Irrende Sterne
Irrende Sterne.
„Sobald ich weg bin, lieber Rüchel, nehmen Sie alle die Sachen, die ich Ihnen bezeichnet habe, und schaffen sie in meine – in unsere neue Wohnung, wollte ich sagen.“
„Jawohl – in unsere neue Wohnung.“
Es war ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, der dieses zu einem älteren Manne sagte. Jener trug die dunkle, goldgestickte Uniform eines Civilbeamten, die auf irgend eine hohe feierliche Gelegenheit hindeutete, und warf im Spiegel noch einen letzten Blick auf seinen Anzug. Mit dem Menschenbilde, das ihm daraus entgegenschaute, konnte er gerade zufrieden sein. Nicht sehr Viele hatte Mutter Natur so wohl ausstaffirt in’s Leben gestellt. Eine ansehnliche Figur – schlank, in den Schultern breit, dabei in mannesbewußter Haltung, ferner ein Kopf mit ein paar großen, grauen und hellen Augen, aschblondes volles Haar und ein gerade nicht vernachlässigter Schnurrbart gruppirten sich zu einer männlichen Erscheinung, welche die Augen gar mancher Evatochter auf sich zu ziehen vermögend war.
„Jawohl, wenn ich so ausgesehen hätte, wie ich heirathsfähig war, dann hätte ich auch eine Andere bekommen, als die meinige. Sie können lachen, Herr Assessor.“
Der Andere, der sich außer dem Assessor in der einfach eingerichteten Stube befand und diese Bemerkung machte, war etwa um zwanzig Jahre älter. In seinem gebeugten Rücken und in den charakteristischen Bewegungen der Gestalt und Arme verrieth er das Metier, das er durch sein ganzes Leben getrieben hatte – die Stiefel so blank zu machen, daß sie seinem Herrn bei jedem Schritte dessen Spiegelbild vorhielten, und die Kleider so emsig und kräftig zu bürsten, daß er sie in möglichst kurzer Zeit selber tragen konnte. Rüchel suchte noch einige Sachen zusammen.
„Die Kaffeemaschine auch mit in’s neue Logis?“
„Die können Sie behalten, Rüchel.“
„Na freilich – der Kaffee wird Ihnen jetzt besser schmecken, als der, den ich Ihnen gemacht habe.“
Damit zog er ein rothes Tuch heraus und brachte es an sein Gesicht. „Die Mamsell von Gyps mit dem halben Beine – die soll auch mit in das neue Paradies wandern?“
„Die können Sie auch behalten – das heißt, wenn Ihre Frau nicht eifersüchtig darauf wird.“
„Auch noch Witze machen!“ murmelte der Diener und trocknete sein Gesicht wieder mit dem Taschentuche. „Freilich, Sie kriegen eine Schönere – die ist nicht von Gyps, und der alte Rüchel kann mit der da abziehen. Nichts hat auf der elenden Welt doch Dauer als das, was wechselt.“
Dabei stieß er plötzlich Laute aus, daß der jüngere Mann sich nach ihm umwandte.
„Was ist Ihnen, Rüchel?“ fragte er antheilvoll.
Keine Antwort. Rüchel hantirte nur um so eifriger. – Dann wurden ihm die Arme plötzlich gehalten, und der junge Mann schaute ihm fragend in’s Gesicht. Durch diese Bewegung brach letzterer die Zurückhaltung, welche der Diener noch mühsam sich erkämpft hatte. Dieser schluchzte laut auf.
„Aber Rüchel –“
„Nun ja – da soll man am Ende gar noch lustig sein, wenn man von einander geht! Sechs Jahre, Herr Assessor, seit Sie hier sind, sind wir beisammen, und ich war mit Ihnen zufrieden und Sie haben nicht einmal ein Stück Zeug oder einen Stiefel nach Einem geworfen, wie das unter gebildeten Menschen doch so vorkommt, und wenn zu Hause bei mir was passirte, so eine Erkrankung oder Feuersbrunst, immer waren Sie bei der Hand. – Es ist ein gottverfluchtes Schicksal, daß zwei so anständige, so liebe Menschen, wie wir sind, aus einander gehen müssen.“
„Und an mein Glück, Rüchel, denken Sie gar nicht? Nicht daran, daß in zwei Stunden mir das zu Theil wird, wonach Tausende ihr Lebtag vergebens gekämpft haben, was ich in meinem Herzen – ersehnt – o ja – aber nicht zu erhoffen wagte – meine Herzliebe als mein trautes Weib?“ Damit nahm der Sprecher vom Schreibtische ein Bild und drückte es an seine Lippen; dann stellte er es wieder hin und sagte seinem Diener: „Um das Bild brauchen Sie sich nicht zu bekümmern. Das soll kein Anderer berühren – das nehme ich gleich mit mir.“
Es war die mit Oelfarben gemalte Photographie eines jungen und schönen Mädchens. Rüchel betrachtete das Bild und sagte halblaut, gleichsam so für sich:
„Hm, hübsch ist sie – die hätte mir auch gefallen können“.
„Wer?“ fragte der Assessor.
„Na, die da – “
„Wer – die da?“
Rüchel verstand sehr wohl den erhobenen verweisenden Ton in der Stimme des Assessors und antwortete etwas kleinlaut und dabei pikirt:
„Ihr hochgeehrtes Fräulein Braut. Ich hatte es gleich weg, daß mit Ihnen was los war. Früher, da war Alles recht, was ich machte und wie’s war. Als Sie aber anfingen sich nach den [2] Marktpreisen immer zu erkundigen und am hellen lichten Tag Lackstiefel anzuziehen, da wußte ich, was die Glocke geschlagen hatte. Ei – der Assessor, der auch auf den Sprenkel! Sie waren geliefert, wie ich es schon an so vielen meiner Herren erlebt habe. Sie sind nicht der Erste, der –“
Der Assessor lachte und meinte, daß das eben keine sehr erfreuliche Hochzeitsstimmung sei, die Rüchel ihm da bereite.
„Man kann Einem vor dem Heirathen gar nicht genug Angst machen. Jeder glaubt, daß er mit dem Trauschein auch gleich eine gestempelte Versicherung auf ewiges Glück in die Rocktasche mitbekomme. Schön wär’s wohl – aber Sprenkel – Sprenkel!“ Dabei nahm er aus einer großen runden Dose eine Prise Tabak, zog das rothe Taschentuch wieder heraus und schnaubte sich. Der Assessor ärgerte sich im Stillen; er sah nach der Uhr und schaute dann durch das Fenster, ob noch kein Wagen vorgefahren sei.
„Den Wagen habe ich erst just um zwölf Uhr bestellt. Es sind kaum zwanzig Minuten über Elf. Freilich – weiß noch von meiner Hochzeit – und ich bin doch nicht in der Staatskutsche gefahren, aber die Stunde habe ich auch nicht erwarten können.“
„Werden Sie denn auch in die Kirche gehen, Rüchel?“
„Ich? Nein, Herr Assessor! Nur zu heiligen Zeiten und wenn was Freudiges los ist.“
„Rüchel, Sie sind aber von einer Rücksichtslosigkeit –“
„Es ist gut, wenn man auf das Schlimme vorher gefaßt ist,“ war des Famulus trockene Antwort.
Der Bräutigam warf wieder einen Blick in die Straße hinab. Noch ließ sich kein Wagen hören; dann versenkte er wieder Blicke und Gedanken in das Bild, das noch auf dem Schreibtische vor ihm stand.
Rüchel hatte den Vorwurf seines bisherigen Herrn empfunden und erachtete es für nothwendig, den üblen Eindruck abzuschwächen. Er begann davon zu sprechen, daß man seit lange kein so stattliches Paar in der ganzen Stadt zum Altare habe gehen sehen, als den Herrn Assessor von Rechting und seine Braut, Fräulein Doris Lammers. Er habe ihren Vater und ihre Mutter noch gekannt. Der Vater sei als armer Baubeflissener in die Stadt gekommen; die alte Schwiegermutter, also die Großmutter von Fräulein Doris, habe ihm sogar noch den Hochzeitsanzug kaufen müssen, dann aber, nach der Heirath, sei das Glück wie aus Scheffeln über sie gekommen.
„Nun, da sehen Sie es doch, Rüchel, daß Heirathen Glück bringt.
„Einmal ist kein Mal, Herr Assessor. Sie müssen nur nicht denken, daß es ihm von der Frau gekommen ist. Die Frau Bergräthin Lammers, die hätte das Vermögen auch nicht zusammengehalten; die hatte einen gar hohen Gusto – hui – haste was gesehen! Und wenn die Fräulein Tochter ihr nachschlägt – na! – Ein Glück eigentlich war’s, daß sie früh starb. Aber der Mann, der Herr Bergrath, der Vater von Fräulein Doris, der bedeutete drei Männer auf einmal. Auf einer ganz kleinen Klitsche, die er sich mit Schulden erkauft hatte, da hat er angefangen zu arbeiten, nicht über der Erde – Kohl, den kann jeder Stoffel bauen, aber was drunter ist unterm Kohl, das ist, was ihn fett macht. Der hatte gesehen, was da drinnen Alles gesteckt hat – die schönsten Kupfererze. Dann ging’s immer weiter mit dem Bohren hinein und mit dem Arbeiten drunter weg. Und so wurde er der reiche Lammers und Bergrath, und wo man einen gescheidten und braven Mann brauchte, hieß es: Wo ist Lammers? Wie oft habe ich bei den Diners im Hause aufgewartet! Nobel, Herr Assessor! Immer gab’s eine Flasche Wein extra. Die alten Hüte, die der Bergrath abgelegt hatte, die hab’ ich gekriegt, und die Tochter, die kriegen Sie nun, die wär’ mir schon lieber. Eigentlich kann man Ihnen gratuliren – das Kupfer hat viel Gold gebracht. Und wollen wir nur wünschen, daß des Vaters Art nachschlägt. Der infame Wagen kommt noch nicht.“
Wie langsam ging dem Bräutigam der Zeiger der Uhr! Seine Blicke richteten sich immer wieder nach dem Bilde der Braut hinüber, das aus dem dunklen Rahmen heraus mit verklärten Blicken nach ihm schaute. Sie trug ein weißes Kleid, um Kopf und Brust war ein schwarzes Spitzentuch geschlungen, eine dunkle Locke stahl sich aus diesem und ringelte sich auf die Brust. In der Hand hielt sie ihm einen Strauß von vollen Rosen entgegen mit einer Miene, als wollte sie sagen: Da, hier hast Du alle Blüthen, die ich zu bieten habe!
Der Bräutigam nahm das Bild, drückte seine Lippen darauf und flüsterte: „O Doris, wie glücklich werde ich sein!“
„Soll der Briefkasten auch mit in die neue Wohnung?“
„Ja gewiß, Rüchel. Hier nehmen Sie den Schlüssel und sehen Sie nach, ob kein Brief drin ist!“
Rechting hatte gestern im Laufe des Abends vergessen nachzusehen, auch heute. Nach einem Polterabende denkt man an keine Briefe, aber es mochte ja wohl der eine oder andere seiner auswärtigen Freunde oder Verwandten sich veranlaßt gefunden haben, ihm einen Glückwunsch zu schicken.
Rüchel ging und brachte einen Brief zurück. Es war der einzige in dem Kasten. Rechting schien die Handschrift nicht zu kennen; er öffnete das Couvert und sah nach der Unterschrift. Keine! Einen Moment war er unschlüssig, ob er lesen sollte. Er las.
„Anonyme Zuschriften können mehrfache Motive haben. Entweder will der Schreiber eine Bosheit an den Mann bringen oder eine Warnung, deren Quelle die Wahrheit und deren Absicht die der selbstlosesten Theilnahme ist. Der Schreiber dieser Zeilen bittet Sie, Letzteres anzunehmen. Vor dem Verdachte einer Bosheit schützt ihn die einfache Thatsache, daß er keine Verleumdungen gegen das Mädchen vorbringen will, das in wenigen Stunden Ihren reinen und ehrenvollen Namen tragen wird. Er sagt Ihnen nicht etwa: Fräulein Doris ist Ihrer unwürdig; ihr Herz ist kein so reines Gefäß mehr, daß es werth wäre, Ihre Liebe aufzunehmen – nein, selbst die böszüngigste Mißgunst könnte gegen Ihr Fräulein Braut nichts nach dieser Richtung hin vorbringen. Von Fräulein Lammers kann man das Beste sagen, was überhaupt von einem Mädchen gesagt werden kann: Sie hat keine Vergangenheit. Aber ebenso wenig, Herr von Rechting, werden Sie an ihrer Seite eine Zukunft haben. Sie liebt Sie nicht. Was Sie Ihrerseits als Liebe hinzunehmen versucht waren, das war Ihre eigene Herzensfülle, Ihre Sehnsucht nach einem andern Wesen, das Sie gleichsam aus sich selbst heraus im Drange Ihres Herzens sich neu erschufen. Der Reiz, die Anmuth Ihrer Braut, ein gewisser geistiger Anflug, dazu jener Grad von Liebenswürdigkeit und die magnetische Kraft des andern Geschlechts, die jeden Mann gewinnen müssen – diese Eigenschaften haben in der nur kurzen Zeit Ihres Brautstandes Ihre Augen geblendet, oder ich will sagen: Ihr eigenes Herz getäuscht. In Ihrem eigenen Lieben verwuchsen Sie der Art innerlich mit Ihrer Braut, daß es Ihnen zuletzt nicht mehr erkennbar war, wie viel von dem Gefühl Ihnen selbst zukam und wie wenig davon Ihrem zweiten Selbst, das Sie in Fräulein Doris Lammers erkannt haben wollen. Freilich ist nichts so undankbar für wohlmeinende Freunde, wie von Illusionen zu befreien. Wenn auch. Hier handelt es sich aber nicht um Dank oder Undank – nur um Ihr eigenes Heil, und das ist dem Schreiber Alles. Von anderer Seite wurden Ihnen, mein theurer Freund, jedenfalls kostbare Hochzeitsgeschenke dargebracht. Diese Zeilen sind die Hochzeitsgabe eines aufrichtigen Herzens und, wenn Sie diesen Fingerzeig beachten, vielleicht nicht die schlechteste.“
Nach einer halben Stunde fuhr der Wagen vor. Rechting hatte es nicht gehört; er hörte überhaupt nichts von dem, was um ihn her vorging; den Brief nur starrte er an und las ihn wieder und noch ein drittes Mal und noch öfter. Wer war der Schreiber? Diese Frage an sich selbst war das erste Symptom der Rückkehr seiner kritischen, wir wollen sagen: juristischen Verstandesthätigkeit. „Sie liebt Sie nicht!“ Wer kannte sie Beide, ihn und Doris, und ihre geheimsten innersten Berührungen so genau, daß er diese Zeilen schreiben konnte? Der Brief war von männlicher Hand geschrieben. Von einem Nebenbuhler, der ihm den Besitz seiner Braut neidete? Warum sollte das nicht sein? Es waren ja nicht Wenige gewesen, die um Doris geworben hatten, und ihm ward das Glück, die Braut heimzuführen. Ja wohl, ein Glück! Doris. Wie ein frischer Wind ein niederhängendes Segel plötzlich schwellt, so schlug sein Herz beim Gedanken an sie wieder hoch. Er warf all die scheinbaren Bedenken, Einwendungen, Warnungen über Bord. Er that recht so. Er mußte sich in dieser Stimmung erhalten. Räumte er einem einzigen dieser Sätze auch nur einen Moment des Nachdenkens ein, so nahm er die ganze Kette der Folgerungen auf, so mußte er alles Weitere zugeben, um zuletzt am Schlusse anzulangen: Sie liebt Dich nicht. Hiermit brach Alles zusammen; in diesem Falle durfte er seiner Braut nimmermehr das Jawort geben. Er zerknitterte den Brief [3] halb in Wuth, halb in Verzweiflung. Er machte sich selbst Vorwürfe. Wer ist auch so unklug, im Angesicht eines Schrittes, wie er zu thun im Begriffe war, einen Brief zu öffnen! Muß ein Bräutigam auf derartige Zuschriften nicht gefaßt sein, und muß es nicht in der männlichen Selbstständigkeit eines Charakters liegen, derartige Dinge mit verachtendem Stolze von sich zu weisen? Waren ihm in seiner juristischen, richterlichen Praxis nicht schon unzählige Beispiele vorgekommen? Ja wohl, aber da er nun selbst – weg – weg! Er setzte sich, den Kopf in beide Hände gestützt, vor seinen Schreibtisch, von welchem ihm das Bild entgegenlächelte.
Wenn seine heißen Lippen auf diesen dunklen Augen geruht hatten, und wenn diese dann unter den langen Lidern mit fast kindlichem Staunen nach ihm aufbrachen, war es ihm in dem glückschauernden Herzen dann nicht zu Muthe, als brächen vor ihm neue Quellen des Lebens auf? Und Solches könnte von einem Wesen gekommen sein, das ihm gegenüber fremd – kalt – innerlich unbetheiligt wäre? Die Rosen, die Doris ihm entgegen hielt, es war ihm jetzt, als wehte ihr Duft zu ihm herüber. Wie Balsam legte er sich auf sein Herz.
Er wurde ruhiger; das innere Aufwirbeln von finsteren Gedanken hatte sich gelegt; der Schluß war wie eine stille Abbitte an Diejenige, welche ihn jetzt zum verheißungsvollen Gange an ihre Seite rief. Eben ertönte die Stimme Rüchel’s:
„Herr Assessor, der Wagen ist unten.“
Der Angerufene, als wollte er das Bild aus allen Schatten von Zweifeln in sein künftiges Leben hinüber retten, nahm dasselbe mit raschem Entschluß und Griff und ging hinunter zum Wagen.
Rüchel trat an’s Fenster. Wie viele von seinen Herren hatte er schon einsteigen sehen, wie diesen da unten, und wie vielen wäre es besser gewesen, die Hochzeitskutsche wäre für sie nie vorgefahren – meinte er in seinen Gedanken. Er hatte Jeden gewarnt – aber mit dem Heirathen geht’s, wie mit allen anderen Erfahrungen. Jeder glaubt, das Schicksal hätte in das Näpfchen, das es ihm vorsetzt, gerade etwas ganz Besonderes hineingethan. Niemand auch geht dem Prellstein aus dem Wege, an dem sich schon Hunderte wehe gethan haben, außer wenn er sich selbst daran den Fuß verwundet hat. Aber dann ist’s meistentheils auch schon zu spät. Nun, immer zu! Glückliche Fahrt! Wer weiß? Einmal kann’s Einem ja wohl glücken.
Dabei nahm er eine Prise – der alte Pessimist. Der Wagen mit dem Bräutigam rollte davon, durch die Straßen, über die Plätze, und überall blieben die Leute stehen und warfen einen Blick der Neugierde in das Innere des Gefährtes. Kutscher und Diener auf dem Bocke trugen Rosensträuße in den Knopflöchern der Livréeröcke, und das deutete auf eine Hochzeit. Aber vorläufig fehlte die Braut, und ein Bräutigam allein hat für das große Publicum lange nicht das Interesse, wie jene. Rechting aber bemerkte das Alles nicht. Seine Gedanken waren weit voraus, die Stufen des Hauses, die Treppen hinauf, im bräutlichen Gemach bei Derjenigen, welche er nun in die Arme schließen sollte als sein und seines Herzens Eigenstes – vor Gott und Menschen. In aller Herzenslauterkeit, die er sich bewahrt, prüfte er sich auf diesem kurzen Wege noch einmal selbst; er fragte sich, ob er sein „Ja“ aus seiner Herzenstiefe heraus geben könne, und kam zu dem Ergebniß mit sich selbst. Ja, ja, tausendmal für einmal!
Da hielt nun der Wagen vor dem Hause, das rechts und links von dichten Zuschauermassen besetzt war. Des Bergraths Lammers Tochter war eine beliebte Persönlichkeit in diesem Stadttheile. Alle Welt hatte ihren Vater gekannt, und alle Welt glaubte sich daher berechtigt, sich um das künftige Schicksal der Tochter zu bekümmern. Wäre Doris ein armes Mädchen gewesen, würde sie unbeachtet und unbehelligt durch die Welt gegangen sein, aber so reich wie sie – und so hübsch und von allen Seiten so viel umfreit! bis der da kam – drinnen im Wagen; der mußte es sein. Hübscher Mann! Aber so ernst! Und ein Bräutigam, der eine solche Braut gewonnen, sollte doch von einem Ohr bis zum andern lachen! Wie er herausspringt und die Stufen zu dem Hause hinaneilt! Er wird sich jetzt wohl ein eigenes kaufen. Jawohl hatte er nach der Meinung dieser Leute Ursache, flink zu sein. Wer so ein Glück heirathet!
Der alte Diener des Hauses kam Rechting entgegen und zeigte ein recht frohes Gesicht. Ein paar Minuten vorher hatte er anders nach ihm ausgesehen – von Sorge bewegt. Und das sagte der Alte dem Bräutigam auch, daß man eben nach ihm hätte schicken wollen, aus Furcht, es möchte ihm etwas zugestoßen sein. – Der Brief kam dem Bräutigam wieder in die Gedanken, aber er sagte nichts.
„Soll ich Ihnen das da tragen, was Sie in der Hand haben, Herr von Rechting?“
„Nein, mein Freund. An das, was ich hier an meinem Herzen halte, soll keine fremde Hand rühren.“
Je weniger der mit einem neuen rothen Läufer bedeckten Treppenstufen wurden, desto rascher flogen seine Schritte hinauf in die erste Etage, wo die Hochzeitsgäste versammelt waren.
„Der Herr Assessor ist da, Fräulein Regina,“ rief der Alte einer Dame zu, die am Eingange zu den Gemächern stand und mit Spannung ihre Blicke nach der Treppe gerichtet hatte, um deren Biegung eben Rechting zum Vorschein kam.
Bei seinem Erscheinen schloß sie die Augen, wie Jemand zu thun pflegt, der innerlich tief aufringt, aber nur eine Secunde lang. Dann kam die in ein dunkelgraues Seidenkleid gehüllte hohe Gestalt ihm mit lebhaften, freundlichen Worten entgegen. Ein Ausdruck voller Güte beleuchtete ihr Gesicht.
„Wahrhaftig, wir waren schon in Sorge um Sie, Herr Assessor – vor Allen Doris. Die liebende Ungeduld einer Braut müssen Sie bedenken an einem Tage, wo Minuten zu Stunden werden und Stunden zu Minuten, wo man Allem eine Bedeutung beilegt. Aber kommen Sie! Ich will Sie zu Ihrer Braut führen.“
Sie führte ihn durch eine Flucht von Zimmern, wo die vollgedeckten Tafeln standen, und öffnete dann leise eine Thür, die in ein Damenboudoir sehen ließ. Da hinein schob sie ihn sanft, dann blieb sie vor der Thür stehen, machte eine Bewegung, als ob sie Mühe hätte, sich aufrecht zu erhalten und ging dann in die vorderen Zimmer, wo die Gäste versammelt waren. Die Diener präsentirten hier auf silbernen Platten Wein, Chocolade, Kuchen und Sandwiches. Wie die Tassen und Gläser von Hand zu Hand, so gingen die Reden von Mund zu Mund. Zwei Damen führten das Wort; die erste war eine Commerzienräthin von etwas ängstlichem Embonpoint, die andere die Frau Stadtsyndikus, dünn wie ein Zwirnsfaden.
„Ach ja, wenn sie nur glücklich werden!“ begann die Frau Commerzienräthin, „das ist das Einzige, was zu wünschen übrig bleibt. Das Uebrige haben sie ja Alles – in Hülle und Fülle. Der Vater hat für seine einzige Tochter mit aller Liebe gesorgt – und Alles in guten Papieren und festen Anlagen.“
„Das sagt mein Mann nicht, Frau Commerzienräthin,“ nahm die Frau Syndikus das Wort. „Erst jüngst war die Rede davon – mein Mann hatte Gelegenheit, einen Einblick in die Hypothekenbücher zu thun – überhaupt in Doris’ Vermögensverhältnisse.“
„Dem ältesten Sohne des Syndikus sollte Doris zum Opfer fallen, darum das rege Interesse,“ flüsterte die Commerzienräthin einer nebenstehenden Dame zu.
„Mein Mann wundert sich noch,“ fuhr die Dünne fort, „wie unvorsichtig der selige Bergrath gewisse Fonds und zwar den größten Theil derselben placirt hatte; mein Mann weiß das wohl zu beurtheilen –“
„Ihr Theodor sollte ja wohl um Doris freien?“ bemerkte spitz die Commerzienräthin.
„Albernes Gerede! Mein Theodor dachte nicht daran, und wir hätten es auch nicht gewünscht, ich und mein Mann nicht. Ja wohl, Doris ist ja ein vortreffliches Mädchen. Bei Leibe möchte ich nichts gegen sie sagen, aber die Erziehung durch die Mutter, die immer einen hohen Federbusch sich aufgesetzt hatte, und dann die splendide Gewöhnung des Mädchens, ist das der selige Bergrath wie in einen Spiegel hineinsah – wenn man erst zu Vermögen so allmählich parvenirt, ist das immer so, sagt mein Mann, der Syndikus. Hören Sie – Diener, Garçon – gehen Sie doch nicht so schnell mit den Austernbrödchen vorüber! Es ist noch lange hin bis zum Déjeuner dinatoire. Warum giebt man kein ordentliches Diner? fragte mich gestern schon mein Mann.“
„Da müssen Sie Fräulein Regina fragen,“ antwortete die Commerzienräthin, „Fräulein Regina dirigirt ja Alles bei Doris. Das ist ja eine Freundschaft, von der man nicht wußte, woher sie kam. Eines Tages war sie dann mit Sack und Pack hier angelangt. Bei Doris wollte sie nicht wohnen, um den Schein zu meiden, als würde sie von ihr ernährt. Stolze Unabhängigkeit! [4] Man kennt das. Sie ist Turnlehrerin; wie kann man sich da noch über etwas verwundern! Was es jetzt für weibliche Existenzen giebt! Wer hätte in unserer Jugend an eine Turnlehrerin gedacht! Und sind wir nicht auch in die Höhe gewachsen, haben wir nicht gute und angesehene Männer bekommen? Wie gefällt Ihnen übrigens Fräulein Regina?“
„Der jüngsten Eine ist sie nun gerade nicht mehr – nicht gerade häßlich. Wäre sie schöner, dann würde sich Doris wohl gehütet haben, sie an ihre Seite zu fesseln. So aber giebt sie ein bequemes Relief ab. Sie kokettirt mit Einfachheit – sehen Sie nur die Toilette! – wie eine graue Schwester sieht sie aus, was sogar meinem Manne auffiel.“
„Aber alles schwerer Rips,“ bemerkte die Commerzienräthin. „Was wohl Doris zum Brautkleid genommen haben mag? Das muß man sagen, die Herrschaften lassen Einen lange warten – natürlich wie alle vornehmen Leute. Auf den Adel ging der Sinn der Braut ja stets hinaus. Wir werden die längste Zeit mit Doris umgegangen sein!“
„Wie so?“ fragte mit gedehntem Gesicht die Frau Syndikus.
„Weil dort der neue Gesellschaftskreis der Frau von Rechting schon vertreten ist – der Geheime Legationsrath von Wandelt und Gemahlin.“
„Stolz und allein!“ höhnte die Dünne.
„Sie wissen, Herr von Rechting verkehrte viel in dem Hause – man glaubte, er würde die einzige Tochter Elsa heirathen; aber – wer kann’s ihm verdenken, wenn er einen Goldfisch haschte! Ob Doris den Assessor wohl aus Liebe heirathen mag?“
Die Frau Syndikus zuckte die Achseln und sprach ihre Zweifel aus, wie es auch schon ihr Mann gethan hätte.
„Haben Sie keine Sorge! Doris heirathet ihn aus Liebe; sie hätte auch keinen Andern geheirathet, so viele Freier sich ihr auch sonst in den Weg gestellt haben.“
Mit diesen Worten war Regina unter die Damen, welche diese Conversation führten, und mehrere eifrige Zuhörerinnen getreten, die sie um sich versammelt hatten. Die Zungen waren alsbald verstummt. Wüthende Blicke schossen auf das Mädchen, aber sie glitten an den grauen Augen desselben ab. Die Commerzienräthin verschlang ihren Aerger mit einigen Gänseleberbrödchen, und die Frau Syndikus arbeitete mit ihrem Flacon. Dann öffneten sich die Flügelthüren, und Erich von Rechting führte seine Braut in die Gesellschaft ein.
Das Bild im Sammetrahmen war durch den bräutlichen Schmuck in das züchtigste, seelenvollste Leben übertragen. Doris wagte aus den weißen Schleiern und Spitzen und dem Myrthengrün kaum aufzusehen. Sie hing an Erich wie eine Blume an ihrem Stengel, und die Glückwünsche, die von allen Seiten auf sie eindrangen, am eifrigsten von den Sprecherinnen, welche wir belauscht hatten, wurden von ihr mit einem zärtlichen Blick auf ihren Bräutigam beantwortet.
„Bist Du bereit, mein Lieb?“ flüsterte er ihr zu.
Statt aller Antwort gingen ihre Augen weit und voll nach ihm auf, und dann sanken die Blicke wieder in ihre Lider zurück. Das Uebrige war eine leise Neigung des Hauptes, als Zeichen der Uebereinstimmung.
Dann eilte der alte Diener die Treppen hinab, um den Befehl zum Vorfahren des Brautwagens zu geben. Im Flur hatte er eine alte Frau, eine Almosenempfängerin des Hauses, postirt. Von der sollte die Braut beim Ausgang aus dem Hause Brod und Salz empfangen und mit der linken Hand zu sich stecken; damit sichere sie sich Wohlergehen und Glück. Doris hatte dazu gelächelt, aber versprochen, es zu thun.
Während sich der Schwarm der Hochzeitsgäste, zumeist Verwandte und Bekannte der Familie, die Treppe hinunter ergoß, um dem Brautpaar vorauszufahren, war letzteres zurückgeblieben. Regina schloß voll Bewegung die jüngere Freundin in die Arme, küßte sie auf die bräutliche Stirn und sah ihr dann nochmals recht tief in die Augen, als wollte sie sagen: So warst Du mir theuer; so habe ich Dich gekannt. Wie wird es wohl nun mit uns werden?
„Werde glücklich!“ flüsterte sie. „Ich werde hier für Dich beten.“
„Kommst Du denn nicht mit in die Kirche?“
Ein leises Schütteln des Hauptes war die Antwort.
„Aber es war doch so bestimmt, Regina.“
„Ich fürchte mich – vor der Bewegung, Doris, ich muß mich schonen – meine Gesundheit – und die kalte Kirchenluft, die ich fürchte – ich kann nicht. Es ist am besten, ich bleibe hier.“
„Aber Regina, das macht mich fast traurig.“
„Laß’ nichts Dich traurig machen, wo Du glücklich werden sollst! Wozu nütze ich Dir denn? Hier, hier – der Gatte soll Dein Glück sein. Gott neige segnend sein Haupt über Dich! Ich werde hier für Dich beten.“
An den Fenstern der Wohnung erschien in dem Augenblick, als Erich und Doris zur Trauung abfuhren, die Gestalt Regina’s, wie ein Schatten, der im nächsten Moment wieder verschwunden war.
[21]
Wenn man in der Stadt von einem angenehmen Hause, von liebenswürdigen Wirthen, wenn man von einem glücklichen Ehepaare sprechen wollte, dann nannte man den Assessor von Rechting und seine Frau. Die gesellschaftliche Stellung des jungen Paares ward durch die Versetzung des Assessors in das Ministerium des Aeußeren gehoben. Es war keinerlei Gunst dabei maßgebend gewesen, nur das Verdienst des jungen Beamten, seine eminente Befähigung, die verwickeltsten Fälle durch seinen Scharfsinn klar zu legen. Er hatte umfassende Studien im Bereiche der Rechtsverhältnisse anderer Nationen gemacht, und diese wußte man an maßgebender Stelle für internationale Beziehungen gebührendermaßen zu verwerthen. Er wurde zu den wichtigsten Berathungen gezogen. Seine Bedeutung auf diesem Gebiete war eine solche, daß sie selbst von seinen Collegen neidlos anerkannt wurde. Sein unerschütterliches Rechtsbewußtsein machte das Urtheil unschlüssig, ob er seinen Beruf nach seinem Namen gewählt hatte, oder ob dieser Name die Richtung seines Geistes von Jugend auf mit vollem Bewußtsein bestimmt hatte, sodaß er zum geistigen Gepräge der Persönlichkeit geworden war. Er galt unter seinen Collegen für Einen, der Carrière machen würde.
Der Neid pflegt den Schritten solcher von der Natur Bevorzugten gerade nicht ferne zu bleiben. Man macht ihnen von Seite der minder günstig Situirten in der cordialsten Weise den Hof; man schüttelt ihnen biedermännisch die Hand: man ißt bei ihren Diners und trinkt ihre Weine; man macht ihren Frauen, wenn sie das erlauben, die Cour; man amüsirt sich bei ihnen vortrefflich, wäre jedoch gar nicht so tief unglücklich, wenn man des andern Morgens erführe, daß der Diener in dem Schlafzimmer der lieben Freunde die Ofenklappe zu unrechter Zeit geschlossen, und daß der gastfreie College im Bette entseelt gefunden worden ist. Rechting gegenüber wurden derartige fromme Wünsche wahrhaftig nicht laut. Seine glückliche Natur oder, wenn wir es noch gerechter bezeichnen wollen, sein offenes und warmes Herz, seine innere Wahrhaftigkeit, seine Bescheidenheit und sein tiefes Wohlwollen für Jedermann, endlich die fast kindliche Unbefangenheit seines Gemüths, die er trotz seiner reichen und nicht immer sehr frohen Amtserfahrungen zu bewahren so glücklich war, entwaffneten selbst den grinsenden Gesellen, der an jedes wahre Verdienst seine giftgrüne Patina anzusetzen versucht. Rechting’s ältere wie jüngere Collegen waren ihm gleichermaßen zugethan. Er selbst besaß kein Vermögen; ein kleines Grundstück in einer der Vorstädte konnte man kaum unter den Begriff eines solchen fassen. Mit dem Reichthum seiner Frau, welche sehr lebhafte gesellige Neigungen besaß, war es ihm möglich, den hohen gesellschaftlichen Ansprüchen einer großen Stadt gerecht zu werden, das junge Ehepaar hatte sein Haus zu einem Sammelpunkt für einen weiten geselligen Kreis geschaffen. Die älteren Geheimräthe und deren Frauen und Töchter, auf knappe Besoldungen angewiesen, wünschten nichts Sehnlicheres, als daß mehrere solcher Rechting’s in’s Ministerium berufen würden. Bei Rechting’s war jede Woche „etwas los“, Diner oder Ball oder eine Theegesellschaft; man musicirte; man spielte Theater, und stets war es die Frau vom Hause, die als das bewegende Element der Gesellschaften erschien. Nichts fehlte dem jungen Ehepaare, nichts zum vollkommenen Glücke.
Eines Tages stand Erich niedergebeugt an einer Wiege und belauschte mit pochendem Herzen die Athemzüge eines jungen Wesens, das da im ersten Erdenschlummer vor ihm lag. Es athmete und athmete wieder – es lebte, es war der leibgewordene Schlag seines Herzens – es war sein Kind. Und dann zog er die blauseidene Gardine des Bettchens wieder zu und schlich sich auf den Fußspitzen an ein anderes Lager im dunkel verhangenen Zimmer und lauschte auch hier wieder. „Sie schläft,“ sagte er für sich. Aber dann bewegten sich zwei Arme in weißen Hüllen und schlangen sich um ihn. Nun ein Laut, als ob Lippe auf Lippe sich drückte – „Doris!” – „Erich!“ ging es wie warmer Athem dahin.
„Bist Du zufrieden?“ fragte eine leise Stimme.
„Nein,“ antwortete er, „denn ich kann dich vor diesen dunklen Vorhängen nicht sehen, und jetzt wüßte ich, daß ich die allerschönste Frau habe; daß es die allerbeste sei, das wußte ich längst.“
„Du hättest wohl lieber einen Jungen gewünscht als ein Mädchen?“
„Still, still, mein Lieb! An Gottesgaben mäkelt man nicht; die nimmt man dankbar hin.“
„Sieht es Dir oder mir ähnlich, Erich?“
„Ich möchte, daß es Dein Ebenbild wäre, Doris.“
„Nein, nein, Deines, Herzensmann!“ entgegnete Doris.
„Aber sprich nicht mehr, mein Herz! Du strengst Dich zu sehr an; ich verbiete Dir jetzt zu sprechen.“
„Ja, Erich – aber nur noch eine einzige Frage: hast Du mich lieb?“
Keine Antwort, aber wieder ein Laut wie von Küssen. [22] Dann setzte sich der beglückte Vater auf den Rand des Bettes und nahm ihre Hand in die seine, bis tiefere Athemzüge ihm sagten, daß die junge Mutter schlummere. Leise zog er die Vorhänge vor, horchte, im Vorbeigehen an der Wiege und ging dann sachte auf den Zehen aus dem Zimmer; dieses war zum Kleinodienschrein seines Lebens geworden. Wenn das Erdenrund heute einen glücklichen Menschen trug, so war es dieser junge Vater.
Demnach müßte die Frage wohl überflüssig sein, ob Erich von Rechting je wieder an den bewußten Brief gedacht hatte, und überflüssiger noch als die Frage wäre die Antwort. Der Brief war vergessen. Vielleicht wußte Erich gar nicht mehr, ob er ihn noch besaß. Mit dem Gang an den Altar hatte er alle Zweifel und jede unsichere Stimmung abgeworfen. Seinem festen Charakter, seinem goldreinen Herzen wäre es wie ein Vergehen an seiner Frau erschienen, würde er je wieder in Gedanken auf diese Anklageacte, wie diese anonyme Zuschrift ihm nun erschien, zurückgekommen sein, so tief er auch beim Empfange davon berührt und erregt worden war.
„Meine Frau ist schöner denn je,“ sagte sich Erich ein paar Wochen später voll leuchtenden Stolzes; und er hatte Recht. Die Mutterliebe hatte ihre letzte und höchste Verklärung der Schönheit über Doris ausgegossen. Frau von Rechting ging in ihrer äußerlichen körperlichen Erscheinung wenig über das Durchschnittsmaß der deutschen Frau hinaus. Sie besaß einen vollendeten Wuchs, ein Gesichtchen wie von Marmor, der mit rosagefärbtem Wachs getränkt ist; dazu dunkles Haar und dunkle Augen. Letztere lagen in mandelförmigen Hüllen wie versteckt unter den langen dunklen Wimpern. Wenn aber ihr Licht sich aufthat, dann bekamen sie einen eigenthümlichen, halb träumerischen, halb schelmischen Ausdruck. Der Mund mit seinen vollen, frischen Lippen war von seltener Anmuth. Die Bewegungen, die Reden, das Thun der jungen Frau – Alles ging im Dreiachteltact und in Moll. Die ganze Gestalt war wie eingetaucht in geistige Lebendigkeit. Hände, Füße, Ohren, Alles an ihr war klein, groß nur allein der Eindruck, den sie in diesem gestaltgewordenen Wohllaut des Weiblichen auf Alle machte, die ihr nahe kamen.
Am meisten davon berührt schien ein Mann, der erst mehrere Monate dem Gesellschaftskreise angehörte, in welchem das Rechting’sche Ehepaar verkehrte, sagen wir also, wenn man den Hof nicht in Betracht ziehen will, dem ersten, dem besten der Stadt. Sein Name war Lideman. Er wollte diesen englisch ausgesprochen wissen, obwohl man sich unter guten Bekannten zuraunte, daß er ein ganz guter Deutscher aus irgend einer Stadt Mitteldeutschlands sei. Aber er war lange „drüben“, nämlich überm großen Wasser, in Amerika gewesen, dann auch sehr lange in den Ländern der unteren Donau; er sprach das Deutsche mit einem merklich fremdländischen, durchaus nicht affectirten Accente; dabei redete er französisch, englisch und spanisch, als wäre er mit einer Frau jeder dieser Nationalitäten ein Menschenalter lang verheirathet gewesen. Er war Präsident eines großen Bankvereins, der sich namentlich mit dem Bodencreditwesen befaßte. Einige Zeit lang hatte es mit den Actien desselben sehr unsicher gestanden; man fürchtete einen Zusammenbruch, aber da war der Retter in der Person des Genannten erschienen. Durch eine neue, durchgreifende Organisation hatte er dem drohenden Verderben Einhalt gethan und weiter dem Institute zu gesundem, gedeihlichem Leben verholfen. Das wurde ihm in der Stadt hoch gedankt. Denn es war gar nicht abzusehen, wie viel Interessen durch einen Zusammenbruch in Mitleidenschaft gezogen worden wären.
Durch die Rettung des Instituts war auch das Renommée Lideman’s und weiter seine gesellschaftliche Stellung begründet. Bei der Convertirung internationaler Fonds war er mit den Kreisen des auswärtigen Ministeriums in Fühlung gekommen. Seine ersten Geschäfte auf diesem Boden waren mit glücklichem Erfolge gekrönt. Man hatte nie einen so gewiegten, coulanten und formell so vornehmen Geschäftsmann kennen gelernt, und der sich dabei so ganz in seiner Sphäre zu halten wußte, wie Lideman. Er war ein Mann von etwa dreißig Jahren, hoch gewachsen, für seine Figur nicht allzu hager. Seine Gesichtsfärbung zeigte einen leisen Anflug von galligem Colorit. Das Haar, der kleine Schnurrbart über den vollen und schön geformten Lippen glänzten in jenem Schwarz, wie es den Slaven und Romanen eigen zu sein pflegt, sodaß man versucht war, ihn zu fragen, ob er sich dieses für einen Deutschen exotische Aeußere „drüben oder drunten“ angewöhnt habe. Dunkel waren auch seine Augen, und das Weiß derselben hatte einen bläulichen Glanz; dadurch bekam der Blick einen fast düsteren, verschleierten, ja, wenn man will, schläfrigen Ausdruck, der noch durch die hohen, gewölbten Brauen gehoben wurde.
