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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[273]

No. 17.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Des Pfarrers Lieben.

Grau ist mein Haar, doch jugendfrisch mein Herz,
      Und frisch im Geiste bleibt, was ich erlebte:
Von süßer Freude und von bittrem Schmerz
      Ein Doppelklang den Busen mir durchbebte.
Grau ist mein Haar, doch blond war es einmal.
      Als ich hinaus trat in das volle Leben,
Und traf mich auch des Schicksals Wetterstrahl,
      Getrost darf ich den Blick gen Himmel heben.

Noch von dem Ernst der Jahre unberührt,
      Trank ich mich satt an todter Geister Wissen,
Als mich, den Jüngling, man zu ihr geführt,
      Zu ihr, der just der Vater war entrissen.
Das war ein Bild! – In Schwarz gehüllt den Leib,
      Stand sie vor mir in schmerzlich stiller Trauer,
Halb Kind noch, halb schon ein erblühtes Weib,
      Halb Frühlingssonne und halb Frühlingsschauer.

Ein Jahr verstrich. – Es war ihr erster Ball;
      Ein Engel war sie in der Unschuld Kleide.
„Sie ist die Schönste,“ klang’s in leisem Hall,
      „Trägt sie auch Rosen nur, nicht Goldgeschmeide.“
Das war ein Bild! – In Weiß gehüllt den Leib,
      Den Blick gehoben, sanft gefärbt die Wange,
An Herz ein Kind noch, an Gestalt ein Weib ––
      Ich liebte sie – und ich gestand mir’s bange.

Der Winter schwand. – Und als es Frühling war,
      Da nahm die Mädchenblüthe, vielumworben,
An’s kecke Herz ein lustiger Husar –
      Mir war im Lenzessturm mein Glück gestorben.
Das war ein Bild! – In Duft gehüllt den Leib,
      Den frischen Myrthenkranz im goldnen Haare –
O Wunder, aus dem Kinde ward ein Weib –
      Und ich – ich sollt’ sie segnen am Altare.

Und so geschah’s. – Ich weiß nicht, wie ich’s trug:
      Sie knieten vor mir, Seligkeit im Blicke,
Und als ich sie nun um ihr Jawort frug –
      Mein Segen war der Tod von meinem Glücke.
Das war ein Bild! – Verhüllt den zücht’gen Leib,
      Im Auge eine Thräne, blaß die Wange,
So lehnte sie an ihm; sie war sein Weib –
      Da weint’ auch ich in meines Herzens Drange.

Sie zogen fort. – Es strahlte Glück ihr Brief,
      Doch seltner, kürzer wurden ihre Zeilen;
Dann schwieg sie ganz – da endlich, endlich rief
      Ein flüchtig Wort mich, zu ihr hinzueilen.
Das war ein Bild! – Schlecht war verhüllt ihr Leib;
      Ein blonder Knabe saß zu ihren Füßen.
In Noth verlassen hatte Er sein Weib –
      Vor wildem Schmerz konnt’ ich sie kaum begrüßen.

Alt war die Frau – und doch erst zwanzig Jahr,
      Die Wange fahl und schwach und krank die Glieder.
Todt all’ ihr Hoffen, und dem Tod auch war
      Sie selbst geweiht; wie bald schloß sie die Lider!
Das war ein Bild! – Im Sarge lag ihr Leib,
      Auf Stirn und Wangen der Verklärung Frieden.
Es war das schöne, kummervolle Weib
      In meinen Freundesarmen sanft verschieden.

Man trug sie fort. – Die Erde rollt zum Sarg,
      Und jeder Schaufelwurf traf meine Wunde.
„Das Liebste todt, das mir die Erde barg!“
      Seufzt’ ich voll Gram; es schwand auch diese Stunde.
Grau ist mein Haar, doch war es blond einmal,
      Als ich hinaustrat in das volle Leben,
Und traf mich auch des Schicksals Wetterstrahl,
      Getrost darf ich den Blick gen Himmel heben.

M. N.

Aus gährender Zeit.
Erzählung von Viktor Blüthgen.
(Fortsetzung.)

„Mensch, kommst Du wie der Engel zu Sanct Peter, um mich bei Nacht und Nebel in die Freiheit zu führen, oder hast Du es blos auf eine Anstandsvisite abgesehen?“ fragte der Friese leiser.

„Hast Du noch etwas mitzunehmen außer Deinem Hut da? Komm’ ohne Zögern! Auf der Straße mehr!“

Sie gingen schweigend und vorsichtig, nachdem der Pascha die Zelle wieder abgeschlossen, die Treppe hinab; aus der geschlossenen Blendlaterne stahl sich nur ein schwacher Schein zu den Stufen nieder. Im Hause regte sich nichts.

Durch den Hof gelangten sie auf die Straße, und erst als der Schlüssel zur Ausgangspforte in die Tasche Karl Hornemann’s geglitten war, reichte dieser dem Freunde die Hand.

„Ich begleite Dich bis vor die Stadt. Du wirst gut thun, in dieser Nacht noch ein tüchtiges Stück zu wandern. Die Geschichte Deiner Verhaftung kenne ich schon; ich höre, daß Du an Urban’s Stelle eine Insurrection hast leiten wollen. Vielleicht hättest Du ein wenig Rücksicht auf mich nehmen können, als Dir die Proposition gemacht wurde, zur Durchführung dieses treubrüchigsten und gewissenlosesten aller Pläne die Hand zu bieten. [274] Aber wie ich Dich kenne, darf ich Dir verzeihen. Persönliche Beweggründe haben Dich sicher nicht geleitet.“

„Löse mir vor Allem einmal das Räthsel meiner Verhaftung!“

„Viel Räthselhaftes ist an derselben nicht zu finden. Dein Signalement liegt seit länger bereits auf der Polizei. Deine Anwesenheit bei der Brücke ist denuncirt worden. Das ist die ganze Lösung.“

„Aber woher nahmst Du die Möglichkeit, mich zu befreien?“

Karl Hornemann schwieg einige Augenblicke. „Lassen wir das!“ sagte er endlich.

„Bist Du hier allmächtig, Karl?“

„Ich will Dir ein paar weitere Fragen gleich abschneiden. Der Abgeordnete befindet sich seit drei Stunden in der Stadt. Seit gestern Morgen wußten wir in Bramkerken, was hier geplant war, und wir haben es durchkreuzt. – Und nun hast Du vielleicht die Güte, mir über Deinen Aufenthalt und die jüngsten Vorgänge in der Erlenfuhrt einige Auskunft zu ertheilen.“

Der Hüne war durch die kurze, kühle Art seines Begleiters verschüchtert. Stockend und holperig begann er, bis die Erinnerung seine Worte wärmer färbte und sein Wesen in rührender Begeisterung aufglühte. Gesenkten Hauptes schritt Karl Hornemann neben ihm her, mit keinem Laut seine Empfindungen verrathend.

Der Friese war mit seinem Bericht fertig, als sie das Ende der Straße erreicht hatten. Sie standen zwischen den Chausseepappeln; der Wind hatte wieder zu pfeifen begonnen. Der geschwollene Fluß brauste, und es war so finster, daß Keiner die Gesichtszüge des Andern zu erkennen vermochte.

Der Pascha seufzte tief und schmerzlich wie ein Verwundeter.

„Ich bin sehr in Sorgen, Harro; lebe wohl für diesmal!“

Zwei Stunden später klopfte der Flüchtling an das Fenster der Wirthschaft in der Erlenfuhrt. Die Hähne krähten im Stalle, und ein Hund bellte unter dem Thorweg hervor.

Der Wirth öffnete endlich.

Harro erkundigte sich nach Urban und erfuhr, daß derselbe sein Lager bisher nicht habe verlassen können. Er selbst warf sich noch für ein paar Stunden auf ein Bett, ohne den rechten Schlaf zu finden, ließ sich dann etwas Frühstück bereiten und verließ, nachdem er für Urban einige Zeilen niedergeschrieben, das Haus.

Wohin nun? Wieder landauf und landab in seiner alten Weise. Der Traum war ausgeträumt; der nüchterne Tag blickte ihm in die Augen.

Jahrelang, mehr als ein Jahrzehnt hindurch hatte ihn nichts gekümmert, als seine politischen Ideale. Ein rüstiger, kraftfroher Schwimmer, hatte er sich in den Wogen des Parteigetriebes getummelt wie ein Delphin. Jetzt zum ersten Male empfand er ein inneres Widerstreben gegen das Leben Kain’s, des unsteten und flüchtigen; es schien ihm, als ob sein Blut schwerer geworden sei, die Spannkraft seiner Muskeln nachgelassen habe.

Er fragte sein Herz, was das Glück sei, und es antwortete ihm mit einem bittersüßen Gefühl, dem er sich willenlos überließ.

Er ging einen schmalen Weg zwischen Zäunen, an deren Fuße die Nesseln in Büschen wuchsen, und betrat endlich feucht aufgeweichten Gartenboden, auf welchem sein Fuß tief in die Grasnarbe einsank. Zwischen den von Nässe glänzenden Obstbäumen blickte das weißgestrichene Haus mit den grünen Fensterläden, um welche der Wein rankte, lockend herüber zu dem langsamen, nachdenklichen Manne, und er schritt auf dasselbe zu, scheu um sich blickend wie ein Knabe, welcher naschen will.

Die Fensterscheiben, zu denen er hinüberschielte, starrten ihn leblos an; eine leise Hoffnung, hinter ihnen ein Mädchenantlitz zu gewahren, hatte ihn getäuscht. Er stand zaudernd an der Thür, die Hand auf den Drücker gelegt. Aber was wagte er denn? Er wollte sich verabschieden.

Eine Magd, die er im Hausflure nach Fräulein Hornemann fragte, wies ihn die Treppe hinauf in deren Zimmer. Milli saß im bequemen Hauskleide da und wandte ihm den Rücken, als er durch die knarrende Thür trat, aber der schwere Männertritt in der Stube verkündete ungewohnten Besuch. Sie drehte den Kopf, und als sie seiner ansichtig ward und mit leichtem Erröthen aufsprang, sah er, daß sie geschrieben hatte.

„Ich muß wandern, Fräulein Milli, und will Ihnen zuvor Lebewohl sagen.“

„Wo kommen Sie her, Harro? Was ist gestern in der Stadt geschehen? Ich fürchte, nicht viel, denn meine Freundin ist den Abend noch nach Hause gefahren und würde mich nicht haben verlassen dürfen, wenn es Unruhen gegeben hätte.“

Der Friese erzählte mit wenigen Worten die Geschichte seiner Fahrt, und das schöne Mädchen hörte mit athemloser Aufmerksamkeit zu; nur gegen das Ende der Erzählung flüsterten ihre von bewunderndem Stolze geschürzten Lippen: „Mein Karl, mein lieber, gewaltiger Bruder!“

„Ich muß also meinen Stab weiter setzen,“ schloß Harro. „Ich bin ja an die Luftveränderung gewöhnt; der Regen und der Sonnenschein sind beide meine Wandergesellen. Aber ich möchte mir eine Last von der Seele wälzen, bevor ich scheide; ein Wanderer darf kein schweres Gepäck mit sich schleppen. Ich danke Ihnen vierzehn schöne Tage – es waren ihrer noch mehr, glaube ich, aber sie schlossen mit ein paar dunkeln unverständlichen Stunden ab. Sie verstehen wohl, was ich meine –“

Sie hatte während dieser Rede die Farbe gewechselt und angstvoll verlegene Blicke auf die blühenden Büsche von Lack und Geranium im Fenster geworfen – plötzlich fiel sie ihm in’s Wort:

„Nicht weiter, Harro – ich flehe Sie an; ich kann Ihnen darüber keine Aufklärungen geben –“

„Mißverstehen Sie mich nicht! Ich will nur Eines fragen: ist Ihr Herz schon gebunden?“

„Ich bin verlobt,“ sagte sie leise mit blassen Lippen.

„Das genügt,“ gab er mit scheinbarer Ruhe zur Antwort. „Es wäre ein Wunder, wenn Sie es nicht wären. Möchte der Mann Sie verdienen, der Sie besitzen wird! Ich werde vorläufig von ihm glauben, daß er kein Schuft ist,“ fügte er forschend hinzu.

„Es ist nicht Urban –“

„Gott sei Dank! Das ist das Zweite, was ich gern gewußt hätte. Vergessen Sie einen Freund nicht, und wenn Sie, wie alle Frauen gern thun, später einmal von Ihren Triumphen erzählen, so sagen Sie: auch Ahasver, der ewige Jude, hätte Sie geliebt, es hätte ihm aber nichts genutzt, denn er sei verflucht zum Wandern. Leben Sie wohl, Fräulein Milli!“

Sie reichte ihm stumm die Hand, die er mit heißen Lippen küßte. Dann schritt er, ohne sich umzusehen, hinaus, das hohe, blondlockige Haupt, das beinahe die gedrückte Decke erreichte, tief neigend, als er durch die Thür ging.

Sie preßte die Hand auf das Herz, und ihre braunen Augen wurden feucht. Endlich athmete sie tief auf und fuhr sich über die Stirn. „Das wäre der letzte schwere Augenblick, die letzte Abwehr. Der Weg ist frei, ganz frei. Nun komme, was kommen muß! Es giebt mehr arme Seelen, die auf Gräbern sitzen und weinen müssen.“

Sie nahm Platz, um weiter zu schreiben, aber die Hände versagten ihr den Dienst, und sie legte die Feder nieder. Am Fenster stehend, starrte sie trübe auf den Fluß und den wolkenverschleierten Berg hinüber.

Der Friese gelangte in den naßkalten Wald, tapfer vorwärts schreitend und den Stock schwingend. Nur seine unruhigen Augen, welche wenig auf den Weg achteten, und ein leiser Zug von Wehmuth um den Mund sprachen von innerer Bewegung, von dem Geheimnisse eines kranken Herzens. Er war bereits, in Gedanken verloren, über die Stelle hinausgegangen, wo die Zigeunerniederlassung gestanden hatte, als ihm die Erinnerung an diese Leute kam; ein Zug mitleidigen Interesses führte ihn die paar Hundert Schritte zur Waldwiese zurück. Da sah er denn, daß, abgesehen von den aufgerichteten Reisigwänden des Zeltes, jede Spur ihrer Anwesenheit verschwunden war. Aber eine Stunde später etwa holte er ihr langsam schleichendes Gefährt ein. Der Mann und der Bursche gingen nebenher; von dem Mädchen war nichts zu erblicken. Seine Begrüßung wurde kalt erwidert; wortkarg nahm man seine theilnehmenden Fragen auf, und als er sich nach der Zigeunerin erkundigte, die er unter der Plane des Wagens zusammen mit den Kindern vermuthete, erfolgte erst gar keine Antwort, bis der Bursche endlich sagte, sie sei auf einem kürzern Wege zum nächsten Nachtquartiere vorausgegangen. Die Gesellschaft wurde dem Friesen zuletzt unbehaglich, und er wanderte nach kurzem Abschiede beschleunigten Schrittes voraus. –

Der Tag war bereits ein gutes Stück weiter vorgerückt – da [275] saß der Doctor Urban am Fenster in der Putzstube der Wirthin. Er hatte das ihm angewiesene Bett in der anstoßenden Kammer verlassen, und sein blasses Gesicht mit der Binde über der Stirn sah finster, doch ohne den sonstigen Ausdruck von Energie, durch die Scheiben hinaus, wo hinter Sommerblumen und Gemüse die Pappeln der Chaussee sich hinzogen. Seine Hand knitterte mechanisch an dem Briefe Harro's, und seine Gedanken wühlten in dem Schutte, zu dem das mißgünstige Geschick den babylonischen Thurmbau seiner Revolution dicht vor der Vollendung so schnöde zertrümmert hatte. Wer war denn jener Karl Hornemann, daß man ihm allen Trumpf in die Hände gab, während man seinen eigenen Rath wie das Erzeugniß einer unreifen Knabenphantasie bei Seite geschoben und die kühne Schöpfung eines großen geistigen Kraftaufwandes mit feindseliger Hand durchstrichen hatte, weil der Pascha vom Wiedenhofe es so gewollt? Die Eifersucht, der gekränkte Ehrgeiz im Herzen des einsam brütenden Mannes ringelten sich wie Schlangen um die Gestalt des frühern Freundes und sahen ihr drohend in die Augen. Und neben den Pascha stellte sich plötzlich das schöne Mädchen, das er tiefer geliebt hatte, als er selber geglaubt, und sein Herz kochte auf in Groll und – Scham über den mißlungenen Theatercoup, den er aufgeführt hatte und der ihm jetzt, da er mit dem Leben davongekommen war, unendlich lächerlich vorkam. Seine Faust ballte den Unglücksbrief einen Augenblick fester zusammen, und er dachte heimlich den Wunsch, daß er lieber als stiller, lebloser Menschenrest irgendwo im Ufergestrüpp hängen möchte, als daß er erwarten mußte, ihr wieder zu begegnen. Jener Ausgang hätte wenigstens etwas Tragisches gehabt.

Pah! – Sein Stolz bäumte sich auf, und sein mattes, schwerfälliges Ich versuchte mit gewaltsamer Anstrengung die Fittiche zu rühren, um alle die Widerwärtigkeiten zu überfliegen.

„Es giebt mehr begehrenswerthe Weiber. Warum gerade dieses unbeugsame, unberechenbare Mädchen? Warum nicht ein lustiges, blühendes, reiches – Was ist das?“

Sein Auge spähte durch den rieselnden Nebel zwischen das Gitter der Pappelstämme, und er glaubte an ein paar eilfertig die Chaussee herabkommenden Gestalten das Roth von Polizei- oder Militäruniformen zu erkennen. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf: suchte man hier Jemanden, so war es ohne Zweifel der Friese. Wie, wenn der Wirth nicht gewarnt war und harmlos die nächtliche Anwesenheit desselben zugestand?

Der eifersüchtige Verdacht, der im Kahne wegen der unvermutheten Erscheinung Harro’s in ihm aufgeglommen, war erloschen; er sah in diesem nur den Verbündeten, dessen Flucht er sichern helfen mußte. Er erhob sich und stieg, so schnell ihm das möglich war, die Treppe hinunter. Der Wirth war in der Scheune, wo man Strohseile wand, und begrüßte mit Verwunderung den Anblick des Reconvalescenten, der ihm hastig winkte.

„Es kommt wahrscheinlich Polizei,“ empfing ihn Urban; „um’s Himmels willen verleugnen Sie, daß Herr Harro seit gestern Morgen einen Fuß in das Haus gesetzt hat, und schärfen Sie Ihrer Frau und den Leuten ein, dasselbe zu thun!“

Der Wirth besann sich einen Moment, wer den Friesen am Morgen gesehen haben könnte, lief dann, während Urban in’s Haus zurückkehrte, in die Scheune und holte Jenen in dem Moment auf dem Hausflure ein, wo die Thür sich öffnete und – Donner in Person mit zweien seiner Leute eintrat.

„Uff!“ schnaufte dieser, prallte aber plötzlich vor der Erscheinung Urban's zurück und blickte ihn mit scharfen Polizeiaugen an; „wie – der Geier! – was ist denn mit Ihnen geschehen? Haben Sie ein Duell gehabt?“

Urban lächelte schwach. „Die Mondschein-Romantik plagte mich vorgestern Abend, hier einen Kahn zu besteigen; ich kam dem Falle zu nahe und – die Folgen sehen Sie. Es ist zum Glück alles leidlich abgelaufen.“

Er begleitete den Ueberraschten in die Wirthsstube.

„Und auf welcher Fährte laufen Sie denn bei dem Wetter umher?“

„Ja so – einen Augenblick Geduld!“ entgegnete Donner rasch und verließ das Zimmer. Draußen hörte man ihn mit dem Wirth sprechen.

„Suchen Sie Jemand?“ fragte Urban die Sergeanten. Diese sahen einander an und verzogen die Gesichter wie in einer lustigen Erinnerung.

„Es ist diese Nacht Einer entsprungen, ein Hauptdemokrat, den wir gestern gefangen hatten, und der Herr Commissar meint, er wäre von hier gekommen und wäre wahrscheinlich auch wieder hierher zurückgegangen.“

„Hm, dann wäre er dumm genug gewesen.“

„Schadet nichts. Die Gegend wird untersucht,“ sagte die Stimme Donner’s vor der Thür. welche sich öffnete, um diesen und den etwas Getränk bringenden Wirth einzulassen.

„Ich höre, Sie haben Unglück gehabt,“ meinte der Arzt.

Der Commissar überlegte einen Augenblick. „Kommen Sie mit hinüber in die Wohnstube, Doctor! Ich habe Ihnen allerlei zu sagen. Der Wirth kann mein Bier ebendahin schaffen.“

„Es ist um toll zu werden, sage ich Ihnen,“ fuhr er erregt heraus, als sie in der Bauernstube allein waren. „Ich bin verrathen und verkauft und im Grunde ganz überflüssig. Beiläufig: wissen Sie schon, daß der ganze Empfang zu Wasser geworden ist?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Richtig. Nun: es ist Alles verregnet und der Hornemann mit seiner Gesellschaft –

„Karl Hornemann?“

„Natürlich – der ist die Hauptperson, wie ich mir halb und halb vorher gedacht; eine herrliche Liste habe ich – das kann ich Sie versichern. Kurzum die Rädelsführer mit ihrem Abgeordneten sind jämmerlich bei Nacht und Nebel in die Stadt gefahren. Nun aber die Hauptsache: die Demokraten in der Stadt durfte ich ja nicht anrühren, auf höheren Befehl; Sie wissen schon. Wie ich aber die Gesellschaft am Triumphbogen, die sich wie ein Hühnervolk im Regen zusammenduckte, durch ein Fernrohr beobachten lasse, erfahre ich, daß sich mit einem Male ein berüchtigtes Subject, ein gewisser Harro, dazwischen befindet, der schon einmal heimlich in der Stadt gewesen ist. Woher er so unerwartet angelangt, habe ich glücklich herausbekommen. Der Mensch hat die Dreistigkeit, mit Bandmüller, dem Factotum von Seyboldt und Compagnie, seelenruhig in die Stadt zu gehen; ich locke ihn in eine Falle und schaffe ihn gegen Abend ohne Aufsehen in das Fuchseisen. Er sitzt fest eingeschlossen und eingeriegelt und – heute früh ist er verschwunden. Keine Spur von Gewalt; die Schlösser, alles in Ordnung. – Ich versichere Sie,“ schloß er heimlich und mit aufeinander gebissenen Zähnen, „ohne allerhöchste Mitwirkung kann er nicht entwischt sein. Es ist nicht möglich.“

„Weiß denn der Schließer nichts?“

„Der alte Taugenichts behauptet es wenigstens. – Sehen Sie dorthin, Doctor – sehen Sie dorthin – –“

Donner sprang vom Stuhle auf und zeigte nach dem Fenster. „Zehren, so wahr ich lebe!“

Das Auge Urban's flammte vor Haß und sein Gesicht wurde noch blasser, als es ohnehin schon war. Der Fabrikant schritt langsam, einen Mantel um und den zugeklappten Regenschirm in der Hand, neben einem Bauer her, „einem Wegweiser – zu ihr,“ dachte Urban.

„Das bringt mich gleich auf ein zweites Capitel,“ fuhr Donner fort und schlug zornig mit der Faust auf eine Stuhllehne. „Denken Sie denn, daß mir die Briefe etwas genützt haben, die ich Ihnen neulich zeigte? Ich rapportire der Vorsicht halber darüber an maßgebender Stelle; was geschieht? Zwei Tage nachher bekomme ich die Antwort: die Briefe wären jedenfalls gefälscht und würden zu den Acten genommen; statt mich um Zehren zu kümmern, sollte ich lieber zu erfahren suchen, wer der Fälscher sein könnte, um nach dieser Richtung hin Weiteres zu veranlassen. Das alles ist – offenbarer Landesverrath; ich spreche es ruhig aus, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie es dem Herrn Oberbürgermeister wiedersagen.“

Ein lauernder Blick des Commissars fiel auf seinen Zuhörer.

„Sie sind nicht klug,“ erwiderte Urban, der nur mit halbem Ohre zugehört hatte und Zehren mit den Augen gefolgt war, bis die Gärten ihn verbargen. „Ich dächte, ich hätte schon mehr Gefährliches aus Ihrem Munde gehört.“ Mit einem Male schlug er dem Commissar auf die Schulter. „Donner, haben Sie nie daran gedacht, daß auch ein Oberbürgermeister-Sessel wackelige Beine hat?“

„Wie – – was? stammelte dieser; „ist das Ihr Ernst?“

„Die Politik ist mir bisher gleichgültig gewesen, aber was ich von Ihnen gehört habe, regt den loyalen Unterthanen in mir auf. Warum thun Sie nicht dem Staate und sich selber den [276] Gefallen, dieses Treiben am geeigneten Orte in’s rechte Licht zu stellen?“

„Es würde mir nichts nützen.“

„So? Nun, ich will Ihnen ein paar Adressen geben, deren Benutzung Ihnen den Beweis vom Gegentheil in die Hand liefern würde.“

Der Commissar war in vollständiger Verwirrung; eine Weile haschte er vergeblich nach Worten, dann platzte er endlich heraus: „Bei meiner armen Seele, ich dachte immer, daß ich kein ganz dummer Beamter wäre, aber gegenüber dem, was Sie da eben gesagt haben, wird mir meine Qualität zweifelhaft. Bis auf diesen Augenblick habe ich Sie für einen verkappten Demokraten gehalten. Sie haben mir doch einmal bemerkt, daß der Herr Oberbürgermeister Ihr Freund sei. Und gerade deswegen habe ich Ihnen alles erzählt, was ich gegen ihn auf dem Herzen hatte. Ich wollte, es sollte zu einer Untersuchung gegen mich kommen, und ich hätte es dann so eingefädelt, daß sie zu einer Untersuchung gegen ihn geworden wäre; das war die einzige Möglichkeit, wie ich nach meiner Ansicht ihm beikommen könnte.“

„Freund?“ sagte Urban achselzuckend, „wie man das nimmt! Ich bin sein Hausarzt, und wir standen auf ganz gutem Fuße. Aber Alles hat seine Grenze. Haben Sie Papier da?“

Der Commissar zog seine Brieftasche, und Urban dictirte ihm drei Namen. „So,“ fügte er hinzu. „Nehmen Sie sofort Urlaub! Ich liefere Ihnen damit unsre ganze Demokratie sammt ihrem Schutzpatron an’s Messer. Und nun geben Sie sich wegen jenes Harro keine Mühe weiter! Er stand gestern früh mit Bandmüller vor meinem Bette, und ich habe aus ihrem Gespräche genau verstanden, daß er, wenn er in Gefahr käme, über die Berge steigen würde. Der Wirth hat mir gestern erzählt, daß dieser gefährliche Mensch vierzehn Tage hier schon im Quartier gelegen hätte. Jetzt muß ich mich aber beurlauben. Ich bin äußerst matt.“

Die Beamten entfernten sich, und Urban schlich schläfrig treppauf und warf sich auf sein Bett. Nur traumhaft dunkel quälte ihn eine Gruppe, in welcher er Franz Zehren die Schwester des Pascha umarmen sah, und leise empfand er ein schmerzliches Nagen in seiner Brust – das Nagen der Reue. – –

Franz Zehren Milli Hornemann umarmen! Daran hatte der schüchterne, ehrliche, junge Fabrikant wahrlich nicht gedacht, als er neben seinem Führer dem Hause zuschritt, in welchem der Gegenstand seiner glühenden Neigung wohnte. Eine Göttin umarmt und küßt man nicht; man betet sie an. Auf die Kniee wäre er wohl vor ihr gesunken, und ihre weiße Hand hätte er an seine Lippen geführt, wenn er nicht zu viel männliche Würde besessen hätte, der wohl auch von Haus aus eine gewisse Steifheit zu Grunde lag, und – wenn er nicht noch einen andern Grund gehabt hätte, dies zu unterlassen. Er sah so ernst und so trübe aus, als er vor dem schönen Mädchen stand, das ihn als Bräutigam erwartet hatte, und als er die treuherzigen blauen Augen unsicheren Blickes auf sie richtete.

„Ersparen wir uns alle verlegene Einleitungen!“ sagte Milli Hornemann mit dem tiefen Ton ihrer klaren Altstimme kalt, aber nicht unfreundlich. Sie reichte ihm ihre Hand, die er ein paar Secunden fest in der seinigen hielt. „Ich betrachte Sie als meinen künftigen Gatten und gelobe Ihnen Treue,“ scandirte sie deutlich, als ob sie sich plötzlich besonnen hätte, daß er ja nur die Bewegung ihrer Lippen verstand.

Er hatte genug Worte erfaßt, um den Sinn ihrer Rede vollständig zu errathen, und schüttelte leise den Kopf.

„Ich habe mit Ihrer Frau Mutter gesprochen und erfahren, was die Ursache ist, der ich mein Glück verdanken soll, mein theures Fräulein. Ihre Frau Mutter ist mir ehrwürdig, und die schwere Last, welche sie trägt und welche zu erleichtern in meiner Macht steht, soll sie, soviel an mir liegt, keinen Augenblick länger drücken. Ich denke, Sie mißverstehen mich nicht, wenn ich es für unverträglich mit der Ehre eines Mannes halte, die Verlegenheit einer Familie zu benutzen, um sich eine Lebensgefährtin zu erzwingen. Sie lieben mich nicht, denn Sie haben bis jetzt einen Andern geliebt, und man wendet ein Herz nicht um, wie einen Handschuh. Ich glaube auch nicht, daß ich die Eigenschaften besitze, um das zu entflammen, was man gewöhnlich Liebe nennt; mein körperliches Gebrechen bildet dafür wohl allein schon ein unübersteigliches Hinderniß. Aber es wäre vielleicht möglich, daß ein Mädchen, das mich länger kennt, Achtung genug für mich empfindet, um mir ihre Zukunft anzuvertrauen. Es gab eine Reihe unglücklicher Tage, wo ich Ihre Abneigung erfahren mußte und der Hoffnung lebte, Ihnen an Stelle der Abneigung wenigstens jene Achtung einflößen zu können. Seit ich erfuhr, daß Sie liebten, habe ich auch auf diese Hoffnung verzichtet, denn entstehen kann jene Achtung wohl neben der Liebe – Frucht bringen kann sie nicht.“

Er hielt einen Moment inne; ein Strahl von Theilnahme, der ihre Augen warm verklärte, verwirrte ihn, und seine Blicke glitten an den vollen, blendenden Armen nieder bis zu den Händen, die sich in einander falteten. Dann raffte er sich noch einmal zusammen und schloß mit bebender Stimme: „Ich kenne die Leidenschaft der Verzweiflung nicht; es ist unwürdig, sich ganz an ein Unglück zu verlieren. Ich will meinen Weg einsam durch Arbeit gehen. Vielleicht achten Sie mich jetzt so weit, daß Sie fortan in mir einen Freund erblicken. Sie sind frei von jeder Verpflichtung gegen mich, los und ledig. Ich bitte um kein Zeichen Ihres Dankes, außer um die Erlaubniß, heimkehren zu dürfen.“

Emilie deutete stumm auf einen Stuhl, und er gehorchte zögernd ihrer Aufforderung und nahm Platz. Er wagte nicht sie anzusehen und vernahm nichts von den abgebrochenen Worten, die sie vor sich hinflüsterte.

Sie war schon so sicher und so entschieden gewesen; die klare Ruhe des Entschlusses hatte etwas so Wohlthuendes für sie gewonnen, daß sie dankbar dafür war nach allen den Zweifeln, dem Ringen, den Qualen und Stürmen der letzten Zeit. Warum mußte dieser Mann kommen, um sie noch einmal vor die Entscheidung zu stellen? Nein – sie wollte Ruhe haben; die Brücke, die sie in jener Nacht hinter sich abgebrochen, als sie aus dem Kahne des Gewaltthätigen gesprungen war in die aufblitzende Fluth, sie sollte abgebrochen bleiben. Vielleicht mußte sie es sogar, denn sie hatte den Mann, der um ihren Besitz das Aeußerste wagte, in den Tod fahren lassen, vor dem nur ein Wunder ihn bewahrt hatte. War er nicht damit aller Wahrscheinlichkeit nach für sie verloren? Der Gedanke, die Braut des braven, ehrenhaften Mannes zu werden, der dort vor ihr saß, war ihr etwas Vertrautes geworden.

Und doch – wenn sie dachte, daß sie seinen Kuß, seine Umarmung dulden müßte – –. Ein leiser Schauder überkam sie. –

Plötzlich richtete sie sich entschlossen auf. „So geht es vielleicht,“ murmelte sie.

Auf dem Tische stand noch das Schreibzeug neben dem Papier. Zehren, der mit klopfendem Herzen in seiner gedrückten Haltung verharrt hatte, blickte empor und sah, wie die biegsame Gestalt des geliebten Mädchens halb abgewandt sich vom Stuhle über den Tisch neigte und wie die Feder in ihrer Hand in raschem Fluge die Zeilen füllte. Dann streute sie Sand darauf, nahm eine Oblate – und nun stand sie, das Antlitz in tiefes Roth getaucht, vor ihm und überreichte ihm ruhig und freundlich den Brief, auf welchem als Aufschrift die Worte standen: „Unterwegs zu lesen!“ – Er verneigte sich, aber er sah, daß sie ihm die Hand darbot, und plötzlich, ehe er wußte, wie es kam, merkte er, daß er die Hand an seine Lippen preßte. –

„Zwei an einem Morgen,“ sagte das schöne Mädchen mit wehmüthigem Lächeln und gedachte des stattlichen Friesen, der jetzt schon fern dem Rheine zuwanderte.

Als Zehren leichten Schrittes und mit wundersam verklärtem Gesicht die Stadt betrat, riß die Sonne die Wolken auseinander, daß das himmlische Licht jäh über Häuser und Straßen fluthete. Die Glocken läuteten feierlich dröhnend vom Thurme der katholischen Kirche, und aus der Entfernung vernahm man das Blasen der Musik und schwach hallenden Gesang.

„St. Kilian,“ sagte der Glückliche überrascht, als er in die weite gerade Flucht der Kaiserstraße hinunter sah. Fahnen flatterten; eine Menschenmenge hatte sich vor dem Kirchplatze gestaut, und als er näher kam, unterschied er die weißgekleideten Mädchen mit den lockigen, bekränzten Blondköpfen und den sauberen, blühenden Kindergesichtern, Blumenguirlanden und Dekorationsstücke tragend, wie sie eben in die Straße eingebogen waren, und hinter ihnen kamen die Knaben, und dann der Baldachin mit den bunten Chorknaben davor, über denen

[277]

Die Riegersburg in Steiermark.
Nach einer Skizze von Robert Zander in Wien.

[278] sich die feinen blauen Weihrauchwölkchen kräuselten, und der Dechant war darunter, der die blitzende Monstranz hielt und die assistirenden Geistlichen neben sich hatte, – in Farbenglanz und Sonnenschein wickelte sich die Procession aus der tausendköpfigen Zuschauermenge.

Der Heilige feierte seinen Triumph, und die Freiheit saß müde in ihrem dunkeln Winkel und rieb sich die wunden Stellen, welche ihr die Fesseln gedrückt hatten in der kurzen vergeblichen Anstrengung, sie zu zerreißen, und sie seufzte dazu.

Zur nämlichen Stunde aber ging ein Mann schnell durch eines der ärmlichen, engen Gäßchen am Wasser und trat in ein Haus, das so baufällig, bröckelig und schmutzig war, wie seine ganze Umgebung, und einen Augenblick nachher stand der Mann vor einer wurmstichigen Bettstelle, in der zwischen dünnen Kissen ein Mensch sich krümmte, jammernd und mit hohlen Augen im bleigrauen Gesicht den Arzt anstarrend, der sich über ihn neigte und dessen Antlitz sich plötzlich entfärbte, daß es aussah, als ob der Wiederschein von dem Krankengesicht da unten sich in ihm spiegele.

„Gott erbarme sich unserer guten Stadt!“ flüsterten die Lippen des Arztes – „das ist die Cholera!“

(Fortsetzung folgt.)





Ein König im Reiche der Zahlen.
Zum hundertjährigen Geburtstage von Karl Friedrich Gauß.

In lichter Höhe am Ruhmeshimmel der deutschen Forscher und Denker, da wo die Namen Kopernikus und Kepler, Leibniz und Kant in Sternenschrift glänzen, steht neben dem seines Freundes Alexander von Humboldt auch der Name Karl Friedrich Gauß. Er glänzt darum nicht weniger hell, weil seine deutschen Landsleute, den Eigenthümer für einen Franzosen haltend, ihn zuweilen „Gooß“ aussprechen, oder weil die große Encyklopädie von Ersch und Gruber und, wenn ich nicht irre, auch die Regensburger „Walhalla“ seiner ganz vergessen haben. Es läßt sich ja fast durch Rechnung erweisen und ist völlig in den Zahlen begründet, daß der große Mann, der so viele unbekannte Größen in bekannte verwandelte, der großen Mehrzahl selber eine „unbekannte Größe“ bleiben mußte. Gerade der Fürst derjenigen Wissenschaft, die sich für die Fürstin aller Wissenschaften halten darf, also der primus omnium unter den Gelehrten, der im Rechnen selbst einem Archimedes und Newton „über“ war, muß dem Schicksale verfallen, incognito zur Unsterblichkeit zu reisen, wenn wir Andern uns nicht die Bewunderung der Wenigen, die seinem Geistesfluge und seinen Rechnungen folgen können, zum Beispiel nehmen.

Das unscheinbare Erkerhäuschen, in welchem Gauß am letzten April 1777 geboren wurde, ist noch heute, mit einer kleinen Gedenktafel geschmückt, auf dem Wendengraben in Braunschweig zu finden. Wie es in der Regel bei großen Männern der Fall zu sein pflegt, hat seine Mutter Dorothea, geborene Benze, in viel höherem Grade als der Vater, der den Titel eines Wasserkunstmeisters führte, den Schatz seiner Liebe gehütet und die Pflege seiner Anlagen geleitet, und sie hat das seltene Glück gehabt, später von der Göttinger Sternwarte aus den Ruhm ihres Lieblings – wie man hier ohne Uebertreibung sagen darf – bis zu den Sternen steigen zu sehen, ehe sie in ihrem siebenundneunzigsten Jahre (1839) die kurz vorher erblindeten Augen schloß.

Vielleicht war die Mutter dem Sohne auch geistig näher verwandt, als der Vater. Da der Zahlensinn zu denjenigen Geistesfähigkeiten zu gehören scheint, die am meisten eine angeborene Anlage voraussetzen, so ist es eine wohl aufzuwerfende Frage, von welcher Seite her Gauß dieses feine Geistesorgan, dessen wunderbar zarte Windungen später sogar die Anatomen bewundert haben, geerbt haben möge. Wir erfahren in dieser Beziehung, daß auch seiner Mutter Bruder, ein schlichter Webermeister, überaus scharfsinnig gewesen ist, sodaß sich der geistesrege Knabe früh an den „klugen Oheim“ schloß, den er noch in späten Jahren ein „geborenes Genie“ zu nennen pflegte. Aber diese Bezeichnung galt in noch viel höherm Grade von ihm selbst, wie er im Scherze mit den Worten zuzugeben pflegte, daß er früher rechnen als sprechen gelernt habe. Von einem angeborenen Zahlensinne gab er in der That bereits als ganz kleines Kind Beweise. Eines Sonnabends, als sein Vater den Maurergesellen ihren Wochenlohn mit Einschluß der nach Feierabend zur Arbeit verwandten Extrastunden laut vorgerechnet und eben an’s Auszahlen gehen will, ruft der noch nicht dreijährige Fritz mit seiner feinen Stimme aus dem ärmlichen Bettchen. „Vater, die Rechnung ist falsch; es macht so und so viel.“ Trotz der Winzigkeit des Einspruch-Erhebers wird die Rechnung wiederholt, und man findet mit allgemeinem Erstