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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[579]

No. 35.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Teuerdank's Brautfahrt.
Romantisches Zeitbild aus dem 15. Jahrhundert.
Von Gustav von Meyern.
(Fortsetzung.)


Kopfschüttelnd ging der Alte davon. Nachdenklich blieb Max stehen. Die Nachricht des Rothbärtigen, daß ein Waffenstillstand verhandelt und eine französische Gesandtschaft in Gent erwartet werde, beunruhigte ihn. Wohl wußte er, daß die französische Partei in Gent mit den Kanzlern an der Spitze schon einmal nahe daran gewesen war, den Frieden mit Ludwig dem Elften und die Verlobung Maria's mit dem Dauphin durchzusetzen, aber auch, daß dies damals den Kanzlern in Gent den Kopf gekostet hatte. Inzwischen hatten freilich die französischen Heere reißende Fortschritte gemacht; sie hatten Burgund erobert, waren in Hennegau, ja schon in Flandern eingedrungen, sodaß das Genter Volk eingeschüchtert sein konnte. Und wie wenig auf Maria's Standhaftigkeit zu rechnen sei, bewiesen jene früheren Verhandlungen, die doch nicht ohne ihre, ob auch erzwungene Einwilligung hatten stattfinden können. „Wenn sie jetzt der Noth weichen, dem veränderten Volkswillen sich fügen müßte!“ sagte er sich, bei dem bloßen Gedanken erbebend. Aber doch sollte noch der Herzog von Cleve der Leiter des Volkes sein, der natürliche Feind der Franzosen. Dieser kleine Reichsfürst, der wegen einiger Besitzungen in Brabant am benachbarten burgundischen Hofe seinen Aufenthalt genommen, hatte bei den zerfahrenen Zuständen in Abwesenheit des Staatenheeres schnell mit Hülfe des Pöbels eine Art Herrschaft in Gent gewonnen und war der französischen Partei bisher überlegen. Allein wenn er selber Maria für seinen eigenen Sohn begehren sollte? Der Ruf sagte von ihm, er verstecke hinter äußerer Biederkeit eine ungewöhnliche Schlauheit und rücksichtslose Energie, sein Sohn aber, Prinz Adolf von Cleve, spiele zwar bei Hofe eine Art lächerliche Figur, sei jedoch ein tapferer junger Haudegen und beim Volke wohlgelitten.

„Es wird harte Kämpfe in Gent geben,“ seufzte Maximilian, „und ich nicht dort! Die arme, arme Maria! Schon über einen Monat, daß sie mich flehentlich gerufen. O, daß mein Vater meinen Bitten nachgegeben und mir das kleinste Banner, nur des Ansehens halber, bewilligt hätte! Aber ach, diese Reichsstände! Wenn sie schon für die nothdürftigste Sicherung der Ostgrenze mit Geld und Heeresgefolge kargen, was ist dann von ihnen für die Erwerbung neuer Länder zu hoffen, und wären es die blühendsten! Eine Gesandtschaft, eine glänzende Gesandtschaft, das ist das Einzige, womit man meiner Werbung bei den prunksüchtigen Brabantern und Flanderern Nachdruck verschaffen will. Und so muß ich seit einem Monat unthätig hier hinter der Grenze harren, mit strengstem Verbot, das Geringste voreilig zu unternehmen, wie ein Popanz mit glänzenden Flittern und Titeln – das Sinnbild der ohnmächtigen Majestät des Reiches! Himmel, gieb mir ein Tausendtheil der Ritter, die mir einst folgen werden, ja, gieb mir ein halbes Tausend bewaffnete Knechte, und bei meinem Schutzpatron, das Verbot des Kaisers und der Gehorsam des Sohnes werden mir leichter wiegen, als Ehre und Ritterpflicht!“

Ingrimmig schwang er sich auf sein Pferd, das mit den übrigen von den Reitknechten bereit gehalten wurde, und kaum daß die Gefährten von den Beutestücken zurückkamen, so winkte er dem Rothbärtigen; dieser bestieg seinen Klepper, und ohne den Anderen Zeit zu einem Worte zu lassen, sprengte der feurige Jüngling, geführt von seinem Verderber, bergabwärts der burgundischen Grenze zu.

So mochten sie schweigend eine Stunde geritten sein, durch ödes, mageres Weideland, das hier und da von Zwerggehölz unterbrochen wurde, als sich in kurzer Entfernung vor ihnen ein staffelförmig ansteigender Hochwald erhob, der im Zickzack eine schluchtartige Vertiefung umfaßte.

„In jener Schlucht liegen die Sauen, mon Seigneur!“ sagte der Rothbärtige, die Zügel anhaltend.

„Und wo ist die Reichsgrenze?“ fragte Maximilian.

„Hier vor uns ist sie, zwischen den Erlen der Bach, der sich links der Botrange zuwendet. Rechts läuft die Grenze mit dem Walde fast bis gegen Eupen, und wann Ihr heimreitet, Herr, braucht Ihr nur dem Saume zu folgen, um die Heerstraße zu gewinnen.“

„Und wie gedenkt Ihr uns aufzustellen?“

„Gerade hinein in die Schlucht müssen wir. Die Thiere liegen im engen Kessel, den wir absperren. Sie können uns nicht entkommen; seht nur die frischen Fährten, Herr!“

„Also vorwärts!“ rief Maximilian, nachdem er sich mit einem Blicke überzeugt hatte, daß auch Gefolge und Troß in der Nähe waren, spornte sein Pferd, erreichte den verhängnißvollen Bach und setzte mit einem Sprunge hinüber.

„Jetzt habe ich ihn,“ jubelte still für sich der Rothbärtige hinter ihm drein. „Im Kessel liegen die Cleveschen. Nur durch ein Wunder kann er entrinnen. Ma foi, heute bin ich ein Königsmacher. König Ludwig wird den kleinen Clever wie eine [580] Spinne zerquetschen, ich aber, ich fange ihm noch in ihrem Netze den gefährlichsten Feind. Lohn und Ehre sind mir sicher, und Burgund und Niederland mögen mir's danken, wenn sie an den ruhmvollen französischen Siegeswagen gespannt werden, statt an den rumpligen deutschen Karren.“

Und in der That, an diesem Bache, über den der Prinz schon gesetzt war, hing das Schicksal eines großen Reiches und mehr. Wurde dieses Reich ein Zuwachs Frankreichs – was würde aus Europa geworden sein? Gewann es ein machtloser kleiner Herr – wie bald würden die zusammengewürfelten, längst gährenden Theile ihr Band zersprengt haben! Dagegen mit dem ritterlichen Max an der Spitze – was schien nicht aus Niederland werden zu können!

Wie ein Schleier der Zukunft lag der graue Aprilnebel über dem Bache, aber kein Zauberspiegel warf darin Gebilde künftiger Geschicke voraus. Kein Schattenbild spiegelte hindurch; keine Vorahnung von spanischer Nachfolge, blutigen Bürgerkriegen und eines Alba unbeugsamer Schreckensgestalt.

Aber was war das? Warum hielt plötzlich der Prinz sein Pferd an und suchte seitwärts zur Rechten hinter den Erlenbüschen hindurch zu spähen, als ob etwas Außergewöhnliches seine Aufmerksamkeit fessele? Mit Schrecken gewahrte es der Rothbärtige; augenblicklich wendete er sich nach derselben Richtung und konnte selbst nunmehr einen Reiter erblicken, der in der Richtung von Eupen her mit hocherhobener Hand ein Zeichen zum Halten machte.

„Diable!“ knirschte er. „So nahe dem Ziele! Was kann das bedeuten?“

Auch das Jagdgefolge kam jetzt heran, und der fremde Reiter traf fast gleichzeitig mit demselben ein.

In grauer Gugel, grauer Kappe, mit grauem Barte würde ihn Jeder, der am Morgen den grauen Reiter von der Frankenburg fortjagen gesehen, für diesen gehalten haben. Auch hing ihm am Sattel selbst die länglich ovale Holftertasche mit dem seltsam geformten Gegenstande darin. Als er aber jetzt absprang, und sein Blick, den Jagdzug überfliegend und den Rothbärtigen flüchtig musternd, drüben auf dem Jünglinge mit der Adlerfeder haften blieb, da begannen seine Gesichtsmuskeln mit Hülfe der weit geblähten Nasenflügel ihre freudige Erregung in so eigenthümlicher Weise auszudrücken, daß der kleine Rathsschließer in Aachen darauf geschworen haben würde, dieser Mann sei trotz des grauen Bartes und der höckerlosen Nase ein und dieselbe Person mit dem rothen Spielmanne von Geldern.

„Zurück, Herr!“ rief er fast athemlos vor Erregung. „Zurück, Herr! Wichtige Nachrichten aus Wien!“

„Was giebt's?“ rief Maximilian herüber.

„Lest es, Herr! Hier steht es geschrieben,“ antwortete Jener, einen Brief hervorziehend.

„Gebt mir das Schreiben!“ drängte sich der Rothbärtige herzu. „Ich bin noch im Sattel und setze hinüber.“

Höhnisch zuckten die Nasenflügel des Grauen. „Dank Euch!“ sagte er kurz. „Bei uns im Lande Oesterreich schaut man sich einander auf den Fuchsschwanz an, Ihr aber habt deren zwei.“

Der Rothbärtige erblaßte und wandte sich dem Wildmeister zu. Maximilian aber sprengte mit einem Satze auf das Reichsgebiet zurück und schwang sich aus dem Sattel.

„Was ist es? Woher kommt Ihr? Gebt!“

„Die Botschaft ist geheim, Herr,“ raunte ihm der Graue zu. „Tretet mit mir hinter den Erlenbusch!“ Als sie vor den neugierigen Blicken der Anderen geborgen waren, faltete er auf einem Tuch sorgsam ein kleines briefförmiges Papier und überreichte es dem Prinzen.

„Was sehe ich?“ rief Maximilian mit einem Blicke auf die Außenseite, welche zur Aufschrift nichts als die Worte trug: 'An M.' „Ihr kommt aus Gent!“

„Still!“ fiel ihm der Graue in's Wort. „Keiner darf es ahnen. Herr, Herr, Ihr seid in Gefahr. Der Rothbärtige ist der Leibjäger des Herzogs von Cleve.“

Es durchzuckte den Prinzen, indem er hastig den Umschlag öffnete. „Und wer seid Ihr?“

„Ein Bote der Herzogin von Burgund.“

„Welche Fügung! In diesem Augenblick!“ rief Max mit frommem Blick nach oben. Dann löste er aus dem geöffneten Umschlag ein Blättchen Pergamentpapier, drückte es an die Lippen und las, von Maria's Hand geschrieben:

„Eile, Herzlieber, eile! Jede Stunde kann mich Dir auf ewig entreißen. Noch hoffe ich auf Dich. Verlaß mich nicht!

Maria.“

„Um Gott, was geht in Gent vor?“ fragte er, bleich vor Erregung. „Erwartet man nicht eine französische Gesandtschaft?“

„Das eben ist es, Herr. Der Clever mit seinem Pöbel hat keine Zeit mehr zu verlieren. Die Herzogin hat das Schlimmste von ihm zu fürchten.“

„Wahr, wahr! ... Aber ich ... wie kann ich helfen ohne Heer?“

„Vernehmt, Herr! Die Herzogin sendet Euch insgeheim fünfhundert Mann Geldrischer Reiter. Sie sind eben neu ausgehoben, um das Staatenheer gegen die Franzosen zu verstärken, und haben sich unter zwei Hauptleuten bis zum Limburgischen oberhalb Aachen heruntergezogen. Dort harren sie im Geheimen unweit Heerlen an der Grenze, und in ihrer Mitte getraue ich mich Euch auf Waldwegen durch Nordbrabant unbemerkt nach Gent zu geleiten. Es sind treue Leute, Herr, die blind gehorchen, und nur ihre Hauptleute sind im Geheimniß. Der Plan ist gut, Herr. Das Staatenheer steht unter dem Präsidenten gegen den Feind; der Clever hat in der Stadt nur wenig Mannschaft; auf drei Heerstraßen schickt er seine Abtheilungen gegen Euch aus. Die Herzogin setzt all ihr Heil auf Euch. Wagt es, Herr! Ihr dürft sie nicht im Stich lassen – bei Gott, Ihr dürft nicht.“

„Ja, bei Gott nicht, denn Er hat mein Gebet wunderbar erhört und zeigt mir sichtbar seinen Willen ... Fünfhundert Reiter, sagt Ihr, erwarten mich?“

„Echtes Geldernsches Blut, Herr!“

„Das ist, was ich eben erflehte, und so schwere Pflichten ich auch verletzen mag, ich komme.“

Die Züge des Grauen verklärten sich bei dieser Antwort; seine Gestalt hob sich, und es wäre unmöglich gewesen, zu glauben, daß dieser ernste Mann, dessen Auge jetzt mit einem so innigen, fast edlen Ausdruck auf dem kaiserlichen Jünglinge ruhte, jemals sich zum Possenreißer erniedrigen könnte.

„Aber Vorsicht, Herr, Vorsicht!“ mahnte er. „Niemand darf auch nur vermuthen, was Ihr vorhabt. Kündet den Anderen an, daß Ihr nach Wien zurückgerufen seiet, nehmt nur wenige Getreue mit, und spornstreichs, wie Ihr geht und steht, stoßet noch heute Nacht zu uns!“

„Gut ersonnen, Mann! Wer erdachte den Plan? Das kommt nicht von Euch.“

„Alles von der Herzogin!“ erwiderte mit einem verschmitzten Blick der Graue, indem sich seine Nasenflügel schwellten, wie wenn Jemand Mühe hat, einen Ausbruch von Laune zurückzuhalten. „Aber noch einmal, Herr, Vorsicht! Und habet wohl Acht den Rothbärtigen zu täuschen. Mein Leben verwette ich, daß er Euch nichts Gutes sinnt; was hatte er mit Euch vor?“

„Sauen dort in der Schlucht zu suchen.“

„Ich dacht' es, dacht' es. Gerade zur rechten Zeit! ... Glaubt mir, Herr, dahinter lauert Tücke, und lasset uns eilen, denn wäre hier etwas zu befahren, so würde Euch nicht einmal die Reichsgrenze schützen.“

„Nicht einmal die Reichsgrenze!“ wiederholte Maximilian bitter für sich. „Dahin ist es gekommen. Armes Römisches Reich! Aber es soll anders werden. Wohlan denn, die Sanduhr träger Ruhe ist abgelaufen. ... Komm', Freund! Mein Entschluß ist gefaßt.“

Und festen Schrittes kehrte er zu den Uebrigen zurück.

„Eine Botschaft des Kaisers ist mir von Köllen nachgesendet worden,“ sagte er. „Unsere Pläne sind verändert. Ich muß zurück nach ... nach Wien.“

„Nach Wien? Gegen die Türken?“ jubelte der Junker.

„Was Türken! Gegen die Ungarn. Nicht also, Prinz?“ fiel der Ritter ein. „Wien ist wohl von Matthias Corvinus bedroht? Seit Euer Vater ihm nicht gegen den Halbmond geholfen, ist er ihm ein schlimmerer Feind geworden, als Muhamed selbst.“

„So ist es,“ bejahte Max. „Und höchste Eile ist mir anbefohlen worden.“

Der Rothbärtige hörte es knirschend vor innerlicher Wuth. [581] Aber hoch aufathmend, als wäre ihm ein Alp von der Brust genommen, blickte der graubärtige Wildmeister zum Himmel.

„Sollte nicht mon Seigneur wenigstens noch ein Stündlein für uns erübrigen können?“ rang fast flehentlich der Erstere hervor. „Dort vor uns liegt das schöne Wild, das Ihr für unser gnädiges Fräulein erbeuten wolltet.“

„Des Kaisers Befehl duldet keinen Aufschub,“ fertigte ihn barsch der Ritter ab.

„Es thut mir leid für die Mühe, die Ihr Euch um mich gemacht habt,“ fiel Max ein, indem er sein offenes blaues Auge mit einem eigenthümlichen Forscherblick auf den Rothbärtigen heftete. „Aber ich kann Euch nur den Waldvogt mit dem Troß und den Rüden zur Verfügung stellen. So werdet Ihr auch ohne mein Zuthun Euren Zweck erreichen. Den 'Schrecken der Wälder' aber liefert mit meinem Gruße der Herzogin ab! Wohlan, Waldvogt, begleitet die Herren mit Euren Leuten und berichtet mir schriftlich, was Ihr in der Schlucht gefunden! Es verlangt mich sehr, davon zu hören. Ihr, Herberstein, und Du, Ceschy, folgt mir mit den Reitknechten und dem Packthier!“

Wie ein armer Sünder bohrte der Rothbärtige seinen Blick in den Boden. Aber noch einen letzten Versuch wollte er machen.

„Eure Pferde sind abgetrieben, Herr,“ sagte er aufblickend. „Sollte ihnen nicht eine kurze Rast ...?“

„Zu einem Imbiß für Mann und Roß möchte auch ich mich unterstehen zu rathen,“ fiel beipflichtend der Waldvogt ein.

„Und zu einem guten Trunk – nicht so, Vogt?“ spottete der Ritter. „Ei wohl, Ihr möget ihn Euch vergönnen, denn Ihr habt gute Weile. Uns aber dürstet nach Thaten.“

„Recht, Herberstein, und ich werde Euch den Bronnen zeigen, um Euren Durst zu stillen,“ rief Maximilian, sich in den Sattel schwingend. „Gott befohlen, ihr Herren!“

Und den Zurückbleibenden mit der Hand winkend, sprengte er mit seinen Begleitern und dem Grauen davon.

