu stützen, nicht darauf achtend, daß sie damit öffentlich ein Haus betrete, welches das Verbrechen entehrt hatte. Und war sie auch sein und der bittergehaßten „Zweiten“ Kind – so dachte die Majorin für sich – sie war doch auch Felix’ Schwester, dieselbe, die den Bruder zärtlich geliebt und gepflegt hatte bis an sein frühes Ende, sie war neben den zwei Kindern die einzige Ueberlebende – alle Anderen schliefen unter der Erde, der Rache entrückt. Die Majorin hätte sich den Dolch in’s eigene Fleisch gestoßen, wenn sie das Rachewerk auch auf die Unschuldige erstreckte, auf die Einzige, mit welcher sie von jenen Tagen reden konnte, in denen sie geliebt und deshalb wirklich gelebt hatte. War es nicht hohe Zeit, die Sonnenwärme der Liebe wieder aufzusuchen, da sich die Schatten des Alters ihr schon so breit und kältend über den Lebensweg hinstreckten? – –

Während so der Schicksalssturm das Klosterhaus reinigend und sühnend durchbrauste, war es in der Beletage des nachbarlichen Schillingshofes schwül und gewitterhaft.

Die Herrin des Hauses war noch immer leidend, und die Domestiken, die droben verkehren durften, meinten, Fräulein von Riedt, die sie pflege, habe einen sehr schweren Posten. Sie verliere jedoch nie die Geduld und nehme die bösesten Worte mit so viel Gemüthsruhe hin, als habe sie gar kein Ohr dafür. Dazwischen sei es aber auch hier und da für einen oder mehrere Tage stiller droben, und die Frau Baronin wisse dann gar nicht, was sie Alles ersinnen solle, um Fräulein von Riedt Liebes und Gutes zu erzeigen; es fehle nicht viel daran, daß sie vor ihr auf die Kniee falle. Diese Umwandlung vollziehe sich aber stets, wenn Briefe mit einem gewissen Poststempel einträfen.

Die Baronin hatte noch immer die Gewohnheit, ruhelos durch ihre Zimmer und Säle zu irren, aber das Haus verließ sie nicht. Nur einmal wollte der Gärtner Zeuge gewesen sein, wie sie gegen Mitternacht immer und immer wieder das Atelier umkreist habe, bis ihr Fräulein von Riedt auf die Spur gekommen sei und nach einem heftigen Wortwechsel, wobei die Gnädige mit den Füßen gestampft, die Entwischte in das Säulenhaus zurückgebracht habe.

Nicht selten wurde sie aber auch auf der Terrasse gesehen. Auch da wandelte sie oft unruhig durch die Orangenbäume, aber immer nur an der Balustrade hin, welche die Plattform auf der Ostseite begrenzte. Von da konnte sie ziemlich die ganze Linie der Platanenallee übersehen, und über die Boscage hinweg war auch der kleine Oberbau des Ateliers sichtbar, in welchem Baron Schilling seine Wohnung hatte. Da, unter einem Zeltdach, nahm sie mit Fräulein von Riedt die Mahlzeiten ein, hielt auch manchmal ein Buch oder eine Stickerei in den Händen, hauptsächlich aber war das der Observationsposten, von welchem aus sie den Verkehr zwischen Säulenhaus und Atelier controlirte. Keine Portion Essen, keine Flasche Wein, die in das Atelier getragen wurden, entging ihren scharfen Augen, noch weniger aber ein lebendes Wesen, das die Kiesbahn der Allee beschritt.

So hatte sie auch eines Tages ihren Mann – zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr – unter den Platanen herkommen sehen. Er gab nach; er beugte sich endlich, endlich und kam zu ihr.... Aber der wohlbekannte Schritt war nicht laut geworden in der Beletage; der „Bereuende“ war nicht in die Glasthür getreten, an der ihre gespannten Blicke gehangen; nur der Bediente Robert [600] war mit dem Eßzeug gekommen und hatte dabei über das verwunderliche Ereigniß in der Parterrewohnung und den „gnädigen Herrn“ berichtet, der „eben in den Salon getreten sei“.

Seitdem hatte sie ihren Mann wiederholt brieflich aufgefordert, sich mit ihr über die Renovirung im Holzsalon, die der stattgehabte Scandal nöthig mache, zu verständigen, da ja auch ihr Interesse dadurch nahe berührt werde, und die Antwort hatte kurz und bündig gelautet, daß man anständiger Weise erst die Beerdigung im Nachbarhause abwarten müsse, ehe man mit dem Handwerkerlärm beginne.

In das Säulenhaus war Baron Schilling nicht wieder gekommen, aber auf dem Klostergute war er gewesen. Er hatte lange in der Amtsstube gesessen und eine eingehende Besprechung mit der Majorin gehabt, und bei seinem Nachhausekommen hatte der Gärtner mit Beihülfe des Hausknechtes sofort vor seinen Augen einen schmalen Durchgang in den Zaun hauen müssen, der das Schilling’sche Gebiet vom Klostergute trennte.

Tiefgereizt hatte die Baronin von der Terrasse aus dem Beginnen zugesehen, sie war ja notorisch die Besitzerin des Schillingshofes, ohne ihre Genehmigung durfte kein Strauch versetzt, kein Beet verändert werden. Und nun gerirte er sich dort als alleiniger Besitzer – unerträglich! Er durchbrach eigenmächtig die wohlthätige Schranke, die das „Bauernelement“ von dem vornehmen Boden geschieden, und suchte offenbar einen intimen nachbarlichen Verkehr einzuleiten, und das in einem Augenblick, wo es offenbar geworden, daß „die Menschen da drüben“ in ehrloser Weise die Schillings um eine werthvolle Acquisition gebracht hatten.... „Er ist verrückt!“ hatte sie gesagt und hastig nach Hut und Handschuhen gegriffen, um hinunterzugehen und auf Grund ihrer Rechte ein energisches Veto einzulegen; allein die Stiftsdame war ihr zuvorgekommen. Sie hatte sich an die Glasthür gestellt und mit unerschütterlicher Ruhe erklärt, sie gebe es nicht zu, daß sich ihre „Schutzbefohlene“ einer Blamage vor der Dienerschaft aussetze; denn daß ihr sofort eine eclatante Zurückweisung da unten entgegengeschleudert werde, lasse sich nach dem neulichen Auftreten des rücksichtslosen Mannes im Atelier ohne Mühe voraussagen.

So hatte die Baronin voll kochenden Aergers noch an demselben Abend sehen müssen, wie die Majorin durch die Zaunbresche herübergekommen und in das Säulenhaus gegangen war.

Die Versöhnung hatte sich also vollzogen; der Plan war durchgeführt worden, obwohl die Frau Baronin ihn durch ihre Reise zu vereiteln gesucht hatte. Sie war nicht vermißt worden; kein einziger Brief hatte sie gebeten, zurückzukehren – sie hatte immer noch an starren Trotz geglaubt; nun sah sie, daß man ihrer gar nicht gedacht hatte. Sie hätte weinen mögen vor Groll und Ingrimm.




37.

Der Rath Wolfram und sein kleiner Sohn ruhten seit gestern im Erdbegräbnisse an der Seite der „armen stillen Frau Räthin“. Die beiden Verstorbenen waren am frühen Morgen ohne alles Aufsehen beigesetzt worden.

Auf den Höfen des Klostergutes herrschte wieder der Oekonomielärm, als sei er nie unterbrochen gewesen. Das große Mauerthor stand tagsüber weit offen; die Knechte fuhren unermüdlich aus und ein – denn die Ernte hatte begonnen – und die Mägde hantirten mit erhitzten Gesichtern in den Ställen und am Kochherd, auf welchem in mächtigen Kesseln das Essen für die Erntearbeiter bereitet wurde.

Die Majorin überwachte Alles, wie sie es seit vielen Jahren gethan. Es war unmöglich, eine so große Wirthschaft, die bisher wie ein pünktliches Uhrwerk gegangen, mit einem Rucke zum Stillstehen zu bringen; da hieß es, geduldig den Faden abwickeln, und die aus allen Fugen gerüttelte Frauenseele bedurfte ihrer ganzen Willensstärke, um diese Aufgabe durchzuführen. Nur vom Milchverkaufe hatte sie sich dispensirt – das besorgten jetzt die Mägde in der Gesindestube; alles Geschäftliche bezüglich der Hinterlassenschaft des Rathes hatte sie vorläufig in Baron Schilling’s Hände gelegt, der ihr in diesen Tagen des Schreckens und der namenlosen Bedrängniß wie ein Sohn nahe getreten war. Sie hatte auch mit ihm vereinbart, daß der verhängnißvolle Gang vom Schillingshofe aus zugemauert werde; die Amtsstube und das Eßzimmer standen verschlossen – sie mied die zwei Schwellen im Gefühl innerlicher Scheu.

Nun kam Baron Schilling am Tage nach der Beisetzung, behufs einer vorläufigen Untersuchung, mit zwei Handwerkern, einem Kunsttischler und einem Maurer, in den Holzsalon. Er hatte Donna Mercedes vorher benachrichtigt und fand deshalb den Salon leer, aber die Thür nach José’s ehemaligem Krankenzimmer und der anstoßenden Kinderstube war nicht fest geschlossen; man hörte das Geplauder der spielenden Kinder von dort herüber.

Der Tischler schlug die Hände zusammen über das zerstörte kostbare Kunstwerk der Holzschnitzerei, und der Maurer untersuchte die dahinterliegende glatte, braune Thür an der Innenseite. Die alten Mönche seien Schlauköpfe gewesen, meinte er und zeigte auf verschiedene kleine Schieber und Riegel auf der Fläche. Auch ohne eine der Thüren – die durchsichtige sowohl, wie die feste, glatte – zu öffnen, hatte man durch kleine Rundungen zwischen übereinandergeflochtenen Ranken, oder im Kelche einer Blume, den ganzen Salon übersehen können. Und diese verschiebbaren kleinen Platten liefen geräuschlos in sorgfältig eingeölten Rinnen und zeugten so unwiderleglich vom allerjüngsten Gebrauche. Die Polsterthür aber, von einem dicken unverwüstlichen Leder überspannt, hatte zu allen Zeiten jeden Schall zwischen den zwei Häusern aufgefangen, und zum Ueberfluß zeigte sich auch noch das Innere der Wand mit den geschnitzten Heiligen drüben in der Amtsstube durch Polsterwerk verkleidet.

„Die gnädige Frau Baronin!“ meldete während dieser Besichtigung plötzlich der Bediente Robert, und seitwärts tretend schlug er den Thürflügel zurück.

(Fortsetzung folgt.)




Moses Mendelssohn.
Ein Gedenkblatt für den sechsten September.

Auf die jetzt laufenden Jahrzehnte fällt ein Schimmer feierlicher Weihe durch die Jubiläen der großen Aufklärungs- und Wiedergeburtsepoche des vorigen Jahrhunderts. Nachdem wir im gegenwärtigen Jahre den hundertsten Geburtstag „Nathan’s des Weisen“ und den hundertfünfzigsten seines Dichters gefeiert haben (vergl. Gartenlaube Nr. 1 dieses Jahrgangs!), sind es an diesem 6. September nun auch hundertfünfzig Jahre, daß in einem elenden, noch heute vorhandenen Hofstübchen zu Dessau der arme Judenknabe geboren wurde, der später als Moses Mendelssohn einen der schönsten Ehrenplätze auf den Höhen der deutschen Geistesgeschichte errungen hat. In unserer mäkelsüchtigen Zeit ist die Bedeutung Mendelssohn’s vielfach unterschätzt worden, namentlich von einer Kritik, die an literarischen Erscheinungen der Vergangenheit nur die rein wissenschaftlichen Maßstäbe gegenwärtiger Erkenntnisse legt und an früheren Anschauungen, Doctrinen und Denksystemen nur das Ueberwundene und Abgewelkte in’s Auge faßt, nicht ihre geschichtliche Nothwendigkeit für die geistige Befruchtung und Vorwärtsbewegung der Welt, in welcher sie gewirkt haben. Gerade dieser letztere Punkt aber ist es, wodurch Mendelssohn erinnerungswürdig geblieben ist bis zum heutigen Tage und es auch ferner bleiben wird. Er hatte eine Sendung für sein Zeitalter und nicht für das unserige, aber wesentliche Errungenschaften unserer Epoche würden nicht möglich geworden sein, wenn die mächtige Gedankenarbeit der seinigen ihnen nicht die Bahn gebrochen hätte. Schon der Umstand, daß er beinahe drei Jahrzehnte hindurch der nächste Herzensfreund und Strebensgenosse Lessing’s bis zu dessen Tode gewesen ist, muß ihm ein warmes Andenken bei Allen sichern, die dem Lebensgange des großen Läuterers und Wiedererweckers unseres Nationalgeistes jemals eine tiefere Aufmerksamkeit gewidmet haben.

Aber auch über dieses Freundschaftsverhältniß sind in neuerer Zeit zum Nachtheil Mendelssohn’s zweifelnde und spöttelnde Bemerkungen geäußert worden, die eher alles Andere, als eine wirklich [601] gewonnene Kenntniß dieser Beziehung verrathen. Denn in der That kann es eine ernstere und innigere, getreuere und ehrfurchtsvollere Zuneigung nicht geben, als Lessing sie bis an sein Ende für seinen „Herrn Moses“ gehegt. Aus zahlreichen Briefen erhält man die Ueberzeugung, wie hoch er die Ansicht und den Rath dieses Freundes geschätzt, wie viel er in den schwierigsten geistigen Fragen auf sein Urtheil gegeben und wie langjähriges Getrenntsein, wie alle Stürme des Lebens, aller Wandel der Jahre und der Verhältnisse die Frische und Herzlichkeit dieses Bündnisses nicht zu trüben vermochten. Wie beide Männer in einem und demselben Jahre geboren waren, wie sie Beide, jeder auf anderen Wegen, im Kampfe mit der Armuth, aus dem Dunkel gedrückter Verhältnisse zu hohen Bahnen sich aufgeschwungen hatten, so blieben ihre Hände auch fest vereinigt, nachdem sie im Jahre 1754 sich zufällig gefunden hatten. Allerdings ist Lessing in manchen seiner Kämpfe und in Betreff wesentlicher Hauptzielpunkte seines Wirkens von seinem Umgangskreise und auch von Mendelssohn nicht immer verstanden worden. Wenn man jedoch bedenkt, welche lange Zeit die Nachwelt brauchte, ehe ihr in dieser Hinsicht ein umfassendes Verständniß heraufgedämmert ist, so wird man die Einsicht bewundern müssen, mit welcher Mendelssohn jene Kluft bereits erkannte und die Ausfüllung derselben nicht von dem damals lebenden Geschlechte erwartet hat. Hier wie in einigen anderen Punkten ist dieser Philosoph wahrhaft ein Prophet gewesen, dessen Weissagungen sich erfüllt haben.

Lessing’s kühn vordringende Feuerseele mochte freilich bei dieser Lage der Dinge, der zahmen Bedächtigkeit eines noch verschüchterten Zeitgeistes gegenüber, oft von dem unbehaglichen Gefühl des Alleinstehens beschlichen werden. Keine seiner Aeußerungen aber deutet darauf hin, daß er deshalb ungerecht gegen seine Freunde geworden, verdrossen und hochmüthig auf dieselben herabgesehen und besonders jemals den Werth der Bundesgenossenschaft eines Mendelssohn verkannt hätte. Noch acht Wochen vor seinem Hinscheiden schrieb er ihm: „Daß Ihnen nicht Alles gefallen, was ich seit einiger Zeit geschrieben, wundert mich gar nicht. Ihnen hätte gar nichts gefallen müssen, denn für Sie war nichts geschrieben. Höchstens hat Sie die Zurückerinnerung an unsere besseren Tage noch bei dieser oder jener Stelle täuschen können. Auch war ich damals ein gesundes schlankes Bäumchen und bin jetzt ein so fauler knorrichter Stamm. Ach, lieber Freund, diese Scene ist aus. Gern möchte ich Sie freilich noch einmal sprechen.“

Die Entfernung zwischen Berlin und Wolfenbüttel war bei dem damaligen Zustande der Wege und Verkehrsmittel noch eine sehr beträchtliche und der Wunsch des kranken Freundes kaum zu erfüllen. Ein paar Jahre vorher aber (1777) hatte dennoch der schwächliche Mendelssohn die beschwerliche Reise im rauhen Novembermonat zurückgelegt, um Lessing nach seiner Verheirathung in seiner neubegründeten Häuslichkeit zu besuchen. „Sie scheinen mir jetzt,“ so schrieb er ihm vorher, „in einer ruhigeren, zufriedeneren Lage zu sein, und ich muß Sie in dieser besseren Lage Ihres Gemüths nothwendig sprechen.“

Es war das letzte Mal, daß die Freunde nach langer Trennung ein paar Tage in herzlicher Gemeinschaft verlebten, und die in sichtlicher Todesahnung geschriebene Schlußstelle des oben angeführten Briefes zeigt, wie sehr Lessing nach einer Wiederholung dieser Freude sich sehnte. Er starb aber schneller, als es erwartet wurde, und man weiß, wie die Liebe Mendelssohn’s diesen Tod überdauert hat. Tief ergreifend wirkt unter Anderem auf uns heute noch der denkwürdige Brief, den er auf die erhaltene Trauernachricht an den Bruder des Verstorbenen schrieb.

„Fontenelle,“ so heißt es da, „sagt von Copernikus: er machte sein neues System bekannt und starb. Der Biograph Ihres Bruders wird mit eben dem Anstande sagen können: er schrieb ‚Nathan den Weisen’ und starb. Von einem Werke des Geistes, das eben so sehr über ‚Nathan’ hervorragte, als dieses Stück in meinen Augen über Alles, was er bis dahin geschrieben, kann ich mir keinen Begriff machen. Er konnte nicht höher steigen, ohne in eine Region zu kommen, die sich unseren sinnlichen Augen völlig entzieht; und dies that er. Nun stehen wir da wie die Jünger des Propheten und staunen den Ort an, wo er in die Höhe fuhr und verschwand. Noch einige Wochen vor seinem Hintritte hatte ich Gelegenheit, ihm zu schreiben: er solle sich nicht wundern, daß der große Haufe seiner Zeitgenossen das Verdienst dieses Werkes verkenne; eine bessere Nachwelt werde noch fünfzig Jahre nach seinem Tode daran lange Zeit zu kauen und zu verdauen finden. Er ist in der That mehr als ein Menschenalter seinem Jahrhundert zuvorgeeilt.“

Wüßten wir also von Mendelssohn nichts weiter, als daß er Lessing mit einer im Ganzen so verständnißvollen Theilnahme durch die wichtigsten Stadien seines Lebens gefolgt und daß er unter zahlreichen Freunden dem Herzen Lessing’s stets der Nächste geblieben ist, so würde er für uns in Folge des aus dieser Thatsache sprechenden Zeugnisses schon ein Gegenstand lebhaften Interesses sein. Die respectvolle Liebe eines Lessing konnte sicher nur durch ausgezeichnete Eigenschaften gewonnen werden, und in der That waren in Mendelssohn ungewöhnliche Vorzüge vereinigt, die in uns heute noch dasselbe Gefühl erregen und durch die er sich aus seinen eigenen Wegen und aus seiner eigensten Natur und Bildung heraus unleugbare Verdienste um den Wiederaufschwung unserer Nation erworben hat. Nicht blos politisch, sondern auch in seinem Geistesleben war das deutsche Volksthum auf eine sehr niedrige Stufe der Verkümmerung herabgesunken, als die Sterne Lessing’s und Mendelssohn’s heraufzuleuchten begannen. Von Lessing zu sprechen, ist hier nicht die Aufgabe. Um aber den Einfluß Mendelssohn’s zu ermessen, braucht man nur eine seiner Schriften mit ähnlichen Erzeugnissen der vorhergegangenen oder gleichzeitigen deutschen Literatur zu vergleichen. Mit überraschender Deutlichkeit wird sich bei dieser Betrachtung der breite Strich zeigen, der ein Zeitalter der Abgestorbenheit von einer neuaufsprießenden Welt jungen Keimens und Werdens geschieden hat. An gelehrten und begabten Köpfen war ja kein Mangel in Deutschland, aber sie steckten zum allergrößten Theil noch tief in den überlieferten Anschauungen und Vorurtheilen einer engen und sklavischen Vergangenheit, und ohne Reiz und Schwung, trocken und schwerfällig, pedantisch und geschmacklos wie das Denken war auch die Weise des geltenden schriftlichen Ausdrucks. Für eine solche Literatur gab es in den Ständen der Ungelehrten noch kein Publicum, weil dem schriftstellerischen Bestreben die Erzielung und Verbreitung einer allgemeinen Bildung meistens gänzlich fern lag. Einzelne, namentlich Gellert, hatten mit verhältnißmäßig schönen Erfolgen eine Besserung angebahnt, aber ihre veredelte Form war noch nicht von einem neuen Gedankeninhalte, dem erweckenden Hauche einer auf Reform und Befreiung der Geister abzielenden Ideenrichtung beseelt.

Durchgreifend erfolgte der gewichtige Umschwung, welcher der Literatur auch außerhalb der sogenannten „Gelehrtenrepublik“ eine zahlreiche und andächtige Gemeinde schuf, erst mit dem Auftreten Lessing’s und der mit ihm wirkenden Schriftsteller, unter denen unbedingt Mendelssohn der bedeutendste war. Sein Stil hatte nicht den sprühenden und blitzenden Witz, nicht die machtvolle Lebhaftigkeit und glanzvolle Schärfe, das unmittelbar Packende und Ueberwältigende der Lessing’schen Schreibweise. Aber niemals war vor ihm im Interesse der Humanisirung und Aufklärung über wissenschaftliche und philosophische Gegenstände bei aller sorgfältigen Gründlichkeit so durchsichtig klar, so anmuthig fesselnd und gemüthsinnig, in einem so reinen, so elegant und doch so würdig dahinfließenden Deutsch geschrieben worden, wie er dies vermochte. Das griff in die Seelen und zog unwiderstehlich alle ernsteren Gemüther an, verscheuchte Gedankenlosigkeit, Rohheit und Stumpfsinn, hob die Blicke von der philisterhaften Alltäglichkeit in idealere Regionen und war vor Allem ein anregendes Beispiel und Muster für Mit- und Nachstrebende.

Ist die deutsche Sprache seitdem ein brauchbares Instrument für die wissenschaftliche Darstellung geworden und haben wir seitdem eine in edlerem Sinne popularisirte, das heißt jedem Gebildeteren verständlich und zugänglich gewordene Literatur, so ist das zum großen Theil den Schriften Mendelssohn’s und der arbeitsvollen Mühe zu danken, mit der er den Sinn für tiefere Bildung und geschmackvolle Schönheit des Ausdrucks in einer umnachteten und herabgedrückten Generation entzünden half. Daher sein Ansehen und Ruf, die außerordentliche Verehrung, deren er in weiten Kreisen der Nation sich erfreute und die wiederum Bedingung seines weiteren Einflusses wurde. Sein Wort hatte Geltung, und von Zeitgenossen der verschiedensten Classen ward er viel und mit eifriger Aufmerksamkeit gelesen.

Dennoch ist sein Einfluß nicht allein auf Rechnung seiner schriftstellerischen Thätigkeit zu setzen, er ging auch von seiner Persönlichkeit und seiner Erscheinung aus, von dem Interesse an [602] seinem merkwürdigen Lebensgange und seiner wunderbaren Bildungsgeschichte. Aus der zurückgestoßenen und völlig abgeschlossen lebenden, seit länger als einem Jahrtausend unter einer unmenschlichen Behandlung schmachtenden und deshalb für verwahrlost gehaltenen Religions- und Stammesgemeinschaft, in der er geboren und erzogen war, hatte er auf die Bühne der großen und fremden Welt einen Charakter mitgebracht, dessen sittliche Hoheit und Reinheit, dessen ungekünstelte Würde und durchgebildete Humanität ein eigenthümlich verwirrendes und beschämendes Licht auf bis dahin sorgsam gehegte Lieblosigkeiten warfen. Schon Klopstock drückte dies in den Worten aus, die Bewunderung Mendelssohn’s sei anfänglich nicht frei von einer Verwunderung gewesen. Man schaute zu ihm auf, wie zu einem Phänomen und fühlte sich von Ehrfurcht ergriffen im Hinblick auf den langjährigen, ebenso schmerzensreichen wie heroischen Kampf, den er siegreich gegen die unerbittlich harten Schwierigkeiten bestanden hatte, welche unter den damaligen Umständen dem geistigen Aufstreben eines deutschen Juden, zumal eines so mittellosen, auf jedem seiner Schritte sich entgegenstellten. Gewiß, es war das eine unbeschreiblich herbe und traurige Jugend gewesen, und nicht wenige seiner unglücklichen Stammesgenossen mochten schon im Beginn eines ähnlichen Ringens an den unübersteiglichen Hindernissen gescheitert sein, ohne daß die Welt von ihnen erfahren hat. Der gebrechliche, körperlich überaus zartorganisirte Sohn des blutarmen dessauischen Thoraschreibers war jedoch von anderem Stoffe. Ihn hatte der feindselige Druck nicht brechen, nicht einmal beugen oder verbittern können. Mit gestählter Seelenkraft, mit dem sonnenklaren Geiste und der heiteren Gemüthsruhe des philosophischen Denkers war er aus demselben hervorgegangen, erfüllt und beschwingt von jenen hohen Gedanken vorurtheilsfreier Menschenliebe, jenen Grundsätzen der Humanität und des Menschenrechts, welche der Geist des Jahrhunderts als Programm auf seine Fahnen geschrieben und die er in seinen Schriften und nach den übereinstimmenden Zeugnissen vieler Zeitgenossen auch in seinem ganzen Wandel bekundet hat. Aus dem obscuren Talmudschüler, der aus einer elenden Dachkammer Berlins in unbelauschten Nachtstunden erst mühsam die deutsche Sprache erlernt hatte, war ein gefeierter Schriftsteller der deutschen Nation geworden.

Hier aber trat im Leben des Mannes ein für seinen Werth und seinen geschichtlichen Einfluß sehr bezeichnender Punkt hervor. Als die Liebe und vertrauensvolle Anerkennung der Besten und Gebildetsten ihn weit über den einschnürenden Bannkreis hinauszog, der das jüdische Leben umschloß, wandte er sich nicht fremd und vornehm von den Seinigen ab. Seine eigentliche Heimath blieb in ihrer Mitte, und in all seinem literarischen Glanze theilte er mit ihnen das schimpfliche Elend ihrer bürgerlichen Lage. Noch hatte kein Einziger von den neuen Humanitätsaposteln Zweifel gegen die Berechtigung dieser systematischen und in der That sehr raffinirten Niedertretung eines Bevölkerungstheiles zu äußern und eine Abstellung wenigstens ihrer empörendsten Maßregeln zu fordern gewagt. Was sie unterließen, das aus seiner Kenntniß heraus zu thun fühlte Mendelssohn sich verpflichtet und berufen. Er war es, der zuerst im Namen der ewigen Menschenrechte gegen jene Menschenentwürdigung Protest erhob, in Betreff derselben das Schamgefühl des öffentlichen Gewissens weckte und die Angelegenheit auf die Tagesordnung der großen Zeitfragen stellte. Und während er so mit eingreifendem Erfolg den Nachweis führte, daß die politische Befreiung seiner Leidensgenossen eine unabweisbare Aufgabe der fortschreitenden Gesittung sei, war ein sehr erheblicher Theil seines Wirkens dem methodischen Bestreben gewidmet, dieselben durch allmähliche Hebung ihres zurückgebliebenen Bildungszustandes für die Befreiung empfänglich und des Eintritts in die bürgerliche Gesellschaft würdig zu machen. Wenn die für Staat und Gesellschaft sicher nicht segensreich gewesene Scheidewand gefallen ist, welche die jüdischen Einwohner von der deutschen Cultur geschieden hatte, wenn sie den hemmenden Verschrobenheiten des mittelalterlichen Rabbinismus immer mehr sich entwunden haben und zum überwiegenden Theile Deutsche geworden sind, so war es Mendelssohn, der zu dieser culturgeschichtlich bedeutsamen Wendung den ersten und nachhaltigsten Anstoß gegeben hat.

Alles hier Bezeichnete läßt sich im Einzelnen deutlich nachweisen, wie sich überhaupt aus hundertfältigen Aeußerungen in Wort und That noch heute die wohlthuenden Züge der gefühlsinnigen Menschenfreundlichkeit, des schlichten, feinen und hohen Sinnes, jener milden, aller Gewöhnlichkeit und aller niedern und selbstischen Leidenschaft enthobenen Weisheit erkennen lassen, die sich in dem Freunde und Genossen Lessing’s mit unbeugsamer Entschiedenheit gewonnener Ueberzeugung und aller Schärfe und Mannhaftigkeit selbstständigen Urtheils vereinigt hatten. In einer Zeit, deren lebendige Ueberlieferungen noch von dem seltenen Zauber dieser entschwundenen Erscheinung zu erzählen wußten, hat daher auch Niemand bezweifelt, daß sie das Urbild des Lessing’schen „Nathan“ gewesen sei. Diese Annahme ist neuerdings von hervorragenden Seiten her bestritten worden, und zwar insofern mit Recht, als es sich um Beseitigung der trivialen Sage handelt, der Dichter habe in der Gestalt des „Nathan“ seinen Freund verherrlichen und ein Conterfei desselben auf die Bühne stellen wollen. So allerdings lag die Sache nicht. Um aber die Ueberzeugung zu gewinnen, daß Lessing dennoch bei der Gestaltung jenes erhabenen Charakters das Seelenbild und die Denkungsart des „Berlinischen Socrates“ bis auf die Weise seines Ausdruckes vorgeschwebt, braucht man nur die Schriften und Briefe Mendelssohn’s mit einiger Aufmerksamkeit gelesen zu haben.

Von diesen Schriften gehören die größeren Werke „Phädon“ und „Morgenstunden“ allerdings einem überholten Stadium philosophischer Beweisführung an, und sie üben nur noch eine sittlich erhebende Wirkung durch das Edle ihrer Form und Absicht. Unvergänglich wahr und frisch aber wird für alle Zukunft sein letztes Buch „Jerusalem“ bleiben, in dem er das jetzt noch so viel bestrittene Menschenrecht unbedingter Glaubens- und Gewissensfreiheit mit einer Gedankenschärfe und logischen Consequenz, einer Beweiskraft und Beredsamkeit vertheidigt hat, wie es vor und nach ihm von keinem Andern geschehen ist. Hätte er nichts vollführt als diese eine That, so würde sie schon seine Bedeutung zeigen für die Entwickelungsgeschichte des modernen Geistes.

Auf dem Postament des Friedrichs-Denkmals in Berlin sieht man eine sympathische Gruppe von Männern in bürgerlicher Tracht. Es sind dies die hervorragenden Denker und Dichter, welche dem Zeitalter des großen Königs sein geistiges Gepräge gaben. In ihrer Mitte jedoch vermißt der Kenner der Epoche mit Erstaunen einen der Besten dieser Zeit, die Gestalt des etwas verwachsenen Mannes mit der hohen Stirn, den leuchtenden Augen und dem orientalischen Gesichtstypus, aus dessen wohlbekannten Portraits uns noch gegenwärtig die bescheidene Anspruchslosigkeit und freundliche Sanftmuth eines durchgeistigten Wesens so anziehend entgegenblickt. Ein Vorurtheil, das er im achtzehnten Jahrhundert mit sichtlichem Erfolg als kleinlich und lieblos bekämpfte, hat ihm selber im neunzehnten Jahrhundert seinen Platz unter Denen verweigern können, die ihn einst mit Stolz zu den Ihrigen gezählt und ihm eine der ersten Stellen in ihren Reihen angewiesen hatten. Aus willkürlichem Belieben ist in dieser Ausschließung ein Unrecht begangen, das gegen die Wahrheit der Thatsachen verstößt und dem Urtheil der Geschichte widerspricht. Denn so lange es noch eine Geschichte deutscher Literatur und Gesittung giebt, wird sie Moses Mendelssohn einen der wirksamsten deutschen Männer im Zeitalter Friedrich’s nennen und ihm ein mehrseitig gewichtvolles Verdienst zuerkennen müssen um die fortschreitende Veredelung unseres nationalen Lebens, Denkens und Schaffens. Die Nation übt nur eine Pflicht gegen sich selbst, wenn sie sein Bild in den Kreis der deutschen Geisteshelden stellt, die der Jugend vorgeführt werden als Muster hochstrebender Idealität und willensstarken Gesinnungsadels.

Auf dem Namen Mendelssohn’s, der einst als ein armer Pariabursche in die Thore Berlins gewandert, ruht gegenwärtig auch in anderer Hinsicht noch ein besonderer Glanz. Seit lange gehören seine Nachkommen zu den durch Bildung und Wohlstand hervorragendsten Familien der Hauptstadt. Der Tondichter Felix Mendelssohn ist sein Enkel gewesen.

Albert Fränkel.



[603]

Aus vergessenen Acten.

Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.

(Fortsetzung.)


„Wolf,“ schaltete Kern ein, „müßte vorangegangen sein, damit King bei seinem Angriff auf den Meister vor dessen Schrei oder Gegenwehr sicher gewesen wäre.“

„Herr Wolf ist wahrscheinlich auch vorangegangen,“ erwiderte Margret. „King brauchte blos zu sagen ‚Sie fürchten sich wohl, Meister?’ so ist er gewiß vorausgegangen. Wie sie nun bei der Kellertreppe waren, hat King den Armen plötzlich gefaßt, vielleicht gewürgt und dann zur steilen Kellertreppe hinabgestoßen und nun hat der letzte Kampf begonnen.“

„An Ihnen, Margret, ist ein Untersuchungsrichter verloren gegangen,“ rief Kern mit Feuer. „Aber beantworten Sie mir noch eine Frage: wie kommt es, daß Hark ein Licht für sich besitzt, wenn King nicht einmal eines hat?“

„Es ist wohl ein Geschenk von Hark’s Mutter,“ erklärte Margret. „Es ist auch ganz anders als die unseren.“

„Von was für Stoff ist denn Hark’s Kerze?“

„Von Stearin,“ erwiderte Margret.

„Von Stearin?“ wiederholte der Amtsrichter überlegend. „Kommen Sie – wir wollen nachsehen.“

Der Amtsrichter eilte nach dem Zimmer zurück, in dem der Bezirksarzt mit dem Todten beschäftigt war.

„Schon fertig mit dem Protokoll?“ fragte der Doctor verwundert.

„Es ist keine Zeit dazu,“ sagte der Amtsrichter hastig. „Ich habe eine andere Fährte und will sie verfolgen, so lange sie noch unverwischt ist.“

„Eine andere Fährte?“ fragte der Arzt erstaunt.

„Jawohl, Herr Bezirksarzt. Bitte, folgen Sie uns!“

Er ließ Margret mit der Leuchte wieder vorangehen, nach dem Keller. Der Arzt folgte. Unterwegs rief Kern einen der Gerichtsdiener heran.

„Sie stellen sich an die obere Treppe, in der ersten Etage!“ befahl er. „Wenn Jemand herunter will, so halten Sie ihn fest.“

Dann schloß Kern die Kellerthür auf. Er suchte eifrig mit Margret’s Lampe am Boden des Vorkellers, schien aber nicht zu finden, was er suchte. Endlich, nahe dem Eingang zum großen, eigentlichen Keller, rief er plötzlich: „Hier!“ stellte die Lampe auf den sandigen Boden, kniete nieder und wies mit dem Finger auf eine Anzahl weißlicher Tropfen im Sande. „Was ist das, Herr Doctor?“ fragte er.

Auch der Doctor beugte sich nahe über die erstarrten Tropfen, nahm einen auf, rieb mit dem Finger daran und prüfte dessen Geruch und Geschmack. „Stearin,“ sagte er dann ruhig, „weiter nichts.“

„Weiter nichts,“ wiederholte Kern lächelnd. „Aber vielleicht bilden diese harmlosen Stearintropfen die erste Einleitung zu einem Todesurtheil.“

Der Arzt sprang auf, und Kern erzählte ihm rasch, was er von Margret vernommen.

„Das Mädchen hat Recht,“ sagte der Doctor nach kurzem Nachsinnen. „So, allein so, wie sie den Verlauf der schaurigen Tragödie sich denkt, ist diese erklärlich und vereinbar mit dem Zustande des Todten. Alle Wunden gehen senkrecht. King ist erheblich größer, als der todte Meister war, während Bahring fast dieselbe Größe mit Wolf hat. Und alle Wunden, ohne Ausnahme – auch die ersten, die der Mörder seinem Opfer im Rücken, am Halse oder in der Schulter beigebracht haben mag, gehen von oben in die Tiefe. Nun vollends die späteren; da stand der arme Meister wahrscheinlich tiefer als der Mörder auf der Kellertreppe und wehrte sich waffenlos, so gut es ging. Da trafen alle Streiche senkrecht aus der Höhe wie Blitze in das Bischen Leben und löschten es aus.“

„Sie haben auch etwas Phantasie, Herr Doctor, wie die Margret – neben Ihrem scharfen Auge,“ sagte Kern.

„Hier ziehe ich aber wirklich nur die Linien zwischen den Punkten, die mir gegeben sind, Herr Amtsrichter,“ entgegnete der Doctor. „Ich habe auch noch andere Beweise. Folgen Sie mir nun einmal! Vielleicht habe ich auch für Sie eine Ueberraschung.“

Sie eilten wieder in das Schlafzimmer des Ermordeten.

„Sehen Sie hier diese Finger der rechten und linken Hand des Meisters! Sie schaudern. Bezwingen Sie sich. Beide Nägel wurden im letzten Kampfe halb abgerissen, als der Mörder aus den krampfhaft eingehakten Fingern seines Opfers sich gewaltsam befreite. Sehen Sie hier diesen grobfaserigen, blauweißen Baumwollenstoff, der an den Nägeln des Todten haftet! Wer trägt diesen Stoff und an welchem Kleidungsstücke?“

Margret war mit ihrer Leuchte ganz nahe herangetreten und hatte die Spuren des Zeuges, das der Arzt vorzeigte, genau geprüft.

„Das sind Fasern aus King’s Unterbeinkleidern,“ rief sie bestimmt. „Er hat immer im Hause waschen lassen, ich besinne mich genau auf den eigenthümlichen Stoff. Sie werden sich selbst überzeugen, wenn Sie nachsehen.“

„Ich habe keine Bedenken mehr,“ sagte der Amtsrichter finster, wie wenn er einen Entschluß gefaßt hätte, bei dem Tod und Leben auf dem Spiele steht. „Gehen wir nach oben!“

Der Amtsdiener, der am Fuße der oberen Treppe stand, hatte inzwischen nichts Auffallendes vernommen.

Zuvörderst wurde indeß noch auf Befehl Kern’s der andere Diener, der unten in der Hausthür Wache hielt, von Margret heraufgerufen. Sie stellte, ehe sie herabeilte, ihre Lampe an den Hals der Treppe, die von der ersten Etage in die Hausflur des Parterre führte. Der Amtsrichter sah ihr nach; seine Augen blickten, als sie verschwunden war, sinnend in das Licht, das sie hatte stehen lassen, und neben dieses.

„Was ist das?“ fragte er plötzlich aufgeregt den Doctor und deutete auf den Boden, dicht neben die Lampe.

Eine schmale, aber deutlich erkennbare Spur von rothen Tropfen zog sich von der oberen Stufe der unteren Treppe durch den Flur der ersten Etage nach dem Standort, den der Gerichtsdiener am Fuße der oberen Treppe einnahm, und als diese Treppe flüchtig beleuchtet wurde, auch ihre Stufen aufwärts.

Margret kam jetzt mit dem andern Gerichtsdiener leise herauf, und Kern, vom Arzt begleitet, leuchtete eigenhändig die Treppe abwärts und weiter durch den Hausflur. Die rothen Tropfen führten weiter zur Kellerthür, die Kellertreppe hinab, bis zu der Stelle, wo Wolf in seinem Blute gefunden worden war. Sie zweigten in dem Hausflur des Parterre nach der Hofthür ab, nach der Thür der Damen, die der Mörder von außen verschlossen hatte, nach der Hausthür, durch die er, wie man früher annahm, entwichen war; sie verschwanden auf der Schwelle der Hausthür und setzten sich auch nicht fort auf der Schwelle der Hinterthür oder in den Hof.

„Was sind das für Flecken?“ fragte Kern von Neuem.

„Allem Anscheine nach Blutflecke,“ entgegnete der Arzt.

„Die uns zeigen, daß der Mörder innerhalb des Hauses geblieben und zu suchen ist,“ sagte Kern scharf. „Wir werden ihn suchen.“

Die schmale, blutige Spur führte sie zu dem, den sie suchten. Sie zog sich ununterbrochen bis zu King’s Schlafkammer.




Als der Amtsrichter mit dem Bezirksarzte in den Schlafraum der Lehrlinge trat, fuhren diese jäh auf aus dem kaum wiedergewonnenen Schlummer.

Noch ehe sie erwachten, hatte Kern jedoch hinter den von Margret erwähnten Spiegel über Hark’s Bett gegriffen und dort den etwa sechs Zoll langen Rest eines Stearinlichtes erfaßt und hervorgezogen. Er zeigte es dem Doctor mit bedeutsamem Blicke, ohne ein Wort zu sagen. Zahlreiche Körner gelben Sandes klebten längs der Kerze an dem heruntergelaufenen Stearin, namentlich auf der unteren Fläche, mit der sie vermuthlich in den Sand gestellt worden war, und größere röthliche Flecken, anzusehen wie der Abdruck blutiger menschlicher Finger, waren an der Seite derselben wahrzunehmen.

Die beiden Männer traten nun in die Kammer King’s; die Amtsdiener folgten ihnen auf dem Fuße. [604] Der Geselle schien fest zu schlafen. Er hatte ja auch wiederholt erklärt, daß er gerade in dieser Nacht sehr müde sei.

Kern gedachte unwillkürlich einer ergreifenden Stelle in Cicero’s Jungfernrede für den jungen Roscius Amerinus. Der Redner schildert, wie sein Client, der unschuldig des Vatermordes angeklagt ist, unmittelbar nach der That in tiefem, ruhigem Schlafe gefunden wird. Mit hinreißender Beredsamkeit malt Cicero die Folter der Gewissensqualen eines wirklichen Mörders; vergebens, meint er, werde dieser nach solcher Blutthat den Schlaf suchen.

„Die Verstellung des Schurken überschreitet an Gemeinheit noch die That selbst,“ murmelte er leise. Und dann setzte er laut hinzu. „Wir werden King’s Kleider und Kammer jetzt genau untersuchen.“

Da regte sich’s plötzlich in dem Gesellenbette, und King schlug, nach einigem gut gespielten Seufzen und Gähnen, die Augen auf, richtete sich im Bette empor und rief scheinbar überrascht: „Was wünschen die Herren hier oben?“

„Nichts – als Sie,“ erwiderte Kern, jedes der Worte schneidend betonend. „Herr Josua King – im Namen des Gesetzes, Sie sind mein Gefangener.“

„Hoho, Herr Amtsrichter!“ rief King, halb lächelnd, halb ärgerlich, „meinten Sie mich?“

„Ich habe es schon gesagt, und bitte, mir zu folgen.“

„Und weshalb?“ fragte King mit der Verwunderung eines ehrlichen Mannes.

„Weil Sie im Verdachte stehen, den Mord an Meister Wolf verübt zu haben,“ erwiderte Kern, ihn scharf anblickend.

„So wahr mir Gott –“

„Lästern Sie nicht!“ fiel Kern unmuthig ein. „Und erheben Sie sich sofort! Es ist zwei Uhr vorüber.“

„Der Irrthum wird Ihnen theuer zu stehen kommen, Herr Amtsrichter –“

„Das ist meine Sorge, Herr King. Eilen Sie, oder ich lasse Sie von den Amtsboten abführen, wie Sie sind.“

„Aber beim Ankleiden erlassen die Herren mir doch ihre Gegenwart?“ bat King.

„Da erst recht nicht,“ erklärte Kern. „Herr Bezirksarzt, untersuchen Sie den Herrn dort zunächst einmal unangekleidet!“

King erbleichte.

„Herr Doctor,“ sagte er, „Sie sind Zeuge dieser neuen Beleidigung –“

„Dieses richterlichen Befehls, Herr King – ja wohl. Bitte, machen Sie keine weiteren Umstände!“

King ließ mit festgeschlossenen Lippen die Untersuchung über sich ergehen. Kopf, Hände, Arme, Brust des Gesellen zeigten nichts Auffallendes. Den Unterkörper hatte er noch im Bette.

„Stehen Sie auf!“ gebot der Arzt, und King gehorchte, indem er die Beine aus dem Bette streckte. Der Doctor und der Amtsrichter schauten begierig nach einer offenen Wunde aus, von welcher, wie sie meinten, die schmale Blutspur vom Keller bis auf die Dielen der Kammer King’s herrühren müsse. Es fand sich nichts derart, wohl aber zeigten sich an jedem Schenkel einige blutunterlaufene Stellen, bei deren Entdeckung die beiden Männer rasche Blicke wechselten.

„Woher haben Sie diese rothbraunen Flecke?“ fragte der Amtsrichter den Gesellen, der ruhig und sogar mit einer gewissen höhnischen Heiterkeit den Bemühungen des Arztes gefolgt war.

„Die habe ich mir beim Aufhämmern der Felle geholt.“

„Wann?“

„Gestern und früher.“

„Dafür sehen die Flecke noch recht gut erhalten aus.“

„Bei mir geht so etwas immer langsam weg.“

„So? Es giebt vielleicht aber noch eine andere Erklärung für die Entstehung dieser Flecke, Herr King?“

„Welche meinen Sie, Herr Amtsrichter?“

„Nun, daß der sterbende Wolf im Todeskampfe seine Finger hier eingeschlagen hätte, Herr King – was meinen Sie dazu?“

„Das ist nicht wahr!“ rief er mit Entrüstung.

„Wir werden sehen,“ erwiderte der Amtsrichter ruhig.

Weiteres fand der Arzt am Körper King’s nicht.

„Ziehen Sie sich jetzt an!“ befahl der Amtsrichter.

„Sie bestehen auf meiner Verhaftung?“

„Ja, gewiß. Ich wiederhole zum letzten Mal die dringende Bitte, zu eilen.“

King ergriff seine hellen Sommerbeinkleider, die auf dem Stuhl vor dem Bett lagen.

„Vergessen Sie Ihre Unterbeinkleider nicht!“ mahnte Kern. „Es ist Nacht, und die Untersuchungsgefängnisse sind etwas schattig.“

„Ich trage keine Unterbeinkleider,“ erwiderte King kurz.

„Nun, Margret hat es uns anders gesagt.“

„Margret?“ fragte King, indem ein finsterer Schatten über sein Gesicht glitt. „Den Einflüsterungen der Dirne verdanke ich wohl diese ganze Scene?“

„Sie besitzen aber wohl Unterbeinkleider, nicht wahr?“ fragte Kern, als ob er den Ausruf King’s überhört habe.

„Gewiß. Gehört das auch zu Ihren Verdachtsgründen?“

„Das werden Sie erfahren. Ihre Unterbeinkleider sind von blauweißer Baumwolle?“

King blieb einen Augenblick die Antwort schuldig. Was steckte hinter dieser Frage?

„Ja,“ sagte er dann, „wollen Sie sie sehen?“

„Ich bitte.“

King schloß seine Kommode auf. Frischgewaschen und festgefaltet lagen die einzelnen Stücke da.

Kern wühlte in dem Vorrath blauweißen Stoffes. Er zog ein Paar Unterbeinkleider hervor – aus der Mitte.

„Die sind wohl aus Versehen unter die frische Wäsche gekommen?“ fragte er. „Sie sehen wie getragen aus.“

„Ja, da muß ein Versehen vorgekommen sein,“ erklärte King ruhig.

„Und der Reparatur scheinen sie auch bedürftig. Wie sind wohl diese Schürfungen im Stoff hier entstanden, Herr King? Können Sie das erklären?“

„Ich weiß nicht,“ erwiderte King gleichgültig. „Beim Waschen wird viel verdorben.“

(Fortsetzung folgt.)




Thier-Charaktere.
Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.
Der Dachssucher und seine Jagd.[1]


Leibhaftig und fesselnd präsentirt sich auf unserm Bilde der rauhe, derbe Bündel Dachssucher, wie er den „Grimmbart“, diesen beliebten, mysteriösen Gegenstand der Nachtjagden jugendlicher Waidmannsgemüther gefunden, „gestellt“ hat und „verbellt“. Es ist der untrügliche, wackere Hund im Grunde derselbe, der als sogenannter „Saubeller“ zum Auffinden der Wildsauen gebraucht wird. Hier figurirt er als „ Dachssucher“. Er ist ein echter Abkömmling seiner beiden vorzüglichsten Ahnen, des Schäferhundes und des diesen in sicherem Finden noch übertreffenden eisgrauen Spitzpommers stärkerer Rasse. Der Mangel an Flüchtigkeit des letzteren in der Verfolgung des Wildes führte zur Kreuzung zwischen Pommer und Schäferhund oder zwischen rauhhaarigem Pinscher und Pommer. Meist trüb und dunkel gefärbt, entweder eisgrau, schwarz mit dunkelgelben Abzeichen, sowie

[605]

Der „verbellende“ Dachssucher.
Nach dem Aquarell-Original von C. F. Deiker aus dem Prachtalbum „Der Hund und seine Jagd“ von Adolf und Karl Müller.

graugelblich, stellt er ein Geschöpf von etwas wüstem Aussehen in einer Höhe von nur dreißig bis fünfunddreißig Centimeter dar, das aber voller Leben und Entschiedenheit ist. Mit seinem feurigen Temperamente und seiner Unempfindlichkeit gegen Nässe und Kälte verbindet sich Klugheit und eine scharfe Nase. Kraft dieser Eigenschaften bewährt er sich so tüchtig zum „Ausmachen“ und Verbellen dort der Sauen, hier des Dachses. Wie man aber der Vorliebe des Saubellers, an zahmen und Wildschweinen „laut auszugeben“, schon frühe Nahrung geben kann, indem man ihn öfters an diese Thiere bringt und ihn diese verbellen läßt, so daß er die „Fährten“ von Wildschweinen allein nur aufnimmt und verfolgt: so mag die andere Ausgabe des Saubellers, der Dachssucher, sich auf der Bühne seiner lebendigen Bethätigung gleichsam vor unsern Augen entwickeln. Wir wählen hierzu einige Thatsachen und Scenen aus unserer eigenen Jagdpraxis.

Aber – so könnte mit scheinbarem Rechte der Thierfreund uns einwenden – warum der Jagd auf den harmlosen Dachs von einer Seite her das Wort reden, die das Thier ja schon so oft entschieden in Schutz genommen und seine Befreiung aus dem Jagd- und Forstbanne befürwortet hat? Es würde ungereimt erscheinen, die Verfolgung des unermüdlichen Vertilgers von Kerf-, Weichthieren und Würmern in den Saatkämpen, auf den Culturstellen des Waldes und überall da anzurathen, wo er sich nur in dieser vorwiegend wirthschaftlich nützlichen Eigenschaft bewährt; dagegen ist in den Gegenden des Weinbaues, wo er gewaltig schadet, die Jagd auf ihn geboten.

[606] Eben taucht nach einem Gepolter in der „gangbarsten“ (besuchtesten) Röhre die weiße Blässe eines Dachses aus dem Bau hervor, um sogleich wieder zu verschwinden. Einen Augenblick später erscheint der ganze weiß- und schwarzbindige Kopf Grimmbarts über dem Ausgang, um zu „sichern“. Jetzt steigt es schattenhaft an der stark „ausgeführten“ (ausgeraumten) Röhre heraus: sie ist es, die behutsame „Dächsin“ oder „Fähe“, im Begriff, ihr „Geheck“ (Nachkommenschaft) zur Weide auszuführen. Wohl zeigt das tief ausgetretene Pfädchen den „Steig“ an, welchen allabendlich die Alte mit den Jungen zur nahen Waldwiese geht. Auch jetzt hält sie den „Paß“ vertraut, nachdem durch wiederholtes Sichern die Umgegend geprüft ist. Auf einen murksenden Ton der Dächsin kommt ein weißes Bläßchen nach dem andern in den Röhren des Baues zum Vorschein: in Abständen von etwa hundert Schritten folgt ein halbwüchsiges Dächschen auf das andere der Mutter zur Weide.

Still beobachtend ist das Auge des fern vom Baue unter Wind anstehenden Waidmannes dem Ausgehen der Dächse gefolgt. Er hat neben dem alten „gearbeiteten“ (gebrauchten) Sucher „Hellauf“ den jungen Zögling „Schnurr“ an der Leine, der heute seine erste praktische Probe auf der Suche nach Dächsen ablegen soll. Nach einer Weile führt der Jäger die Hunde auf den Bau. Unter dem Zuspruch: „Hu, das Dächschen, Hellauf! Such’ das Dächschen, Schnurr!“ hat er die Hunde „gelöst“. Der hoffnungsvolle Lehrling folgt dem alten Meisterhunde eifrig auf dem Steig, mit Leichtigkeit die warmen Spuren des Gehecks „fortbringend“ (verfolgend). Ohne Säumen folgt der Führer den Hunden, die nicht lange darauf in der Richtung der Waldwiese „laut ausgeben“. Der hinzueilende Jäger trifft die beiden Hunde vor einem der jungen Dächse laut. Bei seiner Annäherung mit dem Zuspruches „Hu, faß das Dächschen!“ packt Hellauf den verbellten Dachs, ein Beispiel für Schnurr, ebenfalls zuzufahren. Ein Stich mit der Dachsgabel – einem langen Stock mit eiserner Gabel – in’s Genick des Gepackten giebt diesen dem Eifer der Hunde noch eine Weile preis.

Auf diese Weise opfert man schon im Sommer ein und das andere Stück der Dachsgehecke für das Einhetzen des jungen Hundes, und derselbe ist für die Nachthatze im Herbste gearbeitet.

Es war eine schöne Octobernacht, in der ich einst, meine zwei „fermen“ Dachssucher zur Linken an der Leine, mit einem Jagdgefährten, der einen leichten Hatzhund führte, sacht und schweigsam nach einem heimischen Feldgehölze in der Wetterau zog. Der Wald trug sein herbstlich verklärtes Laub, welches, beschwert vom Thau, von Zeit zu Zeit raschelnd zur Erde fiel. Dicht stand der Nebel in der Tiefe der Wiesenthäler, aber klar und rein erfüllte der Vollmond die stille Herbstnacht. Von dem nahen Kirchthurme trug der Nachtzug die Schläge der Mitternachsstunde über’s Feld herüber. Wir lenkten bald unsere Schritte in die „Hainbach“, einen heimlichen Winkel des Gehölzes. Dort war ein Hauptbau Meister Grimmbarts tags vorher „gezeichnet“, das heißt: es waren schwache Reiser oder derbe Grasstengel vor die „befahrensten“ (betretensten) Ausgänge kreuzweis gestellt worden. Mein Gefährte trug die „Dachssäcke“ oder „Hauben“, und Beide hatten wir die Dachsgabeln zur Hand. Die Dachshauben waren von meinem Begleiter, einem geriebenen Dachsfänger der Wetterau und des nahen Vogelbergs, gefertigt, Netze von einem Meter Länge und einem halben Meter Breite mit starkem Bindfaden weitmaschig und nach dem Ende zu verjüngt gestrickt, welch letzteres in einem sieben bis acht Centimeter breiten eisernen Ring auslief. Rings um den breiten Eingang ist eine drei bis vier Meter lange Leine als Struppe durchgezogen, und in den Endmaschen des Eingangs sind fingerlange Holznägel, die „Heftel“, in kleinen Abständen eingeknebelt.

Geräuschlos nahten wir jetzt dem Bau. Ein Blick auf die gezeichnet gewesenen Röhren thut kund, daß mindestens zwei Dächse den Bau bereits verlassen haben, da vor zwei Ausgängen die Zeichen nach außen geschoben liegen. In kurzer Zeit sind mit den schon vorbereiteten und in die Nähe des Baues geschafften Reiserwellen, den „Bolzen“, alle Röhren mit Ausnahme der beiden gangbarsten „verreisert“ oder fest verstopft. Gleich darauf werden die Dachshauben in die zwei offen gelassenen Ausgänge eingelegt, nachdem die „Heftel“ am Eingang der Säcke stramm um den Rand der Röhren „eingeheftelt“, die Hauben alsdann mit etwas Erde und Land bedeckt und die Struppleinen derselben an zwei nahen Reideln befestigt worden sind.

Nachdem alles so geräuschlos vorbereitet worden, löse ich erwartungsvoll die Sucher. Diese umkreisen den Bau und fallen bald einen der Steige an. Mein Begleiter bleibt mit dem Hatzhund Sultan in gutem Winde in der Nähe des Baues, während ich schnell den Hunden folge, die über einen kleinen Waldkopf hinab zu Thal suchen. Von der Höhe aus kann ich gerade noch die Richtung der Suche verfolgen, wie sie über eine Schlucht der Trift zugeht, welche am Waldsaume herzieht. Dort auf dem Außenfeld sind Baumstücke, unter welchen Meister Grimmbart neben der nächtlichen Erdmast an Kerfen, Schnecken und Würmern sich den Zehnten holen wird. Die Ahnung trügt mich nicht, denn kaum bin ich glücklich einen breiten versumpften Bach in der dunklen Tannenschlucht gewatet, so geben die Hunde draußen auf der Trift laut aus. Dort erreiche ich sie an einem dichtbedornten Raine vor einem Dachse. Ich schaffe mich behutsam und unversehens hinter den Verbellten, dessen Gebiß unter beständig ergrimmtem Brummen laut an einander schlägt wie Händeklatschen. Ich steche den Grimmen von hinten mit der Gabel ab. Der stumm verendende Dachs zeigt einen „Rüden“ oder ein Männchen an, der, „geheest“, im Nu an einem Obstbaume der Trift hängt.

Weiter geht die Suche. Die Hunde verschwinden nach längerem Kreisen, wie zwei schwarze Streifen, im Nebel der nahen Wiesen in’s Feld hinein, einem Dorfe zu. Ich halte mich auf einer Anhöhe zwischen Flur und Wald, gespannt in die Ferne horchend. Plötzlich bringt mir ein Wehen der Nacht den Laut der Hunde zu. Aber es bedünkt mich, als ob die Jagd unstät hin und her gehe. So ist’s: denn jetzt verkündet der helle Laut der Hunde, daß sie hinter einem flüchtig gewordenen Dachse jagen. Die Hatze geht unverkennbar nach dem Walde. Ich kehre einen kürzeren Weg durch die Hainbach nach dem Bau zurück, welchem sich jetzt, wie deutlich vernehmbar, die Hatze nähert. Dort steht ja der Gehülfe, obendrein mit dem scharfen „Sultan“, der, zuverlässig im Packen, jedem „Grimmbarte“ gewachsen ist. Bald endet auch die Hatze in dem Waldwinkel, wo der Bau liegt, und Alles ist grabesstill.

Erwartungsvoll komme ich dort an. Da finde ich meinen Gefährten mit „Sultan“ und den Suchern verblüfft vor einer dichtverwachsenen Röhre, an welcher die Hunde scharren und „pfeifen“. Meine Blicke begegnen denen meines Begleiters: Jeder hält den Vorwurf für den Andern zurück, weil er uns Beiden zu gleichen Theilen gebührt. Aus der verdutzten Miene des stummen Gehülfen, sowie dem Gebahren der Hunde lese ich nun den ganzen Hergang einer verfehlten Hatze. Die Röhre war von uns Beiden beim Verreisern übersehen und offen gelassen worden und der schlaue „Grimmbart“ hatte sich durch rasches „Einfahren“ in dieselbe glücklich salvirt.

Adolf Müller.




Aus dem Vatican.
Eine Plauderei von A. St.
Monterotondo bei Rom, am 19. August 1879.

Heine sagt in seinen „Geständnissen“, er wäre gewiß ein zierlicher Abbate, ein Monsignore geworden, ja er hätte am Ende vielleicht gar jenen erhabensten Ehrenposten erklommen, den er, trotz seiner „natürlichen Bescheidenheit“, nicht ausgeschlagen haben würde – er hätte sich zum Papste krönen lassen, sich ruhig niedergesetzt auf den Stuhl Petri, allen frommen Christen das Bein hinstreckend zum Fußkuß, wenn die Wahl des Conclaves auf ihn gefallen und aus ihm etwas Besseres geworden wäre, als ein – Dichter.

„Es sei ’ein Pfäfflein noch so klein,
Es möchte gern ein Päpstlein sein.“

Das Sprüchlein kommt mir unwillkürlich in den Sinn, wenn ich mir die neuesten vertraulichen Mittheilungen aus dem Vatican vergegenwärtige. Der Papst Leo der Dreizehnte treibt es wahrhaftig bunt; er scheert sich um keine Tradition, um keine Gepflogenheit: er operirt über die Köpfe des „heiligen Collegiums“ hinweg, kehrt das Unterste zu oberst und entwickelt eine solche drakonische Willkür, daß auch die Frömmsten seiner Umgebung rathlos in die Kniee sinken und beten: O lieber Herrgott, werde hart!

[607] Leo der dreizehnte duldet nur einen Vertrauten, nur einen Günstling, nur einen Gewaltigen an seiner Seite, und dieser eine ist sein Bruder. Aus dem „kleinen Pfäfflein“ ist mittlerweile ein Kardinal geworden, und weil auf dem Stuhle Petri für zwei Pontifexe kein Platz, so wird – was die Christenheit auch darüber denken möge – Signor Giovanni Pecci in ein paar Wochen, wenn nicht noch früher, zum päpstlichen Staatssecretär erhoben werden.

In der Ministerkanzlei ist man auch schon vollständig in Bereitschaft und die unglückliche Eminenz Lorenzo Nina, heute nur noch ein Lückenbüßer, erwartet stündlich die officielle Bestätigung ihrer Enthebung, um zu gehen. Das heißt Lorenzo Nina geht nicht, er wird schier – und ich glaube sogar in des Wortes bestem Sinne – „gegangen“. Es ist eine traurige Periode, die der alte Mann mit seiner liebenswürdigen Gutmüthigkeit jetzt hinter sich hat.

Die Aergerlichkeiten und Aufregungen der letzten Wochen haben seine Gesundheit merklich angegriffen – er ist krank. Nina hat die Demüthigungen und kränkenden Herausforderungen seines Souverains Monate hindurch mit solcher christlichen Geduld ertragen, daß man ihm nur gratuliren möchte zu seinem Sturze. Und in diesem Sturze Nina’s, in diesen dramatischen Zusammenstößen des Pontifex mit seinem Minister liegt die neueste, höchst ergötzliche Signatur jener Palastgeheimnisse, über welche die Schranzen in den Vorzimmern der Curie so viel Heiteres zu erzählen wissen.

Die Beseitigung Nina’s fällt wie ein Funke in die ohnehin gährende Zündmasse, die sich seit Leo’s des Dreizehnten Regierungsantritt im Vatican und namentlich im Schooße des heiligen Collegiums angehäuft. Nina hat viele Gegner, aber noch viel mehr Anhänger. Leo der Dreizehnte dagegen hat fast das ganze Cardinalscollegium gegen sich. Das Letztere fühlt sich gereizt durch den Gleichmuth und die selbstbewußte Vornehmheit, mit der es ignorirt wird, und wenn nicht alle Anzeichen trügen, geht die Mißbilligung zwischen dem Jupiter des Vaticans und den himmelstürmenden Giganten, die seine Macht empört, einem gewaltsamen Ausbruche entgegen.

Mit der Einführung eines Bruderregiments, fürchten die Zopfmeier der Curie, werde die ohnehin fieberhafte Neuerungslust Leo’s des Dreizehnten eine entschiedene Richtung annehmen und darüber die gute alte Tradition, sowie jener Charakter der Unveränderlichkeit verloren gehen, welcher die Einrichtungen der Kirche so ehrwürdig erscheinen läßt. Der Papst ist ein guter Pilot und das Kirchenschifflein ihm ein williger Organismus, den man mit Vernunft lenken soll. Der heutige Katholicismus erscheint ihm als ein Körper, der am Krebs leidet. Er wagt zwar noch keine Operation auf Leben und Tod, aber er zeigt sich doch als kühner Operateur. Die vielhundertjährige vaticanische Hausrechnung hat er gründlich reformirt. Da waren die fetten Sinecuren – heute sind ihre Inhaber nichts als Pfründner, die nicht mehr honorirt, Holländer, Franzosen, Deutsche, Schweizer, die wieder abgeschoben werden in die Thäler, woher sie gekommen. Wo der Staub des Mittelalters an den Einrichtungen gefressen, fährt Leo der Dreizehnte lustig mit dem Flederwisch darüber und stäubt, wo es noth thut, selbst mit rauher Hand, den Schmutz hinweg. So hat eine seiner jüngsten Aenderungen gar viel böses Blut gemacht unter den Saugmäulern des Peterspfennigs. Diese waren nämlich auf den katholischen Heiligenkalender abgerichtet, welcher so viele Feiertage vorschreibt, wie Heilige darin Platz haben, sodaß durch die Feier von Namenstagen kleinerer oder größerer Heiliger und durch sonstige Festlichkeiten über hundertundachtzig Tage im Jahre „geschwänzt“ wurden. Das war viel kostspielige Andacht, und Leo der Dreizehnte, als ein weiser Sparmeister, strich schnell hundert Namenstage kleiner Heiliger aus dem Kalender.

Der Mißmuth über solche „Willkür“ kennt keine Grenzen mehr. In der Umgebung des Papstes fragt man sich laut, ob eine solche „Mißwirthschaft“, ein so empörendes Alleinregiment auf die Dauer ertragen werden könne, ertragen werden dürfe. Ob? Die Frage dünkt mich eine unbeantwortbare.

An finstere Pläne ist der tückische Priestergeist allerdings seit jeher gewöhnt, und nichts ist leichter, als einen Tyrannen aus der Welt zu schaffen, wenn es unter der Devise ad majorem Dei gloriam geschehen kann. Heimliche Winke hat Leo der Dreizehnte bereits empfangen, und er mag darüber gelächelt haben, wenn er auch innerlich an ihre Furchtbarkeit glauben muß. Der jähe Tod des Cardinals Franchi ist heute noch ein Geheimniß, und der größte lebende Staatsmann stellte seinem eigenen diplomatischen Spürtalent ein glänzendes Zeugniß aus, als er die Vermuthung aussprach, der Cardinal Franchi sei nicht auf natürliche Weise gestorben. Warum hat auch dieses Priesterthum eine so traurige Geschichte, die unwillkürlich auf solche Gedanken bringt!?

Desto ruhiger und kühler geht Leo der Dreizehnte seine Wege. Die letzten Ziele, die er dabei im Auge hat, sind nicht leicht abzusehen, aber es scheint fast, als ob sie das Pontificat aus dem versumpften Gleise mittelalterlicher Glaubenswuth in christlich edlere Bahnen lenken sollen. Dieses möchten die Kläffer im Vatican vereiteln, und sie belfern laut und ungeberdig, weil sie den Führer einzuschüchtern hoffen, ehe die Karawane marschfertig geworden. Leo der Dreizehnte läßt sie gewähren; sie haben nämlich eine ausgezeichnete Nase, und sie wittern durch alle Thüren und selbst durch die undurchdringliche, fast mysteriöse Zugeknöpftheit, deren sich der Papst befleißigt, seine Pläne und seine geheime „Machinationen“. Leo der Dreizehnte, sagen sie, schließt sich seit geraumer Zeit den ganzen Vormittag in seinem Schlafzimmer ein und schreibt und grübelt dort, wenn nicht über Alchemie, so doch über gar gefährliche Dinge, daß Einem gruseln könnte. Um ungestörter zu sein, benütze er sein Schlafzimmer als Arbeitscabinet, zu welchem Niemandem der Zutritt gestattet ist außer seinem Bruder. Trotz der Heimlichkeit des Papstes hat man indessen herausgeforscht, was er in seiner Einsamkeit ausbrütet. Neue Dogmen nicht; Dogmen sind kein Stoff für die spitzigen Zähne Leo’s des Dreizehnten, aber eine großartige Kirchenreform, wie sie die vaticanische Camarilla in ihrem Blödsinn schon einmal unter Pius dem Neunten befürchtete. Diejenigen, die nicht daran glauben, wissen hinwiederum ganz bestimmt, daß Leo der Dreizehnte sich mit kirchenpolitischen Neuerungen von großer internationaler Bedeutung trage. Er will, sagen diese, die katholischen Elemente der ganzen Welt einer einheitlichen politischen Disciplin unterwerfen, um mit dieser Heeresmacht dem Katholizismus seine frühere staatsrechtliche Bedeutung und die ihm gebührende Theilnahme am politischen Leben zurückzuerobern. Als treuen Famulus in der Verbreitung dieser weltgeschichtlichen Pläne habe sich Seine Heiligkeit seinen Bruder, den zukünftigen Staatssecretär, zur Seite gestellt. (An dem guten Willen zu diesem letzteren Zweck ist allerdings nicht zu zweifeln. D. Red.)

Ich erwähne dies, um darzuthun, daß die Polizisten und Spione im Vatican um kein Haar schlechter sind, als irgendwo in der Welt. Würden aber auch diese Späher lügen, dann bliebe freilich immer noch die auffallende und seltsame Lebensweise Leo’s des Dreizehnten, sein verborgenes Treiben, das die Neugierde lauernder Höflinge reizt. Der Papst steht um fünf Uhr Morgens auf und gönnt seinem Kammerdiener zur Noth, ihm beim Ankleiden behilflich zu sein und das Gemach in Eile zu reinigen. Sein Frühstück besteht in einer Tasse leichten Milchthees und einer Brodsemmel oder einem der in Rom üblichen Kaffeegebäcke, maritozzi genannt. Nach abgeräumtem Thee entfernt sich der Bediente und wird vor elf Uhr nicht wieder gerufen. Leo der Dreizehnte arbeitet während dieser Zeit ohne Unterbrechung und schenkt, außer seinem Bruder, der sein ständiger Mitarbeiter ist, Niemandem Zutritt. Es kommt mitunter vor, daß sogar hohe Würdenträger in geschäftlichen Angelegenheiten abgewiesen werden.

Um elf Uhr entfernt sich der Papst, indem er die Thür eigenhändig verschließt und den Schlüssel zu sich nimmt. Der Lakai empfängt die Weisungen zum Mittagsimbiß, welcher Punkt zwölf Uhr eingenommen wird. Die Stunde bis dahin füllt Leo der Dreizehnte in verschiedener Weise aus. Sind wichtige Staatsgeschäfte zu erledigen, so verfügt er sich entweder selbst in’s Secretariat oder es wird der Minister in die päpstliche Kanzlei bestellt. Ein andermal besichtigt er die ihrer Vollendung entgegengehenden Loggien und promenirt in Begleitung einiger Intimen, die sich zur Aufwartung gemeldet, in den Corridors und Gallerien des piano nobile. Nur selten und in ganz besonderen Fällen wird Audienz gewährt – ein Actus, dem sich Leo der Dreizehnte mit aufrichtigem Widerstreben unterzieht. Manchmal unternimmt er in jener heißen Tageszeit eine Erholungsfahrt in den schattigen Palmengängen der vaticanischen Gärten. Punkt zwölf Uhr wird zu Mittag gespeist, und die Hauptmahlzeit hält der Papst nach italienischer Sitte nicht des Mittags, sondern am Abend. Er speist in der Regel allein, selten in Gesellschaft seines Bruders. Einladungen finden nicht statt.

Leo der Dreizehnte ist eine äußerst nüchterne Natur und seine ganze Lebensweise, namentlich aber seine Tischgewohnheiten contrastiren vorteilhaft mit der überschwänglichen, gedankenleeren Genußliebe seines Vorgängers. Pius der Neunte hielt Mittags und Abends königliche Tafel und glänzende, lärmende Gesellschaft, in deren Mittelpunkt er sich, als ein geborenes Unterhaltungstalent, mit anakreontischer Nachlässigkeit zu stellen wußte. Leo der Dreizehnte ist ein sittenstrenger Mann, der sich selbst kasteit, und er speist frugal, weil ihm kein Genuß Selbstzweck ist. Keine Blumen, keine strotzenden Leuchter und auch keine fröhlichen Gesichter beleben seine Tafel. Man denke sich einen in mäßigem Wohlstande lebenden Schulgelehrten an einem häuslich gedeckten Tische, und man hat ein ungefähres Bild von dem dreifach gekrönten Oberhaupte der ganzen Erde, wenn er seine Mahlzeit einnimmt. Der Mittagsimbiß des Papstes besteht in der Regel aus einer Bouillonsuppe, gebackenem oder aufgebrühtem Hühnerfleisch mit Gemüse und einer Torte (Biscuit oder Genfer) mit Obst als Dessert. Für Pfirsiche, die jetzt gerade saisonmäßig, hat der Papst eine leidenschaftliche Vorliebe. Nicht wenig mundet Seiner Heiligkeit der römische Weißwein, von dem ab und zu ein Schöppchen über den normirten halben Liter getrunken wird. Nach Tische eine kurze Promenade, mitunter auch intimes Cercle, und hierauf die im Süden unvermeidliche Siesta. Diese dauert bis halb vier oder vier Uhr, worauf dringende Staatsgeschäfte erledigt und die jeweiligen Audienzen an die Chefs der Congregationen etc., aber nur an zwei bestimmten Wochentagen, ertheilt werden. Dann eine halbstündige Fahrt durch die Gärten, während welcher Leo der Dreizehnte auszusteigen und eine Strecke zu Fuß zu promeniren pflegt. Um halb sieben Uhr Pranzo, wie die Italiener ihre Hauptmahlzeit nennen. Diese pflegt aus vier in hausbackener Einfachheit zubereiteten Gängen zu bestehen und dauert bis gegen halb acht Uhr. Seine Heiligkeit schmaucht dann nicht ohne Wohlbehagen eine jener stark aromatisirten Trabucco-Cigarren, welche ein leidiges Erzeugniß der in der ganzen Welt berüchtigten königlichen Regia dei tabacchi sind. Um neun, spätestens halb zehn Uhr zieht sich der Papst in seine Gemächer und in das Dunkel seiner Arbeitsstube zurück.




Blätter und Blüthen.


Conservirte Eier. Bekanntlich bedient man sich schon seit Jahren, sowohl in der Haushaltungstechnik, wie auch zur Ernährung auf Reisen, conservirter Nahrungsmittel, insbesondere conservirten Fleisches, conservirter Milch und conservirter Gemüse. An das Aufbewahren eines Nahrungsgegenstandes, welcher mit zu den Unentbehrlichsten gehört, nämlich der Eier, hatte bis jetzt noch Niemand ernstlich gedacht. Ein einsichtiger Industrieller, Herr B. von Effner in Passau in Niederbaiern, kam auf die Idee, auch das Ei so zu präpariren, daß es sich Monate, ja [608] Jahre lang aufbewahren läßt, ohne von seinen Nähreigenschaften zu verlieren und ohne in Fäulniß überzugehen. Das Princip, welches der Präparation dieser Eierkonserven zu Grunde liegt, beruht in dem Abdampfen des Wassers, welches in dem Eiweiß und dem Eidotter enthalten ist, das heißt des Stoffes, der die Verwesung verursacht.

Zu geeigneter Jahreszeit, also im Frühling und Herbst, werden frischgelegte Eier sorgfältig aufgeschlagen, durch den Geruchsinn auf die Güte geprüft und sodann auf kleinen Metallplatten bei mäßiger Hitze unter starkem Luftzug getrocknet. Eiweiß und Eigelb werden theils getrennt, theils gemischt in den Handel gebracht. Alle sich vorfindenden mangelhaften Eier werden ausgelesen und kommen theils getrocknet, theils in flüssiger Form als Vogel-, Hühner- und Mastfutter mit Kleie und Kartoffeln vermischt in den Handel.

Nachdem die Eier getrocknet sind, werden die einzelnen Plättchen abgeschabt, die getrockneten Massen gesammelt und in der Zerkleinerungsmaschine entweder in Körner- oder in Pulverform verwandelt. Sind die Massen zerkleinert, dann wird durch Siebe das Pulver von den Körnern geschieden und die Pakete werden gepackt, welche je nach Zweck 3000 bis 10,000 Stück enthalten. Ein ganzes getrocknetes Ei entspricht einem Gewichte von 10 bis 11 Gramm, das Eigelb allein einem solchen von etwa 8 Gramm und das Eiweiß allein einem solchen von ungefähr 3 Gramm.

Was nun den häuslichen Gebrauch dieser Eier anlangt, so eignen sich dieselben vornehmlich zur Darstellung von Gebäck, sowie als Ersatz der frischen Eier, in allen Zweigen der Kochkunst; dagegen können sie, in Form einfacher Eierspeisen genossen, den Geschmack frischer Eier nicht ersetzen. Auch ist es durchaus nicht die Absicht des Erfinders, die getrockneten Eier den frischen an Werth gleichstellen zu wollen.

Gasthofbesitzer, Bäcker, Conditoren und Industrielle, welche viele Eier zu ihrem Geschäfte benöthigen, haben oft großen Schaden durch Bruch, sowie durch schlechte Waare, welche bei den Masseneinkäufen sich stets findet. Bei den Effner’schen Eierconserven wird dies vermieden, und hat man nur nöthig, die Büchse zu öffnen und die benöthigten Löffel voll Pulver herauszunehmen.

Gebraucht man zur Herstellung von Mehlspeisen mehr Eiweiß oder mehr Eigelb, so hat man ja diese Stoffe in Büchsen getrennt. Der Soldat im Felde, sowie der Tourist ist im Stande, durch Zugabe des Eipulvers zu jeder Speise in einigen Minuten eine treffliche Mahlzeit zu bereiten, besonders aber auf Schiffen dürfte diese Conserve in Anbetracht der mangelhaften Transportfähigkeit frischer Eier großen Vortheil bieten. Auch ist der Preis der getrockneten Eier zu Zeiten bedeutend billiger als derjenige frischbezogenen Materials. Nicht nur zu Speisezwecken soll diese neue Erfindung dienen, sondern auch zur Förderung gewisser Industriezweige; Gerber, Handschuhledermacher, Lebküchner, Zuckerwaarenfabrikanten, Photographen, Kattundrucker und viele andere Techniker bedürfen in großer Masse des Weißen oder Gelben der Eier. Für alle diese Industriezweige bieten die Eierconserven eine praktische und bequeme Anwendungsform des Materials dar. Die Eierconserven enthalten nach den Zeugnissen hervorragender Chemiker, des Professors der Chemie Dr. G. E. Wittstein, sowie des Professors der Physiologie Dr. Voit in München, keinerlei schädliche Stoffe, sondern nur die Bestandtheile, welche dem frischen Ei vollständig analog sind. Auch die Redaction dieses Blattes hat Gelegenheit genommen, durch einen ihrer ärztlichen Mitarbeiter die Eierconserven sowohl auf ihren chemischen wie auf ihren Gesundheitswerth untersuchen zu lassen, und die Untersuchung ist zu den gleichen Resultaten wie diejenigen der oben genannten Chemiker gelangt.




Eine neue Aufgabe der Schule. Am 1. December 1880 wird im gesammten deutschen Reiche wiederum eine umfassende Volkszählung stattfinden, und es werden ihr voraussichtlich im Publicum auch dieses Mal wieder dieselben Hindernisse begegnen, welche bei den bisherigen Zählungen das Geschäft erschwert und das Ergebniß in mancher Hinsicht zweifelhaft gemacht haben. Nach den Gründen dieser Mißlichkeit braucht man nicht lange zu suchen. Die Mehrzahl unseres Publicums hat noch kein Verständniß für die Wichtigkeit der Volkszählung, und in weiten Schichten selbst der gebildeten Classen, lebt noch kaum eine Ahnung, daß es sich dabei nicht um eine polizeiliche Controlirung und auch nicht allein um eine Feststellung der Einwohnerzahl, sondern um nothwendige Einblicke in Verhältnisse, geistige und wirthschaftliche Zustände und Interessen des Volks- und Staatslebens handelt, von denen sich nur bei dieser Gelegenheit eine übersichtliche Erkenntniß gewinnen läßt. Zeigte sich aber der störende Mangel, wie gesagt, schon bei den bisherigen Zählungen, so wird er sich bei der nächsten noch unangenehmer fühlbar machen, wenn ihre Fragen die complicirte Ausdehnung erhalten sollten, welche der berühmte Statistiker Dr. Engel in seiner vor Kurzem veröffentlichten ausgezeichneten Druckschrift („Die Aufgaben des Zählungswerkes im deutschen Reiche.“ Berlin, Verlag des kaiserlichen statistischen Bureaus) als durchaus erforderlich bezeichnet hat. Das Publicum begreift eben den Zweck aller dieser nach den Privatverhältnissen des einzelnen spähenden Fragen nicht, weil es ohne jede unterweisende Vorbereitung von denselben überrascht wird. Das mißtrauische Verweigern oder die bald absichtslose, bald vorsätzliche Verkehrtheit der Antworten und Angaben ist daher ebenso erklärlich, wie es die Vergeblichkeit der mannigfach unternommen Bemühungen ist, den Uebelstand sowohl im Interesse der hochwichtigen Angelegenheit, wie der fortschreitenden Volksbildung auf dem Wege der Belehrung durch die Presse und in den Vereinen allmählich zu beseitigen.

Beide Mittel reichen nicht aus, weil sie nur zu einem geringeren Theile des Volkes dringen, während in diesem Falle die gesammte Bevölkerung bis auf jedes Mitglied, jede einzelne Behausung, Werk- und Arbeitsstätte derselben in Betracht kommt. Sehr erfreulich ist es daher, daß Dr. Engel im Hinblicke auf seinen erweiterten Zählungsplan noch eine fernere Art der Einwirkung anzuregen sucht, die einen durchgreifenderen Erfolg verspricht. Es ist die Schule, die er heranziehen, es sind die Lehrer und Schüler, die er für seine Zwecke benutzen will; die Letzteren sollen von dem Erlernten ihren Eltern Mittheilung machen, deren Interesse für die Sache erwecken und so wesentlich dazu beitragen helfen, daß das Bevorstehen der Zählung zur Kenntniß und ihr Nutzen wie ihre Nothwendigkeit zu allgemeiner Anerkennung gelangen. Nach dem Vorschlage des ebenso volksfreundlichen wie volkskundigen Statistikers würden also vom Anfang October 1880 ab auf Anordnung der Staatsbehörde nicht nur die Schüler der Gymnasien sondern auch aller öffentlichen Elementar-, höheren Töchter-, Bürger-, Real- und mittleren wie niederen Fachschulen des Reichs in eigens dazu angesetzten Unterrichtsstunden (wofür nöthigenfalls die der Heimathskunde und der Geographie zeitweise ausfallen können) von hierzu besonders geeigneten Lehrern auf die Zählung aufmerksam gemacht und über ihre Bedeutung belehrt werden. Gleichzeitig sollen die Schüler durch praktische Uebungen mit der Art und Weise der Beantwortung der gestellten Fragen vertraut gemacht und es sollen Beispiele solcher Uebungen in einem unentgeltlich vertheilten „Leitfaden für einen Unterricht in den Zählungen von 1880“ den Lehrern dargeboten werden, die ihrerseits dann wieder durch ihr Vertrautsein mit der Aufgabe das gute Gelingen derselbe zu sichern und sich als Mitglieder der Zählcommissionen in den Dienst derselben zu stellen hätten.

Da die Statistik in erster Linie auch Heimathskunde und diese ein nothwendiger, wenn auch noch nicht überall gebührend beachteter Unterrichtsgegenstand ist, so läßt sich, unserer Auffassung nach, von der Ausführung des Engel’schen Vorschlages auch ein eingreifender pädagogischer Nutzen erwarten. An einem thatsächlich unter ihren Augen sich vorbereitenden und abspielenden Staatsact großen Stiles würden Lehrer wie Schüler klare Vorstellungen und Begriffe von dem Wesen und der praktischen Anwendung einer hochbedeutsam gewordenen Wissenschaft erhalten, und ihre directe Betheiligung an der Vollführung dieses Acts würde auch in sittlicher und patriotischer Hinsicht namentlich für die Hebung des staatsbürgerlichen Bewußtseins ein Sporn sein. Wir glauben deshalb, daß das wahre Interesse der Schule und aller nicht aus Bequemlichkeit vor einer neuen Bemühung zurückschreckenden Lehrer die Einführung dieses neuen Bildungs- und Uebungsmittels sehr wünschenswerth macht.




Berichtigung. In dem Artikel „Im Schwarzwald“ von G. von Seydlitz (Nr. 32 und 33) ist die versehentlich in den Text gerückte Parenthese, den Meyer’schen „Wegweiser durch den Schwarzwald etc.“ betreffend, als eine Einschaltung der Redaktion nicht des Herrn Verfassers, zu betrachten. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit nachträglich, daß auch G. von Seydlitz einen „Neuen Wegweiser durch den Schwarzwald und den Odenwald etc.“ erscheinen ließ, von dem die vierte Auflage 1876 bei L. Schmidt in Freiburg im Breisgau erschienen ist.


Kleiner Briefkasten.

M. von G. in New-York. Herr, Sie sind wirklich von einer kindlichen Naivetät. Erstens fragen Sie uns, was der Preis sein würde für Ihr Portrait auf der ersten Seite unseres Blattes nebst ausführlicher Biographie; dann geben Sie uns einen wunderbaren Vorschmack von letzterer durch die Enthüllung, daß Sie „1873 beinahe neunzehn Jahre alt“ gewesen, daß Sie einmal als Straßenmusikant gereist, aber mit Ihrem Ritterkreuz „vom goldenen Löwen“ in der Tasche, um sich allezeit als Sie selbst ausweisen zu können, und unterzeichnen sich schließlich als „Ex-Schüler des Kölner Conservatoriums“. – Wir wollen nicht an Ihrer Berühmtheit in Amerika und Europa zweifeln, aber trotzdem müssen wir uns das Vergnügen versagen, Ihr Antlitz „für Geld und gute Worte“ in unserem Blatte zu begrüßen. Erst etwas Tüchtiges leisten, Verehrtester, und dann – dem Verdienst seine Krone! Die „Gartenlaube“ will nicht berühmte Leute machen, sie will vielmehr bereits berühmte und verdienstvolle Häupter der Nation vorstellen, und daß sie dies nicht nur nach eigenem besten Ermessen, sondern auch auf eigene Kosten thut, hätten Sie sich doch wohl selbst sagen können.

B. M. in Halle. Warum anonym? Wir bitten Sie, zu bedenken: Gehört diese Privatangelegenheit Ihrer Freundin wirklich in die große Oeffentlichkeit? Muß dieselbe mehrere hunderttausend Male abgedruckt werden, nur damit Sie und Ihre Freundin, zwei Personen, das lesen, was Sie Beide ganz allein interessirt? Dürfen wir den Lesern zumuthen, in unserem Blatte Dinge gedruckt zu erhalten, die sie nicht verstehen und die sie nichts angehen? Nein! Hier hat der Brief einzutreten. Wir sind stets bereit, in solchen Privatsachen brieflich Rath und Auskunft zu ertheilen, soweit wir uns dazu berufen und verpflichtet fühlen. Anonyme Zuschriften finden der Regel nach keine Beachtung.

F. B. in Köln und vielen Andern. Wie oft sollen wir wiederholen, daß auf die Einsendung von Gedichten die Antwort Abdruck oder Vernichtung ist? Ganze Sammlungen von „Poesien“ werden überdies wegen der uns mangelnden Zeit zu kritischer Beschäftigung unberücksichtigt gelassen. Wer auf Beachtung seitens der Redaction zählt, sende niemals mehr als zwei, höchstens drei Gedichte auf einmal!

Alois F. Kommt nächstens zum Druck. Lassen Sie gütigst immer eine Seite Ihres Manuscripts ohne Schrift!

E. M. in W. Richtig erhalten! Besten Dank und herzlichen Gruß! Senden Sie mehr dieses Genres!

Bertold K. in Marburg. Nein!

Abonnent K. in Ribnitz. In voriger Nummer.

Schloß Pipin. Wir bitten, zur Beantwortung Ihrer Anfrage, um Ihre Adresse.

C. Müller. Welches Marienberg ist Ihr Wohnort?

A. B. Wurde als ungeeignet vernichtet.

B. H-le in München. Wenden Sie sich an Herrn Professor von Nußbaum dort!



Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Im Geiste des obigen Artikels sind Schilderungen gehalten, welche die unseren Lesern seit Jahren rühmlichst bekannten Gebrüder Adolf und Karl Müller in dem Album: „Der Hund und seine Jagd“ (Frankfurt a. M., May und Söhne) den deutschen Waidmännern und Naturfreunden demnächst bieten werden. Mit sechszehn Original-Aquarellen und einer Titelvignette von C. F. Deiker geschmückt, verbreitet sich das dankenswerthe Buch eingehend über die Pflege, Erziehung und Schule des Hundes, wie überhaupt über den Lebensgang desselben bis zu seiner vollkommenen Jagdpraxis. Das prachtvoll ausgestattete Album, von dem in diesen Tagen die erste Lieferung versandt werden wird, und das dem Publicum noch vor Weihnachten abgeschlossen vorliegen soll, ist ein Werk von großem praktischen Werthe für alle Jagd-, Thier- und Naturfreunde und sei denselben hiermit warm empfohlen.
    D. Red.