Ausgerüstet mit einem solchen Aeußeren verstand es Lideman, einen besondern Platz auch in der Gesellschaft der Stadt einzunehmen. Mit seinem schnellen Verstande schien er begriffen zu haben, daß er, um Fuß in derselben zu fassen, gerade das vergessen machen müsse, was ihn als einen Racenmenschen bezeichnete. Ein Anderer an seiner Stelle mit weniger Kopf und von gewöhnlichem Zuschnitte würde sich haben verleiten lassen, viel Aufwand vor den Augen der Welt zu entfalten und an allen öffentlichen Orten sich zu zeigen. Er that von alledem, was diese Leute von schlechtem Geschmacke und noch geringerem Tacte zu thun pflegen, gar nichts. Er hatte eine elegante Wohnung; er gab Diners, aber das Alles hielt sich in den Grenzen des wohlanständigen Maßes. Weniger wäre aufgefallen, mehr hätte verletzt. Wer den Mann schärfer beobachtete, dem mußte die feine Grenzlinie Bewunderung einflößen, die er in jedem Verhältnisse zu ziehen wußte, in Kleidung, in Lebensart, in der Unterhaltung, in Allem. Vielleicht hatte er mehr Geist, als er zu zeigen für gut fand, aber er setzte ganz richtig voraus, daß ein Hinaustragen desselben über das Gesellschaftsniveau den Einzelnen in den Augen der Uebrigen, die weniger von dieser seltenen Gabe abbekommen haben, unbequem, ja verdächtig macht. Ebenso folgerichtig die Thatsache erkennend, daß in der Gesellschaft in dem Maße wenig Geist zu finden ist, als viel davon die Rede ist, ging er in seiner Unterhaltung nicht über das Durchschnittsmaß dessen hinaus, was man in der Sprache der Gesellschaft „moderne Bildung“ nennt. Keine Mutter hatte sich je zu beklagen, daß er mit ihrer Tochter in anderen Ausdrücken gesprochen, als solchen, die nach dem Katechismus des Salons gestattet waren; keine junge Frau brauchte im Gespräche mit ihm zu erröthen und mit vorgehaltenem Fächer entrüstet sich an den Arm ihres Mannes zu flüchten. Der Mann war auch nach dieser Seite hin die Ehrenhaftigkeit in Person. Darum waren die Augen gar vieler Mütter wie Dolche nach ihm gezückt, unter deren Spitzen der Junggeselle sterben sollte, um als Ehemann wieder um so vergnügter zum Leben aufzustehen.
Die Bekanntschaft mit Rechting’s hatte er im Hause des Geheimen Legationsraths von Wandelt gemacht. Doris hatte das Frühlingslied von Gounod gesungen und ging dann scherzend mit dem Notenblatt herum, um für eine arme Familie sich eine Gabe zu holen. Lideman war während des Singens eingetreten; Doris hatte ihm den Rücken zugekehrt. Am Ende des Liedes schien er eingeschlafen; Musik übte immer diese Wirkung auf ihn, wie er behauptete. Die hohen gewölbten Lider waren über die Augen niedergesunken – da wurde er von dem bittenden Tone der Stimme Doris’ berührt. Wie von einem Zauberwort getroffen, thaten sich seine Augen weit auf, und ein Strahl und eine Gluth schossen aus den Blicken auf die junge Frau hin, daß diese die ihrigen wie unter dem Sengen eines heißen Sonnenstrahles zu Boden sinken ließ. Von da ab verkehrte Lideman im Hause des Assessors.
Der Präsident, wie Lideman als Leiter des Bankvereins genannt wurde, kam zuerst bei den größeren Theeabenden in das Rechting’sche Haus, dann manchmal des Abends unter dem Vorwande, daß man nirgends in der Stadt mehr so anregenden geistigen Verkehr finden könne, als in dem Hause der jungen Eheleute. Lideman war ein geselliges Element; er hatte viel erlebt, viel gesehen, wußte angenehm zu erzählen und besaß in hohem Grade jene Schärfe und Reife des Urtheils, die sich aus reichen Lebenserfahrungen abstrahirt und gemeiniglich für Geist genommen wird, auch neben wahrhaftem Geistesreichthum sich siegreich zu behaupten weiß. Wie er, wie schon bemerkt, in richtigem natürlichem Tacte Alles vermied, was hätte auffallen können, so zeigte er sich in seinen Absichten auf das Haus des Assessors durchaus nicht aufdringlich. Dadurch gerade war es ihm gelungen, in der Familie seinen abendlichen Fauteuil zu erobern. Wenn um neun Uhr Doris den Thee bereitete und Lideman noch nicht auf seinem Platze saß, dann richteten sich unwillkürlich ihre Blicke durch’s Fenster auf die Straße, ob sein kleiner Wagen mit dem Harttraber sich noch nicht am Ende derselben zeigte. Die Spirituslampe wurde auch dann erst angesteckt, [23] wenn das Geräusch des Wagens sich hören ließ. Nie, auch im Scherze nicht, und selbst nicht, wenn die Männer allein waren, kam ein Wort über Lideman’s Lippen, welches auf seinen sittlichen Charakter irgend ein zweideutiges Licht hätte werfen können, oder das nicht mit seinem übrigen Verhalten im Einklange gewesen wäre.
So kannte ihn das Rechting’sche Paar, so kannte ihn die ganze Stadt, und so konnte die Intimität, in die er sich zu Rechting’s zu versetzen gewußt hatte, auch nicht auffallen.
Eines Abends war Doris mit dem Präsidenten allein, wie das sehr oft geschah. Der Assessor kam häufig spät Abends aus dem Bureau; heute mußte er im Auftrage des Ministers einer Abendsitzung in der Kammer beiwohnen und war bis zur Theestunde noch nicht zurück.
„Wo nur mein Mann bleibt?“ fragte die junge Frau.
„Vermissen Sie ihn so sehr, gnädigste Frau?“
„Welche Frage, verehrter Freund!“
Dabei ging ein fast vorwurfsvoller Blick nach Lideman hinüber, welcher diese Worte an die junge Frau gerichtet hatte. Es lag ein Ton wenn auch nur leichter Frivolität in diesen wenigen Worten. Doris empfand sie wohl, und früher hatte er sich Derartiges nie erlaubt. Dann schwiegen Beide, Giacomo, der Kakadu, rumorte in seinem messingenen Bauer. Die Bemerkung Doris’, daß diese Thiere gleich den Kindern am unartigsten sind, wenn fremde Leute da sind, brach das Schweigen.
„Ich habe heute einen unglücklichen Abend,“ bemerkte Lideman.
„Warum, Herr Präsident?“
„Weil ich sehen muß, daß ich Ihnen doch nur ein Fremder geblieben bin.“
„Wer sagt Ihnen das, Herr Präsident?“
„Ihre eigenen Worte, gnädigste Frau.“
„So war es nicht gemeint, mein Freund,“ versetzte Doris. Sie wollte ihm die Hand reichen mit einer Bewegung, die einer Abbitte gleich kam; sie führte diese jedoch nicht aus. Ein Lachkrampf hatte sie schier erfaßt. Giacomo hatte sich in die Conversation gemischt und gerufen: „Spitzbube!“
Lideman fuhr von seinem Sitzplatz erschrocken auf. Als er aber das Lachen der Frau von Rechting hörte, stimmte er mit ein.
„Giacomo, Du bist doch zu unartig!“ rief Doris.
„Ebenso wie ich ungeschickt war,“ suchte der Präsident das Gespräch wieder zurückzulenken. „Meine Frage von vorhin war doch sehr ungeschickt – vielleicht gedankenloser, als es scheinen mochte. Wie kann man, frage ich mich jetzt, ein solches Wort an eine junge Frau richten, der jeder Augenblick, der sie nicht mit dem Gatten vereint, wie aus ihrem Dasein gestohlen – verloren erscheint? Ich müßte nicht Zeuge Ihres Familienglückes geworden sein – nicht die tiefe Liebe ergründet haben, die Sie mit Ihrem Herrn Gemahl vereint. Und nun eine solche Rede! Werden Sie mir darum auch nicht gram sein – gnädigste Frau – wirklich nicht?“
Die großen dunklen Augen der jungen Frau sahen ihn darauf hin voll und freundlich an.
„Da Sie so hübsche Abbitte leisten, soll es Ihnen auch verziehen sein – von ganzem Herzen. Verhehlen kann ich Ihnen allerdings nicht, daß Ihre Frage mich ganz eigenthümlich berührt hat – um den gelindesten Ausdruck zu gebrauchen.“
„Eine Schonung, die ich nicht verdiene und die mich darüber doch das härteste Wort empfinden läßt, wenn Sie es auch nicht aussprechen,“ führte er die Rede weiter. „Wenn es aber die Geheimräthin gehört hätte! Morgen würde es durch die ganze Stadt schwirren.“
„Die gute Geheimräthin!“ versetzte lachend die junge Frau. „Was mag ihr diesen Abend begegnet sein, daß sie uns den Genuß ihrer Gegenwart entbehren läßt? Wo bleibt sie?“
„Sie wird ihrem Manne zu Hause behülflich sein müssen, das Pulver zu erfinden.“
„Sie sind ein boshafter Mensch. Jedenfalls sollten sie nicht vergessen, daß Wandelt’s ebenso gut unsere Freunde sind, wie Sie, und daß ich nicht gern Schlimmes über diese höre – auch wenn das nur im Scherze gemeint sein sollte. Eine derartige Malice ist viel gefährlicher, als eine ernste üble Nachrede. Diese kann man widerlegen, an jener erfreut man sich, mehr an der pikanten Form, als an dem Inhalt, der aber denn doch durch diese Form wirkt. Nun sollte ich Ihnen keinen Thee geben.“
Lideman legte beide Arme auf seine Brust, machte ein reumüthiges Gesicht und dazu eine Bewegung als ob er Buße thun wollte.
„Die Geheimräthin!“ wiederholte Doris wie in Gedanken für sich. Es lag ihr daran, ihres Gesellschafters Aufmerksamkeit auf deren Person zu fixiren. „Ich wollte eigentlich mit Ihnen schon längst über dieses Thema sprechen, Herr Präsident, und da wir gerade allein sind – ahnen Sie wohl, warum Frau von Wandelt uns seit neuester Zeit so oft mit ihrer Anwesenheit beehrt, namentlich in der Stunde, wo sie weiß, daß Sie hier zu treffen sind?“
Lideman spielte den Unbefangenen.
„Wie sollte ich? Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich zu Ihren Andeutungen sagen soll, gnädigste Frau.“
„Ach, Sie blöder Jüngling! Sie –“ spöttelte Doris. „Ich an Ihrer Stelle hätte wenigstens vorsichtiger gehandelt –“
„Sie sprechen mir in Räthseln, gnädigste Frau.“
„Verstellen Sie sich doch nur nicht! Sie wissen ebenso gut wie ich, daß Sie uns – verstehen Sie mich aber diesmal recht! – daß Sie uns sehr angenehm sind, und ich und mein Mann, wir freuen uns Ihrer Gesellschaft – aber die Geheimräthin –“
Doris stockte und um ihre Verlegenheit zu verbergen, fragte sie Lideman, ob er noch Thee habe.
„O, ich danke. Aber ich möchte Sie bitten – ich begreife nicht, was Sie mit der Geheimräthin sagen wollen.“
„Ich wollte sagen, sie hat Sie bei uns eingeführt. Sie hat damit gewissermaßen Rechte auf Sie erworben, und statt ihr dafür dankbar zu sein, vernachlässigen Sie das Haus des Geheimraths in einer Weise, die in ihren Folgen auf uns zurückwirken muß. Und wenn man davon zu sprechen anfinge –“ Doris vollendete nicht; sie ließ das Andere errathen.
Lideman hatte sich rasch erhoben; seine dunklen Augen blitzten plötzlich auf. Wie tiefes Athemholen ging es durch sein ganzes Wesen, und unter dem gelben Teint sah man den Blutstrom. Er schien an dem Ziele, auf das er seit lange losgesteuert hatte, und da die junge Frau selbst das Thema berührt hatte –
Schnell beugte sie sich jetzt nach der Spirituslampe, um die Flamme auszublasen.
„Diese Flamme – sie wollte plötzlich auflodern und hätte hier Alles überströmt,“ bemerkte sie zu Lideman, „wenn ich nicht mit kurzem Entschusse sie so schnell erstickt hätte.“ „Nicht alle lassen sich so leicht löschen wie diese. Und sehen Sie – sie lodert nur um so jäher und höher auf.“
Es war auch so. Der ganze Theetisch war eine Flamme. Lideman half der jungen Frau löschen. Dann nahm die Unterhaltung wieder einen ruhigeren Charakter an.
„Warum haben Sie auch ein so reizendes Daheim, gnädige Frau, daß man sich hier so wohl wie an keinem andern Orte der Welt fühlen muß!“
„Nun habe ich Sie, wo ich Sie haben wollte,“ versetzte lachend die junge Frau. „Da ein Daheim so großen Reiz auf Sie übt, warum machen Sie nicht die respectabelste aller Gründungen und gründen sich einen eigenen Herd? Sie wissen, nach jenem französischen Worte ist das Leben eines Junggesellen ein glänzendes Dejeuner, ein passables Diner und ein erbärmliches Souper. Die Zeit zum Souper, Herr Präsident, rückt heran.“
„Wirklich schon? Das ist eine schmerzliche Wahrnehmung, namentlich, wenn sie Einem von einer schönen Frau beigebracht wird, der gegenüber man sich immer noch in der Illusion befindet, daß man beim glänzenden Dejeuner säße.“
„Mag man uns Frauen noch so sehr tadeln und hinter die Männer zurücksetzen – ein Gutes haben wir vor diesen weit voraus, daß wir, wenn wir selbst durch eine Ehe glücklich geworden sind, von dem lebhaften Drange beseelt sind, auch Andere dieses Glückes theilhaftig werden zu lassen. Das thun die Männer niemals.“
„Glauben Sie?“
„Nein, nein! Sie thun gerade das Gegentheil, sie warnen einander vor der Ehe, wenn sie durch diese auch noch so glücklich geworden sind. Es entspringt das aus einer ganz groben Eitelkeit, weil sie wähnen, nur ihrer eigenen Vollkommenheit sei der glückliche Erfolg zu danken; als ob ihre unübertreffliche Persönlichkeit kein zweites Mal in der Welt vorhanden sein könne, um in gleichem Falle bei einem andern Menschenpaare in der Ehe ein ähnliches Resultat hervorzubringen. Aber ich schweife von meinem Ziele ab. Ich wollte Ihnen sagen, daß ich eine Partie für Sie wüßte.“
[24] „Par – Partie?“ wiederholte Lideman.
„Eine sehr passende – Sie haben vielleicht schon errathen, wohin ich ziele. Haben Sie errathen?“
Lideman hielt eben ein Stück Zucker in der Hand.
„Ja, ja, Zucker, reiner Zucker, wie der Berliner sagt. Eine Partie für Sie – es ist ein Glück, eine Zukunft – und heißt Else von Wandelt.“
Lideman sagte nichts dazu – er ließ das Stück Zucker in die Flüssigkeit gleiten und rührte mit dem silbernen Löffel gedankenvoll in der Tasse, die zur Hälfte mit Thee gefüllt war. Daß aber der Vorschlag der jungen Frau nicht wirkungslos an ihm vorübergegangen war, das sagten die zuckenden Winkel seiner vollen Lippen und das fast leidenschaftliche Aufeinanderpressen derselben.
„Sie schweigen? Haben Sie mir wirklich nichts auf meinen Vorschlag zu antworten?“
Keine Antwort. Er rührte immer noch mit dem Löffel.
„Gute Frau!“ rief der Papagei.
„Sehen Sie – Giacomo hat’s getroffen, Herr Präsident. Er meint Else. Die ist jung und gefällt – aber dieses Rühren im Thee macht mich fast nervös. Sie könnten doch wenigstens ein Wort sagen.“
„Wie kann man sprechen, gnädige Frau – wo man weinen möchte!“
Ein fragender Blick aus Doris’ Augen ging zu ihm hinüber. Deutlich lag darin ausgesprochen, daß diese Bemerkung ihr unverständlich sei.
„Eine Partie – Partie!“ sagte Lideman mit bitterem Ausdruck im Tone für sich hin. „Und darum – darum!“
„Was – was, verehrter Freund?“
„Als ob man zu nichts weiter auf der Welt wäre, als um einer Frau seinen Namen zu geben, ihre Equipage zu halten, ihre Rechnungen zu bezahlen und sie in die große Welt zu führen! Beneidenswerthes Schicksal eines Mannes unserer Zeit!“
„Sie haben die Hauptsache vergessen, Herr Präsident – eine Frau zu lieben! Sie sind aber heut wieder etwas seltsam, wie seit einiger Zeit so oft. Ich verstehe Sie nicht; diese gekniffenen Worte, diese mühsam herausgestoßenen Laute, dieses Gestimmtsein auf gebrochene Töne und Dissonanzen! Früher waren Sie viel artiger, weit unbefangener –“
„Der Schmerz über die Partie!“ sagte Lideman plötzlich wie in einer scherzenden Wendung. „Sie wollen mich nur von Ihrem Theetische los sein und an einen andern ketten, wo es weniger amüsant ist; wo ich in schlechtem Thee und einer Schwiegermutter gegenüber mein baldiges Ende finden soll.“
„Kennen Sie denn Else? Ich sage Ihnen: ein vortreffliches Mädchen, ein Charakter, an welchem selbst diese Mutter nichts verderben konnte. Diese holde Mädchenhaftigkeit, diese Sanftmuth! Das ganze Wesen ist wie ein harmonischer Accord. Und wie hübsch! Haben Sie schon ein so glänzendes Kastanienbraun des Haares gesehen, und so helle leuchtende blaue Augen? Ich liebe solche Menschen, denen immer ein deutsches Gedicht auf den Lippen zu schweben scheint.“
Das Gespräch der Beiden hier an dem brodelndem Theekessel wurde unterbrochen. Nicht durch die Geheimräthin, die entweder, wie Lideman spöttelte, morgen zur Communion ginge und ihre Sünden noch rasch zusammenklaubte, oder einen heirathsfähigen, eben erst in das Ministerium versetzten Assessor zu Hause festhalten müsse. Sie war es wirklich nicht – ausnahmsweise. Ein Wagen hielt vor dem Hause.
„Mein Mann!“ rief freudig Doris. „Endlich ist diese langweilige Kammersitzung beendet!“
„Ein Beweis, daß ich Ihnen ebenso langweilig war – gnädigste Frau.“
Diese antwortete nicht, sondern ging dem Kommenden, dessen Schritte auf der Treppe vernehmbar waren, bis vor die Thür des Salons entgegen.
Lideman hatte noch ein Rencontre mit Giacomo: „Spitzbube – Spitzbube!“ hatte dieser wiederholt gerufen. Der Präsident gab dem Käfig einen Stoß vor Zorn und Wuth. Giacomo kollerte sich vor Lachen.
[41] Rechting kam nicht allein. Im Vorzimmer legte eine Dame ihre Ueberkleider ab. Der Assessor küßte seine Frau, begrüßte den Gast und sagte Doris, daß er ihr noch einen Abendbesuch mitgebracht habe. – Der helle Schein aus der geschliffenen Lampe, die in einem eleganten Bronzegehänge von der Stuckdecke des Vorzimmers herabhing, fiel auf Regina. Doris hielt ihr, herzlichen Willkomm bietend, beide Hände entgegen.
„Ein seltener Gast – fürwahr!“ rief Doris und rückte für die Eintretende einen Fauteuil näher an den Tisch.
„Und Du hättest das Vergnügen ihres Besuches nicht gehabt, liebe Doris, hätte ich Fräulein Regina nicht gezwungen, in meinen Wagen zu steigen. Es regnete draußen. Sie kam in dem Abgeordnetenhause zu gleicher Zeit mit mir die Treppe herab und fast mußte ich sie in meinen Wagen nöthigen.“
„Regina, warum müssen wir Dich erst nöthigen, zu uns zu kommen? Haben wir Dich irgendwie verletzt oder – was ist es? So sprich! Selbst zu Deinem Pathchen, zu Liddy, kommst Du nicht mehr. Wenn Du sähest, was das für ein herziger Schatz wird! Die ersten zwei Zähne hat sie schon bekommen – wie Perlen, sage ich Dir. Und nun mußte mein Mann Dich nöthigen –“
„Ich – ich wäre wohl ohnedies gekommen, aber – ich fahre nicht gern mit –“
„Einem verheiratheten Manne?“ warf Rechting lachend ein.
Regina machte eine Bewegung, als durchzuckte sie dieses Wort wie eine Dolchspitze.
„Nein, Herr von Rechting, mit einem Wagen, der nicht mir gehört. Wenn ich in einer Droschke fahre, so gehört diese für die sechszig Pfennig, die ich bezahle, mir. Das sind einmal so Eigenheiten einer alten Jungfer. Und Gummischuhe hätten mich ebenso sicher hierher gebracht, wie Dein Mann. Ich wollte doch einmal wieder sehen, wie es Euch geht.“
Dabei gingen ihre großen grauen, sehr hellen Augen im Kreise umher und blieben mit einem Ausdrucke scharfer Prüfung auf dem Präsidenten haften. Dieser verneigte sich aus seinem Fauteuil heraus – Regina ebenfalls. Damit waren die Beziehungen Beider äußerlich markirt. Dann nahm sie die ihr dargebotene Tasse Thee, gab sie aber Doris mit der Bemerkung zurück:
„Verzeihe, aber ich habe einmal so uncivilisirte Angewohnheiten – Du hast mir Rum dazu gegeben. Das thun nur die Geheimen Kanzleiräthinnen – aber eine Frau von dem Geschmacke wie Du, liebe Doris – Ah! Es fehlte nur noch die Vanille. Die Gedanken hell und alles Getränke rein, ist meine Maxime, das heißt mit Ausnahme des Giftes, das ich als Arznei gemischt vorziehe.“
„Das kommt davon, Regina, daß Du uns so lange Deinen Anblick entzogen hast. Hier will ich meinen Fehler wieder gut machen.“
Doris reichte ihr eine andere Tasse; Regina nahm sie und trank sie in einem Zuge aus.
„Auf diese matten Verhandlungen von heute in dem Abgeordnetenhause war nur so ein heißer Aufguß auf das Herz nöthig.“
Dann legte sich die lange Gestalt in den Fauteuil zurück. Scheinbar in Gedanken, hielt sie die Hände an einander, Fingerspitze gegen Fingerspitze. Die Hände waren schön, weiß, sorgfältig gehalten, was einigermaßen gegen die Sorglosigkeit des Anzuges abstach. Ein einfaches graues Wollengewand, weit, sogar etwas nachlässig, ein weißer Kragen und eine dunkle Cravatte, deren Schleife ein wenig an der Seite des Halses saß. Das graublonde Haar war, schlicht gescheitelt, in einem Knoten auf der Mitte des Hauptes zusammengenommen. Die Gesichtsfarbe, sonst ein mattes Weiß, wurde durch den genossenen Thee, durch den Widerschein der Flamme gehoben. Unter den niedergeschlagenen langen Lidern hatten die verschleierten Blicke sich den Präsidenten zum Zielpunkt genommen. Er schien zu fühlen, daß ein paar Augen auf ihm ruhten, und suchte den Bann durch Worte zu scheuchen.
„Gab es heute irgendwie interessante Verhandlungen?“ wandte er sich an Rechting.
„Aeußere Politik,“ sagte dieser kurz. „Wir treiben nach meiner Ansicht in einen Conflict mit unseren nächsten Grenznachbarn hinein.“
Regina stieß abgebrochene Lachlaute aus.
„Was Sie denken, Verehrtester! Mit solchem Syrup, wie er heute geredet wurde, braut man keine Conflicte; damit kann man wohl Kinder für sich gewinnen, aber niemals unser gutes Recht unseren ebenso hartmäuligen wie harthörigen Nachbarn gegenüber zur Geltung bringen.“
„Immer frisch und kühn voran, heißt es bei unserer Freundin im turnerischen Drange,“ sagte Rechting scherzend, indem er aus der Hand seiner Frau die Tasse nahm. „Glatt und forsch, wie sie die Arm- und Beinwellen bei ihren Schülerinnen haben will, [42] wünscht sie auch, im Gefühle ihrer vollsten Unabhängigkeit und in der Fähigkeit, sich unter allen Umständen selbst zu bestimmen und den eigenen Weg zu gehen, die Entwickelung der öffentlichen Dinge. Wenn ich in der unangenehmen Lage wäre, unserm allergnädigsten Herrn einen Minister des Aeußern empfehlen zu müssen, der die Aufgabe hätte, binnen achtundvierzig Stunden einen Weltbrand zu entzünden, dann würde ich keinen Augenblick mich bedenken, Ihren Namen, Regina, auf die Liste zu setzen.“
Die Genannte verzog ihre Lippen zu einem leisen Lächeln. Ein fast wehmüthiger Blick irrte scheu hinüber zu dem Sprecher, begleitet von einem fast schmerzlichen Ausdrucke der Züge, als wollte sie sagen: So wenig ist man von denen gekannt, von denen man vor allen Menschen zuerst erkannt sein möchte.
„Und es giebt doch kein friedfertigeres Geschöpf, als mich,“ sagte sie mit weichem Tone. „Gott, gieb den Frieden allen Menschen! ist mein erst Gebet, mit dem ich jeden Morgen an mein Fenster trete und hinauf in seine Wolken und seine Sonnen sehe. Und doch wieder streitlustig wie ein Toreador! Ja, für unsere nationale Ehre, die in diesem Falle bedroht ist, möchte ich Thor’s Donnerhammer schwingen. Und darum war ich heute mit Ihrem Chef sehr unzufrieden.“
Vielleicht sagte sie das nur, um Rechting zu einer Entgegnung zu reizen. Sie wollte mit ihm allein eine geistige Berührung haben, er aber gab sich nicht die Mühe, etwas Ernstliches zu erwidern. Er war von den Verhandlungen abgespannt und mußte noch, wie er bemerkte, in der Nacht einen Bericht für den Minister schreiben. Regina empfand, daß er sie sogar mit jenem Blicke von oben herab behandelte, der sie an ihre Unzurechnungsfähigkeit in solchen Dingen mahnen sollte und den die Beamten des Auswärtigen Ministeriums, wie sie mit leisen Spotte behauptete, von den Olympischen sich geborgt haben.
„Ich hätte nicht hierher kommen sollen!“ sagte sie dann halblaut zu sich selbst.
Auffallend hätte es sein müssen, daß Lideman die Unterhaltung auf dem politischen Gebiet zu erhalten bemüht war. Er unterzog die Haltung des Ministers seiner Kritik und mündete daher in das Capitel von den Allianzen aus, welche die Regierung in einem gegebenen Kriegsfalle suchen würde. Der oberflächliche Ton des Gespräches, das leichte Aufwerfen des Gesprächsgegenstandes und das leise, scheinbar plaudernde Berühren heikler Fragen vermochte doch nicht ganz das tiefere Interesse zu verdecken, das er bei Besprechung dieses Themas zu verfolgen schien. Aber es fiel nicht auf; Rechting war froh, daß er die Präsidentenglocke des Hauses nicht mehr hörte und sich geistig ausruhen konnte; Doris gab sich ganz den Pflichten der Hausfrau hin und dem Vergnügen, welches die Anwesenheit Regina’s ihr gewährte; die Gedanken dieser schweiften bald in anderer Richtung. In ihrem Fauteuil war sie in einer besonders vorteilhaften gedeckten Position, so daß sie Alles zu beobachten vermochte, ohne daß ihre beobachtenden Blicke von den Anderen controllirt werden konnten. Diese Blicke gingen bald auf Doris, dann wieder nach dem Präsidenten – und nur ab und zu schoß einer derselben wie ein feuriger Pfeil hinüber nach Rechting. Dann senkten sich ihre Wimpern wieder, als wollte sie anderen Blicken wehren, ihr in das eigene Innere nachzudringen. Das war so stumme Handlung von Fauteuil zu Fauteuil. Doris wurde nicht müde von Liddy zu erzählen. Nichts war ihr so unwesentlich, so gleichgültig an dem Kinde, daß sie es nicht der Mühe werth gefunden hätte, es „der Pathin“ zu berichten.
„Warum aber trägt die Kleine nicht den Namen ihrer Pathin?“ fragte Lideman. „Ein so stolzer Name! Wie für Fräulein Regina erfunden.“
„Halten Sie mich für stolz?“ fragte sie zurück.
„Ich taxire Sie darauf, daß Sie zum Beispiel eines Verbrechens ganz unfähig wären – aus der Macht Ihres Bewußtseins von sich selbst heraus.“
„Sehr schmeichelhaft, Herr Präsident!“
„Regina selbst wollte nicht, daß Liddy ihren Namen tragen sollte,“ warf Doris ein.
„Nomen et omen,“ sagte Regina ernst.
„Lateinisch verstehe ich nicht, Regina.“
„Ich auch nicht, Doris, nur einige Brocken. Also zu deutsch: ein Name ist ein Schicksal. Und Liddy soll nicht Erbin des meinigen, sie soll glücklicher werden,“ schloß sie kaum hörbar für sich.
Rechting war hinausgegangen und kam mit der Meldung zurück, daß das Kind in wonnigem Schlafe ruhe.
„Liddy soll so glücklich wie ihre Mutter werden,“ rief Regina.
„Glücklich sein, Regina, ist eine große Gnade des Himmels, aber noch kein Verdienst.“
„Und bei Dir doch ein Verdienst, Doris, ein Verdienst Deines Herzens! Dich beneiden, hieße, Dir jenes absprechen, ungerecht, schlecht sein. Es kann ja innerlich weh thun, anerkennen zu müssen, wo –“
„Was meinst Du, Regina?“
„Ich meine, Glück sehen, wo man das Gegentheil an sich nicht verschuldet hat. Freilich: geht man tiefer in sich, wird man doch vielleicht finden, daß da nicht Alles in Ordnung ist. Ich wiederhole: Du hast Deine Machtsphäre gefunden und beherrschest sie ungetheilt, und das ist Dein Verdienst. Ich – wenn ich Abends nach Hause komme und mein dunkles Zimmer mit dem Streichhölzchen erleuchte, dann sehe ich, daß ich allein bin. Das ist mein Dasein!“
Die letzten Worte klangen wie eine Klage.
„Warum haben Sie sich denn nicht verheirathet, mein verehrtes Fräulein?“
Der Präsident war es, der diese Frage an Regina richtete – nicht ohne eine Beimischung jener Malice, welche in solchen Fällen die Männer für nicht mehr ganz junge unverheiratete Mädchen haben. Regina antwortete nicht gleich; sie begnügte sich ihn groß anzusehen – mit erstaunten Blicken.
„Habe ich Sie denn schon nach Ihren Herzensgeheimnissen gefragt?“ stieß sie fast brüsk hervor. „Wissen Sie, was in dieser Frage liegt? Damit fragen Sie mich, ob ich je die Natur mit gedankenvollem Auge angesehen, ob ich je über das Räthsel und die Bedingungen einer weiblichen Existenz nachgedacht habe; damit fragen Sie ein Mädchen, ob sein Herz wohl auch die Wundnarben von Kampf und Schmerzen trage – damit verlangen Sie, daß es die Herzklappen öffne und Ihnen alle ihre Geheimnisse zeige, und dieses Verlangen stellt man in einem Tone, wie wenn man Jemanden fragt, ob er schon im Leben Zahnschmerzen gehabt habe.“
Regina war erregt. Die Blässe ihres Gesichtes war unter der leichten Blutröthe, von der ihre Wangen überzogen waren, geschwunden. War es die Geschichte ihres eigenen Herzens, die sie hier in wenigen Zügen gab? Fast war es anzunehmen. Jedes Frauenantlitz hat selbst im Niedergehen des Jugendreizes Augenblicke, wo dieser unter’m Strahl der Erinnerung noch einmal aufleuchtet. Die strengen und ernsten Linien ihres Gesichts erschienen plötzlich weich, und der klare Blick hatte wieder jenen warmen, dämmerigen Glanz der Jugend, der wie ein Weben von unendlichem Träumen und Sehnen anzieht und fesselt. Aber nur einen Moment; dann war der zauberische Schein wieder verschwunden und die Dreißigjährige war wieder da, in der hohen fast über ihr Geschlecht hinausgehenden Gestalt, in einer gewissen Ungelenkigkeit der Bewegungen und in der Angriffslust ihres Wesens, die sich besonders zeigte, wo Einer nahen wollte, um hinter die Altarthür ihres Innern zu schauen.
Der Präsident empfand die Zurechtweisung recht wohl, die ihm von Regina geworden war. Er versicherte, daß sie mit ihrer Ausdeutung seiner Frage viel zu weit gegangen sei, und suchte scherzhaft zu beweisen, daß bei den meisten unverheiratheten Frauen die selbstverschuldete Laune eine weit größere Rolle spielte, als das ungerechte Schicksal, welches sie so oft bei ihrer Ehelosigkeit anzuklagen sich berechtigt glaubten.
Regina schüttelte den Kopf. Damit deutete sie an, daß sie diese Behauptung in keiner Weise gelten lassen könne.
„Wenn für eine Frau die Herzensstunde kommt, möchte ich die sehen, die sich von einer Laune regieren ließe! Aber es giebt nur wenige goldene Sonntagskinder, denen die Wunderblume der wahren Liebe erblüht – jener Liebe, welche der Mythus mit vollem Recht in der Gestalt einer flammenden Fackel darstellt, der Fackel, mit der man einem anderen Wesen das Dasein in Licht verklärt, erwärmt oder mit der man sich selbst vernichtet.“
„Eines hast Du vergessen, Regina,“ warf Doris mit ihrer silberhellen Stimme dazwischen – „die erleuchtende Kraft der Liebe, mit welcher wir Andere auf den rechten Weg weisen können.“
Hier ging, von einer Inspiration belebt, das Auge der älteren Freundin voll über die junge Frau auf.
[43] „Ja, Doris, auf den rechten Weg, wenn man durch dunkle Mächte von diesem abgeleitet zu werden in Gefahr ist. Auf den rechten Weg!“ wiederholte sie langsam, das Haupt in Gedanken niedersenkend. –
Regina verabschiedete sich früher als der Präsident. Dieser war immer gern der Letzte. Es schien, als wollte er es vermeiden, daß im Salon von Zurückbleibenden Urtheile über ihn laut würden. Beim Abschiede sagte die Freundin noch, daß sie im Zimmer über dem ihrigen einen Poltergeist habe, der vor Mitternacht nie zur Ruhe kommen könne. Bei Tage sehe man ihn fast nie, nur allenfalls höre man ihn die Treppen auf und nieder huschen. Er scheine die halben Nächte auf dem Dache zuzubringen. Dann höre sie Klappen, Schrauben, Bewegen von Instrumenten, laute Ausrufe des Entzückens, fröhliches Lachen – kurz, es sei die gespenstischste Nachbarschaft, die man haben könne, aber sie fürchte sich nicht.
Damit ging Regina.
Sie war ein eigengeartetes Wesen, diese Regina – und eigenartig war auch ihr Verhältniß zu Rechting’s. Sie hatte die ganze vorbräutliche Zeit mit Beiden verlebt, dann die Verlobung, die kein Roman war. Zwei Menschen wie Rechting und Doris, mit regem Bedürfniß nach innerer Wahrheit und mit äußerer Selbstständigkeit, pflegen sich rasch zu erkennen, so war es auch hier. Sie schrieben sich, wurden näher bekannt. Eines Tages verabredete man eine Partie zu Boote, Rechting, Doris und Regina. Diese hatte auf sich warten lassen, Doris war auf die Einladung Rechting’s eingestiegen. Fröhlich bewegte sich das Boot unter Rechting’s kräftigen Ruderschlägen.
„Aber wir müssen auf Regina warten,“ bemerkte Doris.
„Erst möchte ich Sie etwas fragen, Fräulein Doris, aber eine rasche Antwort erbitte ich.“
„Nun?“
„Ob Sie mich so lieben könnten, wie ich Sie?“
„Da müßte ich erst wissen, wie Sie mich lieben,“
„Nun denn, so tief, daß ich nicht mehr aufhören könnte, es zu thun. Und Sie, Fräulein?“
Doris nickte.
„Und Sie würden mein Weib werden?“
Doris nickte wieder.
„Ach, das werde ich Ihnen nimmer vergessen.“
„Aber da ist Regina, Herr Assessor! – Was thun Sie!“
„Ich küsse Sie, wie es einem Bräutigam geziemt – unter freiem Himmel, vor allen Zuschauern. Und nun an’s Land, um Regina aufzunehmen!“
Reginas Wiege hatte in einem stattlichen Hause einer Stadt Ostfrieslands gestanden. Dorthin war einer ihrer Vorfahren aus Portugal eingewandert, aber außer ihrem lateinischen Namen Desancto verrieth äußerlich nichts mehr an ihr die sonnige Heimath am Tajo. Die unwirthliche nordische Heimath, Wasser, Moor, Haide, hatten dem Aeußern Regina’s vollständig ihr Gepräge aufgedrückt, und auch ihr Herz zeigte der Außenwelt keine Aeußerung fremdartigen Lebens.
Doris konnte sich keine bessere Hausfreundin wünschen als Regina. Diese hatte nie Launen, niemals Nerven, bewegte sich stets in gleichmäßiger Stimmung und bequemte sich in Allem ihrem Willen an. Ihre Tapisseriearbeiten stellten das Verhältniß der Beiden zu einander dar: Doris stickte die Blumen und Regina füllte aus. Dann kam als neuer männlicher Hausfreund – der Präsident. Zwischen ihm und der älteren Freundin wurde eine strenge Höflichkeit eingehalten; ein inneres Verhältniß war nicht vorhanden. Es zeigte sich hier wieder die alte Erscheinung, daß Hausfreunde sich gegenseitig stets beargwöhnen. Lideman war Regina nichts weniger als sympathisch. Sie hatte eine feine Empfindung für Persönlichkeiten, und dann wollte sie auch bemerkt haben – nichts – nichts! Daß ihrem scharfen Blicke sich auch gleich Alles enthüllte! Vorläufig beschränkten sich Beide, um ein militärische Bild zu gebrauchen, auf Recognoscirung. Ein leichter Angriff, vielleicht ein Schuß – dann zog man sich gegenseitig wieder zurück, immer auf Vedette – und dann war es wieder einige Zeit ruhig. Wir haben so eine Recognoscirung von Fauteuil zu Fauteuil gesehen.
„Und doch – doch sollte ich ihn nicht als meinen Feind betrachten,“ sagte sich Regina, indem sie in ihrem Stübchen auf und ab ging. „Was ich beobachtet habe – darnach müßte er mein Verbündeter sein. Wir verstehen uns auch in dem, was uns verbündet, in demselben mächtigen Drang, der uns in die Nähe dieser beiden Menschen treibt; wir empfinden dasselbe innere Auflodern, hoffnungslos auf und nieder gehend und dann wieder mit neuer Macht sich entfachend – das Lächeln eine Lüge und nur der innere Wehschrei Wahrheit – Erich! Nein, nein! Ich will es ersticken; ich will nicht vor mir selbst versinken. Mich verachten zu müssen, wäre für mich der Tod.“
Dann lächelte sie vor sich hin, als ob ihr der Gedanke an den Tod ein Labsal brächte.
Es war Nacht um sie und Stille. Plötzlich meinte sie ein tiefes Aechzen zu hören. Hatte sie das Wehklagen ihres eigenen Herzens vernommen – den laut gewordenen Kampf widerstreitender Gefühle? Im Anfang glaubte sie es; denn es ward wieder still um sie, wie zuvor. Nach einer Weile erklang das nämliche Aechzen und, wie es ihr schien, stärker als zuvor. Es wurde ihr unheimlich zu Muthe. Sie hielt den Athem an und horchte schärfer. Dasselbe Geräusch.
„Ist Jemand hier?“ rief sie mit stockender Stimme.
Keine Antwort. Um sie war Nacht und Stille. Mit fester Hand ergriff sie den Leuchter, öffnete die Stubenthür und sah hinaus, ob Jemand auf dem Flur wäre. Sie sah nichts. Dann ging sie wieder in’s Zimmer zurück, und nun konnte sie ganz deutlich vernehmen, daß jenes Geräusch von oben kam.
Das Haus, welches sie bewohnte, hatte nur drei Fenster in der Front; über ihr wohnte noch ein einzelner Miether, der Poltergeist, von dem sie gesprochen hatte.
Regina überlegte eine Weile. Das Geräusch klang fast wie ein dumpfer Hülferuf an ihr Ohr. Rasch entschlossen stieg sie mit einem Lichte die Treppe hinauf und horchte an der Thür. Das Röcheln kam von drinnen. Sie klopfte und erhielt keine Antwort – dieselben Laute in verstärktem Grade. Dann drückte sie auf die Klinke und trat ein.
Durch sie kam erst Licht in die kleine, enge Stube. – Sie erblickte einen alten Mann, klein, mager, mit einem so kahlen Schädel, daß er fast wie ein Todtenschädel glänzte; um das Kinn und den zahnlosen eingefallenen Mund wuchs ein kurzer, struppiger, weißer Bart. Es war eine Erscheinung, die Regina unheimlich berührte, namentlich wie sich die grünlich schimmernden Augen nach ihr aufthaten. Er war nur nachlässig bekleidet und lag auf der Erde, den Kopf auf der Kante des Sophas.
„Sind Sie krank?“ fragte Regina.
Er suchte seinen Kopf nach der Sprecherin zu erheben.
„Ich – ich sterbe!“ stöhnte er.
Rasch stellte sie das Licht auf den Tisch und versuchte den alten Mann mit ihren kräftigen Armen auf das Sopha zu heben; es gelang ihr. Da – ein scharfer Luftzug – und das Licht war erloschen. Jetzt erst merkte Regina, daß das der Thür gegenüberliegende Fenster weit geöffnet war. Der Himmel mit seiner Sternenpracht schaute in das ärmliche Gemach.
„Was fehlt Ihnen?“ fragte Regina auf’s Neue.
„Ich – ich bin vergiftet – die Cigarre, die er mir zu rauchen gab –
Das Nächste war, daß ein Arzt geholt wurde. Das sagte sie auch dem Kranken, der bei vollem Bewußtsein war, und er schien zufrieden damit. Sie ging hinab in ihre Stube, machte Licht und weckte die Leute im Hause, damit Jemand nach dem Arzte ginge. Es geschah, und Regina kehrte zu dem Alten zurück; sie faßte nach seinem Puls. Die Schläge waren nicht zu fühlen. In der Pause, die bis zur Ankunft des Arztes verging, sah sie sich im Zimmer um. Die Einrichtung trug den Stempel der größten Bedürfnißlosigkeit. Schlechte, altmodische Möbel, Staub und Unordnung überall, aber im Gegensatze dazu eine stattliche Reihe höchst sauber und sorgfältig gebundener Bücher; auf einem Seitentische lag ein astronomischer Atlas aufgeschlagen, und in dem offenen Fenster, das außen einen kleinen Holzbalcon hatte, stand ein großes, prachtvolles Teleskop, wie man sie sonst nur auf Sternwarten und in Lehranstalten sieht.
„Ehe ich sterbe – noch einmal dort oben in – in meine Sterne möchte ich sehen.“ Nur mühsam brachte er die Worte hervor, aber sie waren doch ganz deutlich zu verstehen.
Der Arzt ließ nicht lange auf sich warten. Er untersuchte sehr aufmerksam.
[44] „Eine plötzliche Blutstockung mit einem sehr hohen Grade von Nervenaufregung,“ sagte er halblaut zu Regina.
„Wo haben Sie diesen Abend zugebracht?“ fragte er den Kranken.
„Ich war zum Diner,“ stöhnte dieser.
„Wo?“
„Bei meinem Chef, dem Präsidenten Lideman.“
„Allerdings, da geht es nicht so einfach ab,“ bemerkte der Arzt. „Haben Sie vielleicht sehr starken Kaffee genommen?“
„Nein!“
„Oder geraucht?“
„Ja – er hat mir eine Cigarre gegeben – und mich vergiftet.“
Wie der Arzt es in Aussicht gestellt hatte, so geschah es. Der Anfall ging vorüber. Einige Tage mußte der Kranke im Bette zubringen. Dann schickte der Arzt ihn ein paar Wochen zur Erholung auf’s Land, und von dort kam er völlig hergestellt wieder zurück. Unterdeß hatte Regina erfahren, daß er Buchhalter bei dem Bankverein sei, an dessen Spitze Lideman stand. Dann klopfte es eines Tages bei ihr, und Herr Warbusch – das war der Name des Hausgenossen – trat ein und hielt ihr für „geleistete Hülfe und christlichen Beistand“ eine wohlgesetzte Rede.
„Wenn ich Ihnen je wieder dienen könnte, mein Fräulein! Nur kann ich Ihnen nicht wünschen, daß über Sie auch ’mal so ’ne Attaque kommen möchte. Aber vielleicht etwas Anderes. Wie ich bemerkt habe, leben Sie einsam, wie ein Hamster. Wenn es Ihnen ’mal zu einsam in Ihrem Stübchen würde und Sie Lust bekämen, sich auf einige hunderttausend Meilen von hier zu amüsiren! Was denken Sie dazu? Ganz köstlich! Auf dieser Erde ist wirklich nicht viel los – erbärmlich. Man ißt, trinkt, schläft und schafft – verächtliches Dasein! Aber drüben – ein paar Millionen Meilen von hier – man muß sich durch das Planetengewimmel durchschlagen, aber dann gehen Einem die Sonnen auf. Wenn Ihnen also ’mal so eine Excursion Spaß macht, so richte ich mein Teleskop und dann geht die Reise los. Ich bringe Sie zu Ihrem Lieblingsstern – o das wird eine Himmelfahrt werden!“
Regina antwortete nicht. Nur ein wehmüthiges, fast schmerzliches Lächeln schwebte um ihre Lippen über den Mann, der sie zu ihrem Lieblingssterne führen wollte.
Seit einiger Zeit wollte es Doris bedünken, als gehe mit ihrem Manne wirklich Etwas vor. Er schien ein Geheimniß mit sich umherzutragen. Erich’s fröhliche Unbefangenheit war dahin; mitten in der scherzhaftesten, anregendsten Conversation, im eigenen Kreise wie in fremden Häusern, deren Gesellschaften er an der Seite seiner Frau besuchte, schien er von Gedanken, von Stimmungen erfaßt zu werden, die ihn geistig weitab führten. Dazwischen kamen aber wieder Momente, in denen er glücklicher als zuvor erschien und sich seiner Frau gegenüber mit einer fast stürmischen Zärtlichkeit gab. Doris mußte das bemerken. Sie forschte auch nach der Ursache; Erich schien davon betroffen und machte eine Miene, als wollte er ihr ein Geständniß ablegen, aber dann überlegte er, brach ab und suchte ihre Besorgnisse zu zerstreuen, indem er ihre Wahrnehmungen auf eine Selbsttäuschung zurückführte.
Darauf gewann es einige Zeit den Anschein, als ob er sich zwänge, seiner Frau gegenüber sich unbefangener zu geben, als er es jedenfalls im Innern war. Aber gerade dieses Bestreben machte Doris noch aufmerksamer. Sie nahm ihre Zuflucht zu Regina.
„Mir weicht er aus; mir enthüllt er nicht sein Herz, mir, die doch das erste Recht darauf hätte, es ganz zu kennen. Aber vielleicht vertraut er sich Dir, Regina. Sprich Du mit ihm!“
Eine abweisende, ja eine fast hastige Bewegung war die Antwort auf dieses Ansinnen.
„Warum ich – warum sollte ich gerade? Nein, nein, nie!“
„Regina, was ist Dir?“
Das sonst so bleiche Antlitz der Angerufenen wurde plötzlich blutroth.
„Verlange das nicht von mir!“ sagte sie in kurz abgebrochenen Lauten. „Alles – nur das nicht! Man soll sich nie zwischen Eheleute drängen – auch nicht in bester Absicht als Mittelsperson. Man kommt immer dabei mit sich selbst zu Schaden – so oder so.“
Sie blieb bei ihrer Weigerung.
Doris verfiel auf das in solchen Fällen natürliche Mittel, ihren Mann zerstreuen zu wollen. Sie sprach ihm davon, daß sie endlich doch ihren zweiten Winterball geben müßten. Die Gesellschaft erwarte das gewissermaßen. Sie bemerkte, wie ihr Mann bei ihrem Vorschlage unruhig zu werden begann. Er suchte Ausflüchte. Seine Arbeitskraft würde von seinem Berufe zu sehr in Anspruch genommen, als daß er sich um das Vergnügen seiner Gäste bekümmern könnte. Man müsse den Gesellschaftskreis, in dem sie sich bewegten, an Ausnahmen gewöhnen, da sie das gesellschaftliche Leben vielleicht mit der Zeit nicht in der Weise fortzuführen im Stande wären, wie sie es bisher gethan.
„Du scheinst sparsam werden zu wollen, mein Freund. Daran bin ich aber nicht gewöhnt – und in meinen berechtigten Gewohnheiten möchte ich doch nicht beschränkt werden.“
Als sie dies nicht ohne eine gewisse Erregung sagte, entging ihr, wie Erich bei diesen Worten zusammenzuckte. Er entgegnete aber kein Wort, und nur als ihn seine Frau durch eine energische Miene herauszufordern schien, begann sich der strenge Bann seiner Lippen zu lösen. Er machte eine Miene wie Einer, der sich innerlich von einer Last, die ihm lange das Herz beschwerte, freimachen will – dann aber besann er sich, preßte die Lippen fester zusammen und sagte:
„Gut, liebe Doris – Du sollst Deinen Ball haben. Arrangire Alles, wie Du es nöthig findest, so elegant, wie Du es gewohnt bist! Schone nichts! Ich bin vollkommen damit einverstanden. Man soll sich bei uns doch noch amüsiren – bevor –“ Er brach ab und beobachtete sie einen Augenblick.
Doris schien das letzte Wort überhört zu haben.
„Also der Ball,“ schloß er rasch, „wann Du willst – so groß und glänzend Du willst.“
[57] Der Ball fand statt. Es waren gegen zweihundert Einladungen ergangen. Doris widmete sich den Vorbereitungen mit vollem Eifer: Erich ließ sie in Allem gewähren. Jedermann hatte mit größter Beflissenheit sein Erscheinen zugesagt. Bei Rechting’s amüsirte man sich immer; bei Rechting’s gab es ausgezeichnetes Büffet und vorzüglichen Sect; bei Rechting’s fand man die heiterste Gesellschaft, die hübschesten jungen Frauen, die neuesten Toiletten und den angenehmsten Whisttisch.
Die Säle waren gefüllt und die Festlust hoch im Schwange. Die Geheimräthin von Wandelt war mit Elschen gekommen. Die Tochter glich der vortheilhaften Schilderung, die Doris dem Präsidenten von ihr gemacht hatte, und die Mutter der Bemerkung, welche jene über sie hingeworfen. Frau von Wandelt war an Gestalt, Geist, Gemüth und Tact um das Endchen zu kurz gekommen, das sie sich überall anzusetzen bemüht war. Sie trug mit Vorliebe einen Perlmutterschmuck, der den Eindruck von Perlen machen sollte. Die Magerkeit ihres Leibes umgab sie mit schweren Stoffen, die man irgendwo schon an einer Prinzessin gesehen haben wollte. In neuester Zeit trug sie Gefallen daran, sich ihr Haar in einer Titusfrisur arrangiren zu lassen. Trotz aller dieser Eigenschaften, die eine komische Figur hinreichend ausgestattet hätten, spielte sie in der Gesellschaft eine gewisse Rolle. Ehe man sie lächerlich fand, fürchtete man sie.
Sie war allein mit Else da. Ihren „lieben Mann“ hatte sie entschuldigt. Er wäre gern mitgekommen, wie sie behauptete – die Hummeraspics und die schweren Rheinweine mundeten ihm nirgends so gut als hier – aber der Arzt habe ihm gerade die Luft der Salons und die schweren Weine verboten. Und dann würde er in neuester Zeit immer so aufgeregt, wenn er im L’hombre verlöre. Als Frau habe sie gegen den Staat die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß nicht vor der Zeit dem Staate ein so vortrefflicher Beamter, wie ihr Mann, verloren ginge. Darum sitze er jetzt zu Hause und lege sich seine Patience darauf hin, ob sie und Else sich auch gut amüsirten.
„Das ist der hübscheste Ball, den Sie gegeben haben, meine theuerste Freundin,“ sagte sie zu Doris. „Dieses Silber – dieses Tischzeug — dieses Krystall! Und nichts davon geliehen! Diese himmelblauen Livréeen – und immer zwei davon auf dem Kutscherbock! Sie sind doch die glücklichste Frau der Erde!“
„Ich bin das Alles von Jugend auf so gewöhnt,“ antwortete diese. „Ich wüßte nicht, wie das anders sein könnte.“
„Und wie reizend sie wieder aussieht, die charmante Frau! Die Robe mit den Points d’Espagne und der gestickten Taille! Das sitzt alles wie ein Panzer. Natürlich wieder Paris! ‚Siehst du,’ predige ich jeden Tag, den Gott der Herr giebt, meiner Else, ‚siehst du, Frau von Rechting müßte dein Vorbild sein. Das ist die Frau von Chic. Der strebe nach! Man hat nur dann im Leben etwas erreicht, wenn man die Welt vom Standpunkt einer Equipage aus betrachten kann, aber mit zwei Domestiken drauf.' Kommt denn heute der Herr Bankpräsident nicht?“
„Gewiß, wir haben ihn natürlich eingeladen. Er hat nicht abgesagt.“
„Der Mann ist entzückend.“ Dann, nach einer Pause, sagte sie mit halber Stimme, halb schmeichelnd, halb bittend: „Wie wäre es, meine liebste Freundin? Sie kennen ihn genau. Else vortreffliches Kind – ich die beste Schwiegermutter. Thun Sie etwas für Ihre Freunde, die Ihnen so sehr ergeben sind!“
„Sehr gern, Frau von Wandelt, aber ich weiß nur nicht, wie ich das könnte.“
„Giebt die Gelegenheit, überlegen Sie sich’s! Schildern Sie uns ihm in unserer stillen Anmuth. – Aber wo ist denn meine Tochter?“
„Fräulein Regina hat sie unter ihre Fittige genommen,“ bemerkte Doris.
„Regina? Dagegen habe ich nichts, das ist wenigstens keine Nebenbuhlerin. Man muß junge Mädchen von Concurrentinnen stets fern halten.“
Else schien an diesem Abend Glück zu machen. Erich kam zur Geheimräthin und brachte ihr seine Elogen über die reizvolle, minnigliche Anmuth, in der sich Else heute ganz besonders zeige. Es wäre der Mutter zwar lieber gewesen, wenn Lideman ihr das gesagt hätte, aber eine Mutter nimmt das Lob ihres Kindes von Jedermann an – selbst von einem Ehemann.
Die Geheimräthin hatte bei solchen Festen ihren ständigen Bostongeneral, einen jovialen älteren Militär. Er saß bei ihr und zog Erich damit auf, daß er nach jungen Mädchen ausschaue. Er würde beim Souper Frau von Rechting davon pflichtschuldigste Meldung machen. Die Geheimräthin ließ ihn immer reden und spielte währenddem tapfer ihre besten Karten gegen ihren General aus. Wußte sie doch Else unter der schützenden Obhut von Fräulein Regina, in der sie keine Gefahr für die Wirkung ihrer Tochter sah.
Aber immer war Elschen doch nicht an deren Seite. Da hatte ein junger hübscher Mann seine Schritte nach dem stillen Boudoir der Frau von Rechting gelenkt, das am Ende der [58] rauschenden Festgemächer gelegen war. Ein trauliches Gemach, mit Teppichen belegt und von allen Seiten dicht verhangen, zur geheimen Zwiesprache bestimmt. Eine matt geschliffene Lampe mit ihrem träumerischen Lichte inmitten von üppigen Blattpflanzen – hübsche Bilder, Statuetten. Elschen hatte sich unter irgend einem Vorwande von ihrer Beschützerin losgemacht und ging langsam dem Gemache zu. Von Zeit zu Zeit sah sie sich um, ob ihr niemand mit Schritten oder Augen folge. Mit Schrecken hatte die Mama die Wahrnehmung gemacht, daß ihre Tochter beim Contretanz nicht unter den Tanzenden gewesen war. Else einen Contretanz sitzen geblieben! Endlich kam sie und wurde von der Mama gescholten, scharf inquirirt.
„Wo warst Du? Hast Du die Fanfaren – die Trompeten nicht gehört?“
Da wurde das hübsche unschuldige Kind etwas verlegen.
„Wir haben uns in dem Zimmer von Frau von Rechting das neue reizende Oelbild ‚Ich schnitt’ es gern in alle Rinden ein’ angesehen. Weißt Du, Mama? O, es ist zu hübsch.“
„Wir – wer wir?“
„Nun, eben ich – und – und Fräulein Desancto,“ fiel sie schnell ein.
Von dem schwarzen Fracke, den man neben ihrer himmelblauen Ballrobe durch die Portièren an ihrer Seite bemerken konnte, von dem sagte sie ihrer Mutter nichts. Diese dachte nur an den Präsidenten, der etwas verspätet erschienen war.
Präsident Lideman neigte nicht zur Offenheit; er kannte die Welt und deren Indiscretionen zur Genüge. Unsere Zeit hat das Schweigen verlernt, Reden ist die Parole, gleichviel ob man über Politik spricht, über alle Dinge, die man nicht versteht, oder ob man die Geheimnisse seiner besten Freunde ausplaudert, die ihnen eine dunkle schwere Stunde erpreßt hat und von denen Schicksale und Existenzen abhängen. Wer schweigt, gilt für dumm, und alle Welt will heutzutage geistreich sein. Unter dem Fluche dieser Sucht leiden wir, denn sie gerade verflüchtigt den Geist. Je weniger Gedanken im Kopfe, desto mehr Worte auf den Lippen – und selten über die Sachen, stets nur über Personen. Aber bei aller Zurückhaltung und Vorsicht ging Lideman doch immer und überall direct auf seine Ziele los, mochte es sich um sein Herz, oder um irgend eine Bilanz, eine Speculation handeln. Er war in Allem der raffinirte Geschäftsmann, der sich durch keine unbequemen Gewissensscrupel in seinem Handeln hemmen oder beirren ließ.
Heute am Ballabend war sein Wesen von etwas wie von einem festen Entschlusse, einem Wagniß beherrscht. Die volle Bewegung der Gesellschaft, der Glanz, der über den Räumen lag, die gehobene Stimmung, die am Ende jeder Gesellschaftsabend mit sich bringt, die rauschende Musik, die Lichter, die Blumen und die hübschen Frauen und Mädchen – dies Alles spannte die ganze Muskelkraft seines leidenschaftlichen Wollens. Er hatte wiederholt gesucht, sich Doris zu nähern, aber stets wurde sie ihm entführt, ob durch Zufall oder Absicht, dazu ließ ihm die Ueberlegung keine Zeit; dazu hätte er denken müssen – und denken, wo Alles um ihn in Gefühl, Rausch, Lockung, Hoffnung sich auflöste! Endlich war es ihm gelungen, Doris in einer Gruppe von älteren Damen zu finden. Er bot ihr den Arm.
„Gnädigste Frau, die Gesellschaft hat mich mit der beneidenswerthen Aufgabe betraut, ihren Schmuck, ihren entflohenen Liebling ihr zurückzusuchen.“
Doris schien in der besten Laune; sie lachte und bemerke, daß das eigentlich eine Beleidigung sei.
„Weil ich Sie vielleicht der besten Gesellschaft, dem Alleinsein, entziehe, gnädigste Frau?“
„Nein, weil es nach Ihren Worten scheinen möchte, als umgäbe ich mich mit Personen, die so wenig innere Ressourcen haben, daß sie das Fehlen meiner unscheinbaren Persönlichkeit sogleich als eine Leere fühlen müßten. Uebrigens war ich auf dem Wege, meiner geselligen Pflichten mich zu erinnern.“
„Darf ich Ihnen den Arm anbieten, gnädigste Frau?“
„Ich nehme nie den Arm eines Mannes, der nicht seine silberne Hochzeit gefeiert hat,“ erklärte Frau von Rechting.
„Ah, für so eine kleine Gunst eine so lange Leidenszeit!“
„Nun, haben Sie sich meinen Vorschlag von neulich überlegt, Herr Präsident?“
„O, sprechen Sie mir nicht davon!“
„Warum denn nicht?“
„Warum? Weil – weil! Man betet an; man glüht in seinem Herzen; man ringt mit allen Mächten der Leidenschaften und – eine Partie! So schnöde abgewiesen werden –“ Er hauchte diese Worte mehr, als er sie sprach. Um so tiefer hatten sie Doris getroffen. Sie trat einen Schritt von ihm zurück und ernst, gemessen, wenn auch nicht unfreundlich, sprach sie:
„Sie erzählten mir an einem unserer letzten Abende so interessante Dinge über Ihre Thätigkeit als einer der Commissäre der letzten großen Ausstellung. Da werden Sie gewisse Gegenstände bemerkt haben, an denen ein kleiner Zettel hing, mit den Worten: Hors de concours.“
„Ja, ja, aber was soll das?“ drängte Lideman.
„Und gerade solche Gegenstände hat auch die Gesellschaft, und an jeder verheiratheten Frau hängt ein solcher, wenn auch unsichtbarer Zettel mit der Inschrift: Hors de concours.“
Um diese Warnung, diese Zurechtweisung ihm noch fühlbarer zu machen, nahm sie den Arm ihres Mannes, der sich gerade in der Nähe befand. Der Präsident sah ihr nach, als preßten sich zwischen seinen Lippen die Worte hervor: O, diese Frau! Sie treibt mir das Blut zum Herzen. Sie sehen – von ihrem Athem berührt zu werden – unter dem Zauber ihres Blickes zu stehen und denken zu müssen: Alles auf der Welt ist durch die Wünschelruthe deines Reichthums dein eigen – Alles, nur sie nicht! Dann stampfte er leise mit dem Fuße auf, um seinen inneren Willen zu bethätigen, seinen Entschluß zu verschärfen und zu stählen. Und doch – doch! O, kräusele nur deine holden Lippen zu spöttelnder Rede! Mich wirst du in meiner Zuversicht nicht irre machen, von meinem Ziele nicht abbringen.
Lideman fühlte sich durch die Abweisung der jungen Frau nicht aus dem Felde geschlagen. Er ärgerte sich nur über seine Unvorsichtigkeit. Wenn Doris ihrem Manne davon sprach, war da nicht seine Stellung den Beiden gegenüber erschüttert? Und dann mehr als das. Nach seinen Grundsätzen konnte sich ein Mann in einem Verhältnisse zu einer Frau Allem aussetzen. Jeder Mann – so lautete sein Grundsatz – verdient den Erfolg, den er bei einer Frau erringt, und jede Frau ist gerade so viel werth, wie sie ihm die Chancen eines solchen verschafft. Eines nur galt ihm als Verbrechen – die Lächerlichkeit. Fast wollte es ihn bedünken, als ob er sich dessen schuldig gemacht hätte. Das konnte er nicht so hinnehmen. Er mußte eine Genugthuung dafür haben, und nun kam zu seinen vollen zitternden Pulsen und zu seinem Raffinement auch noch das Rachegefühl, diese furchtbare Waffe eines Mannes einem Weibe gegenüber, das, nichts ahnend von solcher Verderbtheit, ihm in ihrer Unbefangenheit die Mittel zur Ausführung, zur Erreichung seines Zieles bietet. Ob Doris ihren Mann von dem Zwischenfalle unterrichtet hatte? Dann war ihm allerdings der Boden entzogen. Eben kam Rechting auf ihn zu. Lideman schlug das Herz. Wenn er Aufklärungen forderte! Nein. Lideman sollte die Geheimräthin zu Tisch führen. Erich trug ihm diese Bitte scherzend vor. Doris hatte also geschwiegen. Er hätte jetzt die Geheimräthin auch noch geküßt, wenn es Erich verlangt hätte.
Es kam nach Mitternacht jener Moment, wo die Festräume sich leeren und die Vorzimmer sich füllen, wo dieselben Menschen, die eben das Vergnügen vereint hatte, die sich mit dem holdesten Lächeln begegnet waren, die in Versicherungen des Glückes über das beiderseitige Zusammensein und dessen Reize sich erschöpft hatten, nach dem Augenblicke haschen, der sie wieder aus einander führt, wo über ein verwechseltes Tuch, einen verirrten Gummischuh oder einen zu spät gekommenen Kutscher Flammenblicke und Zornesworte geschleudert werden; jener Moment, sagen wir, der uns belehrt, daß man die Gesellschaft nicht nach dem Salon, sondern nur nach dem Vorzimmer beurtheilen darf.
Von einem ähnlichen Gedanken schien Erich beherrscht, als seine Gäste vor ihrem Abzug noch einmal vor ihm und Doris defilirten, Beiden dankgerührt die Hand drückten und nun draußen im Vorzimmer die wilde Jagd des Aufruhrs losging. Seine Züge trugen einen gespannten Ausdruck, und seine Lippen umspielte ein Zug von Ironie. Als die Letzte der Geladenen – es war natürlich die Geheimräthin – vorüber war und die Salonthüren sich geschlossen hatten, athmete Erich tief auf, als ob er sich einer recht schweren Last entladen wollte.
„Ich weiß nicht,“ sagte Doris zu ihrem Manne, „das war [59] ein recht seltsamer Abzug der Gesellschaft heute, nicht wie sonst – so heiter und lustig.“
„Vielleicht hat es auch seinen Grund“ – war Erich’s Bemerkung.
„Was willst Du damit sagen, Schatz?“
Statt aller Antwort schlang er seinen Arm um die Taille seiner Frau und zog sie mit nach dem Boudoir, in welches wir vorhin Else und einem Unbekannten gefolgt waren. Er zog sie mit sich nieder – durch die Portièren sahen Beide, wie die Diener die Lichter auslöschten.
Erich schien nach einem Worte zu suchen, und Doris sah ihren Mann fragend an.
„Die Lichter werden heute diese Zimmer zum letzten Male beleuchtet haben,“ nahm er plötzlich das Wort.
Doris schien das nicht zu verstehen.
„Wie kommst Du darauf? Und hier? Das war doch nie Deine Gewohnheit, nach einem Balle in der durch Licht und Menschen gerade nicht besser gewordenen Luft noch zu verweilen –“
„Aber hier möchte gerade der rechte Ort sein, um Dir eine Eröffnung zu machen. Ich war sie Dir im Grunde schon längere Zeit schuldig, aber ich fand das rechte Wort, den rechten Augenblick nicht, auch nicht den Muth, weil ich Dir keinen Schmerz bereiten wollte. Lieber trug ich’s allein, so schwer es mir auch wurde und so räthselhaft Dir mein Benehmen auch manchmal vorgekommen sein mag. Ich sah alle die Folgen voraus – ich wußte, welche einschneidende Consequenz es für unsere gesammten Verhältnisse haben würde.“
„Du folterst mich, Erich – sprich, was ist es? Gerade heraus!“
„Du warst reich, Doris; Du bist es nicht mehr.“
Die nähere Erklärung war einfach: ihr Vermögen, das bis auf einen ganz geringen Theil bei einer Bergwerksgesellschaft von ihrem verstorbenen Vater angelegt war, sei durch den Zusammenbruch derselben ohne Rettung verloren.
Doris starrte ihren Mann regungslos an. Mit der Schnelligkeit der Inspiration legten die Folgen dieser Eröffnung sich ihrer Urtheilskraft klar vor. Ihr Gesicht war bleich geworden und unterschied sich in der Farbe kaum von dem Atlasgewande, das sie trug.
„Ich wußte, welchen Eindruck es auf Dich machen würde, und darum zögerte ich so lange.“
„Und, Erich, es ist nicht ein bloßer Scherz von Dir – nein, nein? Und auch kein Vorgeben, mit dem Du verhüten willst, daß ich zu viel Aufwand mache?“
„Dann würde ich andere Mittel gesucht haben, liebe Doris, als Dich um ein Nichts zu erschrecken.“
„Ich – ohne Vermögen! Das ist zu furchtbar. Das ertrage ich nicht.“
„Wir müssen, Doris, und es wird auch gehen, wenn uns nur nicht der rechte Wille und die Kraft fehlen, es auszuführen. Mir freilich wird es weniger schwer werden als Dir, die von Jugend an im Genusse des Reichthums gelebt hat. Und – wenn ich es Dir offen sagen soll – ich für meinen Theil beklage den Verlust gar nicht so sehr.“
Sie sah ihn in jäher Ueberraschung an.
„So lange Du an Deinem Vermögen einen Rückhalt hattest,“ fuhr er fort, so lange gehörtest Du mit Deinen – verzeihe, wenn ich das Ding bei seinem rechten Namen nenne! – Deinen luxuriösen Gewöhnungen und Neigungen mir und meinem Herzen nur halb. Die andere Hälfte von Dir gehörte der Welt – dem Vergnügen. Von dem Augenblick an, wo es mir obliegt, für Dich, für unser Kind zu sorgen, erst von da an bist Du mein – ganz mein, wie ich Dir von je zu eigen war.“
Zur Bekräftigung des Gesagten schlang er die Arme um sie und küßte sie auf ihre Lippen. Doris hatte nur noch Thränen.
„Und Alles ist verloren?“ stammelte sie.
„Alles!“
Rechting sagte das fast ärgerlich.
„Ich begreife, Erich, wie Du unter dem Geheimnisse gelitten haben magst – es ist nur ein neuer Beweis Deiner Liebe. Ich gestehe Dir, daß ich Dir in Herzen und Gedanken oft Unrecht gethan habe. Was soll denn nun mit uns werden?“
„Das will ich Dir sagen. Wir werden diese große prächtige Wohnung hier verlassen und jenes stille bescheidene Gartenhaus vor dem Thore beziehen, das Einzige, was ich von meinem Vater her besitze.“
„Dieses öde, einsame, schmucklose Haus,“ schaltete Doris ein.
„Natürlich werden wir unsere Equipage abschaffen – die Diener – überhaupt unseren Haushalt auf das Einfachste beschränken.“
„O, das wird ja ein herrliches Leben werden, wenn ich durch die Vorstadt herein bei Wind und Wetter zu Fuße trotte und den Kohl im Korbe nach Hause tragen muß. Wie höhnisch werden mich die Leute angrinsen! In meinen Ohren höre ich es schon tönen: ‚Seht doch diese – die elegante Frau! Früher auf Gummirädern, nun in Gummischuhen!’“
„Immer nur Aeußerlichkeiten! Doris, wann wird der Augenblick kommen, der Dir den Sinn dahin wendet, wo allein alles dauernde Glück verborgen ruht – in das Innere, in die Tiefe der Menschenbrust?“
„Tadle, schmäle immerhin! Schilt mich – ich werde mich nie in andere, kleinere Verhältnisse gewöhnen. Ich liebe den Reiz, den Glanz, die Schönheit und Fülle des Lebens. Es ist die Atmosphäre, in der ich athme. Warum hast Du mich so gewähren lassen? Warum hast Du Dich um mein Vermögen nicht gekümmert? Dir stand es zunächst zu. Bin ich so sinnlos, daß ich auf Deine Mahnungen nicht gehört hätten? Und unser Kind! Das hast Du nicht bedacht in Deinem Egoismus, der da wünschte, daß es mit dem Meinigen zu Ende ginge.“
„Ja wohl! Es ist besser, Liddy ist arm an Geld und Gut, als daß ihr Kinderherz der Liebe entbehrte, die ihr in diesem Treiben verkümmert und entzogen würde. Doris, liebe Doris, ergeben wir uns darein!“
Die Angerufene hörte diese bittende, fast flehende Mahnung seines Herzens nicht. Mit einer heftigen Bewegung machte sie sich von ihrem Manne los und eilte im rauschenden Ballgewande nach dem Zimmer, wo die Kleine ruhig schlafend im Bettchen lag. Was sie hier hätte finden müssen, Trost und Erhebung, Muth und Selbstvertrauen – sie fand es nicht. Sie sah vor ihrem geistigen Blicke nur die Welt und ihre Zukunft wie einen öden, leeren Raum, in den sie vergebens ihr Ich einzufügen suchte.
Und Rechting war es, als hätte sich mit diesem Abend und dieser Eröffnung zwischen ihm und seiner Frau ein Schatten eingefunden, der sie auf dem künftigen Lebenswege zu begleiten drohte.
Es war ein sehr bescheidenes Haus, welches Rechting’s nun bewohnten. Erich’s Vater hatte es von seinem Schwiegervater, einem wohlhabenden Leinwandhändler, geerbt, der es sich als Sommerplaisirhaus gebaut hatte, um sich des Abends mit seiner Familie darin von den Strapazen des Tages zu erholen, Rosen und Reben zu ziehen und bei saurer Milch als Abendbrod es sich im Schooße seiner Familie wohl sein zu lassen. Damals lag das Haus weit vor dem Thore der Stadt, und die Familie ersparte durch dasselbe Sommerreisen und kostspielige Landaufenthalte auswärts. In den dreißig Jahren seit dem Tode des biederen Leinwandherrn hatte sich die Stadt gereckt und gestreckt; die Grundstücke um das Haus herum wurden bebaut, die einfachen Landhäuser niedergerissen und durch Prachtbauten ersetzt; nur der Rechting’sche Besitz blieb, wie er gewesen war – und freilich, das Haus mit der schmucklosen Front, dem altmodischen Giebeldache, den niedrigen Fensterstöcken, die noch nicht mit Spiegelfenstern ausgefüllt waren, mit seinem bescheidenen Vorgärtchen, das noch durch einen Holzzaun nach der Straße abgeschlossen war, das nahm sich inmitten der reich ornamentirten Façaden, dem Säulenschmucke, den vergoldeten Balcons rechts und links recht armselig aus. Es machte den Eindruck eines armen Waisenkindes unter schön geputzten Kindern reicher und vornehmer Eltern.
Hier hatte nun der Assessor sein Domicil aufgeschlagen. Die Equipage war abgeschafft worden, er und seine Frau bedienten sich der Omnibus, er, um nach dem Amte zu fahren, sie, Doris, um ihre Einkäufe in der Stadt zu machen. Bei dem vereinfachten Haushalte hatten die Lieferanten verschmäht, die Sachen in’s Haus zu bringen, wie sie das sonst thaten. Man hatte auch keine Dienerschaft mehr; diese war auf eine Magd und ein Kindermädchen beschränkt. Doris ging im unscheinbarsten [60] Anzuge. Sie hatte bis auf einen ganz geringen Theil alle ihre kostbare Garderobe verkauft. Erich hatte dagegen Einspruch zu erheben versucht; mit ihm verbündete sich Regina, aber gerade dieses Abmahnen bestärkte Doris in ihrem Entschlusse. Sie wurde eigensinnig, bitter in ihrer Stimmung.
„Du sagst ja selbst, daß wir uns auf völlig neue Verhältnisse einrichten müssen. ‚Dein Kleid entspreche deinem Leben und Denken’ – sagt das Wort eines Weisen, dem ich folge. Was sollen mir jetzt diese Zeugen einstiger Herrlichkeit? Arme Leute brauchen sich nicht mehr zu schmücken; für diese genügt ein Leinwandkleid. Und es ist besser so, Erich; ich würde durch diese Roben nur an das Einst erinnert werden und – man muß doch einmal vergessen.“
„Eine Perle von einer Frau!“ rief die Nachbarschaft, die gar bald erfahren hatte, warum der Eigenthümer des „Planetenhäuschens“ den bisherigen Inwohner desselben ausgemiethet hatte. Das Haus hieß in der Umgegend so, weil das Planetensystem, allerdings in sehr fragwürdiger Weise, über dem mittleren Fenster aufgebracht war. Darum hatte es auch Herr Warbusch zu seiner Wohnung erwählt und hatte lange Jahre darin gehaust, bis der Assessor dem bisherigen Miether, dem alten einsamen Junggesellen, die Wohnung zu kündigen veranlaßt war. „Ein Juwel,“ sagte man von Doris, „ein Weib, das man für alle anderen Frauen als mustergültiges Beispiel hinstellen muß, wenn man die schöne Frau früher stolz zurückgelehnt in die Kissen ihres Wagens hier vorüberfahren sah und sie nun beobachtet, wie sie ihre eigene Equipage fährt, das heißt den Wagen ihres Kindes, und sich an die feine Promenade setzt und Handarbeiten macht und dabei den Schlaf ihres Kindes behütet, wie es eine gute Mutter thun muß!“
Das hätte Doris nun nicht nöthig gehabt – den Kinderwagen hätte ebenso gut das Kindermädchen ziehen können, wenn es überhaupt nöthig war. Denn hinter dem kleinen Landhause war ein ziemlich großer Garten, welcher der kleinen Liddy Luft und Licht in hinreichendem Maße zugeführt hätte. Aber es war in dem Gebahren von Doris in den neuen Verhältnissen ein Übereifer, ein Bestreben, das über jedes Maß hinaus ging, und das nur die schmerzliche Erinnerung an die Vergangenheit, die innere Unbefriedigtheit und Vergrämung bloßlegte. Jede andere Frau von demüthigerem und ergebenerem Charakter würde es vermieden haben, die Orte aufzusuchen, wo sie ihren früheren Gesellschaftsgenossen begegnen mußte. Allerdings – und darin hatte sie wieder recht – brauchte sie das Auge der Welt nicht zu scheuen – sie und ihr Mann waren völlig intact aus den früheren glänzenden Verhältnissen in das Dunkel gegangen. Doris aber war gewohnt, zu glänzen, bewundert zu werden. Da sie das nicht mehr im Salon genießen konnte, that sie es an der offenen Heerstraße. Sie wollte der Welt zeigen, warum sie nicht mehr zu ihr gezählt werden konnte; sie wollte hier ein Beispiel der vollsten Selbstbescheidung geben und verrieth nur ihren Hochmuth, ihre Gefallsucht, ihre Lüsternheit nach dem Verlorenen. Die Weltdame kokettirte mit der Mutter.
Rechting hatte für sich und seine Frau alle gesellschaftlichen Verpflichtungen, die nicht mehr im Bereiche seiner Mittel lagen, abgebrochen. Regina unterließ nicht, ihn auf das Gefährliche dieser Maßregel aufmerksam zu machen. Der Contrast gegen das Sonst sei bei Doris zu unvermittelt – die Klugheit gebiete, doch hier und da Ausnahmen zu machen – Ausnahmen, die selbst mit beschränkten Mitteln auszuführen seien. Rechting entgegnete darauf, daß ein Princip darin festzustellen nöthig sei, denn gerade diese Ausnahmen seien der versteckte Weg zur Regel. Doris müsse sich in das Unabänderliche fügen.
„Dann machen Sie es, wie Sie wollen,“ versetzte Regina. „Ich will nichts mehr darüber sprechen – Ihr Männer seid alle in dem unverbesserlichen Hochmuth befangen, daß ein Frauenherz eine Weidengerte sei, die sich fügen und formen lassen müsse, wie es gerade nur immer bon plaisir ist. Ein Frauengemüth ist ein Ding, das sein eigenes Gesetz hat und seine eigene Art will, die Ihr Alle nicht ergründet. Ihr wollt Selbstständigkeit bei einer Frau haben, und verlangt, daß sie in Allem Euer gefügiges Werkzeug sei, unterthan Eurem Willen, wie Euren Launen, Ihr wollt aber zu gleicher Zeit ein weiches, sanftes Herz, und greift jeden Augenblick mit brüsker Hand hinein, den Schlag desselben hemmend, seine Lebensfähigkeit beschränkend. Aber das Alles sind Dinge, die Euch hundertmal schon und viel besser gesagt worden sind, ohne daß es etwas gefruchtet hätte. – Komm, Doris – Du sollst nicht wie eine Nonne in Deinen vier Mauern eingesperrt sein; Du sollst mit der Schönheit und dem Reize der Welt wieder in Berührung kommen. Ich habe hier zwei Concertbillets – es sind keine gekauften, denn sonst bekäme Dein Mann wieder die Angst. Es sind Freibillets, die ich meiner Kunst verdanke. Einen Violinspieler, der an seiner Geige sich einen Buckel gespielt hatte, habe ich wieder für’s Leben aufgerichtet, daß er jetzt Flügelmann in einem preußischen Garderegiment werden könnte. Komm mit mir, Doris! Wir wollen den herben Mann einmal allein mit seinem Actenkram zu Hause lassen. Nun – willst Du?“
Doris warf einen prüfenden Blick auf ihren Mann. Der rauchte seine Cigarre, holte ein Buch vor und sagte kein Wort. Sie hatte gehofft, er würde sie auffordern, mit Regina zu gehen. Er that es aber nicht.
„Ich danke Dir, Regina,“ sagte Doris. „Du weißt ja, wie ich die Musik liebe, aber –“ Ihre Lippen preßten sich bei diesen Worten zusammen. „Du bist so gut, Regina, daß Du mir eine Freude machen wolltest, und eine solche wäre es gewesen, aber Erich scheint es nicht zu wollen. Ich gehe nicht – ich unterwerfe mich seinem Willen – wie es ja meine Pflicht ist.“
Die Thränen standen ihr in den Augen. Sie wollte es aber nicht zeigen und ging eiligst aus dem Zimmer.
„Regina, Sie reizen Doris gegen mich auf,“ sagte Erich mit finsterer Miene.
Regina schreckte bei diesen Worten zusammen, wie Jemand, der durch einen äußern Anruf zu dem innern Bewußtsein einer Gefahr gebracht wird. Sie wurde das Wort den ganzen Tag über nicht wieder los. Sollte Erich Recht haben? Wäre sie nur deswegen auf Doris’ Seite getreten, damit sie die Kluft zwischen den beiden Gatten erweiterte und aus dem Abgrunde ihres Glückes für sie eine Hoffnung aufstiege? Das nicht – von dieser Schuld durfte sie sich vor Gottes Augen, der in ihr Herz schauen konnte, lossprechen. Für Doris sprach das Weib in ihr; die Parteinahme für sie ging aus der Opposition gegen den Mann hervor, der in diesem Falle hart verfuhr. Vielleicht fühlte sie die Macht nur zu sehr, die Erich über ihr Herz gewonnen hatte. Um diese einzudämmen, suchte sie nach einem Grunde, um ihm einen Vorwurf machen zu können, um sich zu ihm in einen Gegensatz zu bringen. Sie bedachte nicht, daß die Gefahr einer Frau einem Manne gegenüber da beginnt, wo sie diese abwehren will, wo das Streitgefühl in ihr erwacht, und Regina befand sich mit ihrem Herzen in dieser Phase.