„Halb schon in der Falle, und doch!“ ... knirschte der Rothbärtige für sich und stampfte mit dem Fuße. „Die Pest über den Grauen!“ Dann sich zum Waldvogt wendend, der sich bereits unter einer Erle niedergelassen hatte und, den Inhalt einer Waidmannstasche vor sich ausbreitend, eben einen kräftigen Zug aus einem ansehnlichen Fläschlein that, warf er scheinbar gleichgültig hin: „Wahrlich, ein Kunststück war’s, uns hier aufzuspüren. Kennt Ihr den Fremden, Waldvogt?“

„Habe ihn niemals gesehen.“

„Glaubt Ihr, er komme von Oestreich?“

„Da hätt’ er mögen viele Klepper zu Tode reiten.“

„Aber von Köllen?“

„Möglich. Doch ein Deutscher ist’s nicht. Wenn Ihr nicht ein Welscher wäret, wie der Herr Collega sagt, würdet Ihr wissen, wie ich, daß er nach seiner Mundart ein Gelderer ist.“

„Ein Gelderer!“ wiederholte für sich, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, der Rothbärtige, während die Mundwerkzeuge des Andern sich der angenehmeren Unterhaltung mit einem halben gebratenen Birkhuhne hingaben. „Ein Gelderer! Also einer von den halben Rebellen, die dem Kanzler, wie dem Clever längst verdächtig sind. Sollte er auf ähnlichen Pfaden wandeln, wie ich? Dem Prinzen blieb das Wort 'Wien' in der Kehle stecken. Hat wohl das Lügen noch nicht recht erlernt? Ein Meister merkt das gleich. Sapristie, da gilt es wachsam sein und auf der Fährte bleiben. Zum Glück sind die Leute zur Hand, und der Waldvogt darf ohnehin nicht erfahren, was die Schlucht birgt.“

Nach kurzer Rast trennten sich der Waldvogt und der Rothbärtige, beide Theile mit freundnachbarlichsten Versicherungen, der behäbige Deutsche ohne Ahnung, an welcher Wandlung der Geschicke eines großen Reiches er hier theilgenommen, der arglistige Welsche mit dem Eifer und der Hast des Spielers, der das Glück zu zwingen gedenkt, ihm den verlorenen Einsatz zurückzuerstatten.

Und daß er in der That diese Hoffnung nicht aufgegeben, zeigte sich bald. Denn kaum eine halbe Stunde später konnte man einen Haufen von fünfzig Fußknechten die Schlucht verlassen und innerhalb des Waldsaumes auf der burgundischen Seite eilig nach Norden ziehen sehen. Und seltsam – fast gleichzeitig kam auf demselben Jagdklepper, den bisher der Rothbärtige geritten, ein Bäuerlein, im blauen Wollkittel stark in den Schultern steckend und im niedrigen Filzhute noch zwerghafter erscheinend, mit einem großen Hafersacke vor sich auf dem Sattel, an den Bach getrabt; er ritt fein säuberlich hindurch, untersuchte jenseits die Richtung der Hufspuren, die der Zug des Prinzen und seiner Begleiter zurückgelassen, und folgte ihnen alsbald in scharfer Gangart gen Eupen.

Der Prinz aber war unterdessen eine geraume Zeit, den Seinigen vorauf, dahingejagt. Der Nordwind hatte ihm längst die heiße Stirn gekühlt, aber seine Augen starrten noch immer vor sich hin in’s Blaue, während in seinem Innern hundert Pläne wie Nebelgebilde sich kreuzten.

Endlich hielt er sein Thier ein wenig an, um den Grauen an seine Seite zu rufen.

„Wie kamt Ihr dazu, mich an so entlegener Stelle aufzufinden?“ fragte er, sogleich weiter trabend.

„Ich erfuhr in Aachen, wo Ihr wäret, Herr, und ritt die Grenze so weit hinunter, wie Ihr selbst gelangt sein konntet. Ein gewaltiger Schuß aus der Ferne lehrte mich dann das Weitere.“

„Ihr sagt, die Herzogin von Burgund habe den Plan ersonnen. Aber wer stand ihr als Rathgeber dabei zur Seite und half ihr den Plan ausführen?“

Im Gesichte des Grauen zuckte es seltsam. Es schien ihm einen Kampf zu kosten.

„Das ist ein großes Geheimniß, Herr,“ versuchte er auszuweichen.

„Ich muß klar sehen bei solchem Wagniß, muß wissen, auf wessen Beistand ich zu rechnen habe.“

„Herr ... es kommt mich hart an, und jedem Andern würde es den Kopf kosten, aber ich glaube selbst, Ihr dürft es verlangen. So will ich Euch denn sagen, so viel ich verantworten kann. ... Es besteht ein furchtbarer Geheimbund ... eine Vehme.“

„Zu welchem Zweck?“

„Gegen die verrätherischen Franzosenfreunde, gegen die Mordbrennerbanden, gegen den Clever, gegen Jeden, der die Freiheit der Herzogin und der Staaten bedroht, und ... was sonst noch für Zwecke sind.“

„Steht die Herzogin mit dem Bunde in Verbindung?“

„Ich denke wohl. Aber ohne daß sie es ahnt, Herr. Sie soll nicht mehr vom Bunde wissen, als was im Volke umgeht, daß er vornehmlich die französischen Verräther im Lande bedroht. Ihr müßt nämlich wissen, daß nicht blos in Burgund, auch in Hennegau, selbst schon bis in Welsch-Flandern hinein Alles französisch geworden ist in Sprache und Sitten. Viele Edelleute gehen dem König Ludwig in Frankreich zu Lehen. So haben die Staaten die schlimmsten Feinde im eigenen Lande. Gegen sie ist der Bund, wie man glaubt.“

„Warum denn auch gegen den Herzog von Cleve, wie Ihr sagt?“

„Weil er selbst nur für einen ehrgeizigen Freibeuter gilt. Wenn er die Herzogin an seinen Sohn verkuppelt hat, wird er die Rechte der Staaten mit Füßen treten.“

Maximilian hielt unwillkürlich die Zügel an und sah dem Grauen mißtrauisch in’s Auge.

„Und wäre das nicht noch mehr von mir zu befahren, als von einem kleinen Herrn ohne eigene Macht?“

Der Graue befand sich offenbar in ziemlicher Verlegenheit; er wiegte den Kopf hin und her; seine Nasenflügel hoben und senkten sich. Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt.

„Euer Verhör ist scharf, Herr. Ihr zwingt mich, noch mehr zu sagen. ... Seht, unter den Staaten ist seit einigen Jahren auch Gelderland. Ihr wißt, das Herzogthum geht dem deutschen Reiche zu Lehen. Es ist ein weites, fruchtbares Land, von der Maas bis zur Zuydersee, mit einem freien, starken Volke. Es hat immer seinen eigenen Herzog gehabt, bis Graf Adolf der Böse mit seinem alten Vater, dem Herzoge Egmont Arnold, in blutige Fehde gerieth und ihn gefangen nahm. Da half sich der Alte mit einem verzweifelten Mittel. Er rief Herzog Karl den Kühnen, seinen Schwäher, zu Hülfe und verpfändete ihm dafür sein Land an Burgund. Adolf wurde von Karl geschlagen und mußte sich fügen, aber er hielt nicht Ruhe und stiftete neue Empörung an. Es half ihm nichts; er fiel in des Herzogs Hand und wurde auf Lebenslang in das feste Schloß zu [582] Courtray gesperrt mit sammt seinen beiden unmündigen Kindern Karl und Philippine. Nun hat ihn zwar Herzogin Maria nach ihres Vaters Tode jüngst freigegeben, aber nur unter der Bedingung, daß er gegen die Franzosen zöge, und da ist er als einer der Ersten bei Tournay gefallen. Somit ist das junge Prinzlein Karl unser rechtmäßiger Herzog – denn, daß Ihr’s wißt, Herr, auch ich bin ein Gelderer – aber immer noch halten ihn die Burgunder im Kloster, und da seine Vormünderin, seines Vaters Schwester, Katharina, sich eben an den Herzog von Kalenberg nach Deutschland verheirathet, so ist das arme Herrlein einzig auf die Treue seines Gelderlandes angewiesen. Denn wisset, Herr, wir leugnen das Recht Burgunds auf Gelderland und stehen zu unserem Herzogshause und wollen uns gern abarbeiten, um die Pfandsumme einzulösen, und nur dem deutschen Reiche zu Lehen gehen. Aber den Staaten und den Räthen Maria’s mit sammt den Clever mundet der fette Bissen, und sie wollen ihn für sich behalten. Sehet, da setzt nun Gelderland seine ganze Hoffnung auf das edle Herz der jungen Herzogin und auf Euch, den Erben des deutschen Reiches, seinen künftigen Lehnsherrn, und da unter den Häuptern des Geheimbundes auch ein Gelderer sein soll, der wieder in Verbindung mit der Umgebung der Herzogin stellt, so ziehen beide, so viel Euch betrifft, was man sagt, an einem Strange.“

„Ah, jetzt verstehe ich,“ nickte Max befriedigt. „Doch Eines nimmt mich Wunder. Ihr habt wohl die Kinder Adolf's von Geldern und seine Schwester Katharina, aber nicht seinen jüngeren Bruder, Hugo von Geldern, genannt.“

Ein fast unmerkliches Zucken fuhr bei dem Namen durch das Gesicht des Grauen.

„Graf Hugo ... allerdings ... er lebt, Herr, aber in fremden Kriegsdiensten. Man weiß nichts von ihm.“

„Ei, da kann ich Euch mehr von ihm berichten,“ lächelte Max. „Er ist, ob auch älter als ich, vordem mein liebster Spielgefährte gewesen. Sein Vater, der alte Herzog Arnold, hatte ihn als Knaben zu seiner Ausbildung an den Hof nach Wien geschickt. Da haben wir manche Pagenstreiche zusammen vollführt. Später kam er an italienische Höfe, und noch vor einem Jahre hörte ich, daß Herzog Galeazzo Sforza ihn wegen außerordentlicher Kriegsthaten selbst zum Ritter geschlagen habe.“

„Glück auf, Herr!“ rief der Graue, der ihm mir größester Spannung zugehört zu haben schien. Das ist eine gute Mär. Wenn die Gelderer hören, daß Ihr durch Graf Hugo freund mit ihrem Herzogshause seid, so gehen sie für Euch durch das Feuer.“

„Es nimmt mich Wunder, daß ein so tapferer Prinz die Seinen in der Stunde der Noth im Stiche läßt.“

„In Gent herrschen immer noch seine Feinde, Herr. Was könnte er da nützen? Er wartet wohl ab, wer Herr wird in Burgund. – Aber jetzt, wenn Ihr meinem Rathe folgen wollt, verlasset die Straße, Herr, geht nicht über Eupen und nicht durch Aachen! Ihr könntet Euch nicht unbemerkt die Grenze hinaufschlagen, und Ihr müßt, wie ich meine, etliche Tage lang wie vom Erdboden verschwunden scheinen. Der Rothbärtige ist ein Fuchs, und führt er etwas Böses gegen Euch im Schilde, so läßt er sich durch die falsche Fährte, auf die wir ihn gesetzt haben, nicht lange irre führen. Glaubet mir, dann sucht er neue Witterung, und hat er sie gewonnen, so wird er uns die Cleveschen aller Heerstraßen auf den Hals hetzen, dafern wir nicht Vorsprung gewinnen.“

„Kennt Ihr den Rothbärtigen?“

„Ich sah ihn nur einmal von fern mit dem Herzog. Aber wer die Fuchsschwänze einmal gesehen, vergißt sie so leicht nicht wieder. Zudem ist bekannt, daß der Clever Herr besonderes Wohlgefallen an durchtriebenen Gesellen hat, die er glaubt benutzen zu können, wie er will. – Aber sehet dort, Herr, an jener Lichtung zieht sich ein Waldweg um Eupen herum. Wenn Ihr diesen einschlagt und an einer guten Stelle im Forste Rast haltet, so führe ich Euch am späten Abend ungesehen in den Aachener Wald, und in vier Nachtstunden kommt Ihr noch heute jenseit Aachen die Grenze hinunter bis Heerlen zu Eurem Gleite. Dann habt Ihr auf alle Fälle einen Tag Vorsprung und könnt in vier Nachtritten durch die Wälder von Nordbrabant nach Gent gelangen.“

„Wohlan,“ sagte Maximilian, „biegen wir ab in den Wald und rasten wir! Noch liegt ein Stück Arbeit vor mir, das mir schwerer ankommt, als die Fahrt nach Burgund. Bei einem guten Trunk wird es leichter gehen.“

Und sie wendeten ihre Gäule in die Lichtung. Aber noch nicht eine Minute waren sie den Seitenweg geritten, als sie hinter sich den Ruf des Ritters vernahmen und die Zügel anhielten. In wenigen Galoppsprüngen war der Alte an ihrer Seite.

Offenbar verstimmt, bisher keiner näheren Mittheilung über die kaiserliche Botschaft gewürdigt zu sein, zudem ohne Imbiß seit dem Morgen, ohne eigene Beute aus der Jagd, zeigte er seinem jungen Herrn nicht eben das freundlichste Gesicht.

„Der Weg kann nicht nach Eupen führen, Herr,“ sagte er kurz.

„Eben deshalb wähle ich ihn, Alter,“ erwiderte ihm Maximilian mit einschmeichelndstem Tone. „Wir wollen im Walde rasten und uns gütlich thun, und dort sage ich Euch mehr.“

Der Alte biß sich auf die Lippen und ritt schweigend, aber unversöhnt, neben ihm weiter. In ihm arbeitete stiller Groll. Seit der Prinz volljährig, war er nicht mehr, wie vordem, sein Hofmeister, sondern ihm vom Kaiser nur noch als Rathgeber zugetheilt. Aber so treu ergeben er an ihm hing, er fand sich nur schwer darein, das alte Verhältniß umgekehrt zu sehen. Der Prinz war jetzt der Herr, und er der Diener, und der erfahrene alte Kriegsmann mußte oft genug erleben, daß sein vorsorglicher Rath vor dem feurigen Temperamente des jungen Kaisersohnes in den Wind verhallte. So hatte er sich mit der Zeit daran gewöhnt, überhaupt mit seinem Rathe zu kargen und nur zu sprechen, wenn er gefragt wurde oder wenn sein strenges Pflichtgefühl es gebieterisch forderte, mir Vorliebe aber dann, wenn der entschiedene Verzug des Prinzen, der junge Page, sein vorlaut unfertiges, oder gar leichtfertiges Urtheil zum Besten gab, weil ein solches, ob auch im ersten Augenblick verlacht, doch seines Eindrucks auf das leicht erregbare Gemüth des jungen Fürsten nicht zu verfehlen pflegte. War doch dieser selbst noch in jenem von Thatendrang übersprudelndem Alter, in welchem unter Verwegenen stets der Verwegenste und unter Vorlauten der Lauteste den meisten Beifall findet.

Die mürrischen Züge des Ritters erhellten sich erst, als man an einem lauschigen Platze, wo unter hohen Eichen ein Bach dahinrieselte, anhielt und der Prinz sich nach dem Packthiere umsah.

„Hier lasset uns rasten!“ rief Maximilian. „Koppelt die Pferde, gebt ihnen Brod, tränkt sie und laßt sie sich am Bache Waldgras und frische Kräuter suchen! Für uns aber ladet das Packthier ab!“

(Fortsetzung folgt.)




Buffalo-Bill.[1]


Wiederholt und von einsichtsvoller Seite ist die Kriegführung nachdrücklich getadelt worden, welche die amerikanische Regierung gegenüber den Indianern nun schon seit Jahren handhabt, und namentlich ist es die erfolgte Aufreibung und Aufopferung der Truppen, welche immer wieder die Unzufriedenheit aller Kreise der amerikanischen Gesellschaft wachruft. Wer erinnert sich nicht der lauten Entrüstung, die wie ein Schrei des Unwillens bei dem Tode Custer’s, dieses brillantesten Führers gegen die Indianer, durch das ganze civilisirte Amerika ging? Der Höchstcommandirende, General Crook, versprach damals ein rasches Ende des Feldzugs, aber obwohl die berühmtesten Scouts (Pfadfinder oder besser: Fährtensucher), die eine Spur mit gleichem Scharfsinne wie die Indianer

[583]

Buffalo-Bill.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

selbst aufzufinden wissen, immer wieder den Schlupfwinkel und Versteck der Feinde aufspürten, so waren doch, bis die Truppen langsam anrückten, die listigen Rothhäute stets entwischt, und der Sommer verging in nutzlosen Plänkeleien; die Truppen sind in ihre Winterquartiere eingerückt und die an den Kämpfen betheiligt gewesenen Indianer sammeln in ihren unzugänglichen Bergen frische Kräfte und begeistern sich an ihren Scalptänzen und Siegesgesängen zu neuen Thaten.

Der seiner Geschicklichkeit, Tapferkeit und Schlauheit wegen am meisten genannte Scout ist „Buffalo-Bill[2] Mr. F. W. Cody; er war es auch, der dem Großfürsten Alexis als Führer in den Prairien zur Büffeljagd beigegeben wurde. So ein Anführer der Scouts, wie Buffalo-Bill es ist, erhält von der Regierung für die Dauer seiner Dienste Majorsgehalt, Verpflegung und Pferde. Wenn die Scouts nicht von den Truppen benöthigt werden, so jagen sie auf eigene Rechnung, fangen Biber oder Opossums, ganz wie uns Cooper erzählt, und leben in steter Aufregung und Lebensgefahr, denn wenn sie auch noch so schlau sind, über kurz oder lang hängt doch ihr Scalp an dem Gürtel eines grimmigen Indianers.

Buffalo-Bill ist unter den Scouts eine eigenthümliche Erscheinung; er verwendet den Winter, seine Ruhezeit, nun schon seit vier Jahren auf höchst originelle Art: er läßt sich ein Schauspiel mit Scenen aus den Indianerkämpfen schreiben, zieht von Stadt zu Stadt und erwirbt auf diese gefahrlose Weise ein Vermögen.

Auch für Springfield war dieser Held des Tages, der vor [584] wenigen Monaten „Yellow Hand“ (gelbe Hand), einen Häuptling der Cheyennes, getödtet und scalpirt hatte, mit seiner Truppe angekündigt. Unsere amerikanischen Freunde konnten unser Entzücken darüber nicht ganz begreifen und noch weniger die bestimmte Erklärung: der Mann müsse uns vorgestellt werden und bei uns zu Gast sein – das war für unser puritanisch strenges, gesetztes und daher etwas spießbürgerliches Springfield doch eine zu starke Forderung, und „odd“ (ungewöhnlich oder wunderlich) war der glimpflichste Ausdruck, der uns dafür zu Theil wurde. Dennoch drangen wir mit unserem Wunsche durch.

Buffalo Bill wurde überall mit großen Lettern angekündigt; sein Drama hieß: „Der erste Scalp für Custer“, nahm also schon durch seinen Titel die größte Theilnahme in Anspruch. Wir hatten Sitze im Theater genommen; Buffalo-Bill, im Gespräch natürlich Mr. Cody genannt, war zu Tisch für den nächsten Tag geladen worden und hatte zugesagt.

