Das Evangelium der Toleranz
Im November 1778, als Lessing noch an seinem Schauspiel „Nathan der Weise“ arbeitete, kam er in einem Briefe an seinen Bruder Karl auf die Möglichkeit zu sprechen, daß das Stück endlich doch einmal auf’s Theater kommen könnte, und fügte hinzu: „Wenn es auch erst nach hundert Jahren wäre.“
Erst in den gegenwärtigen Wochen sind die hundert Jahre dieses Ausspruchs verflossen; aber schon vier Jahre nach dem Erscheinen des gedruckten Stückes, zwei Jahre nach dem Tode des großen Literatur-Reformators, hatte die erste Aufführung des „Nathan“ stattgefunden. In einem ungedruckt gebliebenen Vorwort zu dem Stücke sagte Lessing: „Noch kenne ich keinen Ort in Deutschland , wo dieses Stück jetzt aufgeführt werden könnte, aber Heil und Glück dem, wo es zuerst aufgeführt wird!“ Diejenige Stadt, welcher Lessing, mit Bezug auf die Tendenz dieser Dichtung, im Voraus „Heil und Glück“ wünschte, war Berlin. In der That konnte und durfte es keine andere sein, als die Hauptstadt desjenigen Staates, dessen großer König erklärt hatte, es könne hier „Ein Jeder nach seiner Façon selig werden“ – So gut wie das „Auch hier sind Götter!“ hätte auch jenes Wort Friedrich’s des Großen als Motto zu der Dichtung gepaßt.
Die sittliche und sociale Bedeutung des Lessing’schen Gedichtes überwiegt bei weitem dessen Wichtigkeit für die Geschichte und Entwickelung der dramatischen Poesie und des deutschen Theaters. In dieser Beziehung waren „Minna von Barnhelm“ und „Emilia Galotti“ folgenreichere Thaten. Für Lessing’s „Nathan“ ist deshalb auch das literarische Jubiläum von größerer Bedeutung als das theatralische. So groß auch die Kunst war, mit welcher er den so vorwiegend lehrhaften Charakter seines Gedichtes in dramatische Form zu bringen wußte, so hat doch auf dem deutschen Theater „Nathan“ seine feste Position nur durch seine Tendenz, durch seinen sittlichen Gehalt erlangt. Lessing selbst täuschte sich über den dramatischen Werth seiner Dichtung keineswegs. Er bezeichnet sie wiederholt in seinen Briefen als eine Frucht weniger des Genies als der Polemik, und schon im April 1779 schrieb er. „Es kann wohl sein, daß mein „Nathan“ im Ganzen wenig Wirkung thun würde, wenn er auf das Theater käme, welches wohl nie geschehen wird. Genug, wenn er sich mit Interesse nur lieset, und unter tausend Lesern nur Einer daraus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt.“ Man beachte wohl: an der Evidenz und Allgemeinheit! Das
[5][6] heißt: an dem Alleinseligmachenden. Und hier sagt er nicht: der christlichen Religion, sondern „der Religion“ schlechtweg. Nur mit Bezug auf diese große Tendenz konnte auch ein Lessing, der so bescheiden von seinem poetischen Genie dachte, mit Stolz jene eben angeführten Worte schreiben. „Heil und Glück der Stadt“ etc.. In diesem Sinne ist das Werk das kostbarste Vermächtniß, das ein Dichter der deutschen Nation hinterließ, nicht nur der Nation, sondern der Menschheit; denn es ist das Evangelium der Toleranz, das Hohelied der Menschenliebe.
Die Vorgeschichte des Lessing’schen Dramas ist bekannt, aber wir müssen hier diejenigen Momente derselben berühren, die mit dem Kern der Dichtung im innigsten Zusammenhange stehen.
In den Jahren 1774 und 1777 gab Lessing, damals Bibliothekar an der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, die sogenannten „Fragmente eines Ungenannten“ heraus. Lessing hatte in seinem Vorbericht zu dem ersten Fragment die Meinung über den wahren Autor mit großer Vorsicht und aus triftigen Gründen irre zu leiten gesucht. Man hielt deshalb anfänglich Lessing selbst für den Autor. Erst später wurde es bekannt, daß der eigentliche Verfasser der im Jahre 1768 in Hamburg verstorbene Professor Hermann Samuel Reimarus war, ein entschiedener Anhänger der Wolf’schen Philosophie. In dem Manuscripte ist sein Werk betitelt: „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes.“ Lessing, der eine Abschrift dieses Manuscriptes von der Familie des Verstorbenen erhalten hatte, gab vor, dasselbe in der Wolfenbütteler Bibliothek gefunden zu haben. Er wollte dabei weder über den Autor etwas wissen, noch auch darüber, wie das Manuscript in die Bibliothek gekommen, ob es Fragmente eines Werkes seien etc..
Die Vorsicht bei der Veröffentlichung war durch die Rücksicht auf die Familie Reimarus, wie durch den Willen des Verfassers geboten, der eine so zeitige Veröffentlichung seines Manuskriptes nicht gewollt. Kühn genug war es, daß Lessing überhaupt von dem Manuscript etwas veröffentlichte. Denn da der Inhalt eine freimüthige Kritik der historischen Grundlagen des Christenthums war, und da in dieser Kritik die Auferstehung, die Wunder etc.. entschieden bestritten wurden, so konnte der Herausgeber erwarten, daß die Theologen in Eifer und Zorn gerathen würden. Lessing begleitete die Fragmente mit Bemerkungen, in denen er seinen eigenen Standpunkt durchaus wahrte; er deutete selbst an, was gegen die Einwendungen des ungenannten Autors zum Schutze der Bibel sich allenfalls sagen ließe. „Ja,“ fügte er hinzu, „selbst wenn nichts Entscheidendes sich dagegen sagen ließe, so wäre man darum noch keineswegs genöthigt, dem Ungenannten Alles zuzugeben, was er daraus zum Nachtheile der christlichen Religion folgerte.“ Noch bestimmter wahrte Lessing seinen eigenen Standpunkt in dem großen Satze: „Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen die Bibel nicht eben auch Einwürfe gegen die Religion.“
Trotz alledem machten die orthodoxen Theologen, an ihrer Spitze Pastor Melchior Göze in Hamburg, Lessing selbst für den Inhalt der Fragmente verantwortlich. Welche Streitigkeiten daraus sich entwickelten, ist bekannt. Die gegen Lessing gerichteten Angriffe des Pastor Göze riefen eine ganze Reihe von Schriften hervor, welche für seine unvergleichliche Meisterschaft in der Polemik Zeugniß geben. Aber die vernichtende Satire in der Form von Streitschriften, von denen die meisten unter dem Titel „Anti-Göze“ erschienen, ist es nicht allein, welche denselben Reiz und Werth verleiht. Der hamburgische Hauptpastor hatte ziemlich unverhohlen Lessing’s Christenthum selbst in Zweifel gezogen, und dagegen hatte sich Lessing mit dem höchsten sittlichen Ernste verwahrt. In seinem „Anti-Göze“ Nr. 7 bekennt er, daß der Verfasser der Fragmente, laut dem Vorbericht zu seinem Manuskripte, eine so baldige Veröffentlichung nicht gewünscht hatte, daß er die Gedanken nur zu seiner eigenen Gemüthsberuhigung niederschrieb. Sein Ungenannter habe geglaubt, daß die Zeiten sich erst mehr aufklären müßten, ehe man das, was er für Wahrheit hielt, öffentlich predigen könne. „Ich aber,“ setzt Lessing dem entgegen, „ich glaube, daß die Zeiten nicht aufgeklärter werden können, um vorläufig zu untersuchen, ob das, was er für Wahrheit gehalten, es auch wirklich ist.“ Und in einer späteren Schrift, die erst ist seinem Nachlasse sich vorfand, sagt er in Bezug auf die Fragmente und ihren ungenannten Verfasser: er habe denselben deshalb in die Welt gezogen, weil er nicht länger mit ihm allein habe unter einem Dache wohnen wollen „Ich bekenne, daß ich seinen Zuraunungen nicht immer so viel entgegen zu setzen wußte, als ich gewünscht hätte. Uns, dachte ich, muß ein Dritter entweder näher zusammen oder weiter auseinander bringen, und dieser Dritte kann Niemand anders als das Publicum sein.“ Solche Dinge sprach ein Lessing nicht, um sein Verfahren zu beschönigen, sondern weil dies seine wahrste, innerste Meinung war. Gleichwohl hatte der Lärm, welchen Pastor Göze gegen den Ungenannten und gegen Lessing selbst schlug, endlich doch zur Folge, daß im Juni 1778 die Waisenhausbuchhandlung von der braunschweigischen Regierung den Befehl erhielt, nicht das Geringste mehr von Lessing zum Druck anzunehmen, falls nicht die Handschrift zuvor einem fürstlichen Ministerium eingesandt und von demselben gebilligt wäre.
Lessing wollte die Confiscation des neuen Fragments gern geschehen lassen daß man aber seine eigenen Schriften ebenfalls confisciren wollte, mochte er nicht ruhig hinnehmen. Seinem Bruder Karl schrieb er deshalb im Juli 1778: „Darüber beiße ich mich auch noch gewaltig herum, fest entschlossen, die Sache auf’s Aeußerste ankommen zu lassen und eher meinen Abschied zu nehmen, als mich dieser vermeintlichen Demüthigung zu unterwerfen.“
Lessing hatte Ende 1777 und Anfang des folgenden Jahres furchtbar harte Schicksalsschläge zu erdulden, die seine kurze Vaterfreude und sein kurzes eheliches Glück vernichteten. Auch die theologischen Streitigkeiten mußten ihm, trotz der noch ungebrochen sein Wesen erfüllenden Kampfeslust, endlich herzlich überdrüssig werden, gerade weil er es redlicher mit der Sache meinte, als irgend Einer. Nach allem Erlebten war es begreiflich, daß er aus den theils widerwärtigen, theils rauhen Berührungen mit dem wirklichen Leben wieder einmal Zuflucht in der dichterischen Thätigkeit suchte. Den Ausschlag aber gab wohl sein Handel mit der braunschweigischen Regierung. Im August 1778 schrieb er seinem Bruder hierüber: um auf Alles dabei gefaßt sein zu können, müsse er Geld haben, und da sei ihm in der vergangenen Nacht ein „närrischer Einfall“ gekommen. Schon „vor vielen Jahren“ hätte er ein Schauspiel entworfen, dessen Inhalt eine Art von Analogie mit seinen gegenwärtigen Streitigkeiten habe. Er verweist hierbei seinen Bruder auf die dritte Novelle in Boccaccio’s „Decameron“, zu welcher er „eine interessante Episode“ erfunden habe, und er schickte ihm zugleich eine Ankündigung des Stückes zu, um damit eine Subscription auf dasselbe zu veranstalten.
Es ist rührend und schmerzlich, zu sehen, wie die heimliche Geldnoth den stolzen Mann antrieb, die Dichtung sobald wie möglich zu vollenden, und wie später, als durch seines Bruders Vermittelung ihm von einem seiner Verehrer, dem selber nicht wohlhabenden jüdischen Kaufmanne Wessely, eine Summe vorgeschossen wurde, die stete Sorge an ihm nagte, daß die Subscription vielleicht jene Schuld nicht decken könnte.
Noch ehe er im Besitze des Geldes war, schrieb er (den 20. October) an Karl G. Lessing: „Ich besorge schon, daß auch auf diesem Wege (dem der Subscription), auf welchem so Viele etwas gemacht haben, ich nichts machen werde, wenn meine Freunde für mich nicht thätiger sind, als ich selbst. Aber wenn sie es auch sind, so ist vielleicht das Pferd verhungert, ehe der Hafer reif geworden.“ Zwei Wochen später plagt er sich wieder mit dem Gedanken, daß die Sorge, Geld zu schaffen ihn in seiner Arbeit sehr stören werde. Und nochmals, im Mai 1779, schreibt er bezüglich der Subscription an seinen Bruder: „Ich weiß weder, wie viel Subscribenten Du, noch wie viel Voß hat. Am Ende kann ja Voß nicht einmal so viel haben, daß nur die dreihundert Thaler an M. W. in Leipzig davon bezahlt werden können. Alsdann käme ich gut an! Denn ich habe an M. W. einen Wechsel darüber auf vier Monate ausgestellt, der mir sodann auf den Häls käme, ohne daß ich die geringste Anstalt deshalb gemacht hätte. Du glaubst nicht, wie mich das bekümmert, und es wäre ein Wunder, wenn man es meiner Arbeit nicht anmerkte, unter welcher Unruhe ich sie zusammenschreibe.“
Von den ungeheuren Schätzen, dem ägyptischen Tribute, womit er im letzten Acte des Stückes seinen geldbedürftigen Saladin bereicherte, konnte Lessing sich selbst nichts andichten. Das Geschäft übernahmen dann spätere Andere, welche ihm in verleumderischer Absicht tausend Ducaten andichteten, die er für [7] seine Veröffentlichung der „Fragmente“ von der Judenschaft in Amsterdam als Geschenk bekommen haben sollte.
Kehren wir zu der dichterischen Arbeit und zu ihrer Geschichte zurück. Jene schon erwähnte „Ankündigung“ schickte er auch an seine Freundin Elise Reimarus (die Tochter des Verfassers der „Fragmente“) und bemerkte dazu. „Wenn Sie im ‚Decameron’ des Boccaz die Geschichte vom Juden Melchisedech, welche in meinem Schauspiele zu Grunde liegen wird, aufschlagen wollen, so werden Sie den Schlüssel dazu leicht finden. Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.“
In der That war ihm, wie er im October 1779 an seinen Bruder schreibt, vom braunschweigischen Ministerium sogar verboten worden, „auch nicht einmal auswärts etwas drucken zu lassen“, was er nicht zuvor der Censur eingesandt. „Das wäre mir eben recht,“ ruft er aus, „ich thue das nicht, mag auch daraus entstehen, was da will!“ Dann fährt er fort: „Jetzt ist man hier auf meinen Nathan gespannt und besorgt sich davon, ich weiß nicht was. Aber, lieber Bruder, selbst Du hast Dir eine ganz unrechte Idee davon gemacht. Es ist nichts weniger, als ein satirisches Stück, um den Kampfplatz mit Hohngelächter zu verlassen. Es wird ein so rührendes Stück, als ich nur immer gemacht habe“ etc..
Kurz darauf, im November desselben Jahres, kommt er in einem Briefe an seinen Bruder wieder darauf zurück, daß der Plan des Stückes schon vor drei Jahren gemacht war. „Ich habe es jetzt nur wieder vorgesucht, weil mir auf einmal beifiel, daß ich, nach einigen kleinen Veränderungen des Plans, dem Feinde auf einer andern Seite damit in die Flanke fallen könne.“ Dennoch setzte er, mit Bezug auf gewisse von dem Buchhändler Voß geäußerte Bedenken, hinzu, daß derselbe sich über diesen Punkt völlig beruhigen könnte. „Mein Stück hat mit den jetzigen Schwarzröcken nichts zu thun, und ich will ihm den Weg nicht selbst verhauen, endlich doch einmal auf’s Theater zu kommen, wenn es auch erst nach hundert Jahren wäre. Die Theologen aller geoffenbarten Religionen werden freilich innerlich darauf schimpfen, doch dawider sich öffentlich zu erklären, werden sie wohl bleiben lassen.“
Zu dem Prosa-Entwurfe des Schauspiels, der uns glücklicher Weise erhalten geblieben ist, hatte Lessing mehrere Notizen über den Fortschritt der Arbeit gefügt. Danach hatte er die Ausführung oder Versificirung der Dichtung Mitte November 1778 angefangen und Mitte März 1779 vollendet. Aber schon bald nach Beginn der Arbeit hatte er auch mit dem Drucke anfangen lassen, sodaß er schon den 1. December 1778 an seinen Bruder den Anfang des Stückes schicken konnte.
Die von Lessing als Quelle bezeichnete Geschichte aus Boccaccio’s „Decameron“, diesem so viel benutzten italienischen Novellenschatz, bildet in dem Lessing’schen Stücke nur eine hervorragende Scene, während alles Uebrige erfunden wurde. Das Bewundernswürdige bei dieser Erfindung ist nun weniger die poetische Inspiration, als die Schärfe des kritischen organisirenden Geistes, welcher alle Theile der Handlung zu dem Einen Punkte führt, auf den es ankommt. Auch diejenigen Abweichungen, welche der Dichter für zweckmäßig hielt, und welche hauptsächlich zu einer festern Zeichnung seiner Charaktere dienten, sind in Lessing’s Vertiefung und Erweiterung des Gedankens begründet. Die Geschichte von dem Sultan Saladin und dem Juden Melchisedech war übrigens auch nicht Boccaccio’s Erfindung, sondern sie findet sich ihren Grundzügen nach schon in den „Hundert Novellen“ und in den „Gesta Romanorum“. J. Dunlop, in seiner „Geschichte der Prosadichtungen“, meint, daß die meisten Geschichten, welche „einen Spott gegen die christliche Religion“ zu enthalten scheinen, von den Juden und Arabern Spaniens gekommen wären, und auch diese Geschichte sei wahrscheinlich irgend einer rabbinischen Tradition entsprungen. Dagegen muß aber bemerkt werden, daß es eine alte persische Erzählung giebt, die einige Aehnlichkeit mit der Ring-Geschichte hat; daß es sich aber dort weder um die jüdische noch um die christliche Religion sondern nur um drei verschiedene mohammedanische Secten handelt.
Wie dem auch sei: Lessing schöpfte direct aus dem „Decameron“ und ließ die Begebenheit in ihren äußeren Zügen ziemlich unverändert. Auch bei Boccaccio ist es Sultan Saladin, der – da er in großer Geldnoth ist – sich eines sehr reichen und sehr geizigen Juden (Melchisedech) erinnert, dem er, um von ihm durch eine List Geld zu erlangen, die Frage vorlegte, „welche von den drei Lehren, die jüdische, die saracenische oder die christliche, er für die wahrhafte halte.“
Von dieser Exposition der Geschichte ist Lessing nur darin abgewichen, daß er die List nicht vom heldenhaften Saladin selbst kommen läßt, sondern daß dieser erst durch seine Schwester dazu angetrieben wird, eine zwar für die Sache nicht wesentliche, für die Charaktere des Stückes aber vortreffliche Motivirung. Die Antwort, welche bei Boccaccio der Jude giebt, hat von Lessing zunächst das für seinen ethischen Zweck ungemein wichtige Motiv als Zuthat erhalten, daß der Ring, den der Vater stets nur Einem von seinen Söhnen hinterläßt, diesem nicht nur das größte Ansehen über seine Brüder verleiht, sondern daß der Ring zugleich die geheime Kraft besaß,
„Vor Gott und Menschen angenehm zu machen,“
ein Umstand, der gerade in der Anwendung auf die drei Religionen von größter Bedeutung ist. Bei Boccaccio schließt denn auch die Erzählung des Juden damit, daß die drei Söhne ihre Ringe nicht von einander unterscheiden können, und daß der Jude dieses Beispiel auch auf die drei Religionen bezieht. Alles was hiernach noch folgt, der Streit der Söhne unter einander, ihre Klage vor dem Richter und die herrliche Entscheidung des Richters, ist die Zuthat Lessing’s. Der Zug des feinen Spottes, der möglicherweise in der ursprünglichen Quelle gelegen, löst sich bei Lessing völlig in der Erhabenheit der Idee und in der ergreifenden Größe ihrer Durchführung auf.
Man hat dem Lessing’schen Stücke zum Vorwurf machen wollen, daß darin die Christen die unvortheilhafteste Rolle spielen. Man übersieht aber dabei, daß Lessing das Stück ausdrücklich gegen christlichen Hochmuth und christliche Intoleranz schrieb, weil diese in unseren europäischen Verhältnissen die eingreifendste Herrschaft übte, und weil ihm auch die Reinheit derjenigen Religion, welcher er selbst angehörte, mehr am Herzen lag, als die einer anderen.
Mit jener Sorte von „Toleranz“, welche nur das Negative dulden will, hat Lessing’s Anschauung nichts zu schaffen, und es ist unbegreiflich, daß auch heute noch Manche den Dichter in diesem Punkte mißverstehen. Gegen das Positive in der Religion wendet sich Lessing nur da, wo dasselbe eben die Unduldsamkeit in sich schließt. Läßt er es nicht z. B. in dem Klosterbruder, diesem entzückenden Musterbilde christlicher Demuth, Herzenseinfalt und Frömmigkeit, unangetastet? Die Fehler des jungen Tempelherrn sind Fehler seiner Jugend, Rauhheiten seines Standes; trotz derselben zeichnet ihn der Dichter doch vorwiegend als eine liebenswürdig männliche und offene Natur.
Unter den christlichen Personen des Stückes – die ausgezeichnete Charakteristik Daja’s betrifft doch mehr das Weib, als die Christin – ist mit unnachsichtiger Schärfe nur der Patriarch gezeichnet, als der unduldsame hochmüthige Pfaffe, dem nur die Macht der Priesterschaft, nicht aber die Reinheit und Größe des Christenthums am Herzen liegt. Uebrigens ist diese Figur auch eine historische, das Original war der Patriarch Heraklius in Jerusalem, ein notorisch nichtswürdiges Subject, und Lessing spricht in einer der Anmerkungen, die seinen Prosa-Entwurf zum Nathan begleiten, sein Bedauern aus, daß dieser Patriarch in seinem Stücke „noch bei weitem so schlecht nicht erscheint, als in der Geschichte.“ Allerdings hat Lessing in dem eigentlichen historischen Charakter des Stückes, dem Sultan Saladin, das geschichtliche Vorbild sehr verschönt und veredelt; aus dem einfachen Grunde, weil er ihn so für die Dichtung brauchte. Aber Saladin kann ebenso wenig als Repräsentant der mohammedanischen Religion betrachtet werden, wie der Patriarch als Vertreter der christlichen oder auch wie Nathan der jüdischen.
Nathan, als die Hauptperson des Stückes, mußte auch der Vertreter der sittlichen Idee desselben werden. Das war dem Dichter schon durch den Novellenstoff vorgeschrieben. Wer daraus folgert, daß in dieser Dichtung „der Jude“ auf Kosten der Christen erhoben ist, der vergißt zunächst, daß auch Nathan nicht als der strenge „Jude“ hingestellt wird, sondern als „der Weise“, nicht als der weise Jude, sondern als „der Weise“ überhaupt; nur als solcher war er im Stande, Recha weder als Christin, noch als Jüdin zu erziehen, sondern in der Religion der Sittlichkeit [8] und der Menschenliebe. Als strenggläubiger Jude würde Nathan am allerwenigsten eine solche Weltreligion der Menschenliebe gelehrt haben.
Der Lehrer dieser Religion ist aber der Dichter, ist Lessing selbst. Man hat Lessing’s Freund, Moses Mendelssohn, zum Vorbild für den Nathan machen wollen. Eines solchen Vorbildes bedurfte aber Lessing nicht, und jene Annahme ist allein darauf zurückzuführen, daß Lessing, da er den „Nathan“ schrieb, einen Moses Mendelssohn schätzte und liebte. Daß Lessing der jüdischen Religion denselben Vorwurf der Intoleranz machte, beweisen hinlänglich die Worte, welche er im „Nathan“ (2. Act, 5. Auftritt) dem jungen Tempelherrn in den Mund legt, über die Unduldsamkeit des jüdischen Glaubens, des jüdischen Volkes,
„seines Stolzes,
Den es auf Christ und Muselmann vererbte:
Dies ist des Dichters eigener Gedanke, der denn auch selbst wieder, in der Person des Nathan, darauf antwortet:
„Was heißt denn Volk?
Als Mensch?“
Sehr richtig aber hat Moses Mendelssohn geurtheilt, wenn er sagte, daß gerade der Christenheit Lessing’s Stück zur höchsten Ehre gereiche; denn ein Volk, in welchem sich ein Mann zu dieser Höhe der Gesinnungen hinaufschwingen konnte, mußte auf der höchsten Stufe der Aufklärung und der Bildung stehen.
Wenn wir, von der großen, erhabenen Tendenz absehend, die hell und klar wie die Sonne aus Lessing’s Dichtung uns entgegenstrahlt, den dramatischen Gehalt derselben prüfen, so können wir getrost zugeben, daß im „Nathan“ der eigentliche dramatische Pulsschlag kein besonders starker ist. Die ganze von Lessing erfundene Handlung besteht in den Verwandtschaftsverwickelungen oder vielmehr in der Lösung derselben; denn die Bedrohung Nathan’s durch den Patriarchen bringt, weil ohne Folgen dastehend, kaum eine stärkere Bewegung in die Sache. Aber auch die Verwickelung und Aufklärung der verschiedenen verwandtschaftlichen Beziehungen, obschon sie vortrefflich, wie die ganze Gruppe von Charakteren, der einen großen Idee des Dramas dient, hat an sich wenig Dramatisches oder Poetisches, so sehr sich auch in der Ausbeutung, in der lebendigen Farbe des Ganzen der wahrhafte Dichter zeigt. Mehr freilich noch in der vollendeten und lebensvollen Darstellung der Charaktere. In diesen Charakteren liegt der Schwerpunkt des Ganzen, nicht in der fortschreitenden Handlung. Diejenigen Scenen, welche unser Gemüth am stärksten bewegen, üben diese Wirkung durch die große Kunst des Dichters, mit der er den tiefsten geheimsten Empfindungen seiner Personen den ergreifendsten Ausdruck zu geben weiß.
Wo uns solche Schätze dargeboten sind, wäre es nicht thöricht, da zu sagen: Wir verlangen dafür etwas Anderes, wollen erschütternde Spannung und Aufregung, nicht das Labsal dieses reinen, erhebenden und läuternden Erquickungstrankes? Daß dieser ruhige, geräuschlose Gang der Handlung zu der Tendenz des Gedichtes vollkommen stimmt, darüber war sich Lessing selbst von vornherein vollkommen klar, und daß die Composition einer lebhafteren, schnell fortschreitenden Handlung nicht außerhalb seiner dramatischen Befähigung lag, sehen wir ja an „Emilia Galloti“. Aber ein Werk, das uns von den nichtigen Außendingen dieser Welt so ganz auf unser Innerstes, auf unsere reinste Menschlichkeit zurückführt, konnte und mußte sogar durch einen gemesseneren Gang auf unser Empfinden wirken. Nicht gewaltige Felsennatur, nicht stürzende Gewässer und brausende Stürme sind es, was uns hier umgiebt, sondern wir wandeln in einem heilig-stillen Haine, dessen hohe und leise sich bewegende Wipfel in den Himmel zu ragen scheinen.
David Friedrich Strauß hat Recht, wenn er in einer Vergleichung des „Nathan“ mit Mozart’s „Zauberflöte“ diese beiden Werke als schon „aus einer bessern Welt stammende Schöpfungen“ ihrer dem Heimgange nahen Schöpfer bezeichnet. Und wahrlich, wie vielen Patriarchen und andern Christenmenschen seit hundert Jahren auch Lessing’s „Christlichkeit" Scrupel gemacht hat: das reine Christenthum, diese Religion der Liebe, hat noch keine größere und beredtere Verherrlichung gefunden, als durch den Dichter des „Nathan“.
- ↑ In das mit dieser Nummer eröffnete Quartal fallen die Geburtsjubiläen Lessing’s (geboren 22. Januar 1729) und seiner hervorragendsten Dichtung „Nathan der Weise“ (vollendet Mitte März 1779). Dies die Veranlassung zu obigem Artikel.
Die Redaction.