Jenes Wort Erich’s aber hatte in ihrem beiderseitigen Verhältnisse keine Folge. Ein Augenblick des Unmuthes hatte es erzeugt – der nächste Tag hatte es ihn und sie vergessen lassen. Erich begegnete ihr weiter mit der gleichen Freundlichkeit, demselben Vertrauen wie zuvor.
[73] „Meiner Frau scheint es nicht mehr bei mir zu gefallen,“ sagte Erich der Freundin eines Tages.
„Herr von Rechting!“ rief diese erschrocken.
„Ja, ja. Ich muß es so annehmen – das Haus ist ihr zu kalt, zu feucht in dieser herbstlichen Jahreszeit. Sie friert, sie fiebert, sie fühlt sich krank – innerlich und äußerlich. O Regina, wenn eine Frau schwach und kleinlich ist, dann wird sie es gleich in einem Grade, daß Einem das Herz brechen möchte. Hätte Doris erfahren, daß ich verunglückt wäre, daß ihr guter Ruf verloren sei, sie würde es vielleicht ruhiger getragen haben. Aber da sie nur ihr Vermögen eingebüßt hat, Entbehrungen ertragen muß, da sie keine Pariser Roben mehr kaufen kann und jetzt nur soviel Wirthschaftsgeld besitzt, wie sie früher für Handschuhe gebrauchte – da möchte ihr das Herz brechen. O Regina, jeder Tag, jede neue Erfahrung mit Doris bringt mir Eines näher, eine furchtbare Wahrheit, so unausweichlich, wie Elend und wie Sterben – daß Doris mich doch nicht liebt.“
„Erich – Erich!“
„Ich weiß, was Sie mit diesem Anruf sagen wollen: daß ich mich einer Selbsttäuschung hingebe – daß Alles schwarze Laune, tiefer Unmuth. O täuschte ich mich doch! Wie glücklich wäre ich, glücklich zum Frohlocken! Aber – “ und er schlug mit der Hand auf sein Herz – „hier, hier sitzt es. Das hört am besten – das fühlt am ersten – das schmerzt am tiefsten. Wie ein dunkler Refrain des Schicksals tönt es mir da hinein: täusche dich doch nicht, armer Tropf! Sie liebt dich nicht. Der Brief, den ich an meinem Hochzeitstage erhalten – er hatte Recht.“
Bei Erwähnung des Briefes war es, als zuckte Regina plötzlich zusammen, und gleichzeitig schoß aus ihren großen Augen ein Strahl, der wie jähe Hoffnung, wie wilde Freude zu deuten war. Erich hatte nie von dem Briefe gesprochen – zu ihr nicht – zu Niemandem. Sie konnte davon nichts wissen, und doch schien sie ihn verstanden zu haben, so tief, daß ihr der Athem fast stockte, als er des Briefes erwähnte.
Sie fand bald einen Vorwand, sich vom Rechting’schen Hause loszumachen. Sie suchte das Freie; zwischen vier Mauern drohte sie zu ersticken. Wie sie mit großen, hastigen Schritten dahin eilte, die hohe Gestalt in dem weiten dunklen Anzuge – schien sie plötzlich eine Andere geworden zu sein. Das blasse Gesicht glühte, wie man es vorher nie an ihr gesehen hatte; die kalten, grauen Augen sprühten wie in Funken; die Brust rang nach Athem – die ganze Gestalt war von tiefer Leidenschaft bewegt. Sie eilte, um aus dem Häusermeer hinauszukommen, dahin wo Bäume rauschten, wo der hohe Himmel sich über ihr wölbte, wo die Menschen seltener, die Umgebungen freier und lichter wurden. Hier verlangsamte sie ihren Schritt; sie schien ruhiger geworden. Sie gewann ein Plätzchen, wo sie, von Zeugen ungestört, die weite Fläche eines Sees vor sich hatte. Ist doch für eine erregte Seele nichts beruhigender, als eine große Wasserfläche.
„‚Sie liebt mich nicht,’“ flüsterte Regina vor sich hin, wie Jemand, der sich eine frohe, glückverheißende Botschaft im Klange des Wortes verkörpern will. Wie in strahlender Glückseligkeit hoben sich ihre Blicke zum Himmel. Sie hatte das Wort erwartet seit lange; sie wußte, daß es eines Tages von den Lippen Erich’s kommen würde. Und nun hatte sie es vernommen. Hatte er es denn wirklich gesagt oder war es nur die eigene Sehnsucht – die Illusion des Herzens, die es ihr vorgezaubert hatte?
Sie liebte Erich – sie lag vor ihm im Geiste anbetend auf den Knieen. Sein erstes Erscheinen damals im Seebade hatte einen mächtigen Eindruck auf sie hervorgebracht. Er sah diese Liebe nicht – sein Herz war und blieb Doris, seiner Braut, zugewandt. In ihr ging all sein Liebeleben auf. Mit der Sonde der schärfsten Beobachtung trat Regina an das Verhältniß der Beiden hinan. Jeden Laut, jede Bewegung haschte sie mit ihrem eifersüchtigen, fast gierigen Auge, um irgend einen Anhalt der Hoffnung für sich zu finden, bis sie eines Tages mit sich zu dem Resultate gekommen war: Sie liebt ihn nicht.
In der Nacht vor dem Hochzeitstage schrieb sie mit verstellten, aber sicheren Zügen jenen Brief an Erich. Sie wäre gestorben, wenn sie ihrem Herzen nicht damit eine Genugthuung verschafft hätte. Und nun die Bestätigung aus seinem eigenen Munde, daß sie Recht hätte!
Wenn sich die Verhältnisse so weiter entwickelten, dann wurde diese Ehe auch unhaltbar. Eine Frau, sagte sich Regina, der die Lust am Luxus, am Vergnügen wie ein feiner Giftstoff innewohnt und alle gesunden und edlen Organe zu stören droht – die ist nicht durch Worte, nicht durch Bitten oder Mahnungen zu bekehren. Ihr kann nur durch Drang und Noth, durch den Gang bitterer Erfahrungen ein neues Geistesblut zugeführt werden – und nur einer Frau, die ihren Gatten liebt. Was aber dann, wenn die Beiden sich trennten? Ja, was dann! Erich hat den Fluch der Aeußerlichkeit empfunden. Wird er sein Herz nicht dem Gegensatze zuwenden, einem Wesen, das er achtet, das sein Vertrauen besitzt, wie sie, und konnte sie mit ihrem Aeußern nicht [74] getrost neben die Jugend treten? Sie erhob sich mit einer hastigen Bewegung und schritt ganz nahe an das Wasser, das in seinem Spiegel ihr Bild reflectirte. Sehnsucht, Liebe, Freude, Glück und Hoffnung – Alles was in diesem Augenblicke in ihrer Brust zusammenströmte, hatten ihr Aeußeres umgewandelt, verjüngt, verschönt. Ihre hohe, herrliche Gestalt hob sich stolz, und ein leuchtender zu den Wolken sich hebender Blick sprach den Entschluß aus: Ja, ich will. – –
„Von unseren früheren Bekannten kennen uns nur wenige mehr, und wenn sie hier vorüberfahren und mich zufällig in meinem Gärtchen sitzen sehen, so betrachten sie schnell die hübschen Karyatiden am Nebenhause. Sie aber sind uns treu geblieben – das ist brav, edel von Ihnen, Herr Präsident.“
Mit diesen Worten empfing Doris den Genannten. Es war fast um dieselbe Zeit, wo wir Regina hinaus an den See gefolgt waren. Doris fühlte einen kräftigen Druck seiner Hand und zog, von einem brennenden Blicke getroffen, diese fast erschrocken schnell aus der seinigen, ihn halb vorwurfsvoll, halb verwundert ansehend.
„Ich komme heute eigentlich nicht zu Ihnen, gnädige Frau. Ich muß nothwendig Ihren Herrn Gemahl sprechen.“
Doris ging, um Erich von der Anwesenheit des Präsidenten zu unterrichten. Seine Blicke folgten ihr – heiß und verlangend.
Einige Minuten später saß der Präsident mit Erich in dem Arbeitszimmer desselben, das nur durch eine Portière von dem Wohnzimmer geschieden war. Erich bot dem Präsidenten eine Cigarre an. Dieser dankte, zog sein eigenes Etui und reichte es dem Assessor, der es aber höflich zurückwies mit der Bemerkung, daß er sich nicht in seinem eigenen Hause von einem Gaste regaliren lassen könne. Lideman verstand das nicht.
„Es sind keine Regalia – Ambalema,“ versetzte er.
Erich lehnte jedoch jede Aufforderung zum Rauchen ab, sodaß der Präsident zuletzt erklärte, ebenfalls darauf verzichten zu müssen.
„Es wird auch so gehen. Aber jedenfalls hätte das Gespräch oder vielmehr mein Vorschlag ein gemüthlicheres Gesicht bekommen. Sie sind Assessor, mein verehrter Freund – bitte, es soll kein Vorwurf sein – Sie sind immer der tüchtigste Arbeiter im Ministerium gewesen. Verzeihen Sie, wenn ich Sie frage – fassen Sie das nicht als Indiscretion – wie viel Gehalt beziehen Sie vom Staate?“
„So viel, um meine Familie anständig ernähren zu können,“ antwortete mit kurzem Tone Erich.
„Pardon, wenn die Frage ungeschickt war. Man ist darin in Deutschland empfindlicher, als zum Beispiel in England oder Frankreich, wo Jedermann die Marke seines Einkommen gleichsam am Hute trägt. Jedenfalls ist Ihr Einkommen nicht im Verhältnisse zu dem, was Sie dem Staate leisten.“
„Was wäre das für ein armseliger Ausgleich,“ versetzte Erich, wenn man überhaupt für das Gehalt diente, wenn man nicht Pflichten gegen sein Vaterland erfüllte, gegen seine Mitmenschen! Mein Beruf – Recht schaffen, Unrecht abwehren – war mir von Jugend auf eine Lust, ein Bedürfniß des Herzens. Ich hatte eine Leidenschaft für das Recht.“
„Was Sie da gesagt haben, das sind Aeußerungen, die eines so pflichttreuen Beamten, eines so ausgezeichneten Menschen wie Sie würdig sind,“ bemerkte Lideman. „Was würden Sie aber sagen, wenn ich Ihnen den Vorschlag machte, sich an unserem Bankunternehmen zu betheiligen?“
Ein ironisches Lächeln überflog die Züge des Assessors, und er begleitete dasselbe mit den Worten:
„Ich, der vermögenslose Assessor, an Ihrem Bankunternehmen? Wem Sie mir das vielleicht vor sechs Monaten gesagt hätten, wo das Vermögen meiner Frau noch existirte, würde es einen Sinn gehabt haben, aber nun –
„Sie mißverstehen mich, verehrtester Freund, ich fordere keine Capitaleinlage von Ihnen – und doch, eine sehr große: die Ihres Wissens. Sie sollen sich als Rechtsconsulent betheiligen. Ich biete Ihnen für Ihre Beteiligung, Ihre Thätigkeit, Ihre Mühen einen festen Gehalt von zwölftausend Mark und außerdem eine jährliche Tantième, die sich vielleicht auf eine gleiche Zifferhöhe anschlagen läßt. Was haben Sie mir darauf zu antworten?“
Rechting schwieg auf diesen Vorschlag, der ihm einen großen Theil des verlorenen Einkommens wieder in Aussicht stellte. Sein Schweigen war indeß kein Anzeichen seiner Theilnahmslosigkeit. Er dachte an Doris, und wie ihr diese Vermehrung seines Einkommens über so manche Mühen hinweghelfen, ihm so manchen Conflict ersparen würde. Lideman ließ ihm Zeit zur Ueberlegung. Er nahm eine Zeitung vom Tische und blickte hinein, aber nur scheinbar; seine Blicke waren über dieselbe hinweg scharf und fest auf Rechting gerichtet. So mochten fünf Minuten vergangen sein.
„Nun, ist Ihr Schweigen die einzige Antwort auf meine Offerte?“
„Ich weiß nur nicht, wie weit sich diese Art von Thätigkeit mit meinen amtlichen Pflichten vertragen würde,“ bemerkte Rechting nachdenkend.
„Sie werden nicht allzu viel zu thun bekommen, lieber Herr von Rechting. Bei einem so soliden Unternehmen, wie dem unserigen, herrschen einfache, klare Verhältnisse. Es war von Anfang an ein Grundsatz meiner Geschäftsthätigkeit, dem Rechtsanwalt nie viel zu thun zu geben. Wo dieser einmal seine Hand im Geschäft hat, da merkt man überall die Teufelsfinger. Ich würde z. B. nie einen Rechtsanwalt in mein Haus laden, aus Rücksicht für andere Gäste, von denen man ja nicht wissen kann, ob sie nicht durch irgend eine unangenehme Affaire mit ihm zusammenhängen. Aber verzeihen Sie diese Abschweifung! Ist Ihnen die Annahme einer Privatthätigkeit außer Ihrer amtlichen verboten?“
„Das nicht, aber meine Grundsätze könnten durch eine derartige Beschäftigung in Conflict kommen. Sie wissen, daß es in der kaufmännischen Usance Dinge giebt, die nicht für gesetzwidrig – ich will nicht sagen unehrenhaft – gelten, bei denen man noch als sehr coulanter Mann einhergehen kann, und welche doch mit einem difficilen Ehrgefühl, ich will nur sagen: mit streng juristischer Auffassung, sich nicht vertragen.“
„Ah, das klingt fast wie ein Mißtrauen, Herr von Rechting.“
„Bitte, das sollte es durchaus nicht sein. Ich halte Sie mit bestem Gewissen und aus gutem Grunde für einen Mann von Ehre, der nie etwas thun würde, was ihm zur Unehre gereichen oder wodurch er mit dieser meiner Ansicht in Widerspruch gerathen würde.“
„Mein einziger Zweck, mein lieber Herr Assessor, ist, mich dieses excellenten Kopfes zu versichern. Ich biete Ihnen zwanzigtausend Mark festes Gehalt.“
„Sie setzen mich wirklich in Verlegenheit, mein lieber Herr Lideman.“
„Es fällt mir gar nicht ein, Sie zu drängen; überlegen Sie sich die Sache! Ich bin einmal ein so komischer Kerl, der sich über nichts so sehr freut, als wenn es auch anderen Leuten gut geht. Niemand braucht von unserer geschäftlichen Verbindung etwas zu wissen. Sie haben mit meinem Comptoir gar nichts zu thun; Sie erlauben mir blos, daß ich Mittags ab und zu eine Tasse Kaffee oder Abends wieder wie sonst eine Tasse Thee bei Ihnen trinken darf, und da besprechen wir ganz gemüthlich unsere Sachen. Also zwanzigtausend Mark!“
„Nicht so laut! Lassen Sie das meine Frau nicht hören, denn sonst – Sie wissen ja doch, wie Frauen sind. Wer weiß, wozu Doris mich zu verleiten fähig wäre. – Allerdings das Verlorene wäre durch dieses Einkommen zum größten Theile gedeckt.“
Da rückte der Präsident seinen Stuhl näher an den Sitz des Assessors. Seine Stimme nahm einen vertraulichen Ton an.
„Wissen Sie denn, was auskömmliche Verhältnisse für den Frieden und das Glück einer Ehe bedeuten? Wissen Sie, warum Eva in Versuchung fiel? Weil ihr etwas ahnte von Feigenblatt- und Pelzkleidern, die danach kommen würden. Die Geschichte des Kleides ist die Geschichte des Weibes. Eva ist ein Name für alle Reize, alle Tugenden, alle Schwächen des Geschlechtes; der Apfel aber das Symbol für das runde, rollende, verführerische Gold, welches seine Macht auf alle unsere Evatöchter mit ihren unergründlichen Bedürfnissen ausübt. Kann es ihnen der Mann nicht bieten, nehmen sie es, woher sie es bekommen – und wäre es auch von der Schlange.“
„Sie entwickeln da Ansichten über das schöne Geschlecht, vor denen mancher Mann zurückschaudern müßte, wenn er eben nicht bessere Erfahrungen gemacht hätte. Sie müssen viel Schlimmes erlebt haben, daß sich bei Ihnen solche Anschauungen von Eheglück, [75] von Herz und Charakter anständiger Frauen herausbilden konnten. Ich habe mir durch mein ganzes bisheriges Leben den Glauben an die edle Natur des Weibes zu erhalten gesucht, und würde aus tiefstem Grunde meines Herzen nur wünschen, daß ich ihn nicht aufzugeben brauchte. Ich möchte dann nicht mehr leben.“
Tiefe Überzeugungen, wie die Erich’s, so schmucklos sie auch geäußert werden mögen, verfehlen ihre Wirkung nie. Lideman fühlte sich in seinen weiteren Ausführungen so gehemmt, daß er durch einige entschuldigende, unzusammenhängende Worte sich seinen Rückzug deckte. Er nahm die Miene des Weltschmerzes an, sprach von allerdings sehr schmerzlichen Erfahrungen, von seinem Herzen, als einem Grabe, an dem mehrere Frauen die Todtengräber waren, und kam schließlich auf seine Offerte zurück.
„Wenn ich vorhin noch, ich gestehe es ja, schwankend war,“ lautete Erich’s Bescheid, „wenn auch mir dasjenige, nach dem, um ein Dichterwort zu gebrauchen, sich Alles drängt, verführerisch erschien – ich könnte dadurch meine Frau über so Manches heben; ich habe ein Kind, an das ich dachte – aber selbst angesichts dieser Rücksichten gestatten Sie mir jetzt Ihren freundlichen Vorschlag abzulehnen.“
Damit war die Sache abgeschlossen. Lideman versuchte dagegen noch sehr lebhafte Einwendung zu machen – es war vergebens. Das Herz hatte Rechting den richtigen Weg gezeigt. Er sagte mit dieser Willensäußerung, daß er doch noch andere Bande kenne, welche zwei Herzen zusammen zu halten vermöchten, daß er noch eine Macht anerkenne und verehre, die Gott in das Herz des Weibes gelegt. Zugleich aber war Erich die tiefe Kluft sittlicher Anschauungen zwischen ihm und dem bisherigen Hausfreunde vollkommen aufgegangen. So klar, so scharf wie jetzt, hatte sich deren Vorhandensein bei ihm zuvor niemals kund gegeben. – –
„Lideman ist für uns kein ganz passender Umgang,“ äußerte Rechting zu seiner Frau, als der Präsident gegangen war.
Statt aller Antwort fühlte sich Erich von den Armen seiner Frau umschlungen; lieb und gut, wie einst in ihren glücklichsten Zeiten, lächelte sie ihn an, und der Zauber eines verschämten naiven Mädchens sprach aus ihr, als sie ihm vertraute, daß sie hinter der Portière das ganze Gespräch mit angehört habe.
„Wie danke ich Dir, daß Du nichts von ihm angenommen hast, daß Du Dich nicht durch seine Anerbietungen hast verleiten lassen! Ja, ja, ich war oft schwach und kleinlich. Jetzt weiß ich erst, wie weh ich Dir gethan haben mag. Ich will mich ja doch in Allem bescheiden, in Alles fügen, und wenn ich auch entbehren müßte. Denke nicht, mein Erich, daß Du so eine abscheuliche Frau hättest, wie er sie schildert. Hätte ich geahnt, daß er so von uns, von mir denkt, dann würde ich nie gegen ihn freundlich gewesen sein. Ich mußte da in meinem Verstecke immer an mich halten, um nicht hervorzutreten, um nicht Protest einzulegen. Und nun erlaube mir, daß ich mich recht schäme. Aber vor dem Präsidenten, vor dem fürchte ich mich jetzt fast.“
Das war einer der Augenblicke gewesen, wo Erich seiner Frau hätte um den Hals fallen und sie um Verzeihung bitten mögen, daß er sie nicht noch mehr lieben könne, als er es schon thue. Wenn Doris dagegen hätte sagen sollen, was sie bewogen hätte, in dem entscheidenden Momente so zu handeln, würde sie wohl die Antwort schuldig geblieben sein. Sie wußte es selbst nicht. Es war eine Eingebung, eine jener divinatorischen Regungen in der Seele eines Weibes, die den richtigen Ausweg plötzlich da findet, wo ihn die Gedanken eines Mannes oft vergebens suchen. Sie empfand nur das aus dem Vorschlage Lideman’s heraus, daß dieser einen Vorwand, eine Gelegenheit suchte, die Klingel ihres Hauses jeden Tag ziehen zu dürfen. Früher, als sie noch in glänzenden Verhältnissen lebte, hatte sie ruhig die Gefahr ignorirt, welche das Benehmen Lideman’s ihr gegenüber darstellte, und so hatte sie unbefangen mit ihm verkehren können. Jetzt fürchtete sie sich. Als sie Lideman’s Worte vernahm, mit denen er Erich zu umstricken suchte, sah sie seine dunklen Augen mit dem bläulichen Weiß, seine vollen, über den weißen Zähnen halb geöffneten Lippen immer näher an sie heran kommen; sie fühlte den Hauch derselben, mit dem es sich, wie ein fremder Geist und Willen, in sie niedersenken wollte. Eine unaussprechliche Angst überkam sie, und im Geiste stieß sie den Gefährlichen zurück. – –
„Nun hat Doris Alles überwunden, nun ist sie so geworden, wie ein Mann zu seinem Glücke eine Frau nur wünschen kann.“ Das sagte Erich einige Zeit nach diesem Vorfalle zu der einzigen Vertrauten, die er für solche Herzensbekenntnisse sich erwählt hatte, zu Regina.
„Das ist Alles, was man für Sie erbitten oder dessen Dauer man Ihnen wünschen kann,“ war deren Antwort.
Ueber ihre Augen, die vor wenigen Secunden, als sie ihn begrüßte, noch so klar, so hell, so freudig auf ihm geruht hatten, fiel es plötzlich wie ein Schleier. Obwohl sie gekommen war, um den Abend dort zu bleiben, hatte sie wieder die Thürklinke erfaßt. Erich wollte sie zurückhalten; seine Hand berührte die ihre. Diese zitterte.
„Ist Ihnen nicht wohl, Regina? Ihre Hand zittert.“
„Fieber, ein bischen Fieber,“ preßte sie heraus. „Das Alleinsein zu Hause – mit mir – ist das beste Heilmittel. Ich muß fort.“
„Und Sie wollen Doris nicht sehen?“
„Sie ist bei Liddy. Ich will sie nicht stören. Bringen Sie ihr meinen Gruß!“
„Ich hätte sie nicht sehen können,“ sagte sie für sich, als sie das kleine Haus im Rücken hatte. „Ich hätte sie mit dem Auge des Hasses anschauen müssen.“
Vier Wochen darauf war es wieder anders. Da hatte es zwischen den Eheleuten eine Scene gegeben. Warum? Als Erich vom Bureau nach Hause kam, trat ihm Doris strahlenden Auges entgegen – mit einem Kinderkleidchen in der Hand. Sie hatte es selbst gemacht, während sie früher diese Dinge fertig gekauft hatte. Sie hatte die Stunden der Nacht geopfert, denn das Kind sollte an seinem Geburtstage damit erfreut werden. Sie war stolz auf ihr Werk, stolzer noch, daß ihr die Arbeit ein Opfer an Ruhe und Bequemlichkeit gekostet hatte.
War Erich von Arbeit abgespannt, oder hatte sonst etwas ihm den Sinn getrübt – genug, Doris glaubte, daß er an ihrer Arbeit nicht den gebührenden Antheil nehme, die Selbstüberwindung verkenne und die Mühe, mit der sie sich in die neuen Verhältnisse einzufügen suche. Nun kam es zu Anklagen, Vorwürfen; Erich wurde heftig; er kehrte ihr seine Manneswürde heraus; Doris schmollte Tage lang. Es war um diese Zeit das erste Mal in seiner Ehe, daß er des Abends nicht bei seiner Frau zu Hause blieb. Er nahm seinen Hut und ging weg. Wohin? Das wußte er selbst nicht.
Ein beladen Herz ist ein irrend Ding – selten mit bestimmtem Ziel. Plötzlich sah Erich sich in der Straße, wo Regina wohnte. Einige Häuser weiter war ihre Nummer. Die kannte er, da er die Freundin so manchmal des Abends nach Hause geleitet hatte; über ihre Schwelle war er aber nie gekommen. Oben in zwei niedrigen Fenstern brannte Licht. Es konnten nur die ihrigen sein. Er wußte ja, daß sie vorn wohnte, „hoch über den Häuptern der Menschen, wo alle superioren Naturen ihre Schlafstellen haben“, wie sie einst geäußert hatte, nämlich über vier Treppen. Plötzlich sah er sich auf dem letzten Treppenabsatz – er sah nur vor sich in dunklen unbestimmten Umrissen eine Thür und an dieser umhertastend griff er ein rundes Porcellantäfelchen. Aber die Schriftzüge auf demselben vermochte er in der Dunkelheit nicht zu entziffern. Er machte sich mit Hülfe eines Taschenfeuerzeuges Licht und erfaßte rasch auf dem Täfelchen den Namen. Regina Desancto. Dann drückte er leise auf die Klinke; diese gab nach; die Thür war offen; die Lampe brannte in der Stube, aber diese schien leer.
Da hörte er über sich Laute von Stimmen, zuerst einer männlichen, dann Regina’s. Er öffnete die Thür wieder, die nach dem Corridor hinausging, und stieg leise die Stufen der engen Treppe hinauf. Er wollte wissen, was da oben vorging. Von der drittletzten Stufe konnte er in eine Stube sehen, in die Stube des Herrn Warbusch. Die Thür war offen, auch das breite Fenster, gerade wie damals, da Regina zum ersten Male hier eingetreten war als rettender Engel – nur war heute der Himmel, der in das kleine Observatorium schaute, reiner und sternenreicher als in jener Nacht. Regina saß vor dem Teleskop, und Herr Warbusch, in dem Erich den vorletzten Miether des Planethenhäuschens erkannte, stand neben ihr und gab ihr Erläuterungen [76] der Sternbilder, ihrer Wandelbahnen und ihrer einfachen Gesetze.
„Aber der Wunder größtes, leuchtend über alles Firmament, das ist doch der Menschengeist, der sich hinauf in diese Welten geschwungen hat, um ihnen die Geheimnisse des Alls abzulauschen,“ sagte Regina, nachdem sie ihre Blicke von dem Teleskop abgewandt hatte und nun, die Hände auf ihren Knieen faltend, ihre Gedanken in den Sternenraum schweifen ließ.
„Und wenn Sie mir ’mal wieder die Freude Ihres Besuches machen wollen, meine verehrte Freundin, dann werde ich Ihnen noch mehr und Interessanteres von den Geschichten dort über uns erzählen, was ich alles in einsamen Nächten da erlauscht.“
„Ich muß Ihnen im Grunde eine Abbitte leisten, Herr Warbusch, daß ich Sie bisher so gering geschätzt habe, daß ich Ihr geistiges Bedürfniß immer nach dem Wasserkrug beurtheilte, den Sie am Morgen und Abend selbst füllten.“
Warbusch beantwortete diese Aeußerung mit einem fröhlichen Kichern, wobei er ein über das andere Mal die kleinen Beine über einander schlug.
„Mein Wein wird da oben credenzt – im reinen Aether,“ sagte er, und dabei schaute das Auge mit verzücktem Blick hinauf in den Himmel. „Sie dachten sich in mir wohl einen Menschen, Fräulein Regina, in dessen Seele nie ein Strahl höherer Erkenntniß gefallen, so ein Opfer der Ziffern, die ich täglich in mein Hauptbuch einschreiben muß? O, das göttliche Geheimniß der Zahl, mit deren Hülfe ich die Tiefen der Erde ergründen und mich in die Räume des Himmels schwingen kann! Der hundertste, der tausendste Schreibärmelmensch ahnt nichts davon, mit welcher Weltenmacht er täglich und stündlich da hantiert; die Zahl ist ihm das Zeichen, mit der man Procente berechnet, der Schwimmgürtel, mit dem er über dem Wasser des Lebens mühsam sich hält – weiter nichts. Und dabei lebt er dumm wie eine Auster. Heute habe ich Ihnen von dem Sonnenkörper, den Fixsternen erzählt: das nächste Mal reden wir von den wandelnden, den sogenannten Irrsternen.“
„Können Sterne auch irren?“ fragte Regina plötzlich aus Gedanken erwachend.
„Nicht in dem Sinne Ihrer Frage. Am Himmel wie auf Erden hat alles sein festes Gesetz. Wie diese wandelnden Lichtkörper in ihren Bahnen, ihren Bewegungen oft widerspruchsvoll, regellos, abweichend erscheinen, so sind sie doch alle unterthan dem Gesetze in ihrem Verhältnisse zu dem großen bestimmenden Etwas: nennen Sie es Liebe, meinetwegen auch Anziehungskraft der Körper – wie Sie wollen; die Sterne da droben sind es ebenso wie das Menschenherz hier unten.“
„Wie das Menschenherz,“ wiederholte Regina und ging dabei der Deutung in Gedanken nach. Gehörte sie nicht selbst unter diese irrenden Sterne? War sie nicht ein Geschöpf der Sonne der Liebe, erhielt nicht auch sie durch dieselbe ihr Licht und nahm sie nicht von ihr ihre Richtung und ihre Bahn? Wandelnde Sterne droben wie das Menschenherz hier unten!
Kurz darauf stieg Regina die Treppe zu ihrer Stube herab. Beim Eintritt in dieselbe bemerkte sie die dunklen Umrisse einer menschlichen Gestalt.
„Fürchten Sie nichts, Regina, es ist kein Dieb. Ich bin’s. Ich sah Licht bei Ihnen von der Straße aus und wollte Sie überraschen. Wie ist es hier heimlich, traulich, friedlich! Wenn es bei mir zu Hause doch auch so wäre!“
„Erich!“
Dieser sein Name kam zwischen ihren Lippen fast wie ein Freudenruf hervor. Oft schon hatte er ihr sein Herz ausgeschüttet; Regina hatte Doris vertheidigt, ihn getröstet – auch ihm oft die Schuld selbst zugemessen, wo sie ihm hätte sagen mögen: Ja, du hast Recht. Dein Weib liebt dich nicht! Hier ist eine, die dich versteht, die für dich glüht, seitdem sie dich kennt, und die ewig um das deinem Herzen verlorene Glück klagen wird. Das aber sagte sie ihm nicht. Sie hüllte ihr pochendes, sehnendes Herz in leise Scheltworte, ja selbst in Vorwürfe. Sie richtete darin einen Damm zwischen ihr und ihm auf. Und nun war er zu ihr gekommen, was vordem nie geschehen war – und schaute so traurig zu ihr herüber! Sie hatte das Sopha, auf das sie sich einen Augenblick gesetzt, verlassen wollen, er aber litt es nicht, sondern drückte sie leise nieder, so daß sie gezwungen war, auf ihrem Platze zu verharren.
Es ist ein armseliger Trost, wenn diejenigen, welche man liebt und die ihr Herz anderswohin gegeben haben, wenn diese unbefriedigt und unglücklich Zuflucht suchen kommen – ein armseliger Trost und doch wieder ein tief genugthuend Empfinden – die Wollust der Verschmähten. Er saß bei ihr, vor ihr. Er sprach von Allem, von der Einrichtung des kleinen Zimmers, von den Büchern, die in demselben aufgestellt waren, von dem eigenthümlichen Eindruck, den dieses Haus mit den beiden einsamen Insassen machte, mit Regina und mit Warbusch, seinem frühern Miether vom Planetenhäuschen. Dann bemerkte Rechting auch sein Bild, das in einem Rahmen von dunklem Sammet auf der Kommode aufgestellt war; eine Immortelle war darüber eingesteckt.
Wie mit Blut war Regina’s Antlitz übergossen, als er sein Augenmerk auf sein eignes Conterfei richtete.
„Es ist dasselbe Bild, welches Sie mir vorige Weihnachten schenkten,“ bemerkte sie und suchte seine Aufmerksamkeit davon abzulenken.
„Aber ohne die Immortelle, Regina,“ entgegnete er. „Ich erschrak fast, als ich sie bemerkte. Als ob ich schon gestorben und hier ein getreues Andenken mir gesichert wäre!“
„Das wird Ihnen stets werden, Erich, ewig! Das Sterben können Sie immerhin einstweilen unterlassen.“
Sie versuchte, dem letzten Zusatz einen heiteren Ausdruck zu geben, aber es gelang ihr doch nicht.
[93] Dann hob Erich das Buch auf, welches auf dem Tische lag, und ließ Blick und Gedanken auf dem Titel weilen.
„‚Die Leiden des jungen Werther.’ Eine der ersten Ausgaben dieser wunderbaren Legende der Leidenschaft,“ bemerkte er.
„Legende nennen Sie das?“ fragte Regina. „Ist Ihnen der Quell, der Ihnen das heiße Herz und die schmachtende Lippe labt, auch eine Legende?“
„Ich habe dieses Buch,“ sagte Erich, „mit sechszehn Jahren verschlungen; mit einundzwanzig Jahren habe ich es als ein Brevier an das Herz gedrückt; mit fünfundzwanzig habe ich es bei Seite geworfen – und nun lese ich es in jedem Frühling wieder. Es erhält das Herz frisch. Als Legende habe ich es darum bezeichnet, weil unserer nüchternen Zeit diese Herzensströmungen, diese Qualen, dieses minutiöse Zergliedern der glühendsten Empfindung, dieses wollüstige Rühren in seinem Herzensblute wie ein sagenhafter Zustand vorkommen müssen. Das Buch müßte aber auch wie eine sagenhafte Geschichte beginnen: Es war einmal ein Mann; der hatte auf Gottes Welt gar nichts zu thun; darum wurde er Werther. – Aber daß Sie das noch lesen, Sie, eine Persönlichkeit, so voll und thatkräftig! Sie müßte das Buch eigentlich abstoßen – “
„Stellenweise stößt es mich ab – ja, aber im Ganzen erlabt es mich tief. Es ist mir eine Genugthuung, zu lesen, zu forschen, wie die Leidenschaft in dem Herzen eines Mannes wühlen kann.“
Sie sagte nicht, daß es ihr ein Genuß war, mit dem unglücklichen Werther durch alle Stationen hoffnungsloser Liebe hindurchzugehen. Sie wollte überhaupt das Gesprächsthema nicht weiter fortführen; denn schon klopften ihre Pulse rascher; ihre Rede kam nur in kurzen Sätzen aus einer wogenden Brust. Endlich fragte sie, wie es Doris gehe.
Er zuckte die Achseln und lächelte trüb. „Wie es ihr geht? Wozu die Frage? Sie können es sich wohl denken, Regina – wie immer! Heute hatte sie wieder eine glänzende Equipage vorüberfahren sehen, in der Lideman und die Geheimräthin saßen – und sie war nicht dabei; sie mußte daheim in ihrem Hause, bei ihrem Kinde sitzen. Davon ging ihr das Herz über.“
„Hm, Lideman!“ sagte Regina vor sich hin. „Er kommt seit einiger Zeit nicht mehr zu Ihnen?“
„Nein,“ war Erichs kurze Antwort.
„Ja richtig, Doris hat es mir erzählt.“
Wieder zögerte sie, weiter zu sprechen. Nur wenig hätte es jetzt bedurft, um Erich argwöhnisch zu machen, den nur die völlige, fast kindlich-naive Arglosigkeit seines Herzens bisher verhindert haben konnte, den wahren Grund der Anhänglichkeit des Präsidenten an sein Haus einzusehen. Durch eine Erweckung seines Argwohns aber würde in Erich’s Brust auch ein Sturm entfacht worden sein, welcher Regina weit von ihrem Ziele entfernt haben würde; ein Sturm, welcher das, wie es schien, allmählich sich abstumpfende Interesse Erich’s für Doris zu hellen Flammen emporgeweht hätte. Und jenes Ziel? fragen wir. Regina kannte es selbst nicht klar. Es stand nur wie ein ferner Punkt vor ihr, und dieser war die Person Erich’s. Was zwischen ihr und ihm noch lag, das war wie die wogende, wallende Atmosphäre, die uns von anderen lichten Himmelskörpern trennt.
„Sie sind unzufrieden mit Ihrer Frau, lieber Freund,“ fuhr sie nach einer Pause wie aus einem stillen Gedankengange heraus fort; „ich gebe Ihnen zu, um einmal ganz offen zu sprechen, daß Sie, mit Ihrem Gefühle, bei Doris niemals jenes höchste Glück empfinden werden, das sich Ihnen in dem Charakter einer andern Frau geboten haben würde, die vielleicht weniger schön und verführerisch gewesen wäre, als Ihre wunderliebliche Frau. Aber solche Naturen, die das Glück in höchster Potenz geben, tragen auch wieder die gegentheiligen Stimmungen bis in die Tiefe aus, empfinden Kälte, Verletzungen, Zurücksetzung von Seiten eines Mannes weit tiefer, und davor sind Sie bei Doris bewahrt. Sie umgaukelt Sie wie ein Sonnenstrahl. Sie werden mit ihr vielleicht noch härtere Prüfungen durchmachen, schlimmere Erfahrungen, die Ihnen bei einer andern Lebensgefährtin erspart geblieben wären. Durch eine Andere würden Sie vielleicht eine bessere Stütze in Ihrem Berufsleben gefunden haben, eine Theilung der Arbeit zwischen dem Geiste des Mannes und dem Gemüthe einer Frau. Aber welcher Erdgeborene kann sich der höchsten Gunst des Schicksals rühmen? Im Grunde hat es Ihnen doch ein volleres Theil zugewendet, als Millionen Anderen. Sehen Sie Doris an! – Können Sie von schöneren Augen angeblickt werden, von quellenderen Lippen den vollen Trank des Lebens trinken? Nein, nein, Sie sind doch ein glücklicher Mann!“
Sie spendete ihm einen Trost, der ihn noch mehr verwunden mußte. Vielleicht war das ihre Absicht. Aber nicht lange ließ sie ihn unter dem Eindrucke des gallbitteren Inhalts ihrer Rede, der so gewandt in die weichste Form gehüllt, mit dem theilnehmendsten Tone gesprochen war. Sie zog plötzlich seine beiden Hände zu sich herüber.
[94] „In jedem Falle finden Sie hier – hier, Erich, ein Herz, das mit Ihnen fühlt, mit Ihnen trägt – alles und allezeit. Hier können Sie Ihren Schmerz entladen – und wenn dieses Herz etwas zu Ihrem Troste, auch nur zu einem Scheine von Glück beitragen kann: kommen Sie zu jeder Stunde, und diese Thür wird Ihnen offen sein – wie dieses Herz.“
Er nahm ihre Hand und drückte sie an sein Herz.
„Aber nun gehen Sie, verehrter Freund! Es paßt sich nicht,“ fügte sie lächelnd hinzu, „daß ein noch junger Mann in dieser Stunde Besuche bei einem unbescholtenen Mädchen macht. ‚Die Nachbarn haben immer offene Augen’ – würde Gretchen sagen. Und wenn Sie heim kommen, seien Sie freundlich, recht freundlich mit Doris, sonst –“
„Ah, Sie drohen mir, Regina, wo ich in meinem Rechte wäre, ihr eine strenge Miene zu zeigen.“
„Sonst wird diese Thür vor Ihnen verschlossen bleiben – – für immer!“
„Dann werde ich meine Frau heute noch herzen und küssen, damit Sie mir nur nicht böse sein sollen.“
„Und sagen Sie Doris, daß ich Ihnen das eigens aufgetragen – anbefohlen habe!“
„Wollen Sie mir nicht gleich einen Kuß für sie mitgeben, damit ich ihn unmittelbar an die Adresse befördern kann?“
Regina zuckte bei diesem allerdings mehr im Scherze geäußerten Verlangen innerlich zusammen, aber dann sprang auch sie in einen leichten Ton über und meinte, sein Kummer müßte nicht so tief gehen, da er darüber seine gute Laune doch noch nicht verloren habe.
An der Thür rief sie ihn nochmals zurück und hielt ihn an, als ob sie ihm noch etwas zu sagen hätte.
„Was mir eben einfiel, verehrter Freund! Sagen Sie Doris lieber nicht, daß Sie bei mir gewesen sind. Nicht daß ich vielleicht glaubte, sie würde eifersüchtig werden – das wäre ja Unsinn – aber ich möchte auch selbst den leisesten Schein meiden, als ob ich mich in Ihre ehelichen Verhältnisse mischte. Sie haben mich darauf hingeleitet, und ich habe Ihnen offen meine Meinung gesagt, als guter, treuer Camerad. Gute Nacht, Erich!“
Am Abend war die Immortelle von seinem Bilde verschwunden. Sollte das bedeuten, daß er für sie nun nicht mehr todt war? Die Stunde bei Regina hatte Erich innerlich wohlgethan. Er hatte sein bekümmertes Herz ausgeschüttet, und die Klarheit, die Offenheit, mit der die Freundin über die Verhältnis zu seiner Frau sich hatte vernehmen lassen, verschafften ihm eine augenblickliche Beruhigung. Jedenfalls war sein Heimgang besser, als sein Ausgang vom Hause gewesen war. In den Straßen der Stadt wogte noch der volle Menschenstrom um ihn, bis die Stille der Vorstadt ihn umfing und die Lichter von den erleuchteten Fenstern der Häuser nur vereinzelt noch durch die dichten Laubkronen der Bäume schimmerten. Einen Contrast zu dieser Einsamkeit bildete der Lärm, der aus einem Vergnügungslocale kam, welches an der Straße lag – Musik, Tanzen, Stimmengewirr im Innern. In dem Moment, als er unter den blauen und rothen Laternen an der offenen Thür vorbeiging, kam eine männliche Gestalt in schwarzem Frack, in Cylinder und weißer Binde heraus und bat ihn um Feuer für die Cigarre.
„Hier, mein lieber Rüchel, das sollen Sie haben.“ Darauf reichte der Assessor dem Genannten die brennende Cigarre.
„Wie – Sie, Herr Assessor, sind’s? Ach, wie lange haben wir uns nicht gesehen! Ja, es ist immer so, wenn die Herren Einem weggeheirathet werden, dann sind sie für uns begraben. Ich wäre schon längst einmal zu Ihnen gekommen, aber – die jungen Frauen sind immer auf die alten Diener eifersüchtig. Es handelt sich zwischen beiden Theilen um’s Pantoffelregiment. Aber ein Bischen bleich sehen der Herr Assessor aus.“
„Das kommt wohl vom Schein der blauen Laterne,“ meinte Rechting.
„Ja wohl, von der Laterne! Ebenso gut könnte ich sagen, daß Sie roth wie der Kellermeister eines Klosters aussehen. Das ist auch von der Laterne, Herr Assessor.“
„Aber Rüchel, daß Sie, in Ihren Jahren, sich um diese Stunde in solchen Localen umhertreiben!“
„Geschäft, nichts als Geschäft! Was thut man nicht, um sein Bischen Brod zu verdienen, Herr Assessor!“ Dabei machte Rüchel einen kunstgerechten Entrechat. „Haben Sie in einem Contretanz schon so etwas Hübsches gesehen, Herr Assessor? Ich bin seit ein paar Monaten Vortänzer in dem Local da drinnen. Jeden Abend eine Mark, drei Seidel, vier Butterstullen; wenn’s Krakehl giebt, lasse ich das Glas geschwind auslöschen – das ist mein Pouvoir. Weiße Binde und Handschuhe werden geliefert. Mit dem Frühaufstehen geht es nicht mehr so wie früher. Sie waren mein Letzter, den ich putzte und blank machte; dann habe ich meine Stellen niedergelegt. Aber hier hab’ ich’s auch bald satt. Das Schreien und Springen und den Staub aufschlucken müssen – ich huste schon. Und dann trägt man bei dem ordinären Volke immer seine Knochen zu Markte. Nach welcher Richtung gehen Sie, Herr Assessor?“
Erich zeigte nach rechts.
„Geh’ ich auch, und wenn Sie jetzt erlauben, werde ich Sie begleiten – ein Endchen. Ich muß heute früher nach Hause, weil wir nur einen Hausschlüssel haben und mein Zimmerherr ihn heute mitgenommen hat.“
„Sie vermiethen jetzt Zimmer, lieber Rüchel?“
„Ja, ich habe das Bischen, was ich auf die hohe Kante gelegt habe, da die Papiere alle so faul stehen, in Zimmerherren angelegt. Zwar kein großer Profit, aber doch sicher, und es läppert sich, und durchgegangen mit der Miethe ist uns auch noch keiner. Jetzt haben wir einen, eine Seele von einem jungen Mann, der seine Miethe pünktlich bezahlt und von zu Hause so viel Wurst und Schinken geschickt bekommt, daß ich und meine Frau ihm bei Aufzehrung dieser Vorräthe immer Beistand leisten müssen. Man thut ja so was gern. Nur einen Fehler hat er. Er spielt die Geige.“
Erich lachte und meinte, daß dies eher ein Vorzug sei, ein Bischen Musik im Hause zu haben.
„Das schon, aber zu viel ist auch nicht gut – und meine Frau wird mir melancholisch. Ihre erste Liebe war Einer vom Orchester, und der hat sich rein in’s Grab gespielt. Heute haben ich und mein Zimmerherr uns verabredet, punkt Zwölf uns vor der Hausthür zu treffen. Er war heute in Gesellschaft beim Geheimrath von Wandelt.“
Der Name machte Rechting aufmerksam.
„So, so! Also mit der Familie ist er auch bekannt?“
„Ja, und der alte Geheimrath war sogar schon bei ihm – hat ihn aber nicht getroffen und dafür eine gekniffene Karte abgegeben.“
„Und sein Name?“
„Färberssohn.“
„So heißt er?“
„Ein Färberssohn ist er, meine ich. – Eigentlich, die Färberei ist schon mehr Fabrik; sehr, sehr wohlhabende Leute – einziger Sohn. Den Vater sollten Sie kennen! Ich möchte sein Sohn sein, nur damit ich einen solchen Vater hätte. Mit dem Manne da wird’s Einem ganz douce um’s Herz. Aber auch der Sohn! Pique, sage ich Ihnen. Und ein forscher Arbeiter – er ist Ingenieur bei den neuen Wasserbauten. Ah, da sind Sie ja schon, Herr Lichtner! Na, das ist hübsch, daß Sie mich nicht zu lange warten lassen.“
Die letzten Worte sprach Rüchel zu einem jungen Manne, der im leichten Sommermantel mit einem Violinkasten an der Thür wartete. So weit Erich im Dunkel unterscheiden konnte, eine angenehme, sympathische Erscheinung, mit frischem Gesicht und einem kecken Bärtchen auf den vollen Lippen. Rüchel wußte, was unter Leuten von Welt in der Ordnung und Regel war. Er stellte die beiden Herrn vor; er war stolz gegenüber seinem jungen Zimmerherrn auf seinen „letzten Putzherrn“, und diesem gegenüber wieder auf seinen jungen Zimmerherrn.
„Sie haben heute Abend beim Geheimrath von Wandelt musicirt?“ richtete Erich an diesen das Wort.
„Ja, ich habe gespielt. Ob’s Musik war, das weiß ich nicht. Das müßte das Publicum entscheiden.“
„War große Gesellschaft im Hause?“
„Vielleicht vierzig Personen, gerade genug, um mit sich allein sein zu können. Es war der Geburtstag des Bankpräsidenten – und die Frau Geheimräthin hielt darauf, diesen in ihrem Hause zu begehen.“
„Sie scheinen näher im Hause bekannt zu sein?“
„Wie so, Herr von Rechting, wenn ich fragen darf?“
[95] „Weil Sie so gut Bescheid wissen im innern Ministerium des Hauses, das die Frau Geheimräthin verwaltet.“
„Ich – ich war dem Hause empfohlen, und wenn auch vielleicht meine Person nicht, so doch meine Geige. Rüchel, schließen Sie auf. Ich bin müde, ich habe diesen Abend tüchtig geigen müssen, und die Manen Spohr’s und Beethoven’s werden mir’s verzeih’n, wenn ich mich an ihnen vergangen habe,“ schloß er zu Rechting gewendet. „Gute Nacht, Herr von Rechting!“
Der Genannte setzte seinen Heimweg fort.
Eine große Partie! In diesen drei Worten ist Alles zusammengefaßt, was die Frau von Wandelt seit Else’s frühester Jugend für ihre Tochter geträumt, erstrebt, ersehnt hatte. Die Geheimräthin wollte ihr eigenes Schicksal durch das ihres Kindes repariren. Ihr Vater war Gesandter der siebenundzwanzigsten deutschen Macht an dem Hofe der achtundzwanzigsten gewesen, und wenn sich auch die diplomatische Thätigkeit ihres Vaters nicht viel über das Visiren der Wanderbücher von Handwerksburschen hinaus erstreckt hatte, so war er doch Excellenz gewesen; das große Band des Hofes, an dem er beglaubigt war, hatte sich über seine Brust gespannt, und die Tochter hatte in ihrer Jugend eine erste Gesellschaftsstellung eingenommen. Da aber das, was rund ist und klingt und blinkt, auch schon in der rosigen Jugendzeit der Gesandtentochter eine gewichtige Rolle spielte und Constanze weder durch den Besitz von Vermögen, noch durch hervorragende körperliche Reize zu fesseln im Stande war, so hatte sie endlich nach dreimaliger Werbung und zweimal ausgetheiltem Korbe der Stimme der Vernunft nachgegeben und den jungen Collegienassessor von Wandelt geheirathet, der sie dann glücklich durch alle Leidensstationen ihres ehelichen Lebens hindurch bis zur Geheimen Legationsräthin treu und geduldig geführt hatte. Constanze stellte sich in den häuslichen Zwisten, die sich mit der Regelmäßigkeit der Kalendertage wiederholten, als beklagenswerthes Opfer hin, während es in Wahrheit doch der arme, geplagte Ehemann war. Mit der Zeit wurde dieser immer stiller und stiller, und zuletzt weilte er nur noch gleichsam als Chambregarnist in seiner Familie.
Was also an Glück ihr, der Mutter, entgangen war, sollte nun der Tochter werden. Leider hatte es indessen den Anschein, als ob Elschen weder im Aeußern, noch im Innern so recht in die Ideen der Mama hineinwachsen wollte. Statt sich zu hoher, majestätischer Gestalt empor zu entwickeln, die auf dem Parquet der großen Welt Figur zu machen geeignet wäre, blieb das Kind „eine Mittelfigur“, wie die Mutter jammerte, Vergeblich war es, daß Elschen turnen, exerciren, tanzen, schwimmen, Schlittschuh laufen mußte; selbst der Besuch einer orthopädischen Anstalt, wozu im Uebrigen ihr ganz normaler, ja hübscher und zierlicher Gliederbau absolut keine Veranlassung gab, erhöhten ihr Körpermaß nicht so weit über dasjenige der übrigen Mädchen, daß alle Männerblicke gleich an ihr haften bleiben mußten. Auch moralisch blieb sie Mittelfigur. Sie glich darin ihrem Vater, dem dieses vergebliche Mühen von Seiten der Mutter manche böse Stunde einbrachte. Was die Schuld der Natur war, dafür wurde die Mama nicht müde ihn verantwortlich zu machen. Am Ende ergab sie sich doch drein. Aber von diesem Zeitpunkt an quälte sie ein neuer Verdruß. Wenn Else wenigstens irgend etwas Anderes an sich gehabt hatte, was auffallend gewesen wäre – den Reiz des Aparten, der Gegensätze – rothe Haare mit schwarzen Augen, blaue Augen mit dunklen Wimpern und ähnliche Contraste. Nichts von alledem! Und der unglückliche Gatte hatte sich fortan allen Ernstes gegen den Vorwurf zu wehren, daß er nicht rothes Haar und schwarze Augen oder irgend eine solche interessante Melange oder Varietät aufzuweisen hatte, die er hätte auf sein Kind vererben können.
Else war eine jener Naturen, die von den Männern nach einer großen Leidenschaft, nach Kämpfen und Revolutionen des Herzens gesucht werden. Es lag etwas Beruhigendes darin, wenn man durch die kindlich tiefen blauen Augen unter den langen braunen Wimpern wie in ein reines, schuldloses Herz hinein blickte, wenn dieser schöngeformte, frische Mund mit den weißen Zähnen lächelte und wenn bei einem Schmeichelworte, das man ihr sagte, die rosige Färbung des frischen Teints sich noch hob und bis unter die vollen Flechten ihres kastanienbraunen Haares fortsetzte. Sie war recht gut unterrichtet, hatte selbstständige Ideen und gab in der Conversation nur sich selbst, in Herz und in Gedanken. Mit diesem Wesen war sie freilich der Herrenwelt des Salons, auf welche die Mutter speculirte, „trop innocente“ – zu unschuldig, wie ein junger Russe es einst ausgedrückt hatte; Frau von Wandelt hatte es gehört und war nahe daran gewesen, zu ihrer Tochter in vorwurfsvollem Tone zu sagen: „Siehst Du – warum bist Du so?“ — Sie hatte sich indessen zu rechter Zeit besonnen und betrachtete seither die Russen als eine „sehr sittenlose Nation“.
Zum Zwecke einer Verheirathung Else’s war bereits einmal ein Aufenthalt in Baden-Baden arrangirt worden. Der Geheimrath mußte sich irgend ein Gebreste zulegen, um für die Badereise einen Zuschuß vom Staate zu erhalten, und so ging es denn in das Schwarzwaldparadies. Mit Entzücken beobachtete dort die Mama sehr bald, daß ein Holländer immer dringender Anschluß an Wandelt’s suchte – ziemlich jung noch, nicht häßlich und beweglicher, als sonst die Holländer zu sein pflegen. Er wohnte im „Holländischen Hof“, hatte einen Kammerdiener, reiste mit Courier und spielte mit Haufen von Geld an der Bank.
„Das Spielen werde ich ihm später noch abgewöhnen,“ sagte die Mutter zu ihrer Tochter.
So weit war das Verhältniß schon gediehen, daß die Geheimräthin von der Zukunft sprechen konnte. Er nannte sich Mynheer und trug einen Namen, der fast wie ein holländischer Adelsname klang. Indessen kam es der Mutter weniger darauf, als vielmehr auf die Gulden an, hinter welchen jedenfalls noch Zuckerplantagen mit Sclaven etc. lagen – kurz, der Antrag des Mynheer wurde jeden Tag unter Herzklopfen von Frau von Wandelt erwartet.
Er kam nicht! Es war übrigens nicht viel an dem Freier verloren, denn später erfuhr man, daß er ein Heringshändler aus Middelburg war.
Nach der Rückkehr von Baden-Baden wurde der Präsident in den Kreis der Berechnung gezogen. Wie schwer ein Arrangement im Anfange hatte gelingen wollen, wissen wir ja. Aber nun auf einmal erschien ihm das Haus des Geheimraths als das liebste Heim. Der Magnet war natürlich Else. Wie hätte die glückselige Mutter daran noch einen Augenblick zweifeln können!
Lideman bewarb sich augenscheinlich um Else. Er schickte Blumen, Concert-, Theaterbillets. Wandelt’s konnten seinen Wagen benutzen; er holte die Familie sehr oft ab, aber wenn er mit ihr ausfuhr, wußte er es einzurichten, daß sie an der Wohnung Rechting’s vorbei ihren Weg nahmen. Wenn indessen die Mutter der Tochter von deren künftigem Glücke an der Seite des Präsidenten sprach, wenn sie ihr mit ihrer lebhaften Phantasie alle die Herrlichkeiten vorzauberte, von denen sie umgeben sein würde, so machte das auf Else sehr wenig Eindruck, ja diese suchte das Gespräch um jeden Preis auf irgend einen anderen Gegenstand zu lenken.
Sollte diese Gleichgültigkeit gegen die glänzende Außenseite des Lebens in einem so jungen Gemüthe wirklich tief begründet sein, oder trug etwa Else eine andere Neigung im Herzen?
Die Geheimräthin faßte sich bei dem Gedanken an die neue Haube, daß letztere in eine schiefe Lage kam. Sie tröstete sich indessen bald, daß dies „leere Wahngebilde“ seien. Wenigstens hatte sie sich keiner Persönlichkeit aus ihrem Gesellschaftskreise erinnern können, mit der Else in Berührung gekommen wäre.
Seit einiger Zeit suchte Else von Wandelt das Rechting’sche Haus mit besonderer Vorliebe auf. Zwischen Doris und ihr hatte sich ein inniges Freundschaftsverhältniß entwickelt. Die weiche anschmiegende Natur des um etwa fünf Jahre jüngeren Mädchens behagte der jungen Frau ganz besonders. Else kam zu jeder Tageszeit, und zu jeder Stunde schien sie zu bedauern, gekommen zu sein, weil sie wieder gehen mußte. Sie machte sich im Hause nützlich, besserte die Wäsche aus, machte Besorgungen, spielte mit Liddy und hörte die Klagen der Freundin geduldig an.
Die Berichte des Mädchens über den Verkehr des Präsidenten in ihrem Hause schienen Doris höchlich zu interessiren.
„Nächstens wird er kommen und um Dich werben,“sagte Letztere eines Tages zu Else.
„Dann laufe ich davon, Doris. Was habe ich Dir denn [96] gethan, daß Du mich mit solchen Schreckbildern ängstigst? Sieh’, einmal nur hat er mir seine Hand gegeben, und die war so kaltfeucht, daß ich vor’m Altar nie die meine hineinlegen möchte. O glaube mir, viel öfter als in den Augen liegt in den Händen das Herz. Ja, ja, Doris. Ich weiß nicht, was es ist, ob Magnetismus oder irgend sensitive Anlage, aber ich brauche nur die Hand eines Menschen zu streifen, und ich weiß, woran ich mit ihm bin. Zum Beispiel bei Deinem Manne –“
Sie stockte, als hätte sie eine Unvorsichtigkeit begangen.
„So sprich doch weiter!“ ließ sich Doris vernehmen.
„Ich wollte sagen: die Hand Deines Mannes ist so fest, so kernig, so sympathisch.“
Doris lachte.
„Du sprichst hier so komische psychologische Bemerkungen aus,“ sagte sie. „Glaube mir, die meisten Frauen nähmen den Präsidenten, auch wenn er gar keine Hände hätte, wenn er ihnen nur seinen Namen gäbe. Ich begreife Dich eigentlich nicht – Lideman ist doch ein Mann comme il faut.“
„Nun kommst Du mir auch damit. Du bist wohl in das Complot gezogen worden? Nein, lieber werde ich Telegraphistin, als daß ich mein Schicksal von ihm abhängig machte.“
„Im Grunde kann ich Dich nur loben,“ sagte plötzlich Doris, „das heißt, wenn Du bei Deiner Weigerung bleibst.“
„Ja, ja, Doris, siebenmal, tausendmal!“
Doris schien über diese Versicherung sehr befriedigt.
Sie liebte Musik über Alles; sie fand an Else eine geschickte Partnerin zu vierhändigem Spiel und Beide konnten sich kaum genug darin thun. Die Musik allein war der jungen Frau aus dem Glanz ihres vergangenen Lebens treu geblieben, und bei den Tönen träumte sie sich in dasselbe zurück.
„Liebe Doris, eine Bitte,“ sagte eines Tages Erich, aus seinem Zimmer tretend. „Ihr spielt Beide ganz prächtig, und es ist eine Lust, Euch zuzuhören – eine Stunde! Aber drei Stunden, wenn man namentlich über einer Arbeit mit so angestrengten Kopfnerven sitzen muß! Bedenke das, mein liebes Kind!“
Es war der Ton reiner Güte, in den Erich seine Bitte kleidete. Von nun an öffnete Doris den Flügel drei Wochen lang nicht mehr.
„Sie und meine Frau, Sie spielen Beide gar nicht mehr,“ sagte einige Zeit später Erich zu Else. „Ich höre es so gern.“
„Wirklich, Herr von Rechting? Aber Ihre Frau glaubt das Gegentheil; Ihre Mahnung von neulich hat sie sehr verletzt. Nun wird sie gar nicht mehr spielen.“
Ein kurzes „So?“ war Erich’s Antwort, aber der Ausdruck seines Gesichts war so schmerzerfüllt, daß dem Mädchen fast Thränen gekommen wären.
An demselben Abende hörte Erich in seinem Zimmer aus dem Salon das Vorspiel, mit dem in Wagner’s „Lohengrin“ Else von Brabant die Scene betritt. Ueberrascht kam er aus seinem Zimmer und fand Doris und Else wieder am Claviere sitzen. Er hätte seiner Frau an das Herz sinken mögen.
„Ich danke Ihnen, liebe Else,“ sagte er am Abend, als er das junge Mädchen einen Moment allein in seiner Nähe hatte.
„O, Doris war gleich bereit, als ich sie versicherte, daß es Ihnen Freude machen würde; sie ist so gut.“
Wie träumend blieb Erich an den Blicken aus diesen treuen, seelenvollen Veilchenaugen hängen. – –
An demselben Abend wurde er unerwartet zum Minister gerufen. Er kam nach einer Stunde zurück und erklärte seiner Frau in Gegenwart Else’s, daß er noch in dieser Nacht reisen müsse – „im Auftrage des Ministers und im Interesse des Staates,“ fügte er hinzu, indem er zugleich Doris ersuchte, ihm jede weitere Erörterung zu erlassen. Briefe von Doris würde der Minister annehmen und befördern, und auf demselben Wege würden ihr die seinigen zugehen. Es gab an dem Abend für Doris noch tüchtig zu schaffen, und Else leistete ihr hülfreiche Hand; nichts war natürlicher, als daß Doris später ihren Mann ersuchte, die Freundin zu begleiten. Sie mußten ihren Weg durch mehrere vom Lärm des Abends noch erfüllte Straßen nehmen, und Erich bat Else, ihm den Arm zu geben. Sie folgte seiner Aufforderung und ging leichten Schrittes in munterem Geplauder neben ihm her.
Auf einem nur noch spärlich erleuchteten, mit Kastanien bepflanzten Platze fielen ihnen zwei männliche Gestalten in’s Auge, die im Gespräche seitab unter den Bäumen wandelten. Die eine trug einen weiten, langen Havelock, und Rechting’s scharfes Auge erkannte Lideman. Sein Begleiter schien ein junger Mann zu sein, nach der Kleidung zu schließen von untergeordneter gesellschaftlicher Stellung. Beide sprachen sehr eifrig; dann nahm der Jüngere ein Papier heraus und reichte es Lideman, der es rasch einsteckte, worauf sie sich trennten. Wie im Fluge hatte Erich diese Beobachtung erhascht. Es kam ihm zwar etwas eigenthümlich vor, daß der Präsident an diesem Orte mit Jemand eine Zusammenkunft verabredete, aber er hatte keinen weiteren Grund, argwöhnische Vermuthungen daran zu knüpfen. Lideman hatte ja so viele und weit verzweigte Geschäfte und Verbindungen. Wer weiß, ob der Jüngere nicht einer seiner Commis war, der ihm irgend welche Meldung zu machen hatte. Else, welche auf die Beiden nicht besonders Acht gegeben hatte, verwickelte ihn in diesem Augenblicke in ein Gespräch, worüber Erich den Präsidenten vergessen hatte, als sie vor der Thür des Wandelt’schen Hauses angelangt waren.
„Wollen Sie nicht noch einen Augenblick hinaufkommen, Herr von Rechting?“
„Ich danke, liebe Else. Sie wissen, ich habe noch viel zu thun. Aber grüßen Sie Ihre Eltern von mir!“
„Und bleiben Sie nicht zu lange auf der Reise, Herr Assessor, hören Sie, nicht zu lange!“
„Das könnte Ihnen doch ganz gleichgültig sein.“
„Glauben Sie das wirklich? Ich nicht, nein, Herr Assessor! Ich wollte schon längst –“
„Was – was, liebe Else?“ drängte Erich die Stockende.
Das Mädchen senkte sein Haupt, schwieg einen Moment und fuhr dann zögernd fort:
„Etwas – was mir auf dem Herzen lag – schwer – recht schwer –“
Sie redete nicht aus, sondern zog, um sich aus der Verlegenheit zu retten, rasch die Klingel. Von oben wurde die Thür geöffnet, und Else trat über die Schwelle.
„Wenn Sie wiederkommen, sollen Sie es wissen.“ Sie wollte ihm die Hand reichen, zog sie aber schnell wieder zurück und war hinter der Thür verschwunden.
[109] Acht Tage nach der Abreise Erich’s erhielt Doris den ersten Brief, den ihr der Minister des Auswärtigen zusandte. Daraus entnahm sie die Mittheilung, daß sich der Aufenthalt ihres Mannes wohl verlängern würde. Der Brief war für sie und Liddy voll Herzenssonnenschein, bot aber nicht den geringsten Anhalt, um zu muthmaßen, wo Erich war und was er trieb. Was sie als eine Pflicht hätte ehren müssen, empfand sie als ein Unrecht von seiner Seite. Diesen Gedanken entzog sie der Besuch der Geheimräthin, welche eine Conversation von Allem und Jedem anfing, unruhig und hastig, wie es sonst nicht ihre Art war, von Gegenstand zu Gegenstand springend. Mit ihrer Tochter begann sie, und ging nach einigen Worten über die theure Zeit, über aufgerissene Straßencanäle und die jüngste Hundesperre auf den nächsten Geheimrathsball und die letzte entsetzliche Mordthat über, worauf sie endlich bei dem Namen Lideman anlangte.
„In seinem Namen komme ich eigentlich. Sie wissen, liebe, reizende Frau, selbst am besten, daß Ihr gegenseitiger Verkehr etwas in’s Stocken gerathen ist, und der Präsident hat zu viel Tact – Sie verstehen mich – jetzt, wo Ihr Mann nicht hier ist, bei Ihnen zu erscheinen; man muß vor der Welt ungeheuer vorsichtig sein, und wenn etwas Böses dabei wäre, würde ich mich mit der Angelegenheit gar nicht befassen, aber – kurzum, wir haben nächstens eine Soirée champêtre.“
„Was hat aber die Soirée mit dem Präsidenten zu thun?“ fragte Doris mehr naiv, als von irgend einem Verdachte befangen.
Die Geheimräthin umging die directe Antwort.
„Die Damen kommen alle, die wir geladen, und nur solche, die Sie kennen – es ist eine ziemlich große Gesellschaft; Speisen – alles auf Eis. Und Sie müssen auch kommen.“
„Das wird nicht gehen, meine verehrte Frau Geheimräthin. Mein Mann ist nicht hier – wenn er hörte, daß ich eine gesellschaftliche Verpflichtung übernommen, während er bisher so streng darauf gehalten, daß von unserer Seite alle früheren gesellschaftlichen Verbindungen aufgelöst wurden – ich muß bedauern.
„Nein, Sie dürfen nicht bedauern. Ich gehe einmal nicht von hier weg, ohne die Zusage von Ihnen zu haben. Das habe ich Lideman hoch und heilig versprechen müssen.“
„Was kann er für ein Interesse dabei haben?“ fragte Doris weiter.
„Dasselbe, was alle Welt an Ihnen nimmt, an einer jungen, schönen, lebenslustigen Frau, die auf das Piedestal der Gesellschaft, die in den vollen Strom des Lebens gehört, nicht hierher in diese alte Baracke. Verzeihen Sie mir den etwas drastischen Ausdruck.“
Wie hätte Doris dieser Sprache nicht Gehör schenken sollen! Sie hätte über Nacht müssen eine Andere geworden sein. So würde denn die Geheimräthin die Zusage ihres Erscheinens in der Gesellschaft sofort erhalten haben – da kam die Verführerin mit der Mittheilung heraus, daß die Gesellschaft im Garten des Präsidenten stattfinden sollte.
„Nicht in seinem Stadtgarten,“ schaltete die Geheimräthin ein, „sondern in dem vor dem Thore; er hat ihn uns zur Verfügung gestellt. Wir hatten kein passendes Local, und man will jetzt ja nur im Freien, nur bei Windlichtern soupiren – kurz und gut: Sie kommen!“
Eine innere Stimme, Gefühl der Pflicht, Warnung, Ahnung riethen Doris das Gegentheil. Sie hatte schon die Lippen geöffnet, um die Einladung abzuweisen, als Frau von Wandelt ihr das Wort abschnitt, indem sie ihr mit vielsagendem Lächeln in’s Ohr raunte:
„Vielleicht werden Sie etwas überrascht werden. Präsident Lideman – Else von Wandelt. Bindestrich drunter – fertig!“
War es Ueberraschung, war es verletzte Eitelkeit oder getäuschte Hoffnung – genug, Doris konnte bei dieser Ankündigung eine unangenehme Empfindung nicht unterdrücken. War sie mit Lideman auch durch keine innere Beziehung verbunden, wie sie wenigstens glaubte, so nahm sie doch die Nachricht nicht mit jener freien Unbefangenheit auf, wie es ihr, als Gattin ihres Mannes, nach Pflicht und Gewissen angestanden hätte, und ihre Ablehnung fiel so kurz und fast gereizt aus, daß jede Frau, welche feiner als Frau von Wandelt beobachtete, aufmerksam geworden wäre.
Die Geheimräthin war unglücklich über die Weigerung, das schwur sie im Weggehen mehrmals Doris zu, aber der Entschluß der jungen Frau war sichtlich nicht zu erschüttern.
Kaum war der Besuch fort, so wurde Doris unruhig. Ein Einfall, der ihr plötzlich gekommen, trug die Schuld. Wie wenn der Glaube an die Verlobung nur wieder eine jener Illusionen war, mit denen sich die Geheimräthin durch das ganze Leben getragen hatte, diese Frau, in welcher die Lebhaftigkeit des Empfindens stets dem blos Gewünschten die Gestalt der vollendeten Thatsache lieh? Wie käme der Präsident dazu, so lebhaft ihre Gegenwart zu wünschen, wenn er wirklich sein Herzensglück an der Seite Else’s zu finden hoffte?
Eine Stunde später stand sie vor dem großen Toilettenspiegel [110] ihres Schlafzimmers. Eine Erscheinung schaute ihr daraus entgegen, die ihr selbst fast fremdartig erschien. Die elegante, in den Schultern so volle, um die Taille so graziöse Figur war in eine Atlasrobe eingespannt. Auf dem weichen, glänzenden, chocoladefarbenen Stoffe liefen die hochgestickten Guirlanden aus Apfelblüthen in Windungen hin, in denen sich die Formen ihres Körpers zeichneten. Und die Blüthen zitterten hin und her, als würden sie vom leisen Windhauche des Frühlings berührt – so erregt hob sich die Brust der jungen Frau, als sie ihr Bild von einstmals wieder zum ersten Male erblickte. Alle Lust und aller Reiz der Welt kehrten ihr mit diesem Schauen zurück.
„Des Leibes Schönheit ist der Götter Gabe,“ sagte eine Stimme hinter ihr.
Es war die Regina’s. Unhörbar war diese eingetreten, oder vielmehr Doris war so sehr in ihr eigenes Bild versunken, daß sie das Erscheinen der Freundin nicht wahrgenommen hatte. Alles Blut goß sich ihr über’s Gesicht, als sie sich umdrehte und Regina bewillkommte.
„Dir hätte nichts Günstigeres zu Theil werden können,“ lachte die Freundin, „als die Zurückgezogenheit hier draußen – fern von allem aufregenden Trouble des Gesellschaftstreibens und den damit verbundenen Intriguen, die sich dem Körper wie dem Gemüthe aufprägen. Die andern Frauen Deines Alters sind schon welke Blumen – Du blühst noch in frischer Pracht.“
Doris gestand offen, warum sie die Robe angelegt hatte, die sie von ihrem früheren Glanze noch zurückbehalten.
Regina schwebte das Wort schon auf den Lippen, das die Freundin von dem gefaßten Entschluß abbringen sollte. Da hielt sie inne – ein kurzer Kampf der Gedanken in ihr, und sie sprach die Warnung nicht aus. Doris stand vor ihr in aller Anmuthsfülle, die einem Weibe nur gegeben werden kann, und sie – sie hatte nur ihr Herz, das dem Körper keine äußere Schöne aufzustempeln vermochte, das Herz, unter dessen leidenschaftlichem Wogen sie so unendlich litt. Doris war im Begriffe, gegen das Verbot ihres Mannes zu handeln, an seinem Willen zu sündigen; sie stand vielleicht an einem Abgrunde, den sie, die Freundin, vor ihr sah, und sie riß sie nicht zurück, rief ihr selbst nicht einmal im entscheidenden Moment den Warnungsruf zu. Regina wußte selbst nicht, wie ihr geschah, aber von einer dämonischen Schadenfreude wurde sie erfaßt; sie drängte Doris fast hinab, war ja deren Fehltritt vielleicht ihr Glück!
Sie half Doris am Tage des Festes auch noch in den Wagen, der diese nach dem Landhause des Präsidenten brachte.
Das Landhaus des Präsidenten Lideman lag eine Viertelstunde vor der Stadt. Der Weg dahin führte durch Villen und Gartenanlagen. Dann machte er eine große Biegung von der Hauptstraße ab und mündete in einen Pfad, der etwas thalwärts führte. Plötzlich sah man sich vor einem großen Wasserspiegel. Grüne Waldesufer zogen sich rings um die fast unbewegte stahlblaue Fläche, auf der nur Schwäne und ab und zu das weiße Segel eines Bootes sichtbar wurden. Man hielt vor einem einstöckigen Landhause, dessen Inneres nur einen Raum, allerdings in der Ausdehnung eines großen Saales, hatte. Durch diesen ging man hinab in den Garten, der sich terrassenförmig nach dem Ufer des Sees hin erstreckte. Eine Allee hoher Rüstern, dazwischen seltene dunkle Fichtenarten – eine Pergola mit Schlinggewächsen, in einen Pavillon mündend, der auf einer Landzunge vom See umspült da stand; über das buntbemalte Balkenwerk hing Clematis in üppiger Wucherung herab, sodaß der Pavillon das Ansehen eines riesigen Busches bekam.
Der weibliche Instinct der jungen Frau hatte richtig geahnt. Von des Präsidenten Seite war durch nichts ein Anhalt geboten worden, welcher die Geheimräthin berechtigt hätte, eine Verlobung in so nahe und bestimmte Aussicht zu stellen, wie sie es Doris gegenüber gethan. Lideman war über alle Vorgänge im Rechting’schen Hause sehr gut unterrichtet – auch über die Abreise des Assessors. Wenige Tage darnach hatte er der Geheimräthin die Idee einer Abendgesellschaft in seinem „Berggarten“ unterschoben, und diese hatte sofort zugegriffen. Was konnte dieser Vorschlag nach ihrer Meinung Anderes bedeuten, als eine Verlobung? Naturen wie die Geheimräthin sind von ihren Gedanken derart befangen, daß sie weder links noch rechts schauen. Sonst hätte ihr doch die Frage aufstoßen müssen, warum Lideman so lebhaft und bestimmt auf der Einladung der Frau von Rechting bestand?
Else sah an diesem Abende auffallend niedergeschlagen aus.
„Ich muß Dir sagen, liebes Kind,“ bemerkte in einem Moment des Zusammentreffens die Mutter, in ihrem Anzuge die Schleifen und Garnituren mit geschäftiger Hand zurechtrichtend, „Du bist heute wieder einmal so unliebenswürdig, wie nur möglich.“
„Aber Mama, ich habe mich doch bemüht, nicht nur höflich, sondern auch artig zu sein.“
„Das nennt sie artig, wenn sie vor dem Bankpräsidenten immer wie Minchen vom Lande die Augen niederschlägt! Warum schlägst Du die Augen nicht offen zu ihm auf? Die sind doch das Schönste an Dir. Warum hast Du heute überhaupt keinen Glanz, nicht einmal einen feuchten Schmelz in Deinen Blicken?“
„Aber Mama, ich kann doch nicht, wenn die Natur es mir versagt hat.“
„Alles muß ein Mädchen können. Wofür bist Du jung? Freilich, Du bist ja leider in Allem Deinem Vater nachgeschlagen. Aber einem Manne, wie dem Präsidenten, giebt man zu jeder Tasse Thee das süßeste Lächeln; dem macht man ein Bischen deutliche Avancen –
„Verlange Alles von mir, Mama, nur das nicht! Ich kann nicht lächeln, wenn Thränen mir das Herz schwer machen.“
„Thränen! Wieso, mein Kind? Was brauchst Du zu weinen? Halten nicht ich und Dein Vater Dich wie ein liebes Kind? Was ist’s? So sprich doch!“
„Nichts, nichts! Dringe nicht in mich, liebe Mama!“ Und Else warf sich in die Arme ihrer Mutter.
„Ich meine es doch nur gut mit Dir, Elschen. Bedenke doch die Villa und die Equipage mit den Apfelschimmeln! Jetzt kannst Du die Rolle in der Gesellschaft übernehmen, die früher Frau von Rechting in unserem Kreise gespielt hat. Bedenke doch – er Präsident – Du Präsidentin und immer ein volles Portemonnaie in der Tasche! Und bis jetzt, wenn Du eine neue Balltoilette brauchtest, mußte ich mir das Herz absorgen, wie sie zu beschaffen wäre, ohne daß man sich in Schulden steckte –“
Um die Familienscene vollständig zu machen, kam in diesem Augenblicke auch Elschen’s Vater dazu, ein kleiner, magerer Herr mit dem Gesichte einer Spitzmaus. Unter der goldenen Brille schauten ein paar graue Aeuglein aus dem mageren, fast fahlen Gesichte; sie erhielten jetzt ihren Widerschein aus dem vollen Glase Ananasbowle, das er in der Hand hielt.
„Mutter, ich muß Dir sagen, ich amüsire mich außerordentlich. Na, auf Dein Wohl, Frau Geheimräthin!“
Er wollte trinken, sie aber zog ihm das Glas von den Lippen weg.
„Trinke nur nicht zu viel, Alterchen! Du weißt – Deine Zerstreutheit, Deine Gedächtnisschwäche – Wein ist Gift für Dich.“
„Aber das Gift schmeckt vorzüglich – und wenn ich denn vergiftet werden soll, dann am liebsten so. Auf Dein Wohl, Constanze!“
„Menagire Dich, Wandelt!“ sagte die Geheimräthin. „Es könnte heute der Fall eintreten, daß Du noch eine Rede halten müßtest. Und dazu gehört vollkommene geistige Concentration. Nimm Dich zusammen! Es wird wohl heute noch etwas werden mit dem Bankpräsidenten.“
Da hob der Geheimrath seine Brille hoch und schaute seine theure Hälfte überrascht an.
„Ich habe Dir doch schon eine Andeutung gemacht. Wofür giebt der Präsident die Gesellschaft? Fünfzig Personen – Thee – zwei Bowlen – Souper mit Sect – Musik drüben im Bosquet – Heimfahrt auf dem See und zum Schlusse zwanzig Raketen? Wozu? Es betrifft Else.“
Constanzens Gatte schob bei dieser Andeutung die Brille noch höher.
„Ja, ja – der Bankpräsident, Alterchen! Wofür hätte er heute diese Gesellschaft auch gegeben, als um –“
„Er – er wollte wirklich – der Postdirector?“
„So nimm Dich doch zusammen, Präsident, Bankpräsident ist er.“
„Das wäre ja reizend, Constanze – einen Schwiegersohn mit solchen Cigarren!“
[111] Während des ganzen Abends jedoch machte Lideman keine Miene, die Hoffnungen der Geheimräthin zu erfüllen. Er schien mit etwas ganz anderem beschäftigt. Seine Blicke gingen unruhig umher, suchend nach dem Eingange. Frau Constanze beschloß nach einigem Ueberlegen, der Sache mit einem kühnen Schlage ein Ende zu machen. Bisher war ihr der Präsident immer entschlüpft; kaum glaubte sie ihn für einen Moment erhascht zu haben, so war er auch schon wieder mit einer aalglatten Bewegung aus ihren Händen. Eben nahte er langsam dem Eingange in merklicher hochgespannter Erwartung – von der Straße her war das Geräusch eines Wagens vernommen worden – da trat plötzlich Frau von Wandelt hinter einem Baume hervor und zog ihn seitwärts dahin, wo eine grün behangene Laube ihr Zwiegespräch vor allen Lauschern beschützte.
„Ein köstliches, superbes Fest, das wir Ihnen zu verdanken haben,“ leitete sie das Gespräch ein. „Alle Welt amüsirt sich excellent, aber verzeihen Sie, Herr Präsident – alle Welt sucht nach der Bedeutung desselben.“
„Als ob ein Fest, bei dem man fröhlich ist, noch eine andere Bedeutung zu haben brauchte!“ Damit suchte er das drohende, auf ihn gerichtete Geschoß der Rede zu pariren.
„Jawohl – eine sehr geistreiche Bemerkung, wie man sie von einem Manne von Ihrer Bedeutung nicht anders erwarten konnte, aber – mein Mann raunte mir eben ein sehr ernstes Wort zu, das mich veranlaßt, über unser beiderseitiges Verhältniß zu sprechen.“
Die dunklen Augen des Präsidenten blickten immer erwartungsvoller nach dem Eingange des Gartens hin.
„Sie waren, Herr Präsident, bisher immer sehr zart, von einer musterhaften Zurückhaltung –“
„Entschuldigen Sie, gnädige Frau; neue Gäste –“
Er wollte gehen; sie hielt ihn zurück.
„Nein, die kann mein Mann empfangen. Hier weht unsere Flagge, und diese ist’s, unter der die Gäste segeln; haben Sie keine Sorge! Aber jede Zurückhaltung und Zartheit, Herr Präsident, muß einmal eine Grenze haben. Wenn Sie nur Vertrauen, wenn Sie nur Muth haben wollten!“
Die Sprecherin fühlte sich von einem jähen Blicke Lideman’s getroffen. Sie legte ihn wie ein plötzlich aufgegangenes Verständniß aus.
„Nun, wenn ich es Ihnen denn sagen muß. Es ist so – Sie werden geliebt.“
Im Nu hatte der Präsident ihre Hand erfaßt und drückte sie so fest, daß Frau Constanze sie eilig aus der Umklammerung zog. Ein überraschter Blick auf die Geheimräthin, dann ein Zurückweichen der Augen und dann wieder ein stilles Fragen dieser. Der Präsident spielte in einem Anfluge von Humor diese kleine Scene so meisterhaft, daß er nur der einzigen Worte mächtig schien:
„Sie glauben wirklich, gnädige Frau?“
Frau Constanze lächelte verschämt und deutete dann schnell mit dem Finger auf das Landhaus, von dem Else eben am Arme der Frau von Rechting daherkam. Ein Aufleuchten seiner Blicke – die Sonne seines Festes ging auf. So schön hatte er sie noch nicht gesehen. Mit einem leisen Senken ihrer langen seidenen Wimpern erwiderte Doris seinen Gruß nicht ganz unbefangen. Aber bald war diese Empfindung verflogen. Um ihre Lippen schwebte jenes feine Lächeln, welches alle Herzen einnahm, und scherzend äußerte sie zur Geheimräthin, daß sie fast nicht gewagt habe, einzutreten, daß ihr Fuß, dessen in braunen Atlas gehüllte Spitze unter dem Kleide hervorsah, fast zittere vor Scheu, aufzutreten. Jedenfalls war diese Scheu bald vorüber. Doris hatte sich von der Gesellschaft vergessen geglaubt, und diese drängte sich um die schöne, junge, elegante Frau, wie um eine neue Erscheinung, die plötzlich leuchtend aufgetaucht war. Von allen Seiten wurden ihr Glückwünsche zu ihrem Wiedererscheinen dargebracht, und Alt und Jung huldigte ihr, sodaß sie bald wieder wie von den Wogen der Triumphe früherer Tage sich getragen fühlte. Der abendliche Zauber, der auf der Landschaft lag, die Musik, die Menschen, die Freundlichkeiten und Huldigungen, mit denen man sie überschüttete, übten auf Doris eine Art narkotischer Wirkung.
Freilich trat ihr bald genug etwas nahe, was in diesen Rausch einige Ernüchterung brachte.
„Ich fürchte mich vor diesem Manne,“ hatte Doris einst zu ihrem Gatten gesagt, als Lideman’s Versuch, den Assessor in seine Unternehmungen zu ziehen, fehlgeschlagen war. Und an dieses Wort mußte sie unwillkürlich denken, indem sie merkte, wie es ihr schwieriger und schwieriger wurde, ein Alleinsein mit dem Präsidenten zu vermeiden. Dieser suchte offenbar auf jede Weise eine Gelegenheit zu erhaschen, um Doris einen Moment allein zu sprechen, und um so rücksichtsloser, je erfolgreicher sie sich ihm mit all der feinen Geschicklichkeit entwand, über die ein Weib in solchem Falle verfügt. Es waren viele Menschen da, und sie standen in Paaren und in Gruppen zusammen und bewegten vielfach ihre Zungen und Lippen. Was aber das interessanteste in diesem weiten Gesellschaftskreise war, das hörte, das sah, das ahnte Niemand – die Fragen und Bitten der Leidenschaft, die aus Lideman’s Augen redeten, und der stille Protest dagegen in dem Verhalten der jungen Frau. Das war ein Duo von Verlangen und Abweisen, von immer neu entflammtem Hoffen und erhöhtem Bangen, das aber von Niemand verstanden wurde, außer von den Beiden, die es zur Ausführung brachten. Dann aber wurde Doris plötzlich von einem Gefühl der Unbehaglichkeit übermannt. Es kam ihr der Gedanke an ihren Mann, an das Unerlaubte ihres Hierseins. Diese Stimmung drängte sie von den übrigen Gästen ab, und schon überlegte sie bei sich, ob es nicht besser wäre, still davon zu gehen – da horte sie Lideman’s Stimme hinter dem dichten Jasminbosquet, vor dem sie stand. Rasch trat sie bei Seite. Sie mußte sich in das Grüne hineindrängen, um nicht von ihm bemerkt zu werden. Nun kam er zum Vorschein, nicht allein, sondern in Gesellschaft eines jungen Mannes, den sie nicht kannte, der aber derselbe war, dessen Bekanntschaft ihr Mann bei jenem Zusammentreffen mit Rüchel gemacht hatte.
„Da ich Sie gerade treffe, Herr Lichtner, nur schnell einige Worte! Ich hatte schon längst gewünscht, Ihre Geschicklichkeit für mich in Anspruch zu nehmen –
„O bitte sehr, Herr Präsident!“
„Ich habe mehrere Unternehmungen in petto, ein großes Walzwerk, dann will ich ein paar neue Schachte und Stollen graben lassen. Dazu sollen Sie mir die nöthige Hülfe leisten. Sie sind mir als der rechte Mann empfohlen worden; vielleicht würde sich daraus eine dauernde Stellung ergeben. Aber es ist wohl nicht Ihre Absicht, ein festes Engagement anzunehmen?“
„Woraus wollen Sie das schließen, Herr Präsident?“
„Aus Ihrem Schweigen. Sie antworteten mir nicht.“
„Muß denn immer geredet werden, wenn sich einem eine freudige Aussicht eröffnet?“ sagte der junge Mann fast grob.
„Nun, dann freut es mich, mein lieber Herr Lichtner. Wollen wohl heirathen?“
Der Angeredete gab ein paar Laute von sich, die ebenso „Unsinn!“ wie „Ja, ja, und noch einmal ja!“ bedeuten konnten.
„Das war nicht anders zu erwarten, mein lieber Herr Lichtner, fuhr Lideman lächelnd fort. „Ein junger Mann wie Sie – mit lockigem Haar – erste Violine – Spohrspieler – elegische, träumerische Stimmung – lyrische Natur und manchmal sogar ein bischen derb –“
„Stimmt!“ sagte lachend der junge Mann. Und dann seufzte er.
„Ich nehme an, daß sie mehr als eine bloße Neigung für die Saison, eine Ausfüllung für eine Tanzkarte ist – Ihre Liebe.“
„Was denken Sie, Herr Präsident!“
„Hm – tiefe Neigung mit Hindernissen – natürlich, sonst würde sie ja doch nicht so tiefe Wurzeln geschlagen haben. – Aber zurück zu unserer Angelegenheit! Vorerst würde ich Ihnen kleinere Arbeiten auftragen – Sie sollen mir z. B. die Tracirung an Erdwerken, die ich zum Zwecke von großen Wasserbauten aufführen lasse, vom Originale copiren – und darum würde ich um Ihren Besuch bitten, wenn Sie einverstanden sind. Kommen Sie, wann Sie wollen! Für Sie bin ich jederzeit zu sprechen.“
Lichtner nickte nachlässig und war im Begriff, sich zu entfernen, da hielt Lideman ihn am Arme zurück und sagte:
„Sie merken wohl, daß ich eine Ahnung davon habe, in welcher Richtung Ihre stillen Herzenswünsche gehen; und da ich, wie Sie gleichfalls merken werden, Ihnen wohl will, so dürfen Sie schon einem Versprechen, daß ich für Befriedigung der schwiegerelterlichen Ansprüche an Sie sorgen werde, Glauben schenken. Was freilich Ihre reizende Auserwählte betrifft – so [112] müssen Sie selbst zusehen, wie Sie die Festung erobern. Aber wie ich Sie kenne, wird Ihnen das nicht schwer werden. Jeder Mann – beherzigen Sie das! ein Erfahrener spricht zu Ihnen – jeder Mann bekommt das Mädchen oder die Frau, welche er haben will, wenn er nur festen Willen hat. Der Wille eines Mannes ist etwas zauberhaft Bannendes. Hat ein Weib, wie sie auch in ihrem Herzen widerstreben möge, nur einmal den vibrirenden Ton der Leidenschaft gehört, kann sie sich des Mannes nicht mehr erwehren, der diesen Ton an ihr Ohr schlagen ließ – nie – nie mehr! – Also Sie kommen!“
Damit trennten sich Beide.
Lideman lachte im Gehen einmal vor sich hin. „Die gute Frau Geheimräthin fängt an gefährlich zu werden; man muß der Sache ein Ende machen.“ –
„Nie – nie mehr!“
Diese von Lideman fast nur hingehauchten Laute wurden von Doris wiederholt, als sie aus ihrem grünen Versteck hervortrat. Sie war von dem Eindruck des Gehörten wie gelähmt – die Worte enthüllten ihr plötzlich eine furchtbare Gefahr. Was bisher nur unbestimmtes Empfinden, bange Ahnung, sensitives Fürchten in ihr war, das war hier in einer Formel gegeben, mit wenigen Worten, scharf, schneidig: ein Wille, ein Gesetz, unter dessen Gewalt sie zusammenschauerte. Etwas zauberhaft Bannendes! Er hatte Recht. Sie machte die Erfahrung an sich selbst. Der Nachklang dieser Worte, die berauschenden Düfte rings um sie her, die Klänge der Musik, das Dunkeln und Dämmern des Abends und das mystische Spiel der Schatten – wie eine feine, das Bewußtsein einschläfernde, die Sinne umfächelnde und erregende Aetherkraft kam es über sie, deren betäubendem Einfluß sie zu erliegen drohte. Dazwischen aber rang sich die Reue durch, die Reue darüber, daß sie dem Willen Erich’s entgegengehandelt, und dieses Erheben der Gedanken auf den fernen Gatten hielt ihr die sinkende Willenskraft aufrecht. Doris war fest entschlossen, ganz unbemerkt die Gesellschaft zu verlassen. Der Augenblick schien günstig dazu: Niemand war in der Nähe, um ihr Weggehen zu bemerken. Ihre Schritte wandten sich dem Ausgange zu. Da plötzlich – stand sie vor Lideman.
Ein Blitz der freudigen Ueberraschung flog über sein Gesicht. Er faßte sich indeß rasch; er gab dem Vergnügen Ausdruck, das er darüber empfände, endlich fern von den Larven der Convenienz ein Wort mit ihr von Mund zu Munde sprechen zu können, wie es sonst gewesen wäre, in schöneren Zeiten, ein Wort – hier legte er die Hand auf’s Herz – nach dem er sich so lange gesehnt habe. Denn nun sei er leider aus ihrer Nähe verbannt, und er wisse auch, warum man sich von ihrer und ihres Gatten Seite kühler gegen den einstigen Freund des Hauses verhalten habe, den treuesten vielleicht, den das Haus Rechting besessen habe.
„Wenigstens den treuesten, den Sie, gnädigste Frau, besessen haben. Sie ahnen nicht, wie sehr ich Sie in der Sorge meines Herzens trage, wie ich mit Ihnen fühle, mit Ihnen leide.“
„Was giebt Ihnen ein Recht, Herr Präsident, Leiden bei mir vorauszusetzen? Habe ich Sie zum Vertrauten meiner Gedanken gemacht?“
„Leider nicht!“
„Oder ist über meine Lippen Ihnen gegenüber schon ein Laut der Klage gegangen?“
„Nein, dieses stolze Herz wird sich nie verrathen; aber es giebt eine ahnende Empfindung der Herzensvorgänge in Anderen, mit welchen uns die Sympathie verbindet: diese Eindämmung in ein Ihnen ganz fremdes Dasein macht Sie unglücklich.“
„Wo ist der Beweis dafür?“
Es war nur ein schwacher Laut, in dem sich diese Worte gaben, ein Laut, der ein halb willenloses Zugeständniß bedeutete.
„Wenn sich in Ihnen, Frau von Rechting, eine berechtigte Sehnsucht nach dem Einst regt, wird sie von der harten Strenge Ihres Gatten im Keime erstickt. Er sucht Sie von jeder gesellschaftlichen Berührung hermetisch abzuschließen; er verwehrt Ihnen, Ihre Jugend, Ihre Schönheit zu schmücken. Die Einförmigkeit, die Langeweile sind Ihre nunmehrigen Hausfreunde. Als ich damals Ihrem Herrn Gemahl jenes Anerbieten machte, das ihn in den Stand gesetzt hätte, Sie wieder mit allem gewohnten Reize des Lebens zu umgeben, wurde ich leider von Ihnen – von ihm verkannt. Ist’s nicht so? Sagen Sie doch ‚ja‘! Ich weiß –“
„Nun denn – ja! Ein Wort von Ihnen, um ganz offen zu sein, hat uns Beide befremdet, und wenn daraus eine Erkaltung unsererseits erfolgte –“
„So grausam gestraft zu werden für eine Bemerkung, welche der Uebermuth, die gesellschaftlich pointirte Redeweise unserer Zeit mir auf die Lippen gebracht haben, nicht mein Herz, noch weniger meine Gesinnung. – Aber die Entbehrung so manchen Genusses, der Ihnen zur Gewohnheit geworden war – das wäre noch das Leichteste. Verzeihen Sie, daß ich davon wie ein Freund zu Ihnen spreche! Ueber dem immerwährenden Ringen zwischen Neigung und äußerem Zwange, zwischen regem Verlangen und brüsker Verweigerung flieht eine schöne Illusion um die andere aus Ihrem Herzen, und die Liebe, die Sie bisher dem Gatten so treu bewahrt haben, sie beginnt zu reflectiren. Wo aber nicht mehr der frische, unmittelbare Zug des Herzens vorhanden, wo dieses in Erwägungen eintritt, da kommt etwas in’s Schwanken, das fest sein soll wie ein Fels inmitten brandender Strömungen – die Liebe – das fühle ich mit meinem Herzen so tief, und ich will Ihnen nicht sagen, warum –“
Mit einer hastigen Bewegung, mit einem jähen Aufblitzen ihrer Augen hatte Doris den Worten des Präsidenten Stillschweigen geboten und war von ihm zurückgetreten – denn wie mit seiner Rede, so war er auch mit seiner Gestalt ihr immer näher gekommen. Fest entschlossen, diese gefährliche Nähe zu meiden, wollte sie sich zuück in den schützenden Port der Gesellschaft flüchten, als die Geheimräthin zu Beiden trat. Sie war, den Präsidenten suchend, unbemerkt hinzugekommen und hatte die letzten Worte erhascht.
[136] Die Stirn der Geheimräthin zog sich drohend über den Brauen in Falten: ein häßlicher Verdacht war in ihr erweckt worden.
„Verzeihen Sie, daß ich hier störend eintrete!“ sagte sie, „aber da der Fuß einer Frau stets gebannt sein wird, wo immer sie nur das Wort Herz oder Liebe aussprechen hört, so brauche ich mich wohl nicht zu entschuldigen, wenn ich von dieser kleinen Schwäche meines Geschlechtes keine Ausnahme mache.“
Doris empfand einen Schauer. Im Nu jedoch war sie wieder gefaßt. In solchen Momenten übertrifft die Geistesgegenwart der Frauen die der Männer.
„Allerdings haben Sie recht gehört, verehrte Freundin; ich sprach dem Herrn Präsidenten –“ mit diesen Worten faßte sie Lideman scharf in’s Auge, damit ihr keine seiner Mienen, seiner Bewegungen entgehen sollte – „ich sprach ihm von meiner lieben Else.“
„Von Elschen?“ rief Frau von Wandelt.
Alle Schatten des Argwohns waren mit einem Male der sonnenhellen Freude gewichen. Also das sollte der „Fels in den brandenden Wogen“ bedeuten, und was er „in seinem Herzen so tief fühlte“!
„Ich dachte schon – verzeihen Sie! – aber da es Else bedeutet –“
Dann faßte die glückliche Mutter im Jubel ihres Herzens Doris am Arm und zog sie mit sich fort. Lideman hätte der Geheimräthin einen Dolch in’s Herz stoßen mögen.
Wenn er geahnt hätte, daß Doris schon nach ein paar Minuten wieder allein war! Die Geheimräthin hatte sie mit dem Bemerken verlassen, daß sie nur schnell ihren Mann suchen müsse, denn jetzt müsse das Eisen geschmiedet werden, und Doris hätte nun unaufgehalten den Garten verlassen können; sie that es nicht. Das Wort, das Lideman zu dem jungen Mann gesprochen hatte – es kam ihr nicht aus dem Sinn; es war der Bann, der sie hier fest hielt. „Hat ein Weib, wie es auch in seinem Herzen widerstreben möge, nur einmal den vibrirenden Ton der Leidenschaft gehört, so kann es sich des Mannes nicht mehr erwehren – nie, nie wieder!“
Sie war ja in dieser Lage – hatte er wirklich Recht, und war sie unrettbar verloren? Sie sah ihn wenigstens immer neben sich, als sie durch die stillen, dunklen Gänge des Parkes zum Pavillon hin wandelte. Er ging mit ihr in allen ihren Sinnen. Es war ihr, als würde ihr jetzt erst klar, daß er ein schöner Mann war – daß Nerv zu spüren war in Allem, was er that, was er sprach, in jedem seiner Schritte. Und wenn sich die dunklen Augen mit ihrem bläulichen fast geheimnißvollen Weiß schlossen, wenn aus diesen vollen Lippen ein halbgebrochener Laut, ein Hauch auf sie herüberglitt, wie die Botschaft eines höheren Glückes, einer tieferen Beseligung, als sie bis jetzt an sich erfahren – –
Mit einer jähen Bewegung fuhr sie auf. Aber nicht etwa, weil sie sich diesen Eindrücken entziehen wollte, die ihre Willens- und Denkkraft vollends zu betäuben drohten: ein Vogel hatte sie geschreckt, der sich im dichten Laub schon gebettet hatte und nun, aufgescheucht durch die Anwesenheit eines anderen Wesens, aus seinem Neste davonflatterte. So hätte auch sie aufschrecken müssen – aus diesem Hinträumen, das sich über sie breitete. Aber sie gab sich demselben ohne Widerstand hin. So eigen umfächelte sie der Lufthauch – so mag ihn der Träumer empfinden, den die Flügel des Vampyrs umfächeln; die Wellen rings um den Pavillon, ein leises Aufrauschen, ein Flüstern, der Duft, der von den Jasminblüthen herüber wehte, und jetzt die Töne eines Saiteninstrumentes, nur vereinzelte Töne, wie halb erstickte Seufzer, wie fieberndes Liebesathmen – auf ihren Lippen schwebte ein bebender Laut – ein Name – –
Sie hörte nicht die Schritte, die ihr nahten; erst als eine Gestalt vor dem Pavillon ihr entgegen trat, eine männliche Gestalt, da hob Doris die traumschweren Lider –
„Erich, Erich!“
Es war ein Schrei, ein aus tiefster Brust kommender Schrei, an dem Angst und Freude gleichen Antheil hatten, in welchem reuiges Schuldgefühl und Dank den Weg zu dem Ohre und dem Herzen des Angerufenen suchten. Dann trat ein Moment der Todtenstille ein. Doris glaubte wirklich eine Traumerscheinung vor sich zu haben, die wie ein guter Engel an einem Scheidewege ihr entgegengekommen sei. Dann trat sie einige Schritte weiter zu ihm hin und suchte seine Hand zu fassen. Die Hand entzog sich ihr.
„Komm’, Doris. Dieser Pavillon am Wasser – Du könntest Dich hier erkälten. Es ist nicht gut gethan, wenn junge Frauen sich von der übrigen Gesellschaft absondern.“ Er reichte ihr seinen Arm, um sie zur Gesellschaft zu führen.
„Wie kommst Du aber hierher?“ stammelte sie. „Ich hatte Dich nicht so früh zurück erwartet.“
„Das glaube ich – sonst würdest Du wohl auch der Einladung nicht gefolgt sein.“
„Die Geheimräthin wollte es durchaus! Ich konnte mich ihrer nicht erwehren. Ich trage eigentlich die geringste Schuld daran – frage sie selbst, und sie wird es Dir bestätigen. Auch Regina meinte – –“ sie blickte zögernd zu ihm auf.
Erich sprach kein Wort. Lautlos gingen Beide durch die Gänge des Gartens dahin; der Sand knisterte unter ihren Füßen.
„Hat sich denn etwas Außerordentliches ereignet, daß Du so früh zurückkehrst? Geht es Dich persönlich an, Erich? O sprich doch! Eine namenlose Angst preßt mir das Herz –“
„Mir ist sehr wohl. Nur als ich nach Hause kam und Dich überraschen wollte – ich hatte Dir deswegen nicht telegraphirt – und das Haus dann leer fand und das Bettchen Liddy’s unbewacht von dem Auge der Mutter – da – da –“
[138] Doris fühlte, wie die Bewegung ihm den Athem versetzte.
„Da wurde mir denn gesagt, daß Du ein schönes Kleid angezogen habest und Dich hier vergnügtest.“
„Es ist kein Vergnügen, Erich.“ Doris stöhnte diese Worte mehr, als sie dieselben sprach.
„Wir kommen gerade recht; man setzt sich eben zu Tische.“
„Wir wollen nicht fort, Erich?“
„Nein, wir bleiben. Ich sagte Dir doch, daß ich mich auch amüsiren will.“
„Allein ich will nicht. Ich bitte Dich, Erich.“
Sie wollte sich von seinem Arme losmachen. Er aber preßte diesen an sich, und ebenso zwingend klang sein Wort. „Du bleibst!“
So gingen sie nach dem Landhause; der Weg dahin war dunkel. Wenn Erich nicht seine Schritte angehalten hätte, würde Doris nicht bemerkt haben, daß sich bei ihrem Nahen eine männliche Gestalt aus dem Wege in das Gebüsch drängte. Ihre Nerven waren derart afficirt, daß sie das Fallen eines Blattes erschreckt haben würde. Ihre Blicke gingen unwillkürlich nach der Gestalt. Sie hatte den Mann nie gesehen; wäre er bei der Zahl der Gäste gewesen, würde sie ihn gekannt haben. Aber ihrem Manne schien er bekannt zu sein, denn er trat auf den Unbekannten zu; derselbe legte wie salutirend die Hand an die Mütze. Erich sagte nichts, machte nur eine Geberde des Einverständnisses und setzte dann seinen Weg mit Doris fort.
Sämmtliche Gäste waren im Landhause versammelt. Es war unter ihnen jene lärmende, unbehagliche Stimmung verbreitet, die jedem Tischplacement vorangeht. Die Geheimräthin warf wüthende Blicke auf ihre Tochter, daß diese Herrn von Rechting sich zum Tischnachbar erkoren und damit die Absichten der Mutter durchkreuzt hatte, die natürlich den Platz an der Seiten des Präsidenten für sie bestimmt hatte, und dazu machte der Geheimrath ihr noch Vorwürfe, daß sie ihn vor zwei eng an einander gerückte Tischbeine gesetzt hatte. Rechting zog einen Augenblick eine finstere Stirn, als er sah, wie Lideman seiner Frau den Arm bieten wollte. Er schien zufrieden, als er sah, wie diese mit einer geschickten Bewegung diese Absicht vereitelte und am Arme des jungen Lichtner zu Tische ging. Aber zuletzt ist Essen und Trinken der beste Regulator für die Stimmung.
Während die Dienerschaft des Präsidenten die Platten unter den Gästen umherreichte, flüsterte die Geheimräthin ihrem Manne immer etwas in’s Ohr. Dann, als er gar nicht darauf einzugehen Lust zeigte, stieß sie ihn an – erst leise, dann stärker.
„Ja doch, mein Engelchen, ich will ja, wie Du willst – aber warte nur bis zum Sect! Das heißt, ich hoffe doch, daß es Sect geben wird. Siehst Du, da ist er schon.“
Man brachte die Flaschen in Eiskübeln. Die Diener gingen mit den Flaschen um den Tisch und gossen ein. Der Geheimrath trank einige Gläser bis auf die Nagelprobe aus.
„Menagire Dich,“ flüsterte seine Gattin ihm zu, „denn sonst kannst Du nicht reden.“
„Später, später, meine Nachtigall.“
„Nein, nein, jetzt will ich.“
Und sie ließ von einem silbernen Löffel das Glas erklingen und gab ihrem Manne einen leisen Stoß, zum Zeichen, daß der feierliche Moment des Sprechens gekommen sei. Als gehorsamer Ehemann erhob sich dann der Geheimrath und begann nach einigen Augenblicken tiefen Sinnens:
„Meine verehrten Freunde und theuren Gäste. Ich muß Ihnen eine höchst erfreuliche Nachricht mittheilen –“
„Was ist Ihnen, liebe Else?“ flüsterte Erich der Tochter des Ehepaares zu. Er hatte soeben gefühlt, wie sich die Hand des Mädchens krampfhaft auf die seine legte.
„Meine Verlobung mit dem Präsidenten soll verkündet werden,“ war ihre fast klanglose Antwort. „Eher gehe ich in’s Wasser.“
Erich blickte sie an und ließ das Auge so lange auf ihr weilen, bis der Geheimrath den verlorenen Faden wieder gefunden hatte.
„Eine höchst erfreuliche Nachricht,“ fuhr Else’s Vater fort, „die Sie alle auf das Angenehmste überraschen wird –“
Aller Augen hingen an seinen Lippen, er aber schwieg wieder, den Gedanken im Innern suchend, bis die Geheimräthin ihm zuflüsterte – dann von seiner Seite neuer Anlauf:
„Einer unserer strebsamsten und verdienstvollsten Männer – eine Familie, die Sie alle kennen –“
Neues Stocken – und tiefer Blick in das vor ihm stehende Glas voll perlenden Sects. Nun aber erhob sich Rechting und ergriff statt seiner das Wort:
„Was mein Herr Vorredner, bewegt und überwältigt von freudigen Gefühlen, Ihnen, meine Herrschaften, mitzutheilen nicht fähig war, das mögen Sie aus meinem Munde erfahren! Ja wohl – einer unserer strebsamsten, verdienstvollsten Männer, der liebenswürdige Wirth dieses Hauses, Herr Geheimrath von Wandelt, ist in Anerkennung seiner hohen Verdienste um den Staat mit dem Stern des Verdienstordens zweiter Classe von unserem allergnädigsten Herrn ausgezeichnet worden. Herr Geheimrath von Wandelt lebe hoch!“
Allgemeines Hoch und Gläserklingen! Dem Geheimrath blieb fast das Gesicht stehen, vor Erstaunen, vor Rührung.
Seine Frau theilte diese Empfindung indessen nicht; sie hätte den unliebsamen Unterbrecher mit ihren Blicken in die Erde bohren mögen. Was hatte sie von dem Sterne, wenn ihr der Coup mit der Tochter mißglückt war! Der günstige Augenblick, der ganze Effect war dahin. Aber wie bewegt drückte Else dem Sprecher die Hand – wie dankerfüllt! Gerührt fiel der Geheimrath dem jüngeren Collegen in die Arme.
„Wenn Sie wüßten, wie lange ich nach diesem schönsten aller Gestirne geschaut habe! Alle Collegen hatten ihn schon an der Brust; nur ich nicht – Und jetzt – aber woher wissen Sie denn? Natürlich vom Minister!“
„Sie haben es errathen.“
„Constanze, Geheimräthin, wie wird Dir? Du hast jetzt einen gesternten Mann.“
„Ja, daß Du einen Stern hast, leider Gottes! das merke ich; denn sonst hättest Du die Geschichte nicht so albern anfangen können. Deine Gedankenschwachheit – die wird immer bedenklicher. Und was der Stern zu bedeuten hat, das weiß ich. Nächstens kommt Deine Pensionirung. Und dabei keine Partie für unser Kind!“
Nach Tische zerstreute sich die Gesellschaft in den Garten. Der Präsident hatte noch für Ueberraschungen aller Art gesorgt, um seine Gäste zu ergötzen. Auf dem Wasser schwammen flammende Schwäne; Blumen- und Pflanzengruppen stiegen in farbigem Lichte aus der Nacht auf, wie hervorgezaubert aus tiefem Schatten in glühendes Licht, und aus Bosquets schmetterten plötzlich fröhliche Fanfaren einer vollen Regimentsmusik, die Festlust der Gäste mit bekannten heiteren Melodien beschwingend.
Durch einen seiner Diener wurde Lideman abgerufen. Der Mann hatte ihm etwas in’s Ohr geflüstert und nach einem kleinen Pavillon gezeigt, der in der Nähe des Landhauses lag. Mit einer gewissen Hast schlug Lideman die Richtung nach dem Pavillon ein. In den Schatten des Gebäudes tretend, schien er Jemand zu suchen. Niemand war da. Im Begriffe, sich eben wieder zu entfernen, wurde er plötzlich von einem jungen Menschen angeredet, der eine Mütze mit irgend einer Auszeichnung trug. Es war keine militärische, sondern eine, wie sie die Diener größerer Häuser tragen.
„Pechner, was thun Sie hier?“ war die hastige, fast erschrockene Anrede an den jungen Menschen. „Habe ich Ihnen nicht verboten, zu mir zu kommen, wenn Leute bei mir sind?“
„Ja, ja,“ flüsterte der Andere, „aber wenn Gefahr im Verzuge ist –“
„Gefahr? Unsinn! Wie so?“
„Mein Herr scheint den Braten gerochen zu haben. Er fragte diesen Abend nach dem Schriftstücke und nahm mich in’s Gebet. Aber ich – ich leugnete Alles.“
„Daran haben Sie recht gethan. Bleiben Sie dabei! Aber nun gehen Sie und seien Sie vorsichtiger!“
Lideman drückte ihm etwas in die Hand. Der Bursche wollte sich entfernen, aber dann kehrte er noch einmal um.
„Heute Morgen,“ sagte er, „sah ich den Polizei-Präsidenten aus dem Zimmer meines Herrn kommen und hörte, wie er beim Abschiede zu diesem sagte: ‚Es ist bereits Jemand abgeschickt worden, um an Ort und Stelle die Sache zu untersuchen, weitere Spuren des Schuldigen zu verfolgen. Wir werden wohl auf seine Fährte kommen.’“
„Still, still!“ Man kommt.“
Damit drängte er den Burschen auf die Straße hinaus. [139] Es hatten sich allerdings Schritte vernehmen lassen, und wenn Lideman sich in dem Augenblicke umgewandt hätte, so würde er eine Gestalt bemerkt haben, die sich an der Wand der Gebäude hinschlich, um sie Beide zu beobachten. Es war die nämliche Erscheinung, die kurz vorher an Erich wie an einen Vorgesetzten herangetreten war. Als Lideman seine Schritte der Gesellschaft wieder zuwandte, war der Mann verschwunden. – –
Peinvollere Stunden, als die während der Tafel, hatte Doris noch nie durchlebt. Das Gefühl ihrer Schuld lastete schwer auf ihr, und welches Gesprächsthema auch der Tischnachbar anschlagen mochte, er bekam nur halbe Antworten, oder die Antwort war vollständiges Schweigen. Lichtner suchte das Gespräch auf Else zu lenken, und wurde nicht müde, immer wieder dieses Thema anzuregen, so unbefriedigend auch die Auskunft war, welche er von Frau von Rechting erhielt; diese war ihm als eine der liebenswürdigsten Frauen geschildert worden, und gerade ihm gegenüber zeigte sie das jetzt so wenig.
Ihre Blicke gingen forschend, fragend, bittend, betheuernd nach ihrem Mann hinüber, aber Erich hatte deren nicht Acht. Er schien an der Seite Else’s in der heitersten Laune zu sein, und von der herben Strenge, die er seiner Gattin gezeigt hatte, war nichts mehr in seiner Stimmung zu entdecken; Doris hätte in Thränen ausbrechen mögen. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht aufstehen und den Saal verlassen sollte. Sie machte wirklich Miene, unter irgend einem Vorwande sich von ihrem Nachbar zu entfernen. Da traf sie der Blick Erich’s – gebietend, bannend. Sie blieb. Wie eine Erlösung empfand sie es, als die Geheimräthin das Zeichen zum Aufheben der Tafel gab.
„Wollen wir nicht nach Hause gehen, Erich?“ fragte sie scheu.
„Nur noch einige Augenblicke!“ erwiderte er. „Es hat mich Jemand um eine Unterredung gebeten.“
Damit begnügte sie sich. Sie verlangte nicht zu wissen, wer dieser Jemand war. Das Wort ihres Mannes war ihr genügend; denn dieses Wort war Wahrheit allerwegen. Vielleicht würde selbst auch dann nicht ein Gefühl von Eifersucht in ihr Herz Eingang gefunden haben, hätte sie gesehen, daß Else auf Erich wartete und dieser mit dem jungen Mädchen nach einer Stelle des Gartens sich begab, wo sie Beide unbelästigt von Zeugen waren.
Die innere Bewegung führte Doris weiter; sie wurde von der Macht ihrer Empfindungen, von dem Anstürmen ihrer Gedanken fortgezogen.
„Und das Weib schauete an, daß von dem Baume gut zu essen wäre und lieblich anzusehen, daß es ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte.“ Diese Worte kamen ihr in die Erinnerung, Eva und Magdalena! In diesen beiden Namen ist die Leidensgeschichte, die pathologische Seite des Weibes erzählt, all das Schwanken und Wollen und Kämpfen, all die Zuckungen zwischen Schuld und Reue, Versuchung und Zerknirschung, Genuß und Abscheu, Jubel und Thränen, Taumel und Verzweiflung eng geschichtet in ein Herz, mag dieses unter den Bäumen des Paradieses wandeln, oder in modernster seidener Robe durch die glänzende Pracht unserer Salons rauschen. Das Herz des Weibes ist Eva und ist kein anderes geworden, nur die Toilette hat es gewechselt. Und was hat Doris mit Eva und Magdalena gemein? Alles Schritt für Schritt. Eva – ja. Aber Magdalena? Es ist wahr, sie hat nichts gethan, was ihr äußerlich den Nimbus einer unbescholtenen Frau hätte rauben können; und doch bekannte sie sich schuldig! Es giebt ein Magdalenenthum des Gedankens, des Gewissens, und dem war Doris verfallen.
Ein Geräusch weckte sie aus ihrem tiefen Sinnen. Sie sah sich wieder in dem Pavillon am Wasser – sie war nicht allein. Ein Schreckenslaut entfuhr ihren Lippen.
„Herr Präsident – was soll das? Was wollen Sie von mir?“
„Eine Antwort auf die leise, discrete Frage, welche ich in meinem Geschenke an Sie gerichtet habe – weiter nichts.“
„In welchem Geschenke?“ stotterte Doris.
„Deuten Sie es nicht schlimmer, als es ist! Es ist ja nur ein stammelnder Ausdruck meiner Gefühle für Sie. Was soll ich sagen? Treiben Sie mich nicht zum Aeußersten. O bleiben Sie! Bringen Sie mich nicht ganz von Sinnen!“
Diesmal blieb Doris nicht. Mit ein paar Schritten war sie aus dem Pavillon. Erich, Erich! rief, wie um Hülfe flehend, Alles in ihr; ihr pochendes Herz, ihre flammenden Blicke, ihre jagenden Schritte. Da kam Erich ihr entgegen. Wie gebrochen sank sie in seine Arme, und mühsam kamen die Worte von ihren Lippen:
„Erich – dort – ein Bube! O, wohin habe ich mich verirrt!“
Mit fliegendem Athem erzählte sie ihrem Manne, was ihr begegnet war. Er suchte sie zu beruhigen. Er führte sie in das Haus, mit der Weisung, daß sie ihn hier erwarten möchte. Er würde gleich zurück sein.
„Was willst Du thun? O bleibe! Dieser Mann ist zu Allem fähig!“
„Ruhig, mein Kind! In fünf Minuten bin ich wieder zurück.“
Erich nahm den Weg nach dem Pavillon. Auf halbem Wege traf er Lideman.
„Herr Präsident,“ trat er auf diesen zu, „nun ist mir ja auf einmal klar, warum mein Haus so große Anziehungskraft auf Sie geübt hat.“
„Ah! Ihre Frau Gemahlin hat Ihnen erzählt? Ein kleiner Scherz. Verzeihen Sie! Sie verrechneten sich. Fräulein Else ist ein sehr niedliches Mädchen, und Sie scheinen dort in jener Laube eine sehr intime Unterhaltung mit ihr gehabt zu haben.“
„Sie sind ein Verleumder.“
„Herr von Rechting!“
„Ich wiederhole es nicht einmal – tausendmal, wenn Sie wollen. Vor der ganzen Gesellschaft hier. Sie sind ein Meister der Lüge – ein Schurke. Nur ein solcher konnte mein Vertrauen täuschen, nur ein solcher – hier hob sich Rechting’s Stimme – als geheimer politischer Agent Verrath am Vaterlande üben, wie Sie das gethan haben.“
Nur die wie gezückte Dolche auf einander gerichteten Blicke der beiden Männer sprachen – sonst war es still um sie. Auch die Musik hatte eine Pause gemacht. Lideman schien von den Anklagen Rechting’s wie erstarrt, seine Lippen bebten, die fahle Blässe in dem brünetten Antlitze gab diesem etwas Leichenhaftes.
Sie waren nicht mehr allein; die Gäste sammelten sich um den Präsidenten, den factischen Gastgeber. Geheimrath von Wandelt an ihrer Spitze brachte ein Hoch auf denselben aus, ein bengalisches Feuer beleuchtete die ganze Gesellschaftsgruppe. In vollem Strahlenlichte trat jetzt jene unbekannte Gestalt aus dem Gebüsche heraus und legte die Hand auf die Schulter des Präsidenten mit den Worten:
„Im Namen des Gesetzes sind Sie verhaftet.“
Mit einem Schrei sank die Geheimräthin in den Arm ihres Mannes. Entsetzen hatte sich der übrigen Gäste bemächtigt. Während der Diener des Gesetzes mit dem Präsidenten abging, intonirte die Musik ein Potpourri mit der Melodie: „Ein freies Leben führen wir.“
[154]
Es war einen Tag später. In ihrem abendlich dunklen Zimmer saß Regina in stillem Brüten.
Sie war nicht bei dem gestrigen Feste gewesen. Sie kannte Wandelt’s, hatte jedoch keine geselligen Beziehungen zu ihnen, und die Geheimräthin lud nur Leute ein, die nach irgend einer Richtung für sie wieder ausgiebig waren. Was sollte ihr dieses Mädchen ohne gesellschaftliche Stellung, ohne glänzende Toilette, die mit ihrer Persönlichkeit, ihren Anschauungen nicht jenen leichten Verkehr bot, welchen die Gesellschaft von ihren Theilnehmern fordert; die man als „Clavierlotte“ nicht einmal an das Piano setzen konnte, um einen Contretanz zu spielen! Was hätte auch für Regina selbst das Fest Verlockendes gehabt? Erich war ja nicht da! Daß er sobald wieder zurückkommen, daß seine Rückkehr eine Katastrophe, wie die eben geschilderte, herbeiführen würde, das hatte sie nicht geahnt. Sie brauchte keine anderen Menschen, keine Zerstreuung. In ihrem Stübchen mit sich allein zu sein, mit ihren Empfindungen, ihren Hoffnungen, ihrem Hinausträumen und Hinstreben auf ein ersehntes Ziel – wo hätte es für sie einen höhern Genuß geben können? Geliebt, geliebt von dem Manne, von dem sie es sein wollte – sie keine Einsame mehr!
Sie wußte, was sie that, als sie Doris zu dem Feste freundlich hindrängte. Sie hatte nie mit Lideman ein Wort ohne Zeugen gesprochen, aber sie verstand ihn, durchschaute ihn und seine Absichten. Er war ihr stiller Verbündeter. Durch ihn konnte sie zu ihrem Ziele gelangen, konnte das Band, das Doris und Erich vereinte, zerrissen werden. Und wenn die Dinge zwischen Beiden ferner eine Entwickelung wie bisher nahmen, dann war sie ihres Sieges gewiß.
Erich, Erich! Der Gedanke an ihn versetzte sie wie in eine glühende Atmosphäre, die ihr den Athem zu rauben drohte. Sie sprang von dem Sitze und riß das Fenster auf, um die Abendluft hereinströmen zu lassen. Sie hörte nicht, wie es an ihre Thür klopfte. Ein zweites Mal, stärker. Ihr Herz zog sich in jäher Bewegung zusammen. Wenn Erich es wäre – wenn er zurückgekommen! Nein, der kahle Schädel ihres alten Freundes über ihr erschien in der Thür.
Herr Warbusch setzte sich, ohne ihre Einladung abzuwarten, auf einen Stuhl, schlug die kurzen Beine über einander und klatschte vor Freude mit beiden Händen auf dieselben. So hatte ihn Regina nie gesehen, und Herr Warbusch las auch ganz deutlich die stumme Verwunderung darüber in ihrem Gesichte.
„Wissen Sie denn noch nichts, verehrte Freundin? Leviathan ist geborsten – mit eitel Geprassel und Gestank, daß das Entsetzen darüber heute noch wie ein Dunstkreis über der Stadt steht.“
„Was ist? Wer?“
[155] Die Fragerin ahnte etwas, aber sie wagte es nicht zu denken.
„Wer, wer?“
„Er – der hier unten in dem winzigen gesellschaftlichen Gewimmel die Rolle übernommen, die droben über uns am Firmamente Jupiter spielt: alle Bahnen zu kreuzen, zu verwirren, Planeten wie Asteroiden. Nun ist er ausgebrannt, Schlacke geworden. Auch sitzt er hinter festen Riegeln!“
„Was? Wer?“
Es war fast wie ein Schrei, der sich ihren Lippen entrang. Nun wußte sie alles, nun hätte der Alte Lideman’s Namen gar nicht mehr zu nennen brauchen. So lebhaft von Freude und innerstem Vergnügen war dieser jedoch bewegt, daß ihm völlig die Wandlung entging, die mit Regina vorgegangen war. Sie wankte nach einem Sitze und saß da, als hätte ihr Herz zu schlagen aufgehört. Ihre Züge waren wie verfallen; der Alte merkte es nicht. Er schlug immer wieder mit den Händen auf die Kniee und stieß fröhliche Lachlaute aus. Dabei erzählte er die näheren Umstände und bemerkte, daß Herr von Rechting zu dem Feste gekommen.
„Und wissen Sie, verehrte Freundin, wer dem Herrn Präsidenten die Larve, die er der Welt gegenüber trug, herabgerissen? Ich – ich war das Werkzeug.“
„Sie haßten ihn?“
„Ja, ja – ich haßte ihn. Nicht darum, weil er der Präsident, der Disponent des Geschäftes und ich der gehorsame Buchhalter. Solch gemeiner Gesinnung werden Sie mich nicht für fähig halten. Wer sich über die Erde hinausschwingt , der lernt anders denken. Er freilich behandelte mich immer wie einen Untergebenen – einen gedankenlosen Zahlenmenschen, eine Rechenmaschine, der nur eine Marotte hatte, die Sternguckerei. Diese Marotte schien ihm aber ganz bequem. Dadurch, meinte er, würde ich nicht sehen, was unter meinen Fingern hier unten vorging. Darum schenkte er mir auch ganz besonderes Vertrauen – die Correspondenz zu besorgen, die er – was sagen Sie dazu? – als geheimer politischer Agent mit dem Nachbarstaate führte. In Chiffreschrift natürlich. Aber die war nicht schwer zu errathen. Einem Schurken dienen zu müssen, der mein schönes, stolzes Vaterland verrieth! O Fräulein, oft ging es über meine Kraft, und es wühlte und gährte in mir, und ein paar Mal hatte ich darüber schon meinen Wasserkrug am Brunnen zerschlagen aus Unmuth, daß ich noch länger zusah. Das Rumoren über Ihnen, das war oft der Ausdruck meiner Wuth darüber. Einmal aber machte ich doch Miene, ihm einen deutlichen Fingerzeig zu geben, daß ich Alles durchschaute. Ich konnte es nicht länger mehr verantworten. Da bekam ich von ihm eine Einladung zum Diner und eine Cigarre – etwas ganz besonders Feines – sechshundert Mark pro Mille. Ja, etwas ganz Besonderes unterm Deckblatte – Sie haben mich damals in meinem Zustande gesehen. Der Doctor meinte zwar – eine Blutstockung. Es war aber doch Gift. Nun war ich, dem Präsidenten gegenüber, wieder mäuschenstille und wurde wieder dumm wie ein alter blödsinniger Sterngucker. Sehr dumm mußte ich aussehen, damit er glaubte, ich hätte nichts gemerkt, woher die Blutstockung gekommen. Ha, ha! Wie er mich bedauert hat, mit seinem unschuldigen Krokodilgesicht! Und er hat mich behalten – das war die Hauptsache. Meine Zeit abwarten – das mußte ich können. Die Beule mußte reif werden, die That – das Verbrechen positiv. Was kam heraus am Ende? Nichts Besondres; blos ein Bischen Auslieferung unseres Mobilisirungsplanes. Mit dem schuftigen Diener eines Generals hatte er sich zu diesem Zweck in Verbindung gesetzt – Pechner heißt der Mensch – ein Tölpel, den er durch Geld kirre kriegte. Die Pläne wurden aber nicht ausgeliefert. Ich war es, der sie in die Hände des Ministers zurücklieferte und die Anzeige machte. Darauf wurde Herr von Rechting entsandt. Ich weiß das vom Minister selbst – und das Uebrige – der Rest sind Schloß und Riegel und eine recht interessante Assisenverhandlung, zu der sich dieselben Menschen, die bei dem Präsidenten gegessen und getrunken und getanzt haben, um die Billets streiten werden.“
Regina schien während der Aufklärung, die sie hier durch ihren Nachbar empfing, äußerlich theilnahmlos, als wäre sie jeder Bewegung beraubt. Im grellen Gegensatze dazu stand die von äußerster Befriedigung eingegebene bewegliche Freude des alten Buchhalters.
„Nun, was sagen Sie zu dem Allen, verehrte Freundin? Habe ich das nicht gut gemacht? Oft schon schwebte es mir auf den Lippen, um Ihnen gegenüber von meiner geheimen Wissenschaft etwas verlauten zu lassen, aber immer wieder habe ich es zurückgedrängt. Man soll nie sagen, was man thun will. Und nun habe ich eine Sonne ausgelöscht. Wenn Sie wollen, treibe ich mit meiner Wissenschaft eine Art Astrologie. Was mich von Menschen und deren Thun umwimmelt, und was meinen blöden Augen unerklärbar ist, das stelle ich mir allemal unter einem Sternbilde vor. Jedem Menschen, der mich interessirt im Guten oder Bösen, geb’ ich den Namen eines Lichtkörpers, eines Fixsternes, Planeten oder Asteroïden, und nun aus den Bahnen und Bewegungen derselben ihr Zuneigen und Abirren beobachtend, deute ich mir das Leben um mich – das oft viel verworrener ist, als die Bilder da oben. Ah, wie prächtig!“
Mit diesem Ausruf war der Alte an das Fenster getreten und hatte es aufgerissen.
„Sehen – sehen Sie doch! Das hatte ich nicht erwartet! Da haben Sie die Situation. Venus war mit Jupiter in eine Conjunction getreten – und nun steht er wieder ferner von ihr als je. Kommen Sie mit hinauf! Wir wollen das weiter verfolgen. Der Himmel ist so hell –“
„Nein – nein – mein Himmel ist dunkel – dunkel!“ rief es in der Verzweifelnden.
Sie wies es ab, seiner Einladung zu folgen. Unter anderen Umständen würde diese Weigerung Herrn Warbusch verletzt haben. Aber heute war er in gehobener Stimmung. Er hatte, um in seiner eigentümlichen Anschauungsweise zu sprechen, einen Stern erlöschen machen. Der Präsident war durch ihn gefallen. Diese Genugthuung nahm er mit hinauf in seine Stube.
Regina kannte die Einzelnheiten der Vorgänge bei dem gestrigen Feste noch nicht. In ihrer inneren Anschauung ergab sich jedoch bald eine tiefgreifende Beziehung zwischen jenen Begebenheiten und ihrem eigenen Schicksal. Auf Lideman und sein Gelingen bei Doris war ihr ganzes Planen und Handeln gerichtet. Und nun waren alle diese fein gezogenen Linien gestört; ihre Berechnungen hatten sich als falsch erwiesen; jede Aussicht auf den Besitz des geliebten Mannes war ihr auf immer entrückt. Ihr Blick ging hinauf an den gestirnten Himmel. Wie oft war sie in Gedanken an Erich der Bahn Jupiters da oben gefolgt – nun war er von Venus ferner denn je!
Jetzt begann das Gewissen sein Gericht über ihr Thun. An starken Stämmen rüttelt der Orkan am wildesten, und der Sturm ihrer vom Gewissen aufgerüttelten Gedanken zog über sie hin. Immer wieder bäumte sie sich mit ihrer zähen, vollen Widerstandskraft dagegen auf. Mit der ganzen Energie ihres Willens, mit vollem Bewußtsein war sie daran gewesen, einen frevelhaften Eingriff in Herzensrechte zu machen, die in sich selbst und durch das äußere Gesetz geschützt waren. Ja – das hatte sie gethan. Warum aber war Gott an ihr vorübergegangen, als er die Stirn anderer Frauen mit jenem geheimnißvollen Zeichen segnete, durch welches das Weib zur Liebe und zum Glücke bestimmt ward?
Sie mußte abseits stehen bleiben. Keine starke Hand preßte sie an ein Herz, Niemand flüsterte ihr zu: „Du bist mein!“ Sie hatte das früher auch wohl gedacht, aber jetzt empfand sie es erst mit voller Gewalt, denn er, der Einzige, für den sie Leben und Alles gelassen hätte – er war ihr verloren! Warum hast du mich erschaffen – grollte sie zu Gott empor – warum hast du ein Weib aus mir gemacht, wenn du mich nicht wie mein Geschlecht zur Liebe erschufst? Habe ich kein Herz wie die Anderen? Pocht das meine nicht in volleren Schlägen, als das von Doris, die ein Recht auf diesen Mann gewonnen hat? Warum hast du mir das Blut des Südens verliehen, warum dieses heiße Herz in die Brust gesenkt, wenn es sich innerlich verzehren soll? Warum hast du mir diese Gestalt gegeben und keine andere, welche vor der Welt in allen Reizen einhergeht und gefällt und andere Herzen entzündet? Und wenn du das brennende Feuer südlicher Lebenslust in mir entzündetest – warum benahmst du mir dann den unbefangenen Genuß? Wozu gabst du mir daneben die rauhe, ungelenke Art des Nordens, warum den nordischen Zug des Gedankens, der aus der Leidenschaft ein Raffinement macht, des sittlichen Bewußtseins, das über die Leidenschaft wachen soll und dieselbe richtet? Warum lässest du mich die Schuld derselben so schwer empfinden? Ergebung in einen höheren Willen – Demuth und Geduld! Ja, das sind [156] die Lehren, die meiner Jugend eingepflanzt sind, die Lenkseile, die dem Menschen, die einem einsamen, von Liebe verlassenen Weibe an die Hand gegeben werden. Schwache – elende Hülfen – Beschwichtigungen, mit denen man blutleere Individuen zur Ruhe bringt! Ich kann an einem Schöpfer keine Liebe erschauen, der dem Geschöpfe nur die Qual giebt.
So tobte wilder Aufruhr in Regina’s Seele. Dann trat jener Moment ein, wo ein ruhigerer Gang der Gedanken sein Recht verlangt, wo sie sich fragte, wie es denn möglich sei, daß ein Vorfall, der sie äußerlich gar nichts anging, alle Seelenkräfte in ihr in diese heftigen Schwingungen versetzen konnte. War denn mit der Verhaftung des Präsidenten in der That für sie Alles verloren? War nicht Doris von Erich ertappt worden? An jenem Abende, wo dieser bei ihr war, hatte sich die Empfänglichkeit seines Herzens für die Aeußerungen des ihrigen offenbart. Wenn es von seiner Seite auch noch nicht Liebe war, so konnte diese doch daraus entstehen, sobald er von Doris sich losgerissen hatte. Der Schmerz ist in solcher Lage ein mächtiger Vermittler.
Das war eine Combination ihres Gehirns, die aber im nächsten Augenblicke wieder machtlos war – vor Einem, das sich wie mit dunklen schweren Fittigen auf sie legte. Es war die Schuld, die aus dem Bewußtsein ihres Gewissens vor ihr aufstieg. Jede ihrer Handlungen von dem Momente an, wo sie mit der Leidenschaft zu Erich im Herzen in das Leben Beider getreten war, wo sie den Brief an Erich gerichtet hatte – jede war ein Glied in der Kette derselben. Sie war nicht besser, als der Mann, der hinter Schloß und Riegel saß – ein Irrstern, wie dieser. Das Ehrenkleid ihres Charakters war beschmutzt – sie war der Liebe Erich’s nicht mehr werth.
Wie von der Gewalt Gottes, so wurde sie von diesem Bewußtsein getroffen. Unter dieser tiefsten Demüthigung, die über ein Weib kommen kann, sank sie zu Boden. Ihre wirren Gedanken gingen in jenen Abend zurück, wo sie zu sich die Worte gesprochen hatte: Ja, ich will! – an den See, unter die rauschenden Bäume, zu den schwarzen, jagenden Wolken darüber, in das dunkle unbewegte Wasser. Wenn ein Mensch darin versinkt – eine augenblickliche Bewegung, ein Laut, dann wieder Stille, als wenn nichts geschehen. Alle Qual ist geendet.
Ein paar Minuten später verließ sie ihre Wohnung.
Die Verhaftung Lideman’s am Abende des Gartenfestes hatte unter den Gästen eine Bestürzung hervorgerufen, die in einer allgemeinen Flucht endete. Jedermann rief nach Dienern, nach Wagen, welche letztere, weil auf eine spätere Stunde bestellt, natürlich nicht da waren. So begnügten sich die Meisten, zu Fuß den ziemlich langen Weg nach der Stadt anzutreten.
Doris war der Anblick der peinlichen Situation erspart geblieben. Sie wartete vorn im Hause, eingehüllt in ihren Mantel, auf ihren Mann. Aber sie erfuhr, was vorgegangen war. Einer der Diener eilte mit verstörten Mienen durch das Zimmer und rief ihr die Neuigkeit zu. Zu gleicher Zeit erschien indeß Erich, bot ihr den Arm und sagte nichts als:
„Es ist gut. Jetzt nach Hause!“
Der Wagen, der einzige im Moment gegenwärtige, hielt noch von der Ankunft Erich’s her vor der Thür; Erich half seiner Frau hinein und setzte sich an ihre Seite. Kein Wort wurde zwischen dem Ehepaare gewechselt, aber leise Seufzer aus Doris’ Brust sagten dem Gatten deutlich genug, was sie unter all den Vorgängen des Abends litt. Draußen huschten Häuser und Menschen im Schatten vorüber. Das Schweigen fing an, Beiden peinlich zu werden.
„Sag’, was ist denn vorgefallen, Erich?“ fragte Doris endlich in scheuem, gepreßtem Tone.
„Der Präsident ist verhaftet worden,“ war die Antwort.
Dann war es wieder still, wie vorher.
„Erich, Erich!“
„Was willst Du, mein Kind? – Wir werden bald zu Hause sein.“
Es war Doris, als müßte sie aus dem Wagen springen und ihren Weg zu Fuß fortsetzen – überall hin, wohin ihre Verzweiflung sie führte, nur nicht nach Hause. Und doch kamen sie ihrer Wohnung immer näher, an den großen eleganten Häusern des fashionablen Stadttheils vorbei, inmitten deren ihr bescheidenes Haus lag. O, hätte sie es nie verlassen! Sie zog die Kapuze ihres Mantels über ihre Stirn. Die Menschen, die zu beiden Seiten auf den Trottoirs sich in lauer Sommernacht ergingen, sie erschienen ihr, als bildeten sie ein Spalier und erzählten sich die Geschichte von Lideman; sie schienen auf sie gewartet zu haben, um mit Fingern auf sie zu deuten. Die Welt mußte sich ja immer mit ihr beschäftigen – das war die schöne, reizende Frau so gewöhnt. Da hielt der Wagen vor dem Hause. Doris wartete nicht, bis ihr Mann ausstieg und den Schlag öffnete, um ihr hinauszuhelfen. Mit einer heftigen Bewegung verließ sie den Wagen und eilte der Pforte des Häuschens zu. Wie leichten Herzens war sie vor wenigen Stunden daraus geschieden und wie schwerbeladen in ihrem Innern kehrte sie zurück!
Ihr Herz drängte sie, nach Liddy zu sehen. Sie flog die Treppe hinauf. Auf dem Corridor aber, wo sich die Wege nach dem Zimmer des Kindes und dem Arbeitsgemache Erich’s trennten, blieb sie stehen. Langsam kam er die Treppe herauf. Jetzt stand er vor ihr, eisige Ruhe in den Zügen. Ihre Kniee zitterten, und sie empfand etwas, als müßte sie vor ihrem Gatten niedersinken und ihn um Verzeihung bitten.
„Du willst nach dem Kinde sehen?“ Kalt und herzlos berührten sie Klang und Ausdruck seiner Stimme. „Ich muß noch arbeiten,“ fügte er hinzu, „bis spät in die Nacht.“
Damit ging er an ihr vorüber.
[170] Doris hätte niederstürzen mögen, aber sie hielt sich aufrecht. Es kam jetzt – gegenüber der herben Begegnung, die sie in ihren Gedanken nicht verdient hatte – die Energie des verbissenen Schmerzes über sie. Mit festem, energischem Schritte nahm sie den Weg nach dem Zimmer, in welchem das Kind mit dem Mädchen schlief. Beide lagen im leisen Schlafe. Die Lampe war tief herabgeschraubt, und der grüne Schirm warf auf das Kind einen gedämpften Schein, der, wie es dem Reflex von Grün eigenthümlich, Liddy mit einem rosigen Schimmer verklärte. Doris nahm sich nicht die Zeit den Mantel abzunehmen. Sie beugte sich über das Bettchen und beobachtete die tiefen Athemzüge ihres Kindes.
Das blonde seidene Haar Liddy’s begann sich schon in Löckchen über der Stirn zu kräuseln; der zarte Mund war halb geöffnet und ließ zwei kleine Zähne sehen; das eine Händchen lag unter dem vollen Kinne – Liddy glich ihrem Vater in dem blonden Haar, in dem Schnitte der Nase und des Mundes, sogar in der Form der Nägel an den kleinen Händen. Doris glaubte in dem Kinde das Bild Erich’s zu sehen. Alles, was sie dem Gatten hatte vertrauen wollen, drängte über der Wiege mit erneuter Gewalt zum Aussprechen und sprengte die Bande, die sich um ihr Herz gelegt hatten. Erfaßt von einer Eingebung erhob sie sich, um das Zimmer zu verlassen. Allen Trotz, alles selbstsüchtige Gefühl von sich werfend, war sie auf dem Wege nach Erich, um sich rückhaltslos an sein Herz zu werfen und nicht eher wieder von ihm zu gehen, als bis er wieder seine liebewarmen Arme um sie geschlungen hätte.
Da hörte sie seine Thür gehen – seine Schritte nahmen die Richtung treppabwärts. Sie stürzte in den Salon, von dem aus sie nach der Straße sehen konnte. In Hut und Regenmantel ging er durch den Vorgarten, schloß diesen ab und verschwand auf der Straße. Sie war allein. Keine Frage, wohin er gegangen, keinerlei Verdacht stieg in ihr auf – nur die schmerzliche Empfindung überfiel sie plötzlich, daß sie ohne ihn war. Quälende Unruhe trieb sie zurück an das Bett des Kindes. Und was sie hier innerlich durchlebte, das waren Augenblicke der Selbstprüfung. Abgewandt allem Aeußern, zählte sie die Minuten nicht, die, zu Stunden werdend, über sie hinflogen – ihr innerer und äußerer Blick war auf das Kind gerichtet, das ihr Richter ward. War nicht die Schuld des Gedankens, deren sie sich Erich gegenüber zu zeihen hatte, durch eine andere und größere längst vorbereitet? Hatte sie ihren Mann geliebt, wie ein Weib denjenigen lieben soll, der ihr sein Leben gegeben hat, seine Ehre, sein Gut, seine Kraft, Herz und Gedanken – Alles, was ein Mann einem Weibe zu geben hat? War er ihr seit ihrer Verbindung das Erste und Höchste auf der Welt gewesen, hatte sie zu ihm fest im Herzen, stark im Gedanken gestanden, nur das suchend, was er wollte, mit zartem Verständniß ihn stützend, mit treuer Sorge ihn begleitend, nie an sich selbst denkend, ihren Willen, ihre Neigungen, ihre Launen seinem besseren Ermessen unterordnend, nichts für sich begehrend, Alles für ihn, nichts liebend, außer was er liebte, sich selbst wollend und sehend nur in ihm allein?
Das Kind bewegte das Händchen, als gäbe es eine Antwort. „Nein,“ schien es zu sagen, „so hast Du mich nicht geliebt!“ Aus Doris’ Augen stürzte ein Thränenstrom. Sie riß das Kind aus dem Schlafe und drückte es leidenschaftlich an ihre Brust, sodaß Liddy zu weinen anfing.
„Was ist denn geschehen, Doris?“
Es war Erich’s Stimme, die so fragte. Doris hätte vor Freuden aufjauchzen mögen, daß er wieder bei ihr war. Eine einzige Bewegung deutete ihm den Zustand ihrer Seele. Aber er wies auf das Kind.
„Laß’ es schlafen!“ sagte er kurz, fast herb.
Wie Frost wirkte diese Bemerkung auf Doris. Sie wandte sich nicht ihrem Manne zu, sondern bettete das Kind wieder auf sein Lager.
„Ich glaubte Dich schon längst zu Bett, Doris.“
„Ich konnte nicht schlafen, Erich. Es ist fast schon ein Uhr; Du warst fort, und ich ängstigte mich um Dich.“
„Ich fand ein Billet des Ministers vor, das mich zu ihm [171] rief. Eine sehr wichtige Sache – darum mein Ausgang, mein längeres Fortbleiben.“
„Ein Wort, Erich – und ich wäre beruhigt gewesen.“
„Warst Du je um mich beunruhigt?“ fragte er bitter. „Es war ja eine eilige Sache.“
„Ich tadele Dich auch nicht, Erich. Ich bin zufrieden mit Allem, was Du thust.“
Er warf einen überraschten Blick auf seine Frau, denn diese ergebene Stimmung an ihr war ihm neu. Dann aber ging er nach einer hingeworfenen Frage über das Befinden des Kindes mit kurzem. „Gute Nacht!“ hinaus.
Vielleicht hätte sich sein Herz ihr milder, weicher erwiesen, wenn nicht etwas Anderes, Neues dasselbe schwer bedrückt hätte.
Erich war, wie er bereits bemerkt hatte, vom Minister ein Billet zugegangen, das er in sein Zimmer eintretend auf seinem Schreibtische fand. Der Inhalt hatte ihn noch an demselben Abende zu seinem Chef berufen, so spät es auch sein möge. Er leistete dem Rufe Folge und machte sich auf den Weg.
Es war kurz vor zwölf Uhr, als er beim Minister eintrat. Derselbe empfing ihn mit großer Freundlichkeit und mit jenem Schmunzeln, hinter dem sich bei großen Herren stets eine Ueberraschung zu verbergen pflegt.
„Ich weiß Alles,“ sagte er im Eintreten zu Erich. „Sie sehen, mein College, der Justizminister, war mit seinen Weisungen an die Criminalbehörde nicht lässig.“
„Ja, das muß ich sagen,“ bemerkte Erich. „Ich war von der Reise zurückgekommen, aus dem Eisenbahncoupé heraus zu Excellenz geeilt, um meinen Bericht zu erstatten – von hier nach Hause, um Frau und Kind zu begrüßen – “
„Frau von Rechting geht es gut?“
„Wenn eine Frau bei einem Feste ist, geht es ihr immer gut,“ bemerkte der Assessor mit scherzendem Tone.
„Frau von Rechting zürnte mir wohl, daß ich ihr ihren Mann entführte?“
„Um so glücklicher war sie, Excellenz, als ich zurückkam.“
„Man freut sich, eine so glückliche Ehe zu sehen, wie die Ihre. Bei welchem Feste war sie denn?“
„Meine Frau war bei Wandelt’s eingeladen.“
„Welch ein Zusammentreffen!“ rief der Minister.
„Und ich kam, sie von dem Gartenfeste abzuholen.“
„Noch besser!“
„Dort, Excellenz, bewunderte ich eben die Exactität, mit der unsere Vollzugsorgane arbeiten. Ich war ganz erstaunt, als ich, im Garten angekommen, schon auf einen der Criminalbeamten stieß. Seit meiner Rückkehr von der Reise waren kaum zwei Stunden vergangen.“
„Die Sache erklärt sich daraus, daß auf Ihren Chiffrebericht, den Sie mir sandten, hier Alles vorgesehen war. Sie haben dem Vaterlande, mein lieber Rechting, einen großen Dienst geleistet. Vielleicht haben Sie demselben einen Krieg erspart.“
„Die Anerkennung, Euer Excellenz, gebührt nicht mir, sondern dem Manne, der Ihnen die Anzeige gemacht und das kostbare Schriftstück in Ihre Hände zurückgegeben hat.“
„Ja, ja, Herr Warbusch! Es kam mir zu Statten, daß der Mann keine Ressorts kennt,“ sagte der Minister lachend hinzu, „und mir die Sache zur Anzeige brachte, statt dem Kriegsminister. Wer weiß, was geschehen würde, hätten unsere Nachbarn den Plan in die Hände bekommen! In dieser Beziehung war die Entdeckung von unberechenbarem Werthe. Ihr Verdienst halte ich dabei aufrecht, wenn Sie dasselbe auch schmälern wollen. Durch Ihren Scharfsinn, Ihren Eifer, durch Ihre Hingebung an die Sache haben Sie mir alle Maschen dieses Netzes von Verrath an die Hand gegeben. Ich mußte Beweise in Händen haben, um auf die Nachbarregierung eine Pression üben zu können. Quos ego! Und dieses Material haben Sie mir, lieber Rechting, durch Ihre Reise geliefert. Ich danke Ihnen. Um Ihnen aber einen Beweis zu geben, wie unzufrieden ich mit Ihnen bin, theile ich Ihnen mit, daß, nach einem Uebereinkommen mit dem Justizminister, Sie zum Staatsanwalt am hiesigen Orte ernannt worden sind.“
„Excellenz!“
„Der Fall Lideman soll Ihr erstes Debüt als Staatsanwalt sein.“
Es entstand eine Pause. Als der Minister den Schirm der Lampe in die Höhe schob, um an dem jungen Beamten den Eindruck seiner Freudenbotschaft zu beobachten, bemerkte er in den Mienen Rechting’s den Ausdruck der Bestürzung.
„Nun, lieber Rechting, Sie haben mir gar nichts darauf zu antworten?“
„Ich bin Euer Excellenz unendlich dankbar. Eine so hervorragende Stellung – es ist Alles , was ich mir nur wünschen konnte – “
„Aber?“ setzte der Minister in gedehntem Tone hinzu.
„Ich habe zu dem Verhafteten in persönlichen, geselligen Verhältnissen gestanden, und ich wünschte wohl, Eure Excellenz, daß gerade dieses Debüt mir erspart bliebe.“
„Um so mehr müssen wir darauf bestehen. Kein Anderer wäre wie Sie in der Lage, diese zum Mindesten dunkle Persönlichkeit zu beurteilen und hier werden Sie gleich eine glänzende Gelegenheit haben, Ihre Objectivität zu zeigen. Ein Vertreter des öffentlichen Rechtsbewußtseins muß an der Stelle, wo andern Menschen das Herz schlägt, das Strafgesetzbuch haben. Ich kannte aus meiner Praxis einen Staatsanwalt, der in zärtlichen Momenten zu seiner Frau sagte. ‚Ach, könnte ich Dich doch einmal anklagen!’“
Bei dieser scherzhaften Erwähnung vermochte Erich eine innere Bewegung nicht zu bemeistern. Er mußte an Doris denken, und damit verband sich gleichsam visionär eine Vorstellung wie von schmerzlichen Erfahrungen und schweren Conflicten, welche die freudige Stimmung verdüsterten, in die ihn sonst seine Beförderung versetzt haben würde.
Beim Abschied bemerkte der Minister ihm noch, daß er in den nächsten Tagen seine Functionen zu beginnen habe.
Am Tage nach jener Unterredung befand sich Rechting bereits in voller Arbeit. Seine Beförderung hatte er seiner Frau erst am nächsten Tage mitgetheilt, aber zur Mitwisserin der inneren Kämpfe, mit denen er an seine Aufgabe ging, machte er sie nicht. Doris war still in sich verschlossen, nicht unfreundlich. Sie gab sich offenbare Mühe, das, was trüb und schwer in ihrem Herzen war, durch eine leichte Miene zu verhüllen. Mit dieser nahm sie auch die Nachricht auf; sie erschien froh, weil sie wußte, daß eine derartige Stellung längst in Erich’s Wünschen lag. Dann aber ward es wieder stille zwischen den Gatten. Das Wort, das den Alp von ihrem Herzen nehmen sollte, wurde nicht gesprochen. Jedes erwartete von dem Andern den Anlaß dazu. Und Jedes scheute sich, zu beginnen.
Um so eifriger ging Erich an das ihm übertragene Werk, und im Laufe der Untersuchungen kam er auf Details, die ihm die mündliche Auskunft des alten Buchhalters nothwendig erscheinen ließen. Er suchte diesen Mittags zu einer Zeit, wo er wußte, daß der Alte nicht in seinem Comptoir war, in der Wohnung auf. Vielleicht sprach bei diesem Gange auch das Bedürfniß mit, sich nach Regina umzusehen. Seit seiner Rückkehr war sie nicht mehr bei ihm erschienen, hatte auch nichts von sich hören lassen. Er klopfte an ihre Thür; diese war verschlossen, auch keine Antwort erscholl von innen. Dagegen fand er Warbusch in seinem Stübchen. Diesen forderte er auf, sämmtliche Geschäftsbücher an die Staatsanwaltschaft auszuantworten. Möglicher Weise fänden sich in denselben Aufschlüsse über die Summen, die Lideman für seine Dienste von der Nachbarregierung bezogen hatte.
„Ich werde die Bücher des Bankvereins amtlich requiriren lassen, wie sich das von selbst versteht, Herr Warbusch. Der Zweck meines Kommens ist das Ersuchen, daß Sie Alles bereit halten möchten, damit die Sache selbst keine Zögerung erleidet.“
Wenn Warbusch mit seinen Händen auf den Knieen rieb, so war das ein Zeichen der Verlegenheit. Er that es auch jetzt und wiederholte mit gedehntem Tone:
„Amtlich, Herr von Rechting?“
„Sie werden diesen Abend im amtlichen Anzeiger meine Ernennung zum Staatsanwalt finden.“
Warbusch machte eine Miene der Ueberraschung. Es war derselben noch der Ausdruck einer andern Regung beigemischt, sodaß sich Rechting veranlaßt fand, nach der Ursache dieser auffallenden Erscheinung zu fragen. Warbusch machte Ausflüchte. Die Ursache seiner Ueberraschung sei die Freude darüber gewesen, daß hier einem Manne wieder einmal dasjenige würde, was ihm [172] von Gott und Rechtswegen gebühre. Weiter brachte der Beamte nichts aus dem Alten heraus.
Indem Rechting sich verabschiedete, fragte er nach Regina; die Thür unten sei verschlossen.
„Wenigstens zehnmal habe ich schon geklopft – mit gleichem Resultate, wie Sie, Herr von – Herr Staatsanwalt.“ Dann erzählte er, daß die Wirthin des Hauses, wie sie ihm gesagt, Regina zum letzten Male vorgestern Abend gesehen habe. Tief eingehüllt in ihren schwarzen Mantel, die Kapuze über das Gesicht gezogen, sei sie noch spät ausgegangen, wie das sonst ihre Gewohnheit nie gewesen. Fast unheimlich habe sie der Ton der Stimme berührt, mit der ihr Fräulein Regina „Gute Nacht“ gesagt habe.
Warbusch schloß mit der Aeußerung der Befürchtung, es möchte ihr etwas zugestoßen sein. Rechting schüttelte dagegen den Kopf. „Sie kennen doch unsere Freundin genugsam – sie hat ihre Eigenthümlichkeiten. Sie wird so unvermutet wieder eintreffen, wie sie gegangen, und ihre Aufklärung über die Abwesenheit wird eine sehr einfache sein.“
„Möchte es sein, wie Sie sagen, Herr von Rechting! Ich muß Ihnen beichten, daß ich eine namenlose Angst in mir trage. Das kommt davon, wenn sich ein so alter Esel, wie ich, an eine Person so attachirt, wie ich es mit Fräulein Regina getan habe. Wenn Sie wüßten, wie ich mich darüber oft ärgere! Glücklich ist nur der, der frei – und frei, wer sein Herz an kein menschliches Wesen hängt. Ich habe mich immer gefürchtet, mir einen Pudel anzuschaffen – und nun passirt mir das mit Fräulein Regina! Die Steuermarke wäre allerdings erspart – aber seit achtundvierzig Stunden ist Fräulein Regina weg!“
Beim Abschied rief Rechting dem alten Manne noch einmal den Zweck seines Kommens in’s Gedächtniß. Dann verabschiedete er sich. An Regina’s Thür horchte er wieder. Alles still.
„Sie werden sehen, Sie werden sehen,“ rief ihm Warbusch oben von der Treppe nach.
Dem alten Manne hatte die Anwesenheit Rechting’s eine achtbare Zurückhaltung auferlegt. Als dieser jedoch verschwunden war und er sich allein sah, fielen die Fesseln derselben. Seine innere Bewegung war so stark, daß sie ihren Ausdruck in einem lauten Selbstgespräch fand. „Den Proceß wird er selbst führen, der Herr Staatsanwalt! Welche Verstrickung der Dinge! Wird er es wirklich thun, auch wenn er sehen muß, daß seine eigene Frau – –? Die Bücher will er sehen – ja, ich muß sie ihm bringen lassen aber was der Herr Principal mir vor wenigen Tagen noch aufgetragen, es muß auch geschehen.“
Im Laufe des Tages ward Rechting auf amtlichem Wege das Ansuchen Lideman’s um eine Unterredung mit ihm mitgetheilt. Unter anderen Umständen hätte Erich dasselbe abgewiesen, so aber verlangte die Pflicht seines Amtes, daß der Staatsanwalt dieser Bitte genügte. Wie schwer wurde ihm dieser Weg nach dem Gefangenenhause! Wie eine trübe Ahnung lag es auf ihm. Aber Rechting war nicht der Mann, der einen gefaßten Entschluß aufgab – eine gegebene Zusage zurückzog. Die Begegnung sollte in dem Bureau stattfinden, welches der Staatsanwalt in dem Gebäude inne hatte.
Es war die erste schwere Stunde, welche der Vertreter des öffentlichen Rechtsbewußtseins mit seinem Herzen zu bestehen hatte. Der Mann, der nun vor ihm erscheinen sollte, war der Gegenstand seiner tiefsten sittlichen Empörung und des höchsten Grades von Abscheu geworden, den er gegen ein menschliches Wesen zu empfinden fähig war.
[186] Als Lideman in das zur Zusammenkunft bestimmte Zimmer trat, war der Eindruck, den Rechting von ihm empfing, ein mitleiderweckender. Die lächelnde vornehme Ruhe, die der Bankpräsident sonst zu zeigen pflegte, war von ihm gewichen. Er suchte nach einem Wort – er konnte nicht sprechen. Rechting fragte nach seinen Wünschen.
„Wünsche? Ich habe nur einen – den Tod.“
Lideman war ein so trauriges Bild menschlicher Vernichtung, daß Rechting die Erinnerung an den Aufschrei – den Hülferuf seiner Frau in sich wachrufen mußte, um sich nicht von Mitleid bemeistern zu lassen.
„Ich möchte nichts sehnlicher wünschen, als das Ende aller Dinge,“ nahm Lideman wieder das Wort – „wenn Eines mir nicht noch höher stände – meine Rechtfertigung vor der Welt.“
„Ihre Rechtfertigung, Herr Präsident?“
„Präsident!“ wiederholte der Gefangene mit dem Ausdrucke herben Schmerzes. „Die Rolle ist aus – Lideman sans phrase! Wenn ich nicht wüßte, daß die Ironie Ihnen fremd – nein, Sie spotten nicht, Sie sind ein Mann, der stets Gefühl und Herz hatte. Vielleicht werden Sie meine Bitte unterstützen – mit dem Ansehen Ihrer Person –“
„Diese Bitte ist? Wenn ich Ihnen etwa Erleichterungen verschaffen kann, die sich mit den gesetzlichen Bestimmungen vertragen –“
„Meine vorläufige Freilassung gegen eine hohe Caution wünsche ich. Ich muß auf freiem Fuße sein, um meine Unschuld vor der Welt beweisen zu können. Jetzt, als ein armer gefangener Mann, bin ich ein Mensch, der ohne Arme ist. Ich werde mich nicht dem Bereiche der Gerechtigkeit entziehen. Mein gutes Gewissen kann allen Proceduren entgegensehen. Wenn eine Erinnerung an unsern freundschaftlichen Verkehr in Ihrem edlen Herzen zurückgeblieben ist, so bitte ich Sie, Ihren Einfluß –“
Auf eine heftig abweisende Geberde Rechting’s schwieg er, während er zugleich mit lauerndem Blicke den Ausdruck der Empfindung in den Mienen seines Gegenüber verfolgte.
„Ich kann Ihnen wenig Hoffnung machen, Herr Lideman.“
„Warum wenig Hoffnung, Herr von Rechting? Ihr Wort ist von großem Einfluß –“
„Warum? Weil – Ueberzeugung, Ehre und Pflicht es mir verbieten – weil ich es war, der die Beweise für Ihre Schuld ergründete, weil ich als Staatsanwalt die öffentliche Anklage gegen Sie zu erheben beordert bin und weil ich nach Pflicht und Recht Ihren Antrag nie unterstützen könnte.“
Lideman starrte den Staatsanwalt gläsern an, und seine Unterlippe bewegte sich wie im Fieber.
„Ich darf nichts thun,“ fuhr Rechting fort, „als was Ehre und Pflicht mir gebieten. Mit Ihrer Rechtfertigung dürfte es schlimm stehen. Ich erinnere Sie nur an einen Menschen, an den Diener des Generals W. – nun, Sie wissen ja: an Pechner, mit dem Sie sich in verräterische Verbindungen eingelassen haben. Sie haben ihn durch Geld bestochen, daß er Ihnen Schriftstücke aus dem Ressort des Generals am Abend auslieferte; die Nacht über ließen Sie dieselben copiren, sodaß sie des folgenden Tages wieder auf dem Tische des Chefs lagen, scheinbar unberührt. Ich weiß Alles. Dieser Mensch hat gegen Sie ausgesagt. Es war auch von weiteren Auslieferungen die Rede –“
Lideman setzte die Maske der Ueberraschung auf.
„Von Festungsplänen zum Beispiel, um Ihnen noch mehr zu sagen. Vielleicht hatten Sie betreffs Copirung derselben eine Persönlichkeit in’s Auge gefaßt, die Ihnen das besorgen sollte – Sie erinnern sich wohl noch einer Unterhaltung, die Sie in Ihrem Garten mit einem jungen Ingenieur hatten. Den Namen brauche ich Ihnen nicht zu sagen –“
„Lichtner!“ zischte der Angeklagte zwischen den gepreßten Lippen hervor. „Sie haben wohl gelauscht, Herr von Rechting?“
Der Staatsanwalt maß ihn mit stolzen Blicken.
„Verzeihen Sie, Herr von Rechting! Ich bin gereizt, weil ich unglücklich geworden bin. Ich wollte nur sagen, daß, wenn Lichtner gegen mich schwört, er einen Meineid schwört.“
„Sorgen Sie sich nicht – er wird nicht gegen Sie aufgerufen werden. Was ich Ihnen hier sagte, war eine rein private Bemerkung. Ich habe die Mittheilung von ihm selbst. Uebrigens habe ich noch ganz andre Dinge entdeckt. Ich war verreist, Herr Lideman, im Auslande –“
Lideman stieß einen Laut der Ueberraschung aus und starrte Rechting wie in plötzlich gewonnenem Verständniß an. Dann senkte er das Haupt. Er gab sich dem Anschein nach gefangen.
„Vor wenig Monaten noch,“ sagte er gedrückt, „war ich jeden Abend zu Ihnen zum Thee geladen – und nun laden Sie mich vor die Geschworenen. Diese werden mich verurteilen – wie Alle sicher sein können, verurtheilt zu werden, deren Verbrechen darin besteht, daß sie sich über den Unsinn der nationalen Grenzsperren hinwegsetzten. Hier bin ich gebrandmarkt – jenseits der Grenze werde ich vielleicht Ehrenbürger. Das sind so wechselnde Begriffe – je nach dem beschränkten nationalen Standpunkte. Ein praktischer Mann wird fragen: was hat er denn gethan? Er hat einen internationalen Austausch getrieben – ein Geschäft wie jedes andere. Sie werden mich verstehen. Es wird Ihnen auch Manches in milderem Lichte erscheinen, wenn ich Sie einen Blick in mein armes Herz thun lasse. Eine Leidenschaft hat mich ruinirt – eine Frau. Was soll ich Ihnen weiter sagen? Ein großes Vermögen zu gewinnen, ihr mit allen Lockungen desselben zu erscheinen – die alte Geschichte vom goldenen Regen der Danaë – auch vielleicht mit äußeren Auszeichnungen, die auf die Herzen der Frauen jeder Zeit ihre sichere Wirkungen üben. Hier haben Sie die Erklärung!“
War das der Name seiner Frau, der Erich aus diesen halb verschleierten Worten entgegen klang? Es überlief ihn heiß, daß er Mühe hatte, sich nicht zu Thätlichkeiten hinreißen zu lassen. Lideman nahm den Kampf Rechting’s für ein Aufwallen des Mitleids an.
„Nehmen Sie ein Stück Papier, Herr von Rechting, schreiben Sie ein paar Worte an den Untersuchungsrichter, etwa so: ‚Stellen Sie, verehrter Herr College, das Verfahren gegen den Bankpräsidenten ein! Ich habe eine andere Ansicht von den Verhältnissen bekommen.’ Fertig – todt die ganze Geschichte!“
„Ich habe Sie absichtlich nicht unterbrochen,“ sagte Erich mit tiefem Atemholen, „um eine Blick in das dunkle Gewirre Ihres Charakters, in Ihre tiefe Verkommenheit zu werfen. Wenn ich etwas innerlichst bereue, so ist es der Schritt, der uns gesellschaftlich zusammen geführt hat. Nichts mehr davon! Sie muthen mir, dem Manne, gegen dessen Glück und Ehre Sie den Todesstoß zu führen im Begriffe waren, eine Schurkerei zu! Und wenn Sie mir mit alle Banden des Blutes an’s Herz geknüpft wären – wenn ich Ihr Leben retten könnte – ich möchte kein solches retten.“
Er machte Miene zu gehen.
„So soll ich also vernichtet werden!“ rief Lideman.
„Sie werden Gerechtigkeit finden.“
Der Gefangene lachte höhnisch auf.
„Damit Sie nicht überrascht werden, möchte ich Sie auf Eins aufmerksam machen, Herr von Rechting.“
In den Blicken Lideman’s schimmerte etwas wie Bosheit.
„Die Geschäftsbücher, die vielleicht der Untersuchungsrichter an sich nehmen wird – es ist das immer so – das Cassabuch und das Hauptbuch – in diesen ist ein Posten gebucht – eine ziemlich beträchtliche Summe, welche –“ und hier nahm seine Rede ein langsameres Tempo an, „welche für ein Geschenk ausgegeben wurde, das Frau von Rechting, die Gattin des Herrn Staatsanwalts von Rechting, vom Bankpräsideten Lideman erhalten hatte – in allen Ehren – heißt das.“
Eine Pause. Lideman hatte die Wirkung seiner Worte richtig berechnet. Der Staatsanwalt hatte die Augen geschlossen – nur die tiefe Blässe seines Gesichts verriet, mit welcher Wucht der Schlag ihn getroffen.
„Gebucht,“ wiederholte Lideman, „– schwarz auf weiß – Cassabuch – Hauptbuch! Sehen Sie, Herr von Rechting, gewöhnlich trägt ein Geschäftsmann solche Privatausgaben nicht ein, aber bei einem größeren Posten – und ich weiß eigentlich selbst [187] nicht, wie es dazu kam. Vielleicht schwebte mir im Momente eine Situation wie die gegenwärtige im Geiste vor. Kurz, ich gab meinem Buchhalter den Auftrag. Aber denken Sie nichts Arges dabei! Ihre Frau Gemahlin ist über alle Verleumdung erhaben. Daß Ihnen die Sache nicht sehr angenehm – kann ich mir lebhaft denken, aber sagen mußte ich es Ihnen – aus alter Freundschaft.“
Lange saß Erich regungslos da; er ließ Gedanken und Empfindungen wirr und wild durch Gehirn und Herz jagen. Wie verworrene Träume, wie visionäre Vorstellungen wirkten die Worte Lideman’s in ihm nach; jeder klare Begriff entwand sich ihm in diesem Chaos von Schuld, Anklage und Jammer. Das Geschenk des Schurken – der Name seiner Frau in den Büchern – vor der Welt bloßgestellt – von ihrem Urtheile beschmutzt, geschändet! Als er sich erhob, sah, er, daß er allein war. Er schlug die Hände vor das Gesicht. Doris – Doris!
Eines stieg aus den dunklen Wogen in seinem Innern auf, ein Gedanke, klar, scharf wie die Schneide eines Richtschwertes. Sollte ein Mensch wie dieser, fragte er sich, ein derartiges Geschenk spenden, ohne etwas empfangen zu haben? Warum gerade betonte er ihre Schuldlosigkeit? O Gott, o Gott! Wie auf einen Fels hatte er auf Doris gebaut! Die Fittige eines Engels der Offenbarung hätten nach seinen Gedanken nicht reiner sein können, als der Wandel seiner Frau in Pflicht, Ehre und Zucht. Kein Argwohn, kein Mißton, am wenigsten ein Zweifel hatten in seiner Seele Platz gefunden – und nun? Der vertraute Verkehr Lideman’s in seinem Hause, der Vorschlag desselben auf Betheiligung an seinen Geschäften, das Fest in seinem Landhause – Glied reihte sich an Glied zu einer Kette.
Er sprang auf und hielt sich den Kopf mit beiden Händen, als wollte er alle ferneren Gedanken niederhalten. Die weiteren Consequenzen hätten ihn dem Wahnsinne nahe gebracht. O Doris – Doris , rief es in ihm, habe ich Dich nicht gekleidet mit meiner Ehre, mit der Sorge meiner Liebe? Habe ich Dich nicht gesättigt mit meinem ganzen Herzen? Unglückseliges Weib, was hat Dich getrieben, diesen Schritt zu thun? Die Schande hatte seine Schwelle überschritten, sie wohnte bei ihm, und er – er hatte vielleicht schon von ihren Tellern gegessen. Doris – Doris!
Dann ging die Brandung in ihm nieder. Doris erschien vor seinem inneren Blicke, so, wie er sie zum ersten Male gesehen auf der Düne im Abendsonnenglanz, da er sich gesagt hatte: Du bist mein. Reizvoll, sanft lächelnd, die Unschuld auf ihrer Stirn. Konnte dieses von ihm so heiß geliebte Wesen, konnte sich dieses in das Geschöpf umwandeln, um das er jetzt die Angst seines Herzens trug? Nie, nie! rief es in ihm. Mit aller Kraft der Empfindung hielt er jenes Bild von ihr fest. Wie wohl wurde ihm auf einmal um’s Herz! Und dann so ruhig, daß er aufathmete, als hätte sich jegliches Schwere von ihm abgewälzt. Wie hätte sie sich auch so weit vergessen können? Sein Weib, die Mutter seines Kindes! Mochte es immerhin wahr sein, was Lideman da von dem Geschenk gesprochen, mochten die Bücher den Ruf von Doris in dem Auge der Welt brandmarken – für ihn wenigstens mußte sich eine befriedigende Aufklärung finden. Der Strom der alten Liebe floß mit voller Macht in ihn zurück und spülte alles Unreine hinaus, allen Zorn, allen Verdacht und alle Anklagen.
Da klopfte es an die Thür. Der Bureaudiener war es in Begleitung des Unterbeamten, welcher die Bücher des Bankvereins an sich nehmen sollte und die amtliche Ermächtigung von ihm verlangte. Mit zitternder Hand gab Erich das Verlangte und ermahnte zur Eile. Sie sollten die Bücher schnell zur Stelle schaffen, so rasch wie möglich.
Die Beamten kamen nach einer Weile mit den Büchern zurück. Sie legten eine ganze Last der großen in graues Leder mit Messingbeschlägen gebundenen Folianten vor dem Staatsanwalt nieder.
Wie leicht war es ihm, den guten Ruf seiner Frau vor der Welt zu retten! Ein Blatt – ein Riß! Er öffnete eines der großen Bücher und blätterte darin mit zitternder Hand. In dem Gewirre von Summen und Zahlen suchte er. Dann aber warf er das Buch bei Seite. Eine Fälschung! Auf welche Irrwege drohten ihn Angst und Verzweiflung zu bringen! – In seinem Schmerzgefühle um seine Frau, in dem Haß gegen den Verbrecher fühlte er es wie eine tiefe Genugthuung, daß der Verbrecher am Staate, der Verbrecher an seinem Eheglück, ihm, dem Staatsanwalt, in die Hände geliefert war. Aber bei weiterer Ueberlegung der Sachlage stellte sich Rechting die Nothwendigkeit dar, den Minister um seine Demission zu bitten. Wo ein derartiger Beweis gegen die Frau dessen vorlag, der die öffentliche Anklage zu führen hatte, ergab sich diese Nothwendigkeit von selbst. Für ihn blieb gewiß die Ehre seiner Frau unbefleckt – er wollte dann Doris und Liddy mit sich an einen fernen Ort nehmen, wo Niemand ihr und dem Kinde mit einem Verdachte in den Weg kommen würde. Er war nur noch unschlüssig, ob er geraden Weges zum Minister gehen sollte, oder nach Hause. Nach letzterem verlangte sein Herz, und dem folgte er. Sein Weg führte ihn an dem Hause des Bankvereins vorüber. Es war ein reges Ab- und Zugehen. Die Verhaftung des Präsidenten hatte den Ruf des Hauses erschüttert, und die Meisten holten sich ihre Depositen ab. Zehn Schritte vor ihm kam eine hohe weibliche Gestalt heraus, in einem dunklen Mantel, der die Gestalt vollständig einhüllte. „Regina!“ sagte sich Erich und beschleunigte seine Schritte, um sie zu erreichen. Er hatte Mühe. An einer Ecke, um die sie bog, war er ihr nahegekommen und hatte ihren Namen angerufen. Sie wandte sich um. Die Züge, in die Erich schaute, konnten Regina gehören, jawohl, aber jetzt waren sie verfallen, verzerrt, erdfahl. Ein fremdes Wesen stand vor ihm, das ihn mit den großen grauen Augen anstarrte, als hätte es eine plötzliche Vision. War es Regina oder eine Fremde? fragte sich Erich. Aber dann kam ein flehender Blick so thränenschwer zu ihm herüber, als wollte er sagen: Störe meine Bahn nicht! Laß mich ruhig meines Weges gehen! Ohne Zweifel – es war die Freundin seines Hauses, so unerklärlich ihm auch diese stumme Bitte, dieses leise Abwinken mit der Hand erschien. Dann war sie seinen Blicken entschwunden.
Sollte er ihr folgen? Nein, sie hatte ihm ja abgewinkt – sie schien ihm seltsam unnahbar. Jede Heimsuchung des Herzens drückt dem davon betroffenen Wesen, und wäre es auch noch so schwer von Schuld beladen, eine Weihe auf, die es außerhalb des gewöhnlichen Empfindens stellt. Seine Gedanken gingen ihr auch nicht weiter nach. Dazu war er zu sehr mit seiner Frau beschäftigt. Regina war ihm nichts weiter als eine Freundin.
So wie jetzt hatte es ihn lange nicht nach Hause gedrängt, und seine Schritte waren von der Furcht beflügelt, es möchte jetzt, wo die alte Liebe wieder neue, frische Keime zu treiben begann, Doris etwas begegnet sein.
Zu Hause angekommen, fragte er fast athemlos nach seiner Frau. Sie war ausgegangen, lautete der Bericht des Mädchens. Allein? Nein, Fräulein Else hatte sie abgeholt – vervollständigte das Mädchen ihren Bericht. Damit wurde Erich ruhiger. Er versuchte zu arbeiten, aber er fand keine Ruhe. In dieser Situation war es ihm nicht unlieb, daß ihm der Besuch des alten Buchhalters, des Herrn Warbusch, angemeldet wurde.
„Die Bücher des Hauses sind in Ihren Händen, Herr von Rechting,“ begann dieser. „Da ein Geschäft, wie das unsere, Ordnung verlangt, und selbst solche unliebsame Zwischenfälle den Fortgang der Geschäfte nicht stören dürfen, so wollte ich ergebenst fragen, wann wir Hoffnung hätten, dieselben zurück zu erhalten.“
Die Antwort Rechting’s lautete dahin, daß die Bücher wohl noch eine Weile unter den Augen des Gerichts bleiben würden.
Herr Warbusch wollte sich mit diesem Bescheide schon empfehlen, als Erich ihn noch einen Augenblick zu bleiben bat. Seine Stimme war unsicher, als er das Wort an ihn richtete:
„Wissen Sie wohl von einer Summe, die auf meinen Namen gebucht ist?“
„Auf Ihren Namen, Herr Staatsanwalt? Weiß ich nichts – nein – aber auf den Ihrer Frau Gemahlin.“
Rechting mußte die Hand auf das Herz drücken – fest – um nicht den Klageschrei seines Innern lautbar werden zu lassen.
„Sie wissen, der Herr Präsident ist ein generöser und galanter Mann. Da ließ er mich – am Nachmittag vor seiner Verhaftung war’s – zu sich in sein Cabinet kommen. Vor ihm stand ein Korb mit köstlichen weißen Blumen – Magnolien heißt man sie. Ich war schon verwundert, daß mir so etwas zu Theil werden sollte. Es war doch mein Geburtstag nicht – und Baares ist mir lieber als Blumen. Aber für mich war das Präsent auch gar nicht. In seiner Hand hielt der Präsident ein [188] recht ansehnliches, blausammetnes Schmucketui. Das legte er in den Korb unter die Blumen. ‚Daß ich’s nicht vergesse,’ sagte er mir, ‚buchen Sie eine Summe von fünfzehntausend Mark für ein Geschenk an Frau von Rechting.’ Ich horchte noch einmal hin, fragte auch, da es nicht Styl ist, derartige Ausgaben – aber er bestand darauf. In demselben Augenblicke trat der Diener ein, und diesem gab er einen Auftrag für Frau von Wandelt, und dann sollte er den Korb zu Frau von Rechting bringen. Er empfahl ihm große Vorsicht.“
„Und die Summe ist gebucht worden?“ fragte Erich mit fast stockendem Athem.
„Ich hatte mir die Sache aufbehalten – mit dem Buchen – nur vorläufig meine Notiz gemacht. Vielleicht besann sich der Präsident, wollte sagen Herr Lideman, anders und redressirte eine derartige Unregelmäßigkeit in den Büchern, die ich nicht ausstehen kann. Da kam die Verhaftung – die Summe fehlte in der Casse, also mußte ich sie wohl oder übel buchen. Es mußte geschehen, ehe die Bücher abgeholt wurden.“
„Weiter, weiter, Herr Warbusch!“
„Der Name der Frau von Rechting wurde aber nicht eingeschrieben. Ihr Ruf sollte fleckenlos vor der Welt bleiben, wie ihre Ehre und die Ehre ihres Gatten.“
„Sie sind ein edler Mensch,“ rief Erich.
„Ich? Wieso? Fräulein Regina war’s, welche so zu mir gesprochen hatte.“
„Regina? – Regina?“ rief Erich.
„Ja, ja, dieselbe. Denken Sie – sie ist wiedergekommen! Aber in welchem Zustande! Ich hätte um sie weinen mögen. Diese geisterbleichen Züge, dieses zerschlagene Gemüth, die ganze Erscheinung – Gram, Reue, Magdalena. Wo sie war? Ich weiß es nicht; ich wagte auch nicht danach zu fragen. Sie kam im rechten Augenblicke. Ich brauchte Jemanden, der mir in dieser Sache rathen konnte. Ich theilte ihr meine Scrupel mit – da sagte sie die Worte, die Sie gehört haben, Herr von Rechting. Ich mußte ihr mein Wort geben, daß ich Ihnen nichts davon sagen würde, und ich hätte es auch gehalten, wenn Sie selbst nicht die Sache berührt hätten. Vor einer Stunde brachte sie mir die fünfzehntausend Mark auf das Comptoir.“
Rechting mußte an sich halten, daß er den Alten nicht an sein Herz schloß.
„Suchen Sie überall in den Büchern, Herr Staatsanwalt, und Sie werden nirgends den Namen Ihrer Frau Gemahlin finden, und wenn Sie ihn auch mit der Loupe suchen wollten. Und daß ich’s nicht vergesse – hier eine andere Angelegenheit – im Auftrag eines alten Freundes, des Fabrikbesitzers Lichtner. Lesen Sie später – und dann bitte ich um Bescheid. So etwas muß überlegt werden.“
Er legte ein Couvert hin, in das ein Schriftstück eingeschlossen war. Dann empfahl er sich und bat nur, daß die Bücher sobald als möglich zurückgegeben würden damit keine Stockung im Geschäft vorkomme.
Beim Abschied reichte ihm noch Rechting beide Hände, schüttelte die seinigen und zog sie an sein Herz – unfähig, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Warbusch wurde fast ärgerlich.
„Aber ich sagte doch, Herr von Rechting: nicht ich – Ich habe keinen Groschen zu verschenken. Die Hände von Fräulein Regina müssen Sie an Ihr Herz ziehen.“
[202] Der alte Warbusch ging. Erich war wieder allein.
Von Regina’s Privatverhältnissen hatte weder er noch seine Frau etwas Sicheres erfahren. Die Freundin hatte sich nie darüber geäußert. Sie wußten nur, daß sie von den Erträgnissen des Unterrichts lebte, den sie in verschiedenen Lehranstalten gab; daß sie bedürfnißlos wie ein Einsiedler in der Wüste war und niemals etwas von ihnen angenommen hatte – das war Alles. Erich war nicht so sehr über ihr Handeln erstaunt, als über die Summe, welche Regina zu ihren Disposition gehabt. Ihm wäre es schwer geworden, dieselbe in dem gegebenen Momente zu beschaffen, und der Augenblick war hier das Entscheidende gewesen. Da er Regina’s Freundschaft immer wie eine Art Kameradschaft des Lebens mit gegenseitiger Verpflichtung zur That empfunden, war er durch ihr rettendes Eingreifen selbst innerlich nicht bedrückt; er empfing nur das, was er in gleichem Falle auch gegeben haben würde. Und doch war bei der großmüthigen Handlung etwas, was ihm peinlich war. Regina hatte einen Einblick in Beziehungen seiner Frau zu Lideman gewonnen, die ihm keine Scrupel mehr machten, weil er an Doris glaubte, die aber in Regina die Achtung mindern konnten, welche sie seiner Frau schuldete. Der arglose Mann ahnte nicht, daß Regina seit lange schon mit dem Auge der Leidenschaft Doris und Lideman schärfer beobachtet hatte, als er.
Ueber all dieses half ihm das Verlangen hinweg, das er nach seiner Frau empfand. So wie sich ein Geräusch vom Vorgärtchen her vernehmen ließ, trat er an’s Fenster, um zu sehen, ob sie es wäre. Endlich kam Doris. Er eilte ihr bis an die Treppe entgegen. Seine Freude, sie zu sehen, zog sich indeß in sein Inneres zurück, als er bemerkte, daß sie auf ihren Mienen den Ausdruck gedrückter Stimmung ihm entgegenbrachte.
„Du warst lange weg, liebe Doris.“
„Ja; ich komme von Wandelt’s, und die Geheimräthin hat mich länger zurückgehalten, als es mir lieb war. Ich möchte etwas mit Dir sprechen – es betrifft Else.“
„Bei Wandelt’s – fuhr sie im Zimmer fort, während sie Hut und Handschuhe ablegte, – „herrscht eine gedrückte Stimmung; heute wurde dem Geheimrath angedeutet, daß er sein Entlassungsgesuch einreichen möge. Seine Nerven wären der Arbeitslast nicht mehr gewachsen. Das noch zu dem Scheitern aller ihrer Hoffnungen in Bezug auf den Präsidenten! Else ist allein guter Dinge. Sie hatte, wie sie mir gestand, schon länger im Sinn, Dich zum Vertrauten zu machen. Eines Abends – Du weißt es ja – als Du sie nach Hause geleitetest vor Deiner Abreise, und dann bei dem Gartenfeste, wo sie nahe daran war, Dir Alles zu enthüllen und Dich um Vermittelung bei ihren Eltern zu bitten, um Deine Fürsprache – auch da kam es nicht dazu. Nun zog sie mich in das Geheimniß. Sie liebt den jungen Lichtner – Du kennst ihn, glaube ich –“
„O ja – den jungen Lichtner – ich kenne ihn – sehr – den netten Violinspieler –“
„Von Stunde zu Stunde machte Else bei der Mutter Anläufe, um ihr Herz von einer Last zu entladen, aber niemals wollte es gelingen – da solltest Du der Beistand sein. Ja, Erich, sei es! Wenn man zwei Menschen durch ein Wort glücklich machen kann, so hat man doch noch den Widerschein dessen, was man so voll nicht besessen – und nicht gewährt hat.“
„Doris!“
„Geh’! Thue es mir zu Liebe!“ rief sie ihm im Gehen noch von der Thürschwelle zu.
Erich ging um sich anzukleiden – wie hätte er der Bitte seiner Frau widerstehen können! Nichts wäre ihm jetzt für sie zu thun unmöglich gewesen. Bevor er ging, wollte er ihr noch Adieu sagen. Er horchte an ihrer Thür. Er hörte Doris gehen und öffnete das Zimmer – alles Blut wich ihm aus dem Gesichte. An ihrer Brust leuchtete eine jener weißen Blumen, die Lideman mit dem Schmucke abgeschickt hatte; in einem Glase auf dem Tische standen im Wasser noch mehrere. Sein Blick war immer nur auf die Blumen gerichtet; es war ihm, als ob giftige Düfte ihnen entströmten.
„Siehe da, die herrliche Magnolien!“
„Nicht wahr, seltene Exemplare, und sie machen auch Dir Freude?“
„Freude! Jawohl! Natürlich – Freude!“
Er stieß diese Worte mit einem gellenden Lachlaute heraus. Doris sah ihn befremdet an.
„Und wer hat sie Dir denn geschenkt?“ fragte Erich.
„Else hat sie mir mitgegeben.“
„Ich dachte – der Präsident habe sie Dir geschickt.“
Scharf, wie ein Stoßvogel sein Wild, behielt er bei dieser scheinbar unbefangenen Rede seine Frau im Auge. Diese senkte die Augen, und ihr Blick schien mit ihren Gedanken nach innen zu gehen. Das war das Zeichen der Schuld –! Seine Selbstbeherrschung hatte ihre Grenze gefunden.
„Jawohl – ein solcher Ehrenmann wie er giebt nichts umsonst. Doris – ich hätte Deine Ehre mit meinem Leben bezahlt, und Du – Du bist damit so billig.“
„O, vergieb, Erich, daß ich Dir nicht schon früher ein Geständniß machte, eine Beichte, die mir schon längst das Herz bedrückte! Keine Empfindung meines Herzens soll Dir verborgen bleiben. Es giebt für ein Weib eine Schuld des Gefühls; sie braucht einem fremden Manne nicht eine Fingerspitze gereicht zu haben, und doch kann sie ihr Herz dem eigenen abgewandt haben. Ich bin jung; ich bin lebensfroh. Du warst in dem Abwenden meines Sinnes von der Welt oft herb – streng. In dem Präsidenten nahte sich mir ein Mund, der mir schmeichelte, von Mitleid sprach. Hier im Herzen regte sich Groll, erwachten Wünsche. Ich wollte sie unterdrücken. Alles, was ich bisher empfunden und geglaubt, für recht und wahr gehalten, gebilligt und bestritten, gehört und gesehen – das bestimmte und drängte mich, sie abzuweisen, zu ersticken. Aber dann war mein Auge nicht mehr das meinige. Ein neues brach in mir auf – ich sah neue Verhältnisse, neue Gestalten, neue Farben. Alles Vergangene löste sich. Ein Fremdes, Niegekanntes drang auf mich ein – mein Herz, bisher so widerstandskräftig, schlug in schwächeren Pulsen; ein Gefühl der Ohnmacht kam über mich. Ja, ja – nun sollst Du es wissen – mein Herz schwankte – es kam ein Augenblick [203] über mich, wo ich den Mann, den ich meine, schön, liebenswerth fand. Es war an jenem Abendfeste. Da kamst Du, und Deine Erscheinung war meine Rettung, Erich! Ich weiß nicht, ob ich Dich vorher wahrhaftig geliebt hatte, aber von jenem Abende an wußte ich, daß ich Dich lieben mußte, wie nichts mehr auf der Welt – wie selbst mein Kind nicht, und treuer und fester hänge ich an Deinem Herzen. Wenn ich Deine Stimme nicht höre, Deinen Puls, Deinen Hauch nicht fühle, verliere ich mich selbst. Erich, Erich, laß mich nicht von Dir! Sei wieder mein einzig geliebter Mann!“
Rechting sah ein ganz neues Wesen vor sich, ein Wesen mit einem Herzen, das ursprünglich empfand. Es berührte ihn der Athem eines Lebens, dessen geheimnißvolles Dasein und dessen tiefe Strömung ihm unter der stillen Oberfläche bisher entgangen war. Ihr Antlitz glühte; in dem bebenden Tone ihrer Stimme, in der ganzen Spannung ihres Wesens lag jene Verklärung der Leidenschaft, der so leicht keines Mannes Herz widerstehen kann. Voll überwallenden Gefühls riß Erich seine Frau an sein Herz und verdeckte ihren kleinen Kopf mit seinen bebenden Händen.
Würde jetzt Lideman mit der schwärzesten Anklage gegen Doris hervorgetreten sein – Erich würde ihm mit einem: Lüge und tausendmal Lüge! geantwortet haben. Hier aus den thränenfeuchten Blicken seines Weibes, aus dem rührenden Herzenston ihrer Stimme traf ihn der Lichtstrahl der Wahrheit und überzeugte ihn mächtiger und unmittelbarer, als alle materiellen Beweise es hätten thun können. Im Glauben an sein Weib fühlte er sich stärker und seliger denn je.
Mit der Geheimräthin war eine merkwürdige Veränderung vorgegangen. Das jüngste Ereigniß hatte sie förmlich gebrochen. Sie plapperte nicht mehr; sie war still geworden und sprach davon, daß sie von nun an fleißiger zur Kirche gehen würde. Etwas Besonderes schien ihr auf dem Herzen zu lasten, was ihr den Sinn erweichte, in Momenten sogar verwirrte. Vom Präsidenten durfte ihr Niemand sprechen. Eines Morgens brachte der Geheimrath den bekannten, blauen, rothgesiegelten Brief nach Hause, der ihm in kurzen Worten anzeigte, wie sehr man seine langjährigen Dienste anerkenne, in Rücksicht deren man ihm den wohlverdienten Ruhestand gewähre.
Der Verabschiedete war still, und das blaue Papier in seinen Händen mit einer wehmütigen Verlegenheit bewegend, richtete er die Blicke angstvoll auf seine Ehehälfte. Aber es kam kein Sturm von dieser Seite, wie er gefürchtet hatte. Constanze wurde sogar wieder einmal zärtlich, streichelte ihm die eingefallenen Wangen und mahnte ihn, daß er sich die Sache nicht allzu sehr zu Herzen nehmen möge. Die Leute von der neuen diplomatischen Aera wüßten die Traditionen der alten guten Schule, in welcher sie Beide aufgewachsen seien, nicht mehr zu schätzen. Undank sei stets der Lohn der Welt gewesen, und daher sei es am gerathensten, sich aus dem modernen Blocksbergtreiben in sein besseres Bewußtsein zurückzuziehen. Die königliche Bibliothek sei jeden Tag von neun bis drei Uhr geöffnet, mit Ausnahme der Sonnabende, wo um zwölf Uhr geschlossen würde; im Winter sei da gut geheizt, im Sommer sei es kühl; und für den Club habe er bisher die Jahresbeiträge fast umsonst bezahlt, nun könne er davon profitiren, um am Abend seine Partie Whist zu machen; es seien lauter ausgediente Excellenzen und der Point würde um einen Viertelpfennig gespielt.
Der Geheimrat starrte seine Frau an, als verstände er sie nicht mehr. Eine Weile ging diese unruhig und gedankenverloren auf und ab. Endlich faßte sie einen Entschluß. Sie machte Toilette.
„Herr von Rechting kann hier allein rathen,“ sagte sie. „Wenn ich bei der Verhandlung als Zeugin aufgerufen würde, drei Finger in die Höhe heben müßte – Gebühren liquidiren – mein Name in der Zeitung – entsetzlich! Zu Rechting’s!“ rief sie Else zu, als diese sie fragte, wohin sie gehen wollte. Vorerst gab es aber noch eine Abhaltung: Herr Warbusch ließ sich melden.
Die Geheimräthin hatte von seiner Existenz kaum eine Ahnung. Früher würde sie ihn haben abweisen lassen, nun aber betrachtete sie andere Menschen fast wie ihresgleichen.
„Ich bin Buchhalter der Bank, deren Präsident zu sein Herr Lideman die Ehre hatte,“ begann Warbusch.
„Ich bitte, mein Herr, keine Injurien! Dieser Name ist für uns todt.“
„Die gnädige Frau,“ fuhr Warbusch fort, „werden von einem Korbe mit Blumen und Früchten wissen, auf dessen Grunde ein kleines blausammetenes Portefeuille mit Schmuckgegenständen sich befand.“
„Ja, ja,“ stimmte die Geheimräthin bei, nicht ohne daß eine gewisse Verlegenheit durch fliegende Röte auf ihrem Gesicht bemerkbar wurde. „Es war ein Angebinde des Präsidenten.“
„Doch nicht, gnädigste Frau –“
„Wie sagen Sie?“ rief Frau Constanze. Ein Gefühl der Ohnmacht überkam sie, so daß sie nach einem Sessel sich umsehen mußte. „Aber der Bediente brachte mir doch den Korb in’s Haus,“ stotterte sie, „am Abend, kurz bevor wir zum Feste fahren wollten?“
„Ja wohl, es war der Diener des Präsidenten. Er sollte Ihnen eine Bestellung vom Herrn Präsidenten machen. Als er bei Ihnen klingelte, öffneten Sie ihm und schnitten ihm jedes Wort mit dem freudigen Ausrufe ab: ‚Ach, ein Geschenk vom Herrn Präsidenten! Das ist zu lieb und freundlich von ihm!’ – Der arme Mensch war, wie er aussagte, so perplex darüber, daß er zuließ, wie Sie ihm den Korb abnahmen und ihm die Thür vor der Nase zumachten.“
Das Schweigen der Geheimräthin bekräftigte die Thatsache.
„Aber für wen war denn der Korb?“ stöhnte sie.
„Für wen? Das weiß ich nicht, geht auch mich nichts an. Ich komme, um das Angebinde wieder zu holen; der Werth gehört zur Masse. Die Magnolien können Sie behalten.“
Im Nu war Else’s Mutter verschwunden; im Nu erschien sie wieder – mit dem Etui in der Hand.
„Hier, hier, haben Sie es. Sie nehmen mir eine große Last vom Herzen. Ich hatte die Nachtruhe nicht mehr, und eben wollte ich zu Herrn von Rechting.“
Derselbe erschien eine Stunde darauf selbst.
Es begegnete der Geheimräthin, wie so vielen Menschen, die lange geheimnißvolle Pläne stricken und bei dem ersten Riß, den dieselben erleiden, das schadhaft gewordene Netz vor dem Ersten Besten, der ihnen vor’s Auge tritt, ausbreiten. Frau Constanze kam Rechting gleich mit der Erzählung ihres ganzen Jammers entgegen; die ganze Familie sei durch den Präsidenten compromittirt. Wer hätte so etwas von dem Manne gedacht! So recht getraut habe sie ihm eigentlich nie. Sie berichtete ihm die Intrigue mit dem Blumenkorb, mit dem Diener; sie beschrieb ihm auch die Schlange, die in Gestalt eines blausammetenen Schmucketuis auf dem Boden gelauert habe.
Erich hütete sich wohl den rauschenden Redestrom zu unterbrechen. Er hatte nicht wieder an das verhängnißvolle Geschenk gedacht, und was er hier aus dem Munde der Geheimräthin vernahm, war nur eine Bekräftigung dessen, was er in seinem Herzen schon wußte.
Wie die Dinge jetzt lagen, wurde es Rechting nicht schwer, sich seines Auftrages zu entledigen und einen Erfolg zu erzielen. Die Geheimräthin sah wohl selbst ein, daß unter diesen Umständen die Verlobung Else’s eine Notwendigkeit sei.
„Kennen Sie die Familie?“ fragte sie Rechting.
„Gold – gnädige Frau!“
„Also viel Vermögen?“
„Das meinte ich weniger als ihren Ruf, Moralität, obwohl auch das Vermögen des Färbereibesitzers Lichtner ein immenses ist –“
„Färber? Der Mann hat doch keine blauen Hände? Der junge Lichtner hat ganz tadellose Hände, mit denen er die Violine spielt, aber die Großväter wiederholen sich in den Enkeln Gott, wenn man an diesen etwas von den blauen Nägeln des Metiers bemerkte – –!“
Die Geheimräthin wurde sentimental. Sie hob das thränenschwere Auge zu dem Bilde auf, welches über ihr hing. Es stellte ihren Vater, den Gesandten der siebenundzwanzigsten Großmacht dar, in Uniform, mit dem großen Bande über dem vollen Embonpoint.
„Was wird der dort oben dazu sagen?“ seufzte sie.
„Daß Sie ein Verbrechen an zwei Herzen begehen würden, wenn Sie ,Nein’ sagten.“
[204] Sie nickte. Das bedeutete, der junge Lichtner möge kommen. Aber so recht freudig war sie noch nicht bei der Sache. Sie dachte immer noch an die Schimmel des Präsidenten. –
Die Schimmel des Präsidenten! Wie verschieden geartet die Menschen sind! Die Einen stehen vor den Trümmern ihrer Wünsche und Hoffnungen klein und erbärmlich, wie sie zuvor waren. Die Andern reifen erst im Unglück und im Entsagen; auf gescheiterten Planken segeln sie in den Hafen ihrer wahren Größe. Und im Unglück stark und groß war heute auch Eine, die tief nieder gebückt in ihrem Stübchen stand, vor sich den offenen Reisekoffer, eifrig packend und schaffend. Regina war nicht dieselbe mehr, die am Hochzeitstage den Brief an den Mann geschrieben hatte, zu dem die Flammen ihrer heimlichen, aber um so mächtigeren Leidenschaft emporloderten, noch weniger dieselbe, welche Doris den leisen Stoß gab, von dem diese in den Abgrund hinabstürzen sollte – sie war ebenso, wie die glücklichere Doris, ein neues Wesen geworden.
Wie sie so still ihre einfachen Sachen, Eines zum Andern, in den Koffer legte, da zog noch einmal vor ihrer geretteten Seele das schreckliche Bild des entscheidende Abends vorüber, an dem sie zweifelnd hinaus gestürmt war an den See, dahin, wo ihre Sünde begonnen hatte.
Der Wind trieb seinen wilden Unmuth mit den alten Bäumen und rüttelte und schüttelte an den Laubkronen, daß sie ächzend sich bogen und daß es wie eine Schmerzensklage über dem Haupte der Eilenden dahinzog. Ueberall ein Seufzen der Creatur, in Regina, über ihr, um sie – das war die Harmonie der Zerstörung, das war ein Bekräftigen ihres Entschlusses in ihr – ein Beschleunigen der Ausführung. Wie dunkel die Wasserfläche sich vor ihr ausbreitete! Das Wetter bereitete sich zum Sturme vor. Wie ein rufender Unhold fuhr es über den weiten schwarzen Spiegel, und der Wind warf Wellen auf, wie auf hoher See. Vor Reginas irren Augen nahmen sie die Gestalt lebender Wesen an – Dämonen, die sie in ihren Kreis riefen, lockten, als wäre in ihrer Mitte Ruhe – Vergessen. O, vergessen – eingewiegt sein in jenen letzten, ewigen Schlummer, der hinüberleitet in ein Nichts! Sie blickte nach oben; wie im Fieber arbeitete ihre wirre Phantasie. Der blitzende Stern – war es nicht derjenige, zu dem sie einst in vollster Liebeslust emporgejauchzt hatte? Jupiter, Jupiter! Zwischen schwarzen, zerrissenen Wolken leuchtete er hindurch – auf eine Stelle des Wassers – dort schwamm eine Gestalt, ein Weib, vom schwarzen Mantel verhüllt wie von ihrem dunklen Schicksal: sie trieb dem Ufer zu, von diesem aus setzte sich ein Kahn in Bewegung mit rohen Gesellen, die lange Haken bei sich führten. An diesen zerrten sie den Leichnam an’s Ufer, und rohe, frevelnde Reden waren das Todtengebet über dem Leichnam. Sie rissen ihm die Kleider ab, sie verletzten das jungfräuliche Geheimniß dieses Körpers, dessen Reinheit seine entflohene Seele sühnte – – Sie hörte das Gerücht ihres gewaltsamen Todes von Mund zu Mund gehen, die Muthmaßungen, die sich daran knüpften. Wenn man das Motiv ihres Todes ahnte, ihre Liebe zu Erich, wenn dieser ihr den Vorwurf in das Grab nachrufen würde: Warum mußte mir auch Regina das noch thun, nachdem ich so vieles erduldet hatte? Nein, keine lebende Seele sollte davon wissen, und ihm – ihm am wenigsten wollte sie eine Empfindung des Schmerzes bereiten. Sie wollte das Letzte, Höchste für ihn thun – sich selbst überwinden. Ja! Entschlossen, mit Aufbietung aller Kraft! Sie schüttelte den Kopf und stampfte hart mit dem Fuße auf. Dann verließ sie den Ort – nicht mehr die Regina von einst. Wie ausgegossen zur Sühne war das Blut aus der alten Heimath am Tajo; die da heimkehrte und sich langsam in Gedanken ihren Weg durch die Straßen suchte, als wären diese neu vor ihr erstanden und sie heute ein neuer Ankömmling – sie war in ihrem Innern ganz das Geschöpf der nordischen, friesischen Heimath, ein Wesen lichten Gedankens geworden. –
Das war vor einer Woche gewesen. Und nun? –
„Was thun Sie hier?“ fragte der Nachbar von oben, im Hereintreten. „Ich hatte angeklopft, verehrte Freundin, aber da ich keine Antwort bekam und die Thür meinem Drucke nachgab, so trat ich ein und sehe nun, wie Sie hier beschäftigt sind. Wollen Sie verreisen?“
„Ja, ich packe meine sieben Sachen – morgen geht’s fort, vielleicht heute noch – wie mir’s um’s Herz ist. Ich habe einen großen Schmerz gehabt, theurer Freund, und viel in mir erfahren: Nichts mehr davon, und dies im Vertrauen nur zu Ihnen! Früher wäre man in ein Kloster gegangen, wir in unserer auf Angriff und Abwehr zugeschnittenen Zeit, wir brauchen im Leben die Muskeln des Gedankens, statt der weichen, nachgebenden Empfindung. Sie haben, sagten Sie, zum zweiten Male achtundvierzig Stunden lang viele Sorge um mich ausgestanden und gefürchtet, als wäre mir etwas zugestoßen. Ich will Ihnen Aufklärung geben: ich war verreist. Vor Erschöpfung war ich eines Abends in ein Café eingetreten, um etwas zu mir zu nehmen, da las ich die Stelle einer Turnlehrerin in einem Mädcheninstitute ausgeschrieben. Dorthin reiste ich, um mich zu melden. Ich bekam die Stelle und werde nun meine geistige Turnkraft für mein weiteres Leben in Anwendung bringen. ,Thue auf Erden’, rief es in mir, ‚und erkenne dort oben!’ Ich danke Ihnen viel, mein Freund. Sie haben Blicke und Gedanken dort hinauf gerichtet, wo die Gesetze des Lebens in den Sternen geschrieben sind. Auch das Gesetz: daß alles scheinbar Verirrte, Unregelmäßige, Irrende nur der Harmonie des Ewigen zustrebt und daß alle Schuld nur eine Bestätigung des ewigen Gesetzes.“
Warbusch wußte nicht, was er zu der in Aussicht stehenden plötzlichen Trennung sagen sollte. Er machte eine Grimasse, als käme ihm das Weinen.
„Und nun werde ich wieder allein sein. Wer wird mich verstehen? Was wird Herr von Rechting dazu sagen?“
„Wie kommen Sie darauf?“ fragte Regina erschrocken.
„Ich habe ihm Alles gesagt – damit Sie es nur wissen – mit den fünfzehntausend Mark.“
„Sie haben mir Ihr Wort gegeben, Herr Warbusch.“
„Aber ich konnte es nicht halten. Herr von Rechting läßt Ihnen durch mich Vorwürfe machen, daß Sie nicht kommen, daß er Sie nicht zu Hause getroffen, um Ihnen den Dank seines vollen Herzens auszuschütten, und sich mit Ihnen zu besprechen, wie die Sache zwischen Ihnen weiter beglichen werden solle. Er wird Sie heute Abend abholen.“
Regina reiste noch vor Einbruch des Abends. Vor der Abreise schrieb sie ein kurzes Abschiedsbillet an Erich – gemessen, förmlich, fast kalt. In diesem bat sie ihn, nicht nach der Ursache ihrer Abreise zu forschen, ihr nicht gram zu sein, wenn sie ohne Abschied ginge. Was die andere ledige Sache betreffe, so sei das ein Pathengeschenk für Liddy. „Sie wußten“ schrieb sie, „wie ich das Kind liebte, aber nicht, daß ich reich genug bin, um meinem Liebling ein Andenken an seine Pathin zu hinterlassen.“
Das Billet kam in dem Augenblicke an, als das Dienstmädchen mit Liddy von der Promenade heimkehrte und erzählte, daß sie auf ihrem Spaziergange aus einer Droschke plötzlich angerufen wurden. Fräulein Regina habe darin gesessen und habe sie, das Mädchen, ersucht, ihr Liddy in den Wagen zu reichen. Das sei auch geschehen – Fräulein Regina habe das Kind an das Herz gedrückt und immer wieder angesehen, „so recht tief“. Als sie davon gefahren sei, habe Liddy die Aermchen nach ihr ausgestreckt und gerufen „Ina – Ina!“ Das Fräulein habe bitterlich geweint. – –
„Du leidest, Erich,“ sagte etwa acht Tage später Doris, „in Deiner Seele ist etwas, was Dich beunruhigt, Dich quält. Ich weiß es – und ich leide mit Dir.“
„Doris, ich kämpfe mit mir einen Entschluß durch. Ich kann den Proceß gegen Lideman nicht führen. Es geht über meine Kraft, es ist gegen mein Gefühl; ich muß um meine Entlassung beim Minister einkommen.“
„Man wird Dir eine andere Stelle geben, Erich, und am liebste wäre es mir, wenn wir nach einem kleinen Ort versetzt würden, wo wir uns selbst leben können, auch wenn ich mir Entbehrungen auferlegen müßte.“
„Das nicht – nicht mehr, Doris. Es ist heute zwischen mir und Herrn Warbusch ein Handel perfect geworden. Ich habe unser Grundstück um eine hohe Summe an den Fabrikbesitzer Lichtner verkauft, der sich häuslich niederlassen will. Das wäre es nicht; aber aus einem Berufe zu scheiden, der mir lieb geworden ist, in dem ich noch Gutes wirken kann – das hält mich ab.“
Auch diese Dissonanz sollte für Erich gelöst werden.
Am Abend kam Rüchel in’s Haus. Diesmal kam der zu so vielem verwendbare Mann als Leichenbitter mit langem Flor. Er meldete den Tod des Präsidenten. Dieser hatte sich im Gefängniß [205] den Tod durch Pfeilgift gegeben, welches er immer bei sich trug. Mit Bleistift hatte er eine Reihe von Personen notirt, denen man seinen Tod melden sollte, was pflichtschuldigst hiermit geschah.
„Der Herr Präsident waren immer höflich,“ sagte Rüchel zu Rechting. „Aber den Flor hier, den trage ich eigentlich für meinen Zimmerherrn. Eine wahre Seuche! Nun wird mir schon wieder Einer weggeheirathet. Herr Lichtner ist vor Glück rein toll. Morgen muß ich nun wieder eine Tafel aushängen, daß bei mir ein Zimmer zu vermiethen ist. Zur Notiz und Empfehlung werde ich hinzufügen, daß Alle, die bei mir wohnen, glückliche Bräutigame und Ehemänner werden.“ – –
Da, wo früher das bescheidene Landhaus stand, erhob sich nach einiger Zeit ein imposanter Prachtbau, den der Fabrikbesitzer Lichtner aufführen ließ und in welchem er seinem Sohne und dessen junger Frau die zweite Etage einräumte; auch das Benutzungsrecht an der Equipage und zwar mit Schimmeln, wie sie das Ideal der Geheimräthin von jeher waren, ertheilte er dem jungen Ehepaare. Die Geheimräthin war vollständig mit dem Gang der Dinge ausgesöhnt. Auch der Schicksalsstern des Geheimraths hatte seit dem Momente, wo der Stern auf seine Brust sich niedergelassen, einen freundlichen Schimmer angenommen; es gab nun ruhigere Zeiten und unter Umständen eine zärtliche Gattin.
Warbusch hat Ersatz für Regina in der Familie eines alten Freundes gefunden, und auf seine Veranlassung wurde das Planetensystem wieder an dem Hause befestigt. „Irrende Sterne!“ sagte Doris bedeutungsvoll, auf die Stellung der Planeten zeigend, als sie das erste Mal das neue Haus in seiner vollen Pracht sah. „Halten wir uns von nun an in den rechten Bahnen! Wir haben Alle erfahren, daß es auf diesem Planeten und in unserem Herzen kein dauerndes Glück giebt, das man sich nicht erkämpft hat.“