Das Theater war gedrängt voll; freilich war das Publicum ein sehr gemischtes. Die Handlung des Stückes war weniger als unbedeutend, aber die einzelnen Scenen waren prächtig. Buffalo-Bill selbst erschien als Scout. Er trug ein Jagdhemd aus Leder, mit weißen Perlen benäht und mit Otterfell verbrämt, welches ihm, wie er uns später erzählte, eine indianische Squaw verfertigt hatte, ferner halbweite Leder-Beinkleider, oder Strümpfe, wie sie Cooper nennt, an den Seiten mit Franzen besetzt, welchen Anzug er seit vierzehn Jahren im Westen tagtäglich trägt. Er tritt in seinen Stücken immer als rettender Engel auf, erschießt Indianer-Häuptlinge, deren einer stets den herrlichen Federschmuck trägt, bestehend aus Krone und langem schmalem Mantel, welchen er dem bereits erwähnten Cheyenne-Häuptling „Yellow Hand“ abgenommen hat; er imitirt auch das Scalpiren und zeigt dabei Yellow Hand's wirklichen Scalp, von welcher Scene das Stück den Namen hat, da dieses Scalpiren die erste Waffenthat nach Custer’s Tode war.

Es traten noch einige andere Scouts mit Buffalo-Bill auf, alle in ähnlichen Anzügen, mit den riesigen Sombreros auf dem Kopfe, die langen Flinten in der Hand, die fürchterlichen Bowiemesser im Gürtel. Mit einem Bösewicht führt Buffalo-Bill einen jener entsetzlichen Messerkämpfe auf. Er ist einer der schönsten Männer, die man sehen kann, über sechs Schuh hoch, breitschulterig und doch schlank und elastisch, mit lang herabwallendem dunklem Haar und eben solchem Henri-quatre; seine großen rehbraunen Augen blitzen, wenn er erregt ist, furchtbar. Seine Jägerkleidung ist äußerst vortheilhaft für eine so schöne Gestalt, und eigenthümlich ist sein geräuschloses Auftreten in den weichen Mocassins.

Das Stück spielt, wie natürlich, in den schwarzen Bergen, dem Schauplatze der Indianergefechte, und man lebt Scenen nachträglich mit durch, welche sich wirklich begeben haben. Neben den heldenhaften dürfen die komischen Figuren selbstverständlich nicht fehlen, und der Irländer, der Deutsche und der Nigger spielen nach dieser Seite hin die Hauptrollen. Als zum Schluß Buffalo-Bill den Häuptling scalpirte und den wirklichen Scalp mit der einen Hand hoch erhob, während er sich mit der andern auf seine lange Flinte stützte, war er ganz das Bild eines Cooper’schen Helden. Seine Worte: „Der erste Scalp für Custer“ und die dabei bildlich dargestellte Apotheose des gefallenen Generals, sowie das sie begleitende Geheul auf der Galerie – alles dies mahnte an die Wirklichkeit.

Die Mittagsstunde des nächsten Tages rückte heran, und die Damen des Hauses harrten mit etwas bangen Gefühlen unseres Gastes, der sich auf der Bühne bei passender Scenerie, in gewohnter Umgebung wohl recht gut und vortheilhaft ausgenommen hatte, seine Salongewandtheit aber erst darthun sollte; wir fürchteten, ihn als eine der Figuren Bret Harte’s auftreten zu sehen, von denen es besser ist, sie nur im Buche kennen zu lernen.

Zur bestimmten Stunde erschien der ersehnte und gefürchtete Gast, leider nicht im Federkleid, sondern im „Civilanzug“, was ihm aber ein noch hünenhafteres und exotischeres Ansehen gab, da er den hier ungewohnten riesigen Sombrero beibehalten hatte. Nach allgemeinem Händeschütteln und gegenseitigen Vorstellungen trat die fast gewöhnliche kleine Pause vor Beginn eines Diners ein, und Buffalo-Bill, oder Mr. Cody, wie wir ihn nun „entledert“ nennen müssen, benutzte dieselbe, um einen raschen Blick über die kleine Gesellschaft zu werfen. Vielleicht wollte er auskundschaften, was wohl der Grund der Einladung gewesen. Da er aber überall nur auf dieselbe natürliche, aufrichtige Theilnahme und dasselbe rege Interesse am Ungewöhnlichen traf, welches ihm der Hausherr schon stürmisch entgegengebracht hatte, erheiterte sich sein anfangs sehr ernstes Gesicht zusehends, und seine etwas reservirten Bewegungen wurden wieder ungezwungen und natürlich.

Das Zeichen zum Aufbruche wurde gegeben, und wir begaben uns in das Eßzimmer. Vom Tische blinkte uns, bräunlich glänzend, der schöngebratene Truthahn, der Festbraten der Amerikaner, entgegen, und wir dankten es diesem schönen Vogel, daß das Gespräch sich augenblicklich belebte. Ein Freund des Hauses, Oberst W., zerlegte den Truthahn, und Buffalo-Bill konnte die Bemerkung nicht unterdrücken, daß der Oberst ein wahrer Künstler mit dem Messer wäre. Auf die Frage: ob Buffalo-Bill sich nicht zutraue, das Messer ebenso gut zu handhaben, meinte er: an so kleinen Thieren hätte er sich nie geübt; an einem Elk oder Büffel könne er seine Kunst schon zeigen.

Nun hatten wir unsern Gast gleich zu Anfang, wo wir ihn haben wollten – auf der Prairie, bei den Büffeln. – Er erzählte uns, daß seine Mutter eine Quäkerin englischer Abkunft aus Philadelphia gewesen sei, sein Vater Amerikaner und Agent für die Indianer, weit draußen im Westen auf einem vorgeschobenen Posten.

Da das Wesen dieser Agenturen vielleicht nicht allgemein bekannt ist, muß ich hier einige Worte über dieselben hinzufügen. Indianische Agenturen sind eine Art Cordon, der sich um die indianischen Reservationen zieht und gleichsam die letzte Grenze zwischen Civilisation und Wildniß, zwischen Bleichgesicht und Rothhaut bildet. Diese vorgeschobenen Posten, aus einem oder mehreren Blockhäusern bestehend, sind von Agenten bewohnt, welche von der Regierung aufgestellt werden, um die in ihrem Umkreis wohnenden Indianerstämme durch Subsidien an Pulver, Blei, Lebensmitteln, Decken und baarem Gelde freundlich gesinnt zu erhalten oder wieder zu versöhnen. Ein solcher Agent bekommt gegen 1200 Dollars Gehalt, macht sich aber leider in vielen Fällen auf Unkosten der armen Indianer ein großes Vermögen durch Verrechnung von nie an sie abgeführten Waaren und Geldern. Viele dieser Agenten haben sogar Indianerinnen zu Frauen, wodurch zwar eine freundlichere Stimmung der Stämme erzielt, aber nicht selten auch der Unterschleif begünstigt wird.

Diese Politik gegenüber den Indianern wird sehr getadelt; auf der einen Seite werden dieselben beschützt und bevorzugt, auf der andern verfolgt und vernichtet; mit der einen Hand giebt man, während man mit der andern nimmt. Die klugen Indianer machen sich diese sonderbaren Verhältnisse indessen zu Nutze, da der Agent unmöglich genau wissen kann, wie viele Indianer auf der Agentur anwesend sind und wie vielen er Subsidien zu entziehen hat; es kann daher immerhin eine Anzahl Krieger zu den feindlichen Stämmen stoßen und nach mitgemachten Scharmützeln ruhig nach Hause ziehen, die Wunden pflegen und sich an den ausgetheilten Lebensmitteln und Vorräthen laben, wie es nach den Kämpfen dieses Sommers gar oft der Fall war.

Diese Agenturen führen meistens den Namen des bedeutendsten Häuptlings der daran wohnenden Stämme, sind aber höchst exponirte Posten, da die paar darauf lebenden Männer, der Agent mit Familie und einigen Knechten oder Arbeitern, vollkommen machtlos wären, irgend einen feindlichen Angriff abzuwehren. Die Indianer werden auch nur durch die Angst vor Repressalien in Schach gehalten, welche zu fürchten sie oft Gelegenheit hatten.

Auf einer solcher Agentur wuchs Buffalo-Bill auf; er besuchte sogar eine sich damals dort befindende Missionsschule, genoß aber, wie er lachend gestand, nur drei Wochen lang Schulunterricht, da er einer Züchtigung halber davongelaufen war. Seine Mutter lehrte ihn lesen und schreiben, die Indianer fischen und jagen, und die Nothwendigkeit das Uebrige.

Als er als junger Bursche von einem längeren Jagdzuge auf die Agentur zurückkam, fand er das elterliche Blockhaus niedergebrannt, Vater und Mutter getödtet und scalpirt. Von da an schwur er den Rothhäuten Rache und bildete sich zum Scout und Kundschafter aus, bis er endlich in den letzten Jahren von der Regierung zum Chef der Scouts ernannt wurde.

[585] Mit Stolz erzählte er von den Jagden, die er mit dem Großfürsten Alexis abgehalten, und zeigte eine schöne Vorstecknadel, mit einem großen Türkis verziert, die derselbe ihm nebst anderen werthvolleren Gegenständen zum Geschenk gemacht hatte.

Seinen Beinamen „Buffalo-Bill“ hat er folgendem Vorgange zu danken: Der Stamm der Pawnee-Indianer war ihm sehr aufsässig, da er in Scharmützeln vergangener Jahre mehrere ihrer Tapfern getödtet hatte, weshalb er oft vor ihnen gewarnt und ermahnt wurde, auf seiner Hut zu sein. Einmal, im Sommer, war er einem General zugetheilt, der in einem der größeren militärischen Forts in Garnison lag, und beauftragt, einen guten Jagdgrund für eben diese Pawnees zu suchen. Als nun die erste Heerde Büffel erschien, umzingelten die Indianer, gegen hundertfünfzig Mann stark, mit gewohnter Geschicklichkeit die Heerde und erlegten nicht weniger als fünfundzwanzig dieser mächtigen Thiere. Mr. Cody bat den General, ihm zu erlauben, die nächste Heerde Büffel allein zu attaquiren, um den Indianern zu zeigen, „wie man Büffel schießen müsse“. Es wurde ihm bewilligt; die zweite Heerde erschien, und Mr. Cody ritt in gewohnter Weise allein in sie hinein; die Zügel seines gut dressirten Pferdes mit den Zähnen, das Gewehr aber bald im rechten, bald im linken Arm haltend und immer seines Zieles, auch im schärfsten Galopp und bei den kühnsten Wendungen, sicher, erlegte er siebenundvierzig Büffel.

Die Indianer waren überrascht und erstaunt, sich in dieser Weise von einem einzelnen Manne, und noch dazu einem „Weißen“, in ihrer eigenen Kunst und Geschicklichkeit übertroffen zu sehen, da sie aber die größte Achtung vor Tapferkeit und Geschicklichkeit haben, so wandelte sich ihr Haß gegen Cody in Freundschaft und Bewunderung, und von da an hieß er „Buffalo-Bill“. Er liebt diesen nom de guerre auch so, daß er sich nie anders unterschreibt als: Mr. F. W. Cody, Buffalo-Bill. Die Indianer nennen ihn aber noch lieber „Langhaar“ – seines wallenden Haares wegen, auf welches sie in aller Liebe und Freundschaft wohl immer noch speculiren.

Den vorigen Sommer wurde Buffalo-Bill dem General Merritt beigegeben, war also nicht bei der Custer-Affaire. Eines Tages wurden heranrückende Indianer angemeldet, welche den Militärtrain für die Avantgarde hielten und mit ihm in Kampf geriethen. „Yellow Hand“, der schon erwähnte junge Cheyenne-Häuptling, wählte sich Buffalo-Bill als würdigen Feind; dieser kniete kaltblütig nieder, zielte und sandte eine Kugel durch das Bein des Häuptlings, welche zugleich das Pferd tödtete; Roß und Reiter stürzten, und ehe Letzterer sich wieder aufraffen konnte oder seine Freunde ihm beizustehen vermochten, hatte eine zweite Kugel ihn getödtet. Wüthend erreichten die zu Hülfe gesandten Indianer den Kampfplatz, im festen Glauben, die tollkühne kleine Bande zu vernichten, als zu ihrem Entsetzen eine lange blaue Linie wie aus der Erde vor ihnen auftauchte und Compagnie K mit Oberst Mason an der Spitze an sie heranbrauste.

In wilder Hast flohen die Cheyennes, ihre Todten zurücklassend, und nur selten bei unsicherem Feuern kurzen Stand haltend. Obwohl selbst verwundet, fand Buffalo-Bill doch Lust und Muße, den Cheyenne-Häuptling seines prachtvollen Federschmucks, seiner Mocassins und – seines Scalpes zu entledigen.

Buffalo-Bill hatte, von uns dazu aufgefordert, das Vorstehende so einfach und natürlich erzählt, als ob es sich um ganz Alltägliches handle; ich konnte den Bericht über das „Scalpiren“ aber nicht so ruhig hinnehmen und fragte, ob ein besonderer Grund für Nachahmung dieses scheußlichen indianischen Gebrauches vorliege. Seine Erklärung und Entschuldigung war: Die Indianer machen sich aus dem Sterben gar wenig, das Verlieren des Scalpes ist aber für sie schrecklich; ohne Scalp kann der Indianer nicht feierlich begraben werden; ohne Scalp kann er nicht in den „glücklichen Jagdgründen“ erscheinen; ferner haben Soldaten und Scouts so oft mit Heldenthaten geprahlt, wollen so viele Häuptlinge und Krieger getödtet haben, stecken wohl auch dafür ausgeschriebene Prämien ein, daß ein Beweis nothwendig geliefert werden muß, und – das ist der Scalp. Von den Indianern erführe man nie Gewisses, da sie so lange wie möglich ihre Verluste verheimlichen oder Lügen darüber ausstreuen.

Als eine anwesende alte Dame Buffalo-Bill fragte: ob der Häuptling aber auch gewiß todt gewesen sei, als er ihn scalpirte, flog ein eigenthümlich kaltes und hartes Lächeln über Bill’s Züge; die weißen Zähne schlossen sich fest, als er sagte: „Es war ziemlich lebhaft um mich herum; ich mußte mich beeilen, er wird aber wohl schon ganz todt gewesen sein.“

Und da saß dieser Mann, dieser kühne Jäger und kaltblütige Schütze, aufgewachsen an der Grenze der Civilisation, im täglichen Kampf mit wilden Thieren und noch wilderen Menschen, er, der von jeher die Rohesten unter den Rohen als Umgang und Gesellschaft gehabt hatte – da saß er, in Manieren und Bewegungen ein echter Gentleman; kein derbes unpassendes Wort kam über seine Lippen, kaum ein leicht verzeihlicher halber kerniger Ausdruck bei animirter Erzählung einiger „Border-life“-Scenen. Und wie beschämt würden manche unserer feinsten Herren und Damen seiner Handhabung des Messers und der Gabel zugesehen haben! Nie führte er das Messer an den Mund, noch weniger schnitt er sich kleine Stücke vor, wie ich oft in der alten Welt in den besten Kreisen zu sehen Gelegenheit hatte. Im Anstand beim Essen hat der geringste Amerikaner etwas vor dem höchsten Europäer voraus, denn was bei diesem anerzogen ist, das ist bei jenem angeboren, aber doch hat es mich überrascht, selbst bei diesem Sohne der Wildniß dieselbe Eigenthümlichkeit anzutreffen.

Eine Scene aus seinem Leben muß ich hier noch erzählen, da sie sowohl den Mann selbst, wie das wilde gesetzlose Leben da draußen kennzeichnet.

In einem der so rasch entstehenden Goldgräber-Dörfer rannte eines Tages ein Betrunkener wie wahnsinnig herum, auf alle ihn Begegnenden mit seinem Revolver schießend; der Mann war als schlechtes, verrufenes, immer Händel suchendes Subject bekannt, und Alles flüchtete in die Häuser und Hütten. Da kam ihm Buffalo-Bill entgegen; der Betrunkene legte an, zielte – in demselben Momente winkte Buffalo-Bill wie abwehrend mit der Hand und sagte kaltblütig, als ob er zu Jemand hinter ihm spräche: „Schieße nicht! Er macht nur Scherz.“ Der Säufer sah sich rasch um und fiel in demselben Moment, von einer Kugel aus Buffalo-Bill’s Rohr getroffen, todt zu Boden. Diese beispiellose Geistesgegenwart hat nicht nur dem Scout, sondern vielen Anderen das Leben gerettet.

Buffalo-Bill ist achtunddreißig Jahre alt, aber trotzdem und ungeachtet des rauhen Lebens, welches er führt, hat sein Blick und selbst sein Betragen etwas Kindliches, was wieder ganz an den „Lederstrumpf“ erinnert. Daß ihm auch Sentimentalität nicht fremd ist, beweist Folgendes: Er benutzte während vieler Jahre eine Flinte, welche er „Lucrezia Borgia“ getauft hatte, und als diese nach und nach dienstuntauglich wurde und er die Patronenhülsen immer mit dem Ladestock herausstoßen mußte, wurde er einmal auf der Jagd durch dieses Versagen so in Wuth gesetzt, daß er die alte Waffe an einen Baum schlug; der eiserne Lauf blieb tief im Stamme stecken. Mißmuthig ritt er in sein zwanzig Meilen entferntes Lager; dort angekommen, war sein Zorn verflogen – das treue Gewehr, welches ihm so oft das Leben gerettet, erbarmte ihn, und müde wie er war, ritt er zurück und holte es sich wieder; nun hängt es bei ihm zu Haus in Rochester, N.-Y. – Buffalo-Bill ist nämlich seit einigen Jahren verheirathet.

Bei Erwähnung seines Lieblingsgewehres – die Gewehre, die er immer benutzt, sind „Winchester Repeating Rifles“ – reichte ihm eine Dame zum Scherz ein kleines Etui mit einem Modell österreichischer Cavaleriepistolen, welches auf dem Kamingesimse stand. Das Erstaunen und Entzücken Buffalo-Bill’s beim Erblicken dieser winzigen, wundervoll gearbeiteten Pistolen, von einer belgischen Fabrik verfertigt, war wirklich amüsant; er zog die Hähne auf und war überrascht von der Stärke der Pistons; er bewunderte den kleinen, elfenbeinernen Griff, schraubte den ciselirten, zolllangen Lauf ab und war wieder der leibhaftige „Hirschtödter“ beim Erblicken der elfenbeinernen Elephanten. Als ich ihm nun die Pistolen zum Geschenk anbot, war er wirklich sprachlos vor Freude: dann aber war sein erstes Wort: „Was würde ein Indianer sagen, wenn er diese Pistolen sähe? Was würde er mir nicht dafür bieten? Wenigstens zwei Maulthiere und Felle. Aber diese Pistolen sind mir um Nichts feil; ich habe schon viel geschenkt erhalten, aber nichts, was mir so viel Freude gemacht hätte.“

Ich sagte ihm, daß meines Wissens nur zwei Paare dieser Modellpistolen existiren, ein Paar im Besitz des Erzherzogs [586] Albrecht von Oesterreich und das zweite Paar nun in seinen Händen. Er war von der Seltenheit seines Geschenkes so überzeugt, daß ihm diese Erklärung ganz Nebensache war und überflüssig erschien. Die paar Stunden, die er bei uns zubrachte, ließ er die kleinen Waffen nicht aus der Hand, und nur beim schwarzen Kaffee lenkte die Nonplusultra-Dampf-Kaffeemaschine von Bude und Comp. in Wien seine Aufmerksamkeit einige Augenblicke ab; er verfolgte mit dem größten Interesse meine Manipulationen, und als plötzlich der Dampf zischend durch die kaum sichtbare Oeffnung entwich und zugleich der herrliche Kaffee in die Kanne tropfte, meinte er: das benöthige ja einen eigenen Ingenieur und die Indianer würden, dieser Maschine gegenüber, an ein Wunder glauben.

Zwei Recepte, welche er uns gab, muß ich doch für Feinschmecker noch mittheilen: Man erlegt einen Büffel, schneidet ihm den Kopf ab, gräbt eine Grube, füllt sie mit dürrem Holz und zündet dasselbe an; wenn die Gluth groß genug ist, legt man den Büffelkopf mit Haut und Haar hinein, häuft Erde darüber und legt sich, in seine Decken und Felle gehüllt, zur Ruhe; am Morgen gräbt man den Kopf aus, bricht ihn mit einer Axt auf und hält nun eine herrliche, leckere und kräftige Mahlzeit. – Auch eine indianische Zubereitung hat er uns mitgetheilt, die nach culinarischen Principien ganz correct ist, die aber des dabei angeordneten Materials wegen recht „indianisch“ ist: Man schneidet saftige Stücke aus dem Büffelfleisch, wickelt sie in Büffel-„Dünger“ und hängt sie an Stöcken über das Feuer; wenn diese Hülle abfällt, sind sie gahr und haben nicht einen Tropfen Saft verloren.

Der Hausherr fragte Bill unter Anderem: ob und womit die Pferde da draußen geputzt und gepflegt würden. „Mit Peitsche und Sporn“ war die Antwort, und wieder erschien das kalte Lächeln, und die weißen Zähne schlossen sich. Wären diese kleinen Blitze einer wilden und bei aller Kaltblütigkeit in Momenten der Aufregung vielleicht doch ungezügelten Natur nicht gewesen, so würde mir der Mann fast zu „zahm“ erschienen sein, und dies hätte mir das Bild eines waghalsigen Jägers und todesverachtenden Fährtensuchers bedeutend beeinträchtigt.

Als es Zeit zum Aufbruch war, nahmen wir herzlich Abschied von dem gentlemanischen Scout, dieser specifisch amerikanischen Figur, und obwohl ich mich eines leichten Schauders beim Gedanken an das Scalpiren nicht erwehren konnte, erwiderte ich doch herzhaft seinen kräftigen Händedruck. Am andern Tage erhielten wir von unserem ungewöhnlicher Gast eine sehr gute Photographie, die ich beilege und deren Veröffentlichung in passender Holzschnittwiedergabe ich der Redaction überlasse.




Ein deutscher Dichter, Denker und Dulder.


„Sie sehen in mir nur das Fragment eines Menschen“ – dies waren die ersten Worte, mit denen Heinrich Landesmann, der unter dem Pseudonym „Hieronymus Lorm“ gefeierte Schriftsteller, in seinem Hause zu Dresden mich begrüßte. Und eine wie schmerzlich-wahre Illustration bildet seine äußere Erscheinung zu diesen Worten: vorgebeugten Hauptes, das Schmerz und Zeit geneigt hatten, wurde er am Arme seiner Gattin mir entgegengeführt; die fast erloschenen Augen versagten ihren Führerdienst. Als die Worte meines Gegengrußes dem beinahe erblindeten Schriftsteller durch eine Zeichensprache von seiner Begleiterin übermittelt wurden, drängte sich mir die traurige Gewißheit auf, daß Lorm auch – taub sei: fast blind und ganz taub und dazu noch von einer dem Fremden schwer verständlichen Sprache, die, nicht mehr controlirt und geleitet vom Ohr, eigenthümlich unklar geworden ist – fürwahr nur das Fragment eines Menschen!

Schon von seinem dreizehnten Jahre an litt er (Lorm ist am 9. August 1821 zu Nikolsburg in Mähren geboren) an den Augen und dem Gehör; mit dem fünfzehnten verlor er das letztere vollständig, und damit den angegriffenen Augen nicht ein gleiches Unglück widerführe, mußte er die bis dahin mit auffallendem Erfolg betriebenen Studien unterbrechen. Sein poetisches Talent hatte sich aber bereits geregt; schon in seinem fünfzehnten Jahre brachte die „Wiener Theaterzeitung“, das damals gelesenste Blatt Oesterreichs, von ihm einen Aufsatz über Jean Paul und einige Gedichte, in denen die Klage über sein Schicksal ohne Groll mit sanfter, kindlicher Schwermuth ausgesprochen war.

Das Verbot des Weiterstudirens erfüllte Lorm mit der grauenhaften, psychologisch begründeten Furcht, daß bei Verschlossenheit der Außenwelt das Versagen einer kräftigen, geistigen Unterstützung seiner Innenwelt einen Zustand des Blödsinns herbeiführen könnte. Endlich sah man ein, daß diese Angst in der That das bereiten könne, vor dem sie zurückbebte, und gab ihm die vielgeliebten Bücher frei. Mit einem brennenden Durst, der durch die zeitweilige Entsagung nur noch glühender geworden war, warf er sich auf das Studium der alten und neuen Sprachen, der Philosophie und Literatur.

Im Jahre 1846 trieb ihn die Mißwirthschaft des Metternich’schen Systems mit seinen unheilvollen Wirkungen auf das Geistesleben seiner Heimath zur Abfassung des Buches: „Wiens poetische Schwingen und Federn“. Um seiner Familie keine politischen Verfolgungen zuzuziehen, nahm er bei Herausgabe dieses Buches den Schriftstellernamen Hieronymus Lorm an. Er selbst siedelte nach Berlin über, wo er theils studirend, theils producirend thätig war, indem er für die „Europa“ kritische Aufsätze und die ersten Versuche im Feuilleton lieferte. Diese frühesten Arbeiten Lorm’s fallen in sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr, da er bis zu dieser Zeit eigene Produktion sich versagt hatte, um ausschließlich dem Studium sich hingeben zu können. –

In das befreite Vaterland zurückgekehrt, war Lorm bald einer der gesuchtesten Feuilletonisten der österreichischen Presse. Nach doppelter Richtung hin war er von nun an thätig: die eine umschloß theils belletristische Erzeugnisse, namentlich Novellen, gesammelt unter den Titeln „Am Kamin“, „Novellen“, „Erzählungen des Heimgekehrten“, theils aber Betrachtungen der Tagesereignisse, die sich durch graziöse Anmuth und Witz auszeichneten und nie gesammelt wurden, weil sie mit dem Tage selbst zu verwehen bestimmt waren; die andere Richtung umfaßte ernste Arbeiten, von denen nur eine überaus kleine Auswahl unter dem Titel: „Philosophisch-kritische Streifzüge“ erschien, die dem Verfasser den Titel eines Doctors der Philosophie von der Universität Tübingen einbrachte.

Inzwischen hatten die unausgesetzten Studien und Arbeiten seine schon ursprünglich schwachen Augen so sehr geschädigt, daß das Sehvermögen des einen gänzlich zerstört wurde, und von dem des anderen nach zwei Operationen nur noch ein kleiner Rest gerettet wurde, der keinen Aus- noch Ueberblick, keinen Genuß an der Natur und den Werken der Kunst mehr gestattet und gerade nur hinreicht, mittelst eines besonders construirten Apparates ein mühseliges Lesen und Schreiben zu gestatten.

Das Papier, dessen sich Lorm zu seinen schriftstellerischen Arbeiten bedient, ist wie ein Linienblatt präparirt, zwischen dessen dicke schwarze Querstriche die Buchstaben hineingekritzelt werden, da ohne diese Direction die Zeilen auf Abwege gerathen und sich in’s Bodenlose verlieren würden. Die Schriftzüge sind leidlich leserlich und erzählen eigentlich nur dem Eingeweihten von der körperlichen Pein, die ihre Entstehung ihrem Schöpfer verursacht. Nicht minder qualvoll ist das Lesen für Lorm: Buchstaben für Buchstaben muß er durch jenen Apparat sich zusammensetzen, bis dem durch eine so mühselige Lectüre nur zu schnell Erschöpften irgend ein Glied seiner Familie durch die Zeichensprache das Weitere „telegraphirt“.

Es bedeuten nämlich die Finger der Hand und ihre Theile bestimmte Buchstaben, so daß man durch Berühren der betreffenden Stelle an der Hand Lorm’s den bestimmten Buchstaben bezeichnet. Auf diese Weise nun kann man demselben einzelne Worte, Sätze, ja ganze Geschichten „telegraphiren“. Dies scheint zunächst zwar sehr langwierig und umständlich, die Uebung aber macht auch hierin zum Meister und mit bewundernswerther Schnelligkeit, Schritt haltend mit einem ruhig und stetig Sprechenden, verdolmetschen die Seinigen ihm Alles, während er dagegen mit liebenswürdigster Geduld auch den langsam-schüchternen Versuchen eines neugewonnenen Freundes Stand hält, der mühsam-unbeholfen an seiner Hand herumbuchstabirt. Erräth Lorm an den ersten [587] Buchstaben das ganze Wort, so erleichtert er auch wohl dem Anfänger die Mühe, indem er dasselbe ausspricht und ihm so die langsame Procedur erspart.

Sonst gestattet ihm, wie gesagt, die fast zerstörte Sehkraft seiner Augen keinen An- und Ueberblick, keinen Genuß an der Natur – nur da, wo die Bäume schattig dicht zusammentreten, wie z. B. im Friedrichsgrund bei Pillnitz, fällt ein Schimmer des grünen Lichtes in seine erloschenen Augensterne und von einem solchen Frühlingsgruß zehrt Lorm dann lange Zeit. Auch der blaue Strahl eines Kindesauges, der seiner Sehkraft erreichbar ward, übt einen seltsam ergreifenden Zauber aus auf das Gemüth des weltabgeschiedenen, duldenden Mannes.

Und doch fallen gerade in jene Zeit des größten körperlichen Elends, das einen Mann von Bildungsdurst und regsamem Geiste treffen kann, die Hauptwerke Lorm’s, welche die eigentliche Veranlassung geben, von ihm zu sprechen; es erschienen, außer jenen schon erwähnten philosophisch-kritischen Streifzügen, in diesem Zeitraume noch die „Gedichte“ (Hamburg 1870, 2. Aufl. 1875), „Geflügelte Stunden“ und „Der Naturgenuß, eine Philosophie der Jahreszeiten“ (Berlin 1876). Wie kein Leidender, der zufällig geistig producirt, eben um seines Leidens willen literarisch verherrlicht werden kann und darf, und wie ich deshalb auch bei der Werthschätzung der Lorm’schen Schriften gänzlich von dem Unglücke des Menschen absehe, den Schriftsteller Hieronymus Lorm absolut von dem Leidenden, Heinrich Landesmann, abscheide, so ist auch in seinen Büchern nichts enthalten, was auf einen persönlichen Schmerz zurückzuführen, aus einem solchen heraus zu erklären wäre: Lorm’s Schriften sind nicht das Spiegelbild seines subjectiven, erschütternden Elends, wiewohl es, wenn es so wäre, wahrlich nicht wunderbar sein könnte. –

Ein jetzt oft genannter Journalist hat in einem Essay „Hieronymus Lorm“ die Behauptung aufgestellt, Lorm sei der bisher berufenste dichterische Ausleger des Pessimismus, ein Vertreter derjenigen Weltanschauung, nach der alles, was da ist, vom Uebel ist. Dieser Satz ist falsch, ist aber nichtsdestoweniger durch alle Blätter gegangen und zu einem Gemeinplatze, zu einer im Publicum allgemein verbreiteten Ansicht geworden, die der Bedeutung, dem Verständnisse und vor Allem den Erfolgen der Lorm’schen Werke unendlich geschadet hat.

Lorm ist ein Anhänger des Optimismus, jener Lehre, nach welcher Alles gut und schön ist; er ist der Philosoph und Dichter des „Optimismus ohne Grund“, welcher ebenso die Ueberwindung des Pessimismus, wie die des gemeinen schönseligen Optimismus, der sich durch die Thatsachen der Welt für begründet hält, zur Voraussetzung hat.

Niedergeschmettert und fast überwältigt von der ungeheuern Last seines Leidens, wurde Lorm mit Naturnothwendigkeit zunächst – Pessimist; die Spuren dieser Thatsache finden wir in seinen Poesien, wie z. B. im „Sphärengesang“:

So lang die Sterne kreisen
Am Himmelszelt,
Vernimmt manch’ Ohr den leisen
Gesang der Welt:
„Dem sel’gen Nichts entstiegen,
Der ew’gen Ruh’,
Um ruhelos zu fliegen –
Wozu? Wozu?“

Mit dem zauberischen Wohllaut dieser Verse vermag sich nur noch das bekannte Heine’sche „Frühlingslied“ zu messen.

Denselben Standpunkt kennzeichnet auch jenes andere, in weiteren Kreisen bekannt gewordene Gedicht „Zwei Wanderer“:

Zwei Wand’rer schritten durch den Wald,
Den Schlag auf Schlag das Beil durchhallt.
Was jeder wünschte sehnsuchtsvoll,
Ihm aus dem Klang entgegenscholl.
Der Rüst’ge sprach: „Dort liegt der Strand;
Man baut ein Schiff nach fernem Land.“
Der Müde sprach: „Man baut ein Haus;
Die Liebe schmückt’s mit Blumen aus.“
Sie drangen durch das Baumgeflecht.
Und sieh! da hatten Beide Recht.
Man baut ein Schiff nach fernem Land,
Ein Haus, umpflanzt von lieber Hand.
Man zimmert, was der Wald verbarg,
Aus neuen Brettern einen Sarg.

Doch rang sich aus dieser Nacht des inneren Lebens Lorm’s Geist mit Riesenkraft empor:

Mein starkes Herz! In düstrer Einsamkeit
Fühlst du dich selig jetzt nach blut’gem Streit.
Wie hart das Schicksal, härter noch warst du,
Von meines Geist’s dämonscher Kraft gefeit.
Wohl stehn nach heißer Schlacht mit dem Geschick
Erschlag’ne Träume um dich her gereiht,
Wohl ruht dein Glück vor dir im Sarkophag,
Wohl liegt in Schutt der Jugend Märchenzeit –
Du aber wandelst stolz und stark dahin,
Durch wüste Trümmer der Vergangenheit;
Dein Pochen hallt die Harmonie zurück
Der Geister, die von ird’schem Staub befreit. –

Nachdem der Dichter so endgültig abgeschlossen mit den finsteren Mächten seines Lebens, schwingt er sich nach und nach bis zu jener Bergeshöhe der Weltbetrachtung empor, die schon von einem Sonnenstrahl logisch unbegreiflichen Glückes zeitweilig übergossen wird, und so steht denn als Lebenssumme unter jenem ergreifenden Menschenbilde der Spruch Lorm’s:

Und droht auch Nacht der Schmerzen ganz
Mein Leben zu umfassen –
Ein unvernünft’ger Sonnenglanz
Will nicht mein Herz verlassen.

So sind dem Dichter und Denker, je tiefer er in den Abgrund des Schmerzes zu versinken glaubte, desto heller die goldenen Sterne einer grundlosen Freude hoch über seinem Haupte an dem dunklen Himmel seines Lebens aufgegangen. –

Theoretischer, als es in den Gedichten geschehen konnte, hat Lorm dem „grundlosen Optimismus“ schon in der „Muse des Glücks“ und ausführlicher im „Naturgenuß“ Bahn zu brechen gesucht. Hier einige Gedanken unseres Philosophen:

„Das Glück ist weder ein Begriff noch ein Besitz, weder ein Kind der Vernunft noch des Reichthums, sondern ganz und gar eine angeborene Gabe, ein Talent, das sich zuweilen zum Genie steigert.“

„Die Kunst, glücklich zu sein, kann daher nicht gelehrt, sondern nur von Demjenigen, der sie kraft seiner Natur besitzt, geübt werden.“

„Die namenlose Muse des Glückes ist ein innerer Fonds von Lebensfreude, unabhängig von dem äußeren Inhalte des Lebens und nicht anders denn als ein Optimismus ohne Grund zu bezeichnen.“

„Die Muse des Glückes hat keine rationell darlegbare Logik und folglich keine Gründe, und sie kann denen, die ihr die Existenz oder das Recht dazu abstreiten, nicht wieder Gründe entgegensetzen.“

„Die Gründe des Pessimismus können daher alle Gründe des Optimismus siegreich widerlegen, vermögen aber doch den letzteren selbst, den Optimismus ohne Grund, nicht aus der Welt zu schaffen.“

Aber auch in praktischer Prosa hat Lorm diesen seinen Begriff vom grundlosen Optimismus verwerthet, in den „Geflügelten Stunden“, aus denen „Der ungerathene Sohn“ und „Drei alte Häuser“ als Musterstücke origineller Heiterkeit und echt deutschen Humors ausdrücklich mit diesen Bezeichnungen von einer Reihe deutscher Blätter nachgedruckt wurden. Auch die in demselben Werke enthaltene Novelle Lorm’s „Ein adliges Fräulein“ von Heyse in den „Novellenschatz“ aufgenommen, wurde von kritischen Autoritäten als eines der edelsten Producte dieser Gattung charakterisirt, während Buchholz in einer Schrift über den Zusammenhang der Lorm’schen Philosophie und Poesie den hohen bleibenden Werth aller jener Arbeiten betont.

Was war aber nun das literarische Schicksal dieser in ihrer Eigenartigkeit so merkwürdigen Schöpfungen Lorm’s? Sie blieben, nach einer fast beispiellos zu nennenden Würdigung durch die Kritik, von Seiten des Publicums total ungewürdigt: Deutschland und Oesterreich participiren in gleicher Weise an der Wiederherstellung der begründeten Sage „vom armen deutschen Poeten“. Was Lorm einst von Gutzkow sagte, daß in Deutschland der Lorbeer nicht zugleich der grüne Zweig sei, auf den ein Autor wie jeder andere Mensch zu kommen trachten müsse, das gilt leider auch nur zu sehr von ihm selber. Die überaus kleine erste Auflage der Lorm’schen Gedichte wurde fast ausschließlich von persönlichen Freunden angekauft: Robert Hamerling und Betty Paoli beeilten sich sofort nach ihrem Erscheinen in der Wiener „Neuen freien Presse“ auf diese außerordentliche Erscheinung aufmerksam zu machen, aber es giebt in Wien, das [588] sich stolz rühmt, seinen todten Dichtern Denkmäler zu setzen, wohl nicht zehn Familien, die sich veranlaßt gefühlt hätten, Lorm’s Gedichte in der Buchhandlung zu kaufen.

Und Deutschland? Obgleich Gutzkow, Bodenstedt und Andere Kritiken und Abhandlungen über Lorm’s Poesien veröffentlicht haben, hat doch der geringe Absatz derselben dem Verleger die Luft benommen, ein neues Bändchen der Lorm’schen Gedichte erscheinen zu lassen.

Nicht anders ergeht es seinen Prosawerken. Was hat es genützt, daß das „Magazin für die Literatur des Auslandes“ die „Geflügelten Stunden“ in den Rang einer „Production Lessing’s“ erhob, daß Eduard von Hartmann den „Naturgenuß“ eine „Bereicherung und Ergänzung der Schopenhauer’schen Aesthetik“ genannt?! – Indeß glaube man nicht, daß es Lorm dem Philosophen, daß es Landesmann, dem in Einsamkeit fernab von der großen Welt lebenden Kranken, um Zwecke der Eitelkeit, des Ehrgeizes zu thun sei! Er möchte nur mit dem Bewußtsein sterben können, daß sein Weib und seine Kinder an seinen Werken ein Erbgut haben werden. Wenn der verdiente Absatz sich nicht endlich findet, so wird „die Nation der Denker und Dichter“ an Lorm eines der traurigsten Beispiele ihrer literarischen Apathie aufzuweisen haben.

Die liebende Sorge um die Seinen charakterisirt überhaupt Lorm’s Optimismus in seinem Familienleben: seine Gattin und seine drei Kinder, alle blühend und gesund an Leib und Seele, sind des leidenden Vaters Glück und Freude; mit unbegrenzter Hingebung hängen sie an ihm, erleichtern sie ihm seinen Zustand durch tausend kleine, liebe Aufmerksamkeiten – rastlos thätig im Wettersturme des Lebens stehend und um den Ertrag seines geistigen Daseins ringend, erwirbt er mit seiner Feder den Unterhalt für seine Familie.

Lorm selbst, sich bescheidend im Denken wie im Sein, ist von wunderbarer Anspruchslosigkeit: ein Frühlingshauch, der Duft einer Blume, der Schimmer eines grünen Blattes füllt seine Seele, „als hätt’ sie nie entbehrt“.

Alljährlich bringt er einen Sommermonat hoch oben auf dem Borsberge bei Pillnitz zu – in seinem „Natur-Schriftstall“, wie er die Arbeitsstätte seiner schriftstellerischen Thätigkeit nennt; hier umweht ihn die frische Luft der sächsischen Schweiz; hier bilden sich in geheimer innerlicher Denkarbeit neue Schöpfungen seiner Muse; hier reifen seine gedankentiefen Schriften zu fester Gestalt aus, die er dann rasch und in einem Zuge in classisch-vollendeter Formenschönheit niederschreibt.

Die Abgeschlossenheit Lorm’s von der Außenwelt hat eine um so intensivere, ununterbrochene Geistesthätigkeit zur Folge, und wie Heine von sich sagen konnte, er trage in seinem Kopfe ein zwitscherndes Nest von confiscirlichen Büchern, so birgt auch Lorm’s Stirn einen reichen Schatz inhaltsschwerer ungeschriebener und ungedruckter Schriften, denen es nur an einem Verleger gebricht, um das Licht der Welt zu erblicken.

Diese unausgesetzt thätige Geistesarbeit Lorm’s, welche einen unglaublichen Vorrath an originelle Gedanken und geistvollen Aphorismen in seinem Gedächtnisse aufspeichert, macht den Verkehr mit ihm, so umständlich er auch ist, dennoch höchst reizvoll und anregend – welche Fülle blendenden Witzes, weittragender Ideen und geistvoller Kritik bieten auch nur wenige Stunden des Zusammenseins mit diesem so eigenartig-interessanten Manne! Für Alles weiß Lorm Anekdoten, Beispiele und Wortspiele, die er zwar immer irgendwo gelesen oder gehört haben will, die aber stets auf seinem eigenen Boden gewachsen sind.

Geistvoll und poetisch wie Alles, was Lorm spricht, ist auch die Art liebenswürdiger Galanterie, mit der er, „das Fragment eines Menschen“, die Herzen der Damen sich zu gewinnen weiß. Vom Borsberge herab nach Pillnitz führen zwei Wege: ein kürzerer, dessen Steilheit ihn für den fast erblindeten Dichter ungangbar macht, während der längere, sanfter absteigende seine gewohnte Straße ist. Als nun einmal die Kürze der Zeit Lorm nöthigte, mit einer befreundeten Familie den steilen Pfad herabzugehen und derselbe ihm aus irgend welchen Gründen weniger beschwerlich vorkam, erzählte er der vor ihm herschreitenden Dame Folgendes: Er habe ein Märchen gelesen von einem mühbeladenen Erdenpilger, dessen Elend die Gottheit endlich gerührt hätte. Diese habe ihm einen Engel herabgesendet, der nun vor ihm herschreite und ihm die Pfade ebne, sodaß er die Qual seines Weges gar nicht mehr spüre. – Das ist echt Lorm’sche Galanterie. – Doch genug davon!

Diese Zeilen, dem ergreifenden menschlich-schönen Bilde des deutschen Dichters, Denkers und Dulders Hieronymus Lorm gewidmet, werden, wie in alle Länder der brausenden Welt, so auch in das stille Arbeitszimmer des weltabgeschiedenen Dichters dringen; eine liebe Hand wird ihm dann das treue Abbild seiner selbst in der altgewohnten Zeichensprache übermitteln und ihm dadurch die Kunde, die frohe Botschaft bringen, daß es draußen in der großen Welt doch Derer noch genug giebt, die seiner in Verehrung und Liebe gedenken.

Dr. Weidenbach.




Thier Charaktere.
Von Adolf und Karl Müller.
Kämpfe in der höheren Thierwelt.


Es liegt in den Lebensäußerungen der höherorganisirten Thiere eine solche Fülle von thatsächlichen Beweisen für ein selbstbewußtes, überlegtes Handeln, daß wir bei klarem Blick und ehrlichem Eingeständniß hier die Abspiegelung der menschlichen Geistesthätigkeit im Kleinen anerkennen müssen. Hier ist kein Räderwerk, welches sich um die Triebfeder eines für die Maschine denkenden Lenkers dreht; hier ist kein Puppenspiel, wo im Hintergrunde der Kastenmann die Figuren an unsichtbaren Fäden hält und bewegt. Die Freiheit des Willens und das Vermögen der Selbstbestimmung ist im Thiere dasselbe, wie im Menschen, nur sind diese Gaben enger begrenzt und eingeschränkt durch die Unvollkommenheit des Organismus, durch den Mangel des Haupt-Offenbarungs- und Bildungsfactors, der Sprache. Deshalb gehört allerdings Uebung und scharfe Beobachtung dazu, und das Seelenleben der Thiere in seinem tieferen Wesen zu verstehen und die Zeichen seines Daseins und Waltens in den feinsten Darstellungen wahrzunehmen.

Sprechende Beweise für das ausgebildete Seelenleben der Thiere stellen sich vorzüglich in den Kämpfen derselben dar. Wir beginnen mit dem Kampf um den Besitz des Lebensgefährten zum Zweck der Fortpflanzung und des Familienlebens. Welch eine Verschiedenheit des Werbens und Zusammenlebens giebt sich in diesem Kampfe kund! Wie läßt hier die Natur Mannigfaltigkeit zu, wie giebt sie Spielraum zur Entfaltung der charakteristischen Eigenartigkeit!

Unter der Gewalt des Fortpflanzungstriebes treten plötzlich die Züge des wilden Wesens der Raubthiere und Raubvögel zurück, und es beginnt das Geberdenspiel der Minne. Wesen, Haltung, Bewegung, Gang, Lauf und Sprung oder Flug sind gleichsam geadelt. Stolz und Anmuth zugleich, Feuer und sanfte Milde, Ungestüm im Begehren neben Unterwürfigkeit vor dem Urheber der fesselnden Zauberwirkungen, Verschmelzung und Steigerung der Gaben und Kräfte, mit denen die Natur das Thier ausgestattet hat, Affect im verklärenden und verschönernden Lichte, welches der beherrschende Verjüngungstrieb ausströmt – ein solches Bild wunderbarer Umwandlung stellt sich dem Auge dar. Und diese Bändigung unter eine Macht, dieser Sieg einer gleichsam zweiten Natur im Thiere, diese Bemühungen, zu gefallen und diese Huldigungen – sind sie nicht Zeugen eines unleugbaren Kampflebens im Innern? Selbst die Stimme wird dem mächtigsten aller Triebe unterthan. Vom Schrei des Brunfthirsches hallen Waldesschlucht und Felsthal wieder, und gilt derselbe auch unzähligemal in bebender Eifersucht dem tödtlich gehaßten Nebenbuhler, wir erkennen darin nicht minder den Ausbruch einer treibenden Empfindung überhaupt, die sich in Jauchzen, klinge es auch noch so rauh und das musikalische Ohr beleidigend, Luft [589] macht und der Welt verkündigt, daß sie das Individuum beherrscht. Der Gesang des Vogels ist die schönste Blüthe dieses Triebes. Er bildet das Stimmorgan aus, giebt ihm die Geschmeidigkeit, die Fülle, die Kraft, den Zauber, die Seele. Kreisend unter der Sonne, im blauen Aether, vermag selbst der Raubvogel schönere Töne hervorzubringen, wenn er um des Weibchens Gunst wirbt. Raben und Sperlinge werden zur Minnezeit Sänger, wenn auch nur mit dem allerbeschränktesten Repertoire. Das Meckern der Becassine, das Balzen der Schnepfe, des Auer- und Birkhahns hat keinen anderen bewegenden Grund.

Ja, diese Umwandlung ist schon ein Kampf, unter welchem das Thier mit sich selbst ringt und dem Gegenstand seiner Hingabe Sinnen und Streben weiht; das Menschlich-verwandte tritt hier oft drastisch zu Tage. Zeigt sich der liebeberauschte Jüngling der Erwählten gegenüber in der vortheilhaftesten Stellung und Bewegung, so kann er in der Luft sein Ebenbild schauen an den schönsten Schwenkungen des Falken, am wohligen Schweben der Waldtaube oder der Staarmännchen oder auf den Zweigen an den schäkernden Hähnen der prangenden Distelfinken. Welcher leidenschaftliche Tänzer könnte nicht im Birkhahn, wenn er sich im Balztanz schwingt, einen Rivalen erblicken, der sich nur durch den Grad der Berauschtheit und dadurch von ihm unterscheidet, daß er die Musik zu seinem Tanze selbst vorträgt?

Gegenüber dem Nebenbuhler aber wird der Kampf um den Gegenstand des Begehrens ein erbitterter und folgenschwerer. Die Händel der Füchse, Marder, Iltise und Katzen, so hartnäckig sie erscheinen, verlaufen doch noch unter geringern Verletzungen. Balgfetzen fliegen davon, wie die Federn bei den Kämpfen der Wald- und Feldhühner; Schmarren trägt der Besiegte davon, und ein Niederrollen der in einander festgebissenen Marder vom Dache bis in die Tiefe schadet den muskelstarken Zählebigen auch nicht. Ernster und gefährlicher sind dagegen die Kämpfe der Brunfthirsche. Bei Ungleichheit der Stärke und Wehrhaftigkeit genügt oft schon die drohende Haltung des mächtigen Führers des Rudels. Ebenbürtige Kämpfer aber verletzen einander schwer; nicht selten wird der Besiegte durchbohrt oder von dem Rande einer Felswand hinabgestürzt; bisweilen verenden Beide in Folge der Verschlingung ihrer Geweih-Enden. Aber mögen wir Kampfscenen unter reißenden Thieren oder unter den jagdbaren unserer Umgebung beobachten, im Urwalde wie im Walde der Cultur, in der Wüste und Steppe wie auf der angebauten Flur, überall erliegt der Schwächere dem Stärkern, vorausgesetzt, daß der Unterschied der Kraft nicht ein verschwindender ist; sonst kann von einem andern Umstande erfahrungsmäßig die Entscheidung abhängen, nämlich von einem gewissen Bewußtsein – ich darf nicht sagen: des Rechts, ich will sagen: des Besitzstandes und Daheimseins, einem Gefühle, welches unstreitig auch das Thier ermuthigt und z. B. bei Hunden den ergötzlichen Anblick gewährt, daß ein winziger Dächsel, Pinscher oder Pommer den stärksten und händelsüchtigsten Metzger- oder Schäferhund zur Flucht aus dem Besitzthum nöthigt. Sonst geht allerdings auf diesem Kampfgebiete Gewalt und Stärke vor Recht. Im Harem der Hennen herrscht in Wald und Hof der gewaltigste der Hähne. Die tapfersten Ritter unter den Finken sind die glücklichsten Werber um die Edelfrauen; der in die Flucht geschlagene Kämpe muß sehen, ob er anderswo sein Ziel erreicht. Unter den Vögeln irren allsommerlich viele Junggesellen umher; sie finden keine überzähligen Weibchen; die glücklichen Nebenbuhler haben sie zurückgewiesen, und wenn einmal die Einehen geschlossen sind, dann löst auch der fremde Stärkere nicht mehr das Band.

Ein harter Kampf entwickelt sich zugleich um das Wohnungsgebiet, um die Stätte, wo die Nachkommenschaft gepflegt und erzogen werden soll, um geeignetes Versteck oder um Höhle, Bau und Nest. Das ist vorzugsweise der Fall unter den Vögeln, zunächst unter gleichartigen, dann aber auch unter verschiedenartigen Paaren. Da hat wiederum die Gewalt ihr Feld des Angriffs und der Abwehr, aber auch die List ihre erfinderischen Mittel und Wege. Da zerfetzt und zerfleischt das alte Storchpaar im Kampfe um den Besitz des Nestes den einen und andern seiner eigenen Söhne und Töchter, für die auch nicht der leiseste Zug verwandtschaftlicher Gefühle sich mehr regt und in deren beiderseitigem Verhältnisse von keiner Anerkennung und keinem Bewußtsein der Eltern- oder Kindschaft noch die Rede sein kann.

Da zankt sich Bruder mit Bruder, Vater mit Sohn und Enkel, Vetter mit Vetter; ganze Generationen verfolgen, verdrängen und befehden einander, ledig aller Rücksicht, geleitet von selbstischer Eifersucht und neidischer Bosheit. Da wartet der hinterlistige Sperling, bis die Schwalbe ihr Nest an die Wand gemauert hat; dann schlüpft er hinter ihr durch das Flugloch ein und ängstet und beißt sie und läßt die Schreiende schließlich, um ihr das Wiederkommen zu verleiden, an einem festgehaltenen Fuße eine Zeitlang zappeln. Da kommt der Mauersegler zum Staarenkasten, in welchem ein Sperlingspaar nackte Pfleglinge birgt, und wirft diese hinaus, um sich selbst dort wohnlich einzurichten. Da gönnt der Staar dem frühnistenden Edelfinkenweibchen nicht den sorgfältig gefilzten Kunstbau und zerzaust die Stoffe, um sie in seine Höhle zu tragen. Der rothrückige Würger will die harmlosen Sänger um sich her nicht dulden; Rothschwanz und Fliegenfänger, Meise und Kleiber, Ammer und Hänfling, Weidenlaubvogel und Grasmücke, Sperber und Krähe – sie alle halten wenigstens eine Zeitlang feindliche Nachbarschaft, bis sie, mit ihrem eigenen Hauswesen eingehender beschäftigt, sich vertragen lernen und schließlich, unbekümmert um ihre gegenseitigen Interessen, neben und über einander sich ansiedeln.

Mitten in diese Raufhändel und in das laute Gezänke fährt zuweilen der Schreckton eines Vogels, der den dahersausenden Räuber in der Luft erblickt hat, und wie mit einem Schlage wird es still, und rasende Flucht, starres Niederducken, scheinbare Lähmung der Glieder sind die charakteristischen Aeußerungen. Und merkwürdig! Hier geht ein Warnungstrieb durch die hülflose Vogelwelt, dessen Signalton allen Familien, Arten und Sippen verständlich und für den jegliches Ohr auf das Feinste geschärft ist.

Hat die Pflege der Familie unter heimlicher Sorgfalt und Mühewaltung begonnen, säugt die Mutter ihre Kleinen oder trägt sie ihnen unter hundert Wagnissen Nahrung zu, sitzt der Vogel über Eiern oder Jungen, so entspinnt sich ein neuer Kampf, der Kampf um Erhaltung der Nachkommenschaft.

Nicht blos wir Menschen, auch die Thiere haben ihre Nahrungssorgen, ja, und gerade die Vögel, von denen es heißt: „sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernähret sie doch“, müssen den bittern Kampf um Dasein und Selbsterhaltung kämpfen. Oder sehet euch doch einmal die kleinen Zaunkönige an, denen das Kukuksweibchen ein Ei mit dem Schnabel durch das enge Flugloch des kugeligen Moosnestes eingeschmuggelt hat! Der freßgierige Adoptivsohn, den das Zaunkönigweibchen treulich ausgebrütet und dem es mit dem Gatten Tag ein Tag aus Kerbthiernahrung zuträgt, müht sich über die Kräfte ab, und solche Arbeit und Sorge bereitet eine sichtliche Verkümmerung der sonst so rüstigen Vögelchen und reichlichen Ausfall der Federn sowie Erbleichen des noch übrigen Gefieders. Das ist der Kampf der Ernährungs- und Verpflegungssorge. Schauet hin nach dem alten Vöglein, das unter Gewitterregen und Hagelschlag unwandelbar seine Flügel über die gefährdete Brut deckt und lieber selbst von der Schloße sich tödten läßt, als daß es weichen möchte von den zarten Nestlingen – das ist der Kampf der Aufopferung gegen die Elemente. Dort naht das schleichende Raubthier dem Volke der flaumbedeckten Rebhühner. Mit täuschender Verstellungskunst spielt die angstvoll besorgte Henne die Rolle der Flügellahmen und lenkt flatternd den getäuschten Feind von den sich versteckenden Kleinen ab. Hier setzt sich der zarte Singvogel zum Schutze der Brut dem sonst mit überwältigender Angst geflohenen Raubvogel zur Wehr, nicht selten selbst dadurch dem Schlage der scharfen Fänge verfallend. Und hier zerschlägt der Habicht dem bösen Buben, welcher mit den geraubten Jungen am Baume niedersteigt, das Gesicht, daß er zeitlebens daran denkt; dort wieder sieht das erfahrene Krähenmännchen den Jäger dem Horste des brütenden Weibchens sich nahen; eilend stößt es nieder und zwingt die Gattin gewaltsam mit Schnabelhieben, der Gefahr zu entrinnen.

Aehnliche Gefahren veranlassen den Kampf im Familienleben der Säugethiere. Wie die Waldvögel ihre Eier und nackten Jungen vor den mordlustigen Nagezähnen und dem lüsternen Gaumen des Eichhorns zu hüten haben, so muß dieses die eigenen Kinder bewahren und verbergen vor den auswitternden Sinnen des Edelmarders, seines Todfeindes. Das fiepende Rehkälbchen verräth sich dem Fuchse, den der Kampf um

[590] die Erhaltung des Gehecks zum Angriffe auf diesen theuren Sprößling des Mutterrehs anspornt und seine Erfindungsgabe in den Künsten der Ueberlistung auf die Höhe der möglichsten Befähigung stellt. Der Kampf der Abwehr aber zeigt sich bei dem Reh nicht minder bewunderungswürdig. Der mütterliche Trieb giebt ungewöhnlichen Muth, spannt die Kräfte und Bewegungsmuskeln, setzt die prügelnden Vorderläufe in wirbelnde Bewegung. Aehnlich wehrt die von Natur feige Hasenmutter dem eindringenden Kolkraben zum Schutze des entdeckte „Satzes“. Denselben Kampf kämpfen Maulwurf und Spitzmaus, Ratte und Hamster in der unterirdischen Wohnung und um dieselbe sowie um die Nachkommenschaft – denselben Kampf, den die Bewohner der Bäume und der Erdoberfläche kämpfen. Das nächtliche Schleichen der Löwin in Wüste und Urwald, ihre Sorge um Schutz und Schirm der Jungen vor dem schonungslosen eigenen Vater derselben, ihre nächtlichen Raubzüge und ihre tägliche Treue, mit der sie das Versteck und Lager mit den Schützlingen theilt – ja, das ist derselbe Kampf wie das unablässige Ab- und Zufliegen des Finkenpaares beim Neste und das verzweiflungsvolle Schreien und Umflattern, womit es den Räuber seiner heißgeliebten Brut verfolgt.

Es offenbart sich in den mannigfaltigen Kämpfen innerhalb des Familienlebens der Thiere gar viel Beherzigenswerthes, Geist und Gemüth des Naturfreundes Fesselndes. Bald leuchten uns die Blitze der unverkennbarsten Intelligenz von den Bahnen der Klugheit und listigen Unternehmungen der Thiere; bald werden Saiten des Gemüthslebens, rührender Empfindungen angeschlagen; bald besiegelt eine That todesverachtender Hingebung eine Treue und Anhänglichkeit, die nur darum kein Vorbild für den Menschen sein kann, weil in kurzer Zeit der Trauer die Wunde verharscht, da das Thier wie der Mensch im frühen Kindheitsalter ein Tageskind ist, das heißt der Gegenwart lebt und der Reflexion entbehrt.

Mögen wir immerhin in dem Idealismus der Liebe unseres Strebens Ziel erblicken, nie dürfen wir vergessen, daß auch die menschliche Liebe aus dem Boden des realen Lebens, aus der ununterbrochenen Folge der Kämpfe um Erhaltung dessen, was uns das Theuerste ist, ihre Nahrung und Thatkraft zieht. Auch wir sind dem allmächtigen Naturtrieb unterthan, nur daß wir uns dessen klarer bewußt sind, als das Thier, und das Geistesvermögen unter den erziehenden Einflüssen der Cultur zum vernünftigen Regulator berufen ist. Auch wir formen uns nach Sitte und Gewohnheit, wie nach den Banden des Blutes. Wenn die sittliche Entrüstung und das tiefgekränkte Ehrgefühl den Einzelnen oder ein Volk zur Tilgung oder Abwehr der Schmach antreiben, so ist dies eine That, die den Menschen hoch über das Thier stellt, wiewohl ich manchem im Umgang mit Menschen erzogenen Thiere ein gewisses Ehrgefühl nicht absprechen kann.

Wenn aber der Vater oder gar die ohnmächtige Mutter dem Kinde rasch in die schäumende Wassertiefe oder in die Flammen nachspringt, so folgen Beide dem überwältigenden Naturtriebe, und ich möchte mir keine Entscheidung darüber erlauben, ob jene oder diese That erhabener und bewunderungswürdiger sei. Der Kampf dehnt sich aber über das engere Familienleben der Thiere hinaus und ist jedem einzelnen Individuum wie ganzen Gesellschaften verordnet, und auch hier ist er ein innerer und äußerer. Der vom Aste herab dem Wilde auf dem Wechsel auflauernde Luchs findet wohl vermöge seiner ihn dazu anleitenden Naturanlage befriedigendes Behagen im Geheimniß des Hinterhaltes, und die Geduld ist ihm unstreitig angeboren, aber wenn er seine kochende Mordlust, seine blutlechzende Zunge bändigt und in regungsloser Entsagung das ausersehene Opfer unangefochten ziehen läßt, weil ihm der Sprung aus der Höhe in den Nacken desselben zu weit und unsicher dünkt, so ist dies ein glänzender Sieg der Ueberlegung über den heißen Naturtrieb, ein Resultat der Erfahrung. Junge unerfahrene Kätzchen sehen wir hundertmal zur unrechten Zeit den Sprung nach Vogel und Maus unternehmen, aber die alte Katze liegt ausdauernd auf der Lauer und beherrscht sich bis zum Eintritt des günstigen Augenblicks, während die Glieder vor Aufregung zittern und die Windungen des vom Körper gedeckten Schwanzes die gefesselte Leidenschaft verrathen.

Das Zusammenschaaren der Kraniche, Wildgänse, Wildenten, Trappen, Schwäne, Störche, Krähen und Staare, Finken, Zeisige, Ammer und Hänflinge zur Herbstzeit geschieht unter Anweisung des Naturtriebs, der unverkennbar dem Kampfe gegen die auf dem Zug und der Wanderschaft oder beim Ueberwintern in der Heimath entgegenstehenden Hindernisse zu Hülfe kommt, aber die Erfahrung bildet, und die Weisheit ist auch hier bei den Alten zu suchen, welche die Führerschaft übernehmen und eine große Vielseitigkeit in allen Unternehmungen bekunden.

Jugend und Mangel an Erfahrung lassen das junge Huhn auf dem Hofe in jedem verdächtig scheinenden Punkt in der Luft den Habicht erkennen; das Auge der alten Henne prüft mit weit größerer Sicherheit, und ihr beruhigendes Benehmen corrigirt den Fehler. Naturtrieb und Ueberlegung sind im Kampf des Thieres oft innig verbunden, so daß die Grenze zwischen beiden nicht mit Sicherheit festzustellen ist. Die Natur weist die Stockente an, vor dem Habicht oder Wanderfalken im Wasser Zuflucht zu suchen, aber ihr Entschluß, nahe dem Fluß, der ein besserer Schutz für sie wäre, den sie aber nicht mehr erreichen zu können glaubt, vor dem dicht hinter ihr hereilenden Räuber sich schnurstracks in eine Pfütze zu stürzen, giebt Zeugniß von der zu Hülfe kommenden Ueberlegung. Die Wagnisse einer großen Krähenschaar sogar dem Wolfe gegenüber, der den schweren Raub mit Anstrengung nach dem Walde schleppt, und ihr Sieg über ihn, den ihren Schnabelhieben Weichenden, ist neben dem bewegenden Naturtrieb dem wohlbewußten Gefühle zuzuschreiben: „vereinte Kraft macht stark.“ Der Kolkrabe und unser Fuchs sind gewiß keine gesellig lebenden Thiere; trotzdem verbinden sich im Winter mehrere Kolkraben und nicht selten zwei Füchse, um gemeinschaftlich ein Wild zu jagen. Die Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich ihrem Begehren entgegenstellen, veranlassen sie gegen den Trieb der Isolirung zum gemeinschaftlichen Kampf um einen Preis, mit dessen Eroberung sogleich Mißgunst und selbstische Gier die Verbündeten trennt und einen neuen Kampf, den gehässigen Zweikampf, in Scene setzt.

Die Elster flieht den Jäger, wenn dieser in großer Entfernung auf sie zu kommt, während sie sorglos dem Bauer hinter dem Pfluge folgt. Dort überwindet die Erfahrung den Ernährungstrieb; hier gestattet sie ihm freien Lauf. Einer unserer Hunde, bei dem sich im Umgange mit dem Menschen nicht bloß die Ueberlegung, sondern auch das Gewissen zu hohem Grade herausgebildet hatte, rührte den Braten vor seiner Nase nicht an, wie verführerisch und lustweckend ihm auch der Duft in die Nüstern zog. Beschämt ein solcher zum Siege geführter Kampf der Selbstbeherrschung nicht in unzähligen Fällen den Menschen? Und doch wollen so Viele die Gabe des Seelenlebens als ausschließliches menschliches Eigenthum für sich in Anspruch nehmen? Es giebt Kämpfe edelraciger Hunde, innerliche und äußerliche, die wahre Charakterkämpfe zu nennen sind und die ein rührend schönes Verhältniß zwischen dem Menschen und dem Hunde begründen. Und wenn die unmenschliche Parforcedressur der Hunde mehr und mehr verschwindet und die Erziehung bei fester Hand doch in Milde und vertrauenweckender Freundlichkeit mit ihren Eindrücken zur Zeit der bildungsfähigen Jugend beginnt und stufenweise vom Leichten zum Schwierigen vorschreitet, so hat man erkannt, daß dieser Bildungsgang in gleicher Weise Individualisirung und wahre Humanität erfordert, wie derjenige in unseren Familien und Schulen.

Lange genug hat man das Thier mißhandelt und nur als Geschöpf im Dienste der Menschen betrachtet, dem keine Ansprüche auf gefühlvolle Rücksicht und freudvolles Dasein zuzugestehen seien, und sogar das Wort aus der naiven Ueberlieferung, welche uns die Darstellung paradiesischer Anfangszustände schildert: „herrschet über die Thiere!“ mag, von der Seite der Gewaltsamkeit erfaßt, nicht wenig dazu beigetragen haben, schon dem ungezogensten Schulbuben Stock und Peitsche in die Hand zu geben. Daß man jetzt einer menschenwürdigen Auffassung des Verhältnisses zwischen Mensch und Thier sich immer mehr zugänglich zeigt, gereicht uns selbst zur größte Ehre und ist ein Zeugniß, daß wir weniger thierisch sind, als ehedem. Wir wollen den harten Kampf des Thieres nicht noch härter machen, sondern ihn möglichst erleichtern; wir wollen das erniedrigende Thierische in der Menschheit niederkämpfen und das erhebende Menschliche in der Thierwelt zur Anerkennung erheben.

Karl Müller.



[591]

Achmed Moukhtar Pascha, der Sieger Klein-Asiens.
Originalzeichnung von Prof. W. Camphausen in Düsseldorf.

[592]

Das Silberjubiläum des Germanischen Museums in Nürnberg.


Welchen deutschen Historiker, welchen Kunstgelehrten und Kunstenthusiasten hätte es nicht schon wiederholt mit heißer Sehnsucht nach dem mittelfränkischen Mekka der Kunstpilger, dem in seinem alterthümlichen Reize einzigen Nürnberg, hingezogen? Welche andere deutsche Großstadt ließe sich mit der alten Noris, mit diesem hochinteressanten Reichskleinod der Deutschen vergleichen? Fesselt doch in allen Winkeln der winkelreichen Stadt irgend eine Curiosität, finden sich doch daselbst in Kirchen und Capellen, Hallen und Häusern, an Brücken und Brunnen, an Thürmen und Thoren die werthvollsten Alterthümer und Kunstschätze, von denen jede Einzelheit ihren Interpreten fand und zu einem anziehenden Capitel der deutschen Kunstgeschichte gemacht wurde. Im Diadem der Germania strahlt diese alte Reichsstadt als einer der hellsten Edelsteine, und sie wird, obgleich ihre alte Blüthezeit als Reichsstadt längst entschwunden, dennoch die Zierde und der Stolz unter den Städten des Reiches bleiben. – Seitdem in dem „Germanischen Museum“ durch ein vereintes Wirken und Spenden der deutschen Fürsten und des Volkes eine Central-Ehrenhalle für deutsche Alterthümer und Kunstschätze errichtet, mit Eifer und Erfolg auf’s Reichste ausgestattet und zu einem Kunsttempel ausgeschmückt wurde, concentrirt sich auf diese herrliche Sammelstätte das Interesse aller Bewunderer. Die Dürftigkeit der Anfänge vor zwei Jahrzehnten erscheint gegenüber der jetzigen Reichhaltigkeit wie ein unglaubliches Märchen, und schon bedarf es jetzt einer mehrtägigen Wanderung durch die Klostergänge, Säle und Hallen, um nur einigermaßen die Fülle der Gesichte zu bemeistern. Seufzend muß der Tourist oder kunstsinnige Laie, der im Sturmschritt „Alles mitnehmen“ möchte, auf genauere Betrachtung verzichten, während der gelehrte Stoßvogel sich meist nur auf die neuesten Errungenschaften des Sammelfleißes stürzt und dem Anstaltsdiener, der „Schluß“ ansagen muß, mit ungnädigem Stirnrunzeln Folge leistet. Was die räumliche Ausdehnung des Ganzen betrifft, so sind die Häuser an der Ostgrenze, die den Bauplatz für den neuen Galeriebau umschließen, schwerlich auf längere Zeit vor Annexion gesichert und müssen vielleicht bald einem weitern Anbau weichen.

So hat sich denn der deutsche Geist, der Gemeinsinn für deutsche Geschichte, Kunst und Wissenschaft das beste Ehrendenkmal in diesem Nationalmuseum gesetzt, das noch den spätesten Epigonen ein Vereinigungpunkt zu idealen Zwecken und ein Gegenstand der Bewunderung bleiben wird, namentlich wenn erst die hohen Intentionen der gegenwärtigen hochverdienten Leiter zur Ausführung gekommen sein werden. In der Entwickelungsgeschichte der Anstalt könnte man einen gewissen Parallelelismus mit der Entwickelung der deutschen Einheit finden. Nachdem das Germanische Museum, welches bekanntlich im Jahre 1852, also in der aschgrauesten Reactionsperiode deutscher Geschichte, unter der Protection des Prinzen, nachmaligen Königs Johann von Sachsen gegründet und dann durch seinen Gründer, Freiherrn Hans von und zu Aufseß, mit todesverachtender Energie emporgebracht wurde, anfangs nur dürftig aufgezogen worden war und manche Kinderkrankheit überstanden hatte, brachte erst die neueste Epoche deutscher Geschichte, in welcher sich der niedergebeugte Nationalsinn wieder zur Kraft und Kraftfülle aufrichtete, den gehofften Aufschwung des Nationalwerkes. Wie wäre auch früher, als noch kleinlicher Particularismus, dynastische Zersplitterung, lächerliche Eitelkeit und Wichtigthuerei mit undeutscher Politik und ideenloser Ausländerei Hand in Hand gingen, an ein werkthätiges Schaffen für das Allgemeine, an eine deutsche Union zur Wahrung geistiger Interessen und Fürsorge für nationale Güter zu denken gewesen!

Erst durch die Aufrichtung des neuen Deutschen Reiches kam neues Leben in die Verzauberten, wurde das in Reactionsschlaf versunkene Dornröschen wieder in helleres Licht gebracht, reicher geschmückt – nicht von einem einzelnen Prinzen oder Ritter, sondern vom ganzen deutschen Volke. Das Germanische Museum ist der beste und sichtlichste Beweis für jene so oft mit Grund bezweifelte einheitliche Thatkraft des deutschen Volkes, und das Gedeihen des Werkes bestätigt, daß die Deutschen für die Ehre ihrer Nation eifrig eintreten wollen, daß sie diese Verpflichtung gegen sich selbst nicht als eine Last, sondern als eine Freude empfinden und neben der politischen Einheit namentlich auch für die geistigen Errungenschaften und Besitzthümer eine größere Concentration erstreben.

In solchem mehr idealen Sinne wollten wohl auch die Festordner des Silber-Jubiläums, der Gesammtverein der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine nebst dem Nürnberger Comité, die ganze Festlichkeit aufgefaßt und gefeiert sehen; also verzichtete man darauf, durch lockende Belustigungsprogramme Volksmassen herbeizuziehen oder nach der Schablone ein rauschendes Volksfest zu arrangiren. Gänzlich fern blieb diesem schönen Feste jene banale Demonstrationslust, die sich in ewiger Wiederholung der deutschen Turner- oder Sängerfestphrasen ergeht und gewöhnlich in einem Chaos gedankenloser Vergnüglichkeit endet. Dagegen war dafür gesorgt, daß die Feststimmung durch die Kunst der Töne höhere Weihe erhielt, wozu besonders der berühmte Riedel'sche Verein aus Leipzig in einem kirchlichen und in einem weltlichen historischen Concerte sein Bestes beigetragen und eine Fülle künstlerischer Genüsse geboten hat.

Auf die Specialitäten des Programms, das für sieben Festtage ausreichte, einzugehen, war die Aufgabe der verschiedenen Tagesblätter, die sich für die Feier interessirten, und es genügt, auf die Berichte derselben hinzuweisen. Die erste Abtheilung des Festes vom 12. bis 15. August beschäftigte ausschließlich die Träger der Festidee selbst, während die zweite, vom 15. bis 18. August, zunächst der Grundsteinlegung zu dem auf Reichskosten errichteten neuen Galeriebau, ferner den musikalischen und theatralischen Ausschmückungen der Festfreude gewidmet war. So weit auch die Anzahl der gelehrten auswärtigen Theilnehmer hinter den Erwartungen der Festgeber zurückblieb, so waren doch die Hauptzierden der deutschen Gelehrten-Republik der Einladung hinreichend gefolgt und bethätigten sich eifrigst bei den wissenschaftlichen Verhandlungen, z. B. die Herren Oberappellationsrath Draudt aus Darmstadt, Präsident des Gesammtvereins, Geh. Rath Waitz aus Berlin, Director Lindenschmitt aus Mainz, Dr. Ohlenschlager aus München, Dr. Mehlis aus Dürkheim etc. Was von diesen Specialisten der Alterthums- und Kunstwissenschaft trotz der tödtlichen Augusthitze in kurzer Zeit durchberathen, angeregt, vorgetragen und überhaupt geleistet worden ist, war staunenswerth, entzog sich aber vielfach, wenn nicht dem Interesse, so doch dem Verständnisse der Laienwelt. Für den Nürnberger Patriotismus mußte namentlich der Vortrag des Herrn Professor Günther aus Ansbach über „die Bedeutung der Nürnbergischen Mathematiker und Instrumenten-Techniker für die Fortschritte der Naturwissenschaften und die großartigen Entdeckungen des 15. bis 17. Jahrhunderts“ sehr anziehend und spannend sein.

Auf Antrag des Herrn Baurath Mothes aus Leipzig beschloß die tagende Versammlung für den Gesammtverein, sich der an den Reichstag gerichteten Petition der Architekten- und Ingenieurvereine um systematische Fürsorge für die Erhaltung deutscher Alterthümer durch die Reichsregierung anzuschließen.

Bei dem unter den üblichen Formen vollzogenen Actus der Grundsteinlegung des Galerienbaues, der die Gemäldesammlungen aufnehmen soll, nahm durch die glänzende Festrede des ersten Directors, Herrn Dr. Essenwein, die Feststimmung einen rapiden Aufschwung zu patriotischer Begeisterung, die in einem Hoch auf Kaiser und Kanzler, die „Bauherren Deutschlands“, gipfelte. Der Redner feierte dabei mit rühmlicher Bescheidenheit die hohen Verdienste des Gründers, Freiherrn von Aufseß, und betonte, daß nicht Einzelne, sondern die Fürsten und das deutsche Volk im schönen Bunde als Bauherren auch dieses neuen Anbaues zu ehren seien. Herr Director Essenwein war die Seele des ganzen Festes. Man muß zu diesem Manne, dem es möglich gewesen, die Jubelfeier trotz der verdrießlichen Vorereignisse, respective kläglich negativer Ergebnisse großer Mühe, dennoch so ehrenvoll und schön durchzuführen, mit Bewunderung emporsehen. Allen Respect auch vor den tüchtigen Kräften, die ihn unterstützten, aber von deren Verdiensten abgesehen, haben sich weitere Festordner im Ganzen herzlich wenig aufgeopfert. Die bajuvarische Gemüthlichkeit haßt nichts so grimmig, als sommerliche Festarbeit, die den Bierovaren „a Malefizschund“ ist, und leider arrangiren sich Feste niemals von selbst. Desto aufreibender war für den Allesbesorger die Sisyphosarbeit, bei welcher ihm der „Nürnberger Trichter“ vermuthlich gar nichts nützen konnte.

Auge, Herz und Magen erlabten sich nach dem Actus beim Frühstück. In zwangloser Fidelität bewegten sich die Gruppen durch einander; viele alte Cameraden drückten sich kräftig die Hände; manches hübsche Gesicht lachte die würdigen alten Herren an, die bei exquisitem Bier oder mittelmäßigem Wein saßen und einstimmig die Nürnberger Blondinen köstlicher fanden, als die kostbarsten Alterthümer, Sphinxe, Madonnen und sonstige Schätze. Außerdem war „Arion“ (aus Leipzig) so sehr „der Töne Meister“, daß er sogar auf Stöcken ganze Ouverturen flötete und in musikalischen Humoren aller Art sich losließ. Auch in begeisterten Toasten machte sich die freudig erregte Stimmung Luft. Herr Baurath Mothes feierte Herrn Director Essenwein, der nächstfolgende mit donnerndem Beifall belohnte Redner, Herr Dr. W. Vogt aus Regensburg, den hochverdienten zweiten Director des Museums, Herrn Dr. Frommann, welchem es zu danken sei, daß außer der Sammlung von Kunstkostbarkeiten auch die deutsche Sprachwissenschaft im Germanischen Museum so trefflich gepflegt würde.

Das solenne Kirchenconcert des Riedel’schen Vereins in der prachtvollen Lorenzkirche, ein Glanzpunkt der ganzen Feier, spendete musikalischen Feinschmeckern wahre Hochgenüsse, denn der rühmlichst bekannte Dirigent hatte in seinem Programme, ausgehend von den an Süße und Schmelz überreichen Compositionen der classischen Italiener und fortschreitend zu den durch kernige Kraft und Gemüthstiefe jene ersteren weit überragenden deutschen Meistern und Heroen bis zu dem grandiosen Sebastian Bach, den Ohren der Zuhörer einen historischen Schmauß mit feinsten Delicatessen vorgerichtet. Im Ruhmeskranze des Vereins war diese Leistung wieder eine der farbigsten und duftigsten Blüthen. Ebenso großartigen Erfolg hatte das weltliche historische Concert in der renovirten Katharinenkirche, an der classischen Stätte, wo einstmals die kunstgeübten Meistersinger Nürnbergs sich versammelten. Den Löwenantheil des unermüdlichen Beifalls erhielten mit Recht die herzigen Lieder von R. Franz, Mendelssohn-Bartholdy und Schumann, die mit unvergleichlicher Frische und wohldisciplinirter Reinheit zum Herzen klangen, während die abschließende R. Wagner-Abtheilung, wenigstens im Solovortrage, unter dem Einflusse der Erschlaffung zu leiden hatte. Die am Mittwoch vorhergegangene Abendunterhaltung des Renner’schen Madrigalquartetts, das übrigens recht gut gesungen haben soll, wollte ich mir lieber schenken, weil zu vielerlei Musik selbst für einen begeisterten Musikmenschen zum zehrenden Coloraturkäfer werden kann.

Was am Mittwoch bei der Ankunft in der Feststadt noch schmerzlich beklagt wurde, nämlich der leidige Ausfall des großen historischen Bankets im Rathhaussaale, das war am Freitag bei wirklichem Festbiere in der Himmelsleiter, im gläsernen Himmel, im Bratwurstglöckle, bei Welk und anderen Bierwohlthätern der Menschheit schon wieder in Vergessenheit hinabgetrunken. Der Grund der wesentlichen Programmlücke ist lediglich in der fehlenden Betheiligung zu suchen, denn nur 3, schreibe drei, Männer waren so begütert und geschwollen, die fünfunddreißig Mark zu zeichnen. Natürlich verbot ihnen der Hausarzt, den ganzen Vorrath hochseltener Alterthumsgerichte mit Ingwer, Pfeffer, Honig etc., der auf hundertdreißig Gedecke berechnet war, ganz allein aufzuessen. Der verunglückte Banketwirth soll das begeisterte Hoch, welches er eigentlich auf das Festcomité ausbringen wollte, lieber bis zum nächsten Martinsschmauß aufgespart und nun Anderen zugedacht haben.

[593] Ganz anders wendeten sich die Geschicke der abgelehnten Riesenwurst. Diese kaufte ein restaurirender Schlaukopf, Namens Böhm, billig, ließ gehörig Tamtam schlagen und fand reißende Abnahme. Das Bratwurstglöckle hätte sie auch gern annectirt, mußte aber aus Raummangel darauf verzichten und hätte auch über drei Monate lang daran absäbeln müssen, ehe das Material in Gestalt der dortigen Miniaturwürstchen aufgebracht worden wäre. Ein echter Menschenfreund sorgte für die armen Waisenkinder, denen er für zwölf Mark in den Mund steckte, was natürlich lautes Jubiläumsgeschrei hervorrief.

Auf der seeumspülten Rosenau, wo die urwüchsigen Söhne der Hans-Sachs-Muse ihre weltbedeutenden Bretter aufgeschlagen hatten, wurden sämmtliche Theaterbesucher durch einen überkräftigen, dröhnenden Tusch der Capelle des heiligen Petrus empfangen, und bald schwamm Alles theils in Entzücken, theils in Regenguß. Aber der wackre Baier „forcht’ sich net“, und programmgetreu wurde das von kernigem Humor strotzende Festdrama: „Der fahrendt Schuler“ von Hans Sachsen trotz Wetter, Wind und Wasser, freilich erst nach dreistündiger Verzögerung, weil in elfter Stunde der fahrende Schüler immer noch einmal fahren mußte, um sein Costüm zu vervollständigen, mustergültig aufgeführt und stürmisch applaudirt.

Vor der von Wasserlachen umflossenen Schaubühne, einer treu historischen Bretterbude mit rothen Draperien, marschirte mit Pfeifenquieken und Trommelschall ein Trupp stattlicher Landsknechte auf, um lebendiges Spalier zu bilden, und die unhistorische Gasbeleuchtung durch Fackeln zu ersetzen. Der Ehrenhold (Herold) trat mit eleganter Würde auf und kündigte die „Bawerin“ nebst ihrer Dummheit an, diese machte dann die Bekanntschaft des fahrenden gelehrten Gauners, dem sie ihre ganze Habe übergab, um ihrem seligen Manne gegen Erkältung im Himmel ein Gewand dafür zu kaufen. Der „Bawer“, als zweiter Gemahl, läßt sie wegen dieses Leichtsinns in schlechten Zeiten gar derb an und setzt dem Betrüger nach. Der fahrende Schüler sieht ihn anreiten, dreht den Mantel und das Barett um, spielt den Unbefangenen und zeigt dem Wüthenden, der nach dem Gauner fragt, in der Ferne einen Andern, besteigt das ihm anvertraute Rößlein des Bauers – und ward nicht mehr gesehen. Zum Schluß trösten sich die beiden Geprellten wegen ihrer gegenseitigen Dummheit, und der Schwank ist aus. Sämmtliche Künstler nahmen den verdienten Lorbeerkranz für empfangen an, während die durch Abwesenheit Glänzenden (der Bawmeister, sein Gesell, der Schulz) weniger gefielen. Alle Großen und Kleinen im Publicum hatten sich nun auf den Hauptspaß, den feuerspeienden Lindwurm (Drachen) gefreut, aber das unmäßige Unthier hatte sich statt in gutem Bier in schlechtem Regenwasser so voll getrunken, daß es weder Feuer speien noch überhaupt agiren konnte. Das in classisches Dunkel gehüllte, auf Doppeltischen thronende Publicum kletterte deshalb drachenlos von seinen Sperrtischen herab und überließ sich den Klängen der vorzüglichen Militärkapelle, bis dann oben auf dem Tanzboden Terpsichore die liebe Jugend anlockte.

Bei den zahlreichen geselligen oder weniger geselligen Zusammenkünften, Festdiners, Soupers etc. ging es stets hoch her – in den Preisen wohl auch zu hoch. Wer keinen Trinkspruch fertig bringen konnte, schob es auf das zu gute Bier oder den Wein, dagegen schoben es solche Redner, die, ohne zur Sache zu kommen, zu bald fertig wurden, auf ihren großen Durst. Niemals aber kam die fröhliche Bierlaune auf die Hefe. – Schließlich gebührt noch der wahrhaft großartigen Gastfreundschaft der jovialen und liebenswürdigen Nürnberger Familien ein herzliches Wort aufrichtigsten Dankes. Wohl keiner der Festgäste ist von dannen gegangen, ohne die angenehmsten Erinnerungen im Herzen mit fortzunehmen und ohne das reizende Nürnberg liebgewonnen zu haben. – Sollten in obigem Berichte manche Namen, Damen, Daten und Dinge ausgelassen sein, so bitte ich wegen dieser unverzeihlichen, weil absichtlichen Beleidigung um Entschuldigung.

Ein schönes, durch echt deutschen Ernst und ebenso deutschen Humor gewürztes Fest liegt hinter uns. Gerade weil der vulgäre Festtaumel gebannt war und weil mehr das Geistige der Feier, der Festgedanke herrschte, fühlten sich die ernsteren Festgäste auf’s Tiefste befriedigt, betrachteten mit freudigem Stolze die herrlichen Sammlungen des Nationalmuseums und richteten ihre Gedanken und Wünsche auf die zukünftige Herrlichkeit desselben. Mögen den jetzigen Leitern niemals die nöthigen Mittel, die thatkräftige Unterstützung der Nation fehlen, um ihren hohen Intentionen gemäß das Werk zu immer größerer Blüthe zu fördern und weiter auszubauen! Zunächst kam nur die Jubelfeier selbst in Betracht, aber über die verheißungsvolle Zukunftsgestaltung des Germanischen Museums wird seiner Zeit die „Gartenlaube“, die ja stets dem deutschen Geiste der sich in wissenschaftlichen und künstlerischen Großthaten ausprägt, mit wärmster Hingabe huldigt, eingehendere und bessere Darstellungen bringen. Mit derselben Begeisterung, die mich beim Abschiede von der im Golde der Morgensonne glänzenden Feststadt erfüllte, rufe ich zum Schlusse: das schöne Nürnberg, die Hüterin unseres besten Nibelungenschatzes, lebe dreimal hoch!
B. S.




Blätter und Blüthen.


Ein vielbeleumundeter Sieger. (Mit Abbildung S. 591.) Daß ein Feldherr nach einer Reihe von Siegen auch einmal geschlagen werden kann, ist weder seltsam noch selten in der Geschichte; ganz anders steht es mit dem Gegentheil: daß ein fast stets geschlagener Befehlshaber plötzlich einen Sieg gewinnt, und zwar einen so bedeutenden, daß durch denselben eine Wendung in dem bisherigen Verlaufe eines Krieges herbeigeführt wird.

Dieses militärische Wunder vollbrachte der Ober-Befehlshaber der Türken in Kleinasien, Achmed Moukhtar Pascha. Sein Name ist mit jenen Siegen verbunden, welche dem Vordringen der drei russischen Heerkörper in Armenien ein Ziel setzten und schließlich dieselben zur völligen Räumung des Landes zwangen. Welchen Anspruch er selbst auf die Ehren dieser Erfolge zu erheben hat, ist jetzt nicht zu ermitteln. Jedenfalls stehen die Thatsachen fest und verpflichten uns, den vielgenannten Mann unserem Leserkreise im Bilde vorzuführen; wir fügen demselben das, was sich über sein Leben aus den Zeitungen zusammenstellen läßt, in der Kürze bei.

Eine biographische Notiz, welche eine unserer angesehensten Zeitungen über Moukhtar Pascha vor dessen armenischen Glückstagen mittheilt, sagt unter Anderm: Moukhtar Pascha hat seine militärische Unfähigkeit in der Zeit des Feldzugs gegen die Aufständischen in Bosnien und in der Herzegowina, sowie im Kriege gegen Montenegro zur Genüge erwiesen. Seine rasche Carrière verdankt der an Jahren noch junge General zumeist hoher Protection. Er gilt für den natürlichen Sohn des verstorbenen Abdul Aziz. An dem vorletzten Feldzuge gegen Montenegro betheiligte er sich als Generalstabsofficier. Später wohnte er unter Redif Pascha dem Kampfe in Yemen, gegen den aufständischen Beduinenstamm der Assyr bei, wurde Brigadegeneral und, nachdem Redif Pascha nach Constantinopel zurückberufen worden war, Vali (Statthalter) von Yemen und Commandant der Truppen dieses Vilajets mit dem Range eines Veziers. Als dem Aufstande in Bosnien der dort commandirende Derwisch Pascha nicht gewachsen zu sein schien, trat Moukhtar Pascha an dessen Stelle, errang anfangs einige Vortheile, erlitt aber dann im Dugapaß eine schmähliche Niederlage. Auch gegen die Montenegriner focht er nicht glücklicher. Den verantwortungsvollen Posten in Armenien verdankt er seinem ehemaligen Chef Redif Pascha, der seine Stellung als Kriegsminister der ihm angetragenen Oberbefehlshaberschaft in Kleinasien vorzog und selbst für Moukhtar Pascha warb.

Der Kampf um „die hohe luftige Gebirgsinsel, die große Naturfeste und Völkerburg“, wie K. Ritter das armenische Hochland nennt, nahm anfangs einen so unglücklichen Verlauf für die Türken, wie der auf der Balkanhalbinsel. Der schwerste Schlag für sie war aber der Verlust von Ardahan, den man Moukhtar Pascha schuld gab. Nach Zeitungsberichten von den ersten Junitagen sollte er abgesetzt und vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Aber das Kriegsgericht wurde weder für ihn berufen, noch, wie er selbst angetragen hatte, für seinen Unterfeldherrn Feizi Pascha (den Deutsch-Oesterreicher Kolmann), welcher dann bei Sewin zum Entscheidungssieg das Beste beitrug. Aus dieser Zeit stammt die folgende Zeitungsnotiz mit neuen biographischen Angaben:

„Während man,“ so sagt die „N. W. T.“, „jeden Andern schon nach dem ersten Mißerfolge ab- oder, wie den Muhamed Hamdi Pascha, sofort hinter Schloß und Riegel setzt, brachte diesem verzogenen Liebling des Serails jede neue Schlappe neue Ehrenstellen ein. Dem höchsten türkischen Geburtsadel entstammend, ist er seit seinem siebenundzwanzigsten Jahre Muschir (d. h. im Range der Staatsminister und Feldmarschälle stehend). Ein schlanker Mann mit angenehmen Gesichtszügen und tiefschwarzem Vollbart, ist er europäisch gebildet und hat sich, wie viele seiner Gesinnungsgenossen, seine Sporen im Serail verdient. Er machte hauptsächlich sein Glück dadurch, daß er sich entschloß, die alternde Schwester Abdul Aziz’s zu ehelichen (also nach obiger Behauptung über seine Geburt seine Tante!). Seinen Untergebenen und auch Gleichgestellten gegenüber spielt er sich als Mitglied des Kaiserhauses auf und ist von unerträglichem Stolze. Bei der Truppe ist er unbeliebt, weil er oftmals Orgien feiere, während es dem armen Soldaten an Allem fehle.“

Höchst interessant ist von da an der Wandel in den Kriegsberichten. Noch am 8. Juni sagen russenfreundliche Zeitungen: „Moukhtar Pascha wurde durch seine kopflosen Dispositionen vom Hause aus gezwungen, seine guten Stellungen in den Gebirgen ohne Schwertstreich aufzugeben.“ Vier Tage später: „Der unglückliche Moukhtar Pascha concentrirt bereits seine Truppen um Erzerum und erwartet dort sein Schicksal. – Erzerum kann sich kaum längere Zeit halten, und so dürfte längstens bis Ende Juni der Feldzug in Armenien beendet sein.“ – Schon drei Tage später „scheint sich die Situation Moukhtar Paschas einigermaßen gebessert zu haben“. Er hat den Russen Olti wieder weggenommen und sie zum Rückzug gezwungen. Daraus geht natürlich „eigentlich nur das Eine hervor, daß die russische Heeresleitung sich entschlossen hat, erst nach der Einnahme von Kars vorzugehen, um mit unverminderter Kraft gegen die Armee Moukhtar’s operiren zu können“.

Wieder sechs Tage später (Zeitungen vom 21. Juni) „hat die bedrängte Lage von Kars den lauen Moukhtar Pascha endlich aus seiner abwartenden Haltung aufgerüttelt. Derselbe bereitet jetzt, wie man auf das Bestimmteste versichert, seine Offensive vor.“ Er stand damals zwischen Toprak-Kale und Olti mit dem Centrum westlich von Sewin, entschlossen zum Vormarsch nach Kars, aber stark verschanzt und mit den sich ihm gegenüber in gleicher Länge ausbreitenden Russen täglich in Gefechten, in welchen nach den beiderseitigen officiellen Telegrammen stets beide Theile gesiegt hatten und wo bald der bekannte eine Kosake, bald der eine Tscherkesse gefallen war. Dies Alles geschah noch vor der Mitte des Juni. Am Ende desselben, am 16. Juni, siegten die Russen in einem Kampfe von 20,000 Mann gegen 12,000 Türken, den sie eine Schlacht nannten, und in welcher der Ferik Mehemed Pascha fiel. Moukhtar Pascha stand in Köprüköi, westlich von Delibaba. – Die Reihe der Gefechte schloß endlich am 24. und 25. Juni mit der Schlacht bei Sewin, in welcher die Russen 4000 Mann und zwei Divisionsgeneräle verloren haben sollen. Wir haben keinen Raum, eine Beschreibung des Kampfes zu geben, dessen Wichtigkeit durch die unmittelbaren Folgen desselben genügend dargethan ist. Die Türken drangen nach drei Richtungen gegen die Russen vor; Mussa Pascha bedrohte die linke Flanke derselben; Fait Pascha suchte von Bajazid her sie abzufangen, und Derwisch Pascha drängte den Feind auf russischen Boden gegen die Riomlinie zurück, während Moukhtar Pascha, mit Ismail und Feizi Pascha, [594] bis in die Ebene von Kars die allenthalben ihre Lager zurücklassenden Russen verfolgte. Das wichtigste Resultat aller dieser Siege war die Entsetzung von Kars, dessen Besatzung Moukhtar Pascha schon am 7. Juli durch 4000 Mann verstärken konnte.

Großfürst Michael verließ bei solchen Aussichten das Lager vor Kars sofort – General Tergukassoff konnte bei seinem Rückzuge die Stadt Bajazid nicht wieder besetzen – eine „informatorische Mittheilung aus Petersburg“ erkannte, daß die drei russischen (bisher so siegesgewiß vorgedrungenen) Truppenkörper gegen den unterschätzten Feind zu schwach seien – und den Zeitungen war plötzlich „über die vollständige Unfähigkeit des russischen Commandos in Armenien gar kein Zweifel mehr möglich“, – während Midhat Pascha in Wien die Siege der Türken dem Organisationstalente des Statthalters von Erzerum und der Feldherrntüchtigkeit Moukhtar Paschas zuschrieb.

Bekanntlich haben die Russen sich vollständig auf ihr eigenes Gebiet zurückgezogen und die Türken es nicht unbeträchtlich überschritten; ebenso bekannt ist, daß die Russen wieder zur Offensive übergegangen sind. Das letzte der vielen Telegramme Moukhtar Paschas berichtet vom 18. August einen neuen Sieg über die Russen zwischen Bezin und Zaider, nach welchem die Russen tausend und die Türken hundertfünfzig Mann verloren.

Wir haben, wie oben gesagt ist, nach den Zeitungsberichten diese Angaben zusammengestellt. Da aber auf beiden Kämpferseiten die scheußlichste Grausamkeit auch in der Behandlung der Wahrheit geübt wird, so müssen wir es der Zukunft überlassen, klar zu stellen, wie viele der mitgetheilten Sieges- und Charakterzüge unseres Gegenstandes sich als richtig erweisen werden. Bis dahin hat er mit Wallenstein wenigstens das Eine gemein:

„Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt,
Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“




Neues von Goethe's Friederike. Im denkwürdigen Pfarrhause des elsässischen Dorfes Sessenheim – nicht „Sesenheim“, wie der Ort nach dem Vorgange Goethe’s irrthümlich genannt wird – waltet seit sechszehn Jahren Herr Philipp Ferdinand Lucius seines Amtes als wackerer Pfarrer der dortigen protestantischen Gemeinde. Die Stellung ist von altersher eine behagliche, und von dem Hauptleiden vieler Dorfgeistlichen, der Vereinsamung und dem Mangel an Verkehr mit der Außenwelt, hat der Mann bis jetzt nur das Gegentheil zu empfinden gehabt. Ist doch sein Ort wie sein Haus immer mehr und mehr ein Wander- und Wallfahrtsziel jenes modernen Heroen- und Verehrungscultus geworden, in welchem das Gemüth unserer ringenden und gährenden Zeit gern Erquickung und Trost sucht für manches rauhe Ungemach und Wirrniß ihrer Wirklichkeit. Aus der Nähe und aus der Ferne, aus allen Gegenden und Ländern Deutschlands und des Auslandes kommen fortwährend zahlreiche Pilger nach Sessenheim, um andächtig auf den Stätten zu weilen, wo vor nunmehr länger als hundert Jahren der erhabenste dichterische Genius unseres Volkes den kurzen Traum seiner ersten wahren Jugendliebe geträumt. Seit Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ so wunderbar innig und zugleich so reuevoll von seiner Liebe zu der Sessenheimer Friederike, von ihren Angehörigen und ihrer Heimath erzählte, ist der sonnige Glanz und Reiz dieses Frühlings- und Sommeridylls nicht wieder aus den Erinnerungen seiner Verehrer geschwunden. Kaum hat er wohl selber geahnt, daß er mit diesem Bekenntniß einen so mächtigen Zauber in die Seelen strahlen und dem obscuren Oertchen einen Ruhm verschaffen würde, als ob dort Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung sich zugetragen hätten.

Der Pfarrer von Sessenheim befindet sich also auf einem sehr stark ausgesetzten Posten und muß den Pflichten eines Nebenamtes genügen, das der unablässige Zuspruch der Fremden in seinem Wohnhause ihm auferlegt. Einem Handwerkstheologen des gewöhnlichen Schlages würde das lästig werden, Herr Lucius ist aber glücklicher Weise ein ideal gerichteter, geist- und gemüthvoller, von Grund aus deutsch gebildeter Mann, der den vielen an ihn gerichteter Fragen von vornherein eine eigene, dem Studium deutscher Wissenschaft und Literatur erwachsene Empfänglichkeit entgegenbrachte. Die Fragen ermüdeten ihn nicht, sondern spornten nur seine Wißbegierde und seine kritische Begabung zu so emsigen Nachforschungen an, daß er schon 1871 seinen ersten gewichtvollen Beitrag zur Klarstellung der Friederiken-Episode in der „Gartenlaube“ veröffentlichen konnte. Gern erinnern wir uns noch der lebhaften Theilnahme, mit welcher diese interessanten Mittheilungen damals aller Orten begrüßt wurden. Seitdem ist aber dem Verfasser allmählich wiederum eine große Anzahl bisher noch unbekannter Nachrichten zugegangen, und es sind dadurch seine früheren Berichte so weit ergänzt, seine bisherigen Ermittelungen und Prüfungen so weit vervollständigt worden, daß er nunmehr an eine ausführliche Verarbeitung des ganzen ihm zu Gebote stehenden Materials denken konnte. Unter dem Titel „Friederike Brion von Sessenheim“ ist die Darstellung soeben (bei Heitz in Straßburg) herausgegeben, und man darf ihr wohl prophezeien, daß sie fortan unter den Erscheinungen der großen Goethe-Literatur einen hervorragenden Ehrenplatz behaupten wird.

Herr Lucius behandelt seinen delicaten Gegenstand mit der nüchternen Sorgfalt und diplomatischen Genauigkeit eines gewissenhaften Historikers, aber sein Forschersinn ist zugleich ein feiner und seelenvoller; er läßt den Blumen, die ihm auf seinem Wege entgegenblühen, alles Süße ihres Duftes und zerrupft sie nicht mit plumper Hand. Durch das nach strengster Wahrheit suchende Buch weht vielmehr ein Hauch sinniger Lieblichkeit, ein Ton milder und erwärmender Anmuth, welcher der Natur des Stoffes durchaus entspricht. Wird Goethe nicht von schwerer Verschuldung freigesprochen, so ist der Autor doch weit entfernt, an den zu den höchsten Aufgaben berufenen Genius die Maßstäbe des trivialen Moralisten und engherzigen Sittenrichters zu legen. In ernsten Worten läßt er über das Maß dieser Verschuldung sich aus, aber mehr noch als in den darauf bezüglichen Stellen liegt das Gericht über die Handlungsweise Goethe's in dem ergreifenden Eindrucke der ganzen Schilderung. In Bezug auf die Stärke, den Adel und Hochsinn des Charakters sehen wir den aufgehenden Stern des Dichterjünglings überstrahlt von der schlichten Herzenstiefe und Entsagungskraft des holdseligen Landmädchens, die ihn bezaubert und der er in Momenten unbedachten Seelenrausches für immer das Herz gebrochen hatte. Sollen wir eine Sühne dieses Verhängnisses in der Unsterblichkeit Friederikens finden, die sie mit dem Opfer ihres ganzen Lebensglückes bezahlte, sollen wir diese Sühne in dem Umstande finden, daß es der Abglanz von dem Wesen des Sessenheimer Pfarrerkindes ist, der immer wieder den dichterischen Frauenbildern Goethe's ihren unvergänglichen Reiz verleiht, während er selber niemals wieder das Glück und den Frieden einer wahren Liebe gefunden hat?

Zu solchen Betrachtungen bleibt uns an dieser Stelle kein Raum; Anregung dazu ist in dem ebenso anspruchslosen wie schönen Werkchen von Lucius hinlänglich gegeben, dem wir die weiteste Verbreitung wünschen, da es nach der literarischen, wie nach der poetischen und sittlichen Seite hin eine wohlthuende Wirkung üben wird. Auch äußerlich hat der Inhalt durch die Sorgfalt der Verlagshandlung ein besonders anziehendes Gewand empfangen, und als interessantes Curiosum sei noch erwähnt, daß das so geschmackvoll ausgestattete Buch in derselben Officin hergestellt worden ist, wo einst bei dem Urgroßvater des Herrn Heitz die Straßburger Doctor-Dissertation Goethe's gedruckt wurde.




Warnung vor Vergiftung. Durch alle Zeitungen geht der Rat, daß man sich als des kräftigsten Mittels zur Vertilgung des Coloradokäfers einer Mischung von Pariser Grün oder dem sogenannten Schweinfurter Grün bedienen solle, indem ein Eßlöffel voll davon, mit Mehl, Asche, Kreide oder einem anderen Pulver zusammengerieben, über die befallenen Kartoffelfelder ausgesiebt wird. Dabei ist jedoch nicht gesagt worden, daß dieses Schweinfurter Grün (arseniksaures Kupferoxyd) zu den furchtbarsten Giften gehört, und wenn gebildete Leute das auch wohl wissen, so giebt es doch viele Ackerwirthe, welche davon keine Ahnung haben. Das Ausstreuen des Giftes darf nur mit großer Vorsicht geschehen, und am allerwenigsten soll man es, wie vorgeschlagen ist, durch Kinder und Frauen auf die Felder aussieben lassen. In Amerika, wo solch Giftgemisch bereits im großartigsten Maßstabe im Gebrauche ist, wird es meistens vermittelst eigens dazu erfundener Apparate über die Fluren ausgesiebt, und wenn der Käfer über kurz oder lang auch bei uns in großen verheerenden Schwärmen auftreten sollte, so werden solche Vorrichtungen auch hier wohl eingeführt und käuflich zu haben sein. Aber selbst ein sogenannter Giftstreuer, eine siebartige Büchse, die an einem langen Stocke befestigt ist, oder ein blasebalgartiges Instrument, bergen trotzdem immer die Gefahr, daß bei Nichtbeachtung der Windrichtung, bei zu kurzen Stielen etc. der die Käfer vernichtende Arbeiter auch stets sich selber mehr ober minder gefährde. Ich wundere mich daher darüber, daß man den Arsenik nicht viel einfacher in Auflösung für diesen Zweck benutzen will. An Stelle der theuren Malerfarbe könnte man doch ganz einfach eine schwache Auflösung von dem viel billigeren weißen Arsenik vermittelst feinlöcheriger Brause- oder Gießkannen über die Kartoffeläcker spritzen lassen. Der Erfolg würde sicherlich derselbe sein, während eine Gefährdung der Arbeiter nur bei grober Fahrlässigkeit eintreten könnte. Die Arsenikauflösung müßte den Landleuten aber nur bereits fertig in den Apotheken verabfolgt und die dringende Mahnung hinzugefügt werden, daß die Flaschen, in denen das Giftwasser sich befindet, sowie die Gießkannen, in denen es ausgespritzt wird, durchaus für keinen andern Zweck benutzt werden dürfen.

Dr. K. R.


Ein historisches Wunder. Der durch seine Farbenuntersuchungen bekannte Naturforscher Chevreul theilte vor einigen Wochen der Pariser Akademie die Erklärung eines Wunders mit, welches einst die Bewohner des Louvres mit Schrecken erfüllt hat. Einige Tage vor der Bartholomäusnacht spielte Heinrich von Navarra, der Bräutigam der Bluthochzeit und spätere König von Frankreich, mit dem Herzog von Alençon und dem Herzog von Guise, dem man wegen seiner Gesichtsschmarre den Beinamen „le Balafré“ gegeben hatte, Würfel im Louvre, als es plötzlich den Spielenden vorkam, als ob die Würfel blutig seien, was ihnen bei der bereits herrschenden schwülen Atmosphäre sehr unheimlich erschien. Man hat nachher gemeint, die Ereignisse hätten ihre blutigen Schatten vorausgeworfen, während es sich doch nun um eine Augentäuschung handelte, die man jeden Augenblick haben kann. Voltaire, der die Geschichte in seinem Buche über die Sitten der Völker erzählt, erkannte ganz richtig, daß die schwarzen Flecken der Würfel dabei ihre Rolle gespielt haben, und meinte, schwarze Flecken sähen, in einer gewissen schiefen Richtung betrachtet, überhaupt roth aus. Im Jahre 1770 bemerkte der Berliner Akademiker Beguelin, als er bei tiefstehender Sonne eines Abends die Zeitung las, daß die Buchstaben plötzlich blutroth aussahen, und er erklärte sich dies, indem er an den von Voltaire mitgetheilten Fall erinnerte, durch die rothe Färbung, welche das durch die halbgeschlossenen Lider dringende Licht annehme. Diese Erklärung ist indessen, wie Chevreul gefunden hat, falsch. Wenn man sich auf einen Stuhl in die Sonne setzt, so etwa, daß ihre Strahlen das eine Auge unter einem Winkel von zwanzig bis fünfundzwanzig Grad treffen, während man das andere Auge geschlossen hält, und nach zwei Minuten das geblendete Auge auf einen nicht direct von der Sonne getroffenen Tisch wendet, auf welchen man eine weiße und eine schwarze Feder neben einander auf eine graue Unterlage gelegt hat, erscheint die weiße Feder smaragdgrün, die schwarze roth, während das durch den Augendeckel beschienene Auge beim Oeffnen diese Farben nicht erblickt. Chevreul schließt hieraus, daß das Roth der dunklen Flecken nur die Ergänzungs- und Contrastfarbe zu dem smaragdenen Glanze ist, in welchem weiße Gegenstände (dort die Würfel) dem von der Sonne geblendetem Auge erscheinen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Im Hinblicke auf unsern Artikel über das Das Blutbad am Kleinen „Big-Horn“-Flusse (Nr. 33, 1876) sowie auf die jüngste Ueberrumpelung der Regierungstruppen durch die Indianer dürfte die nachstehende Schilderung – geschrieben in Springfield, Massachusetts, im Januar dieses Jahres – von besonderem Interesse sein. Sie enthält eine farbenreiche Charakteristik eines in den Operationen gegen die Rothhäute hervorragenden Agenten der Regierung und wirft auf die amerikanischen Zustände nach mehr als einer Seite hin ein scharfes Licht.
  2. Büffel-Bill. Bill, eine Abkürzung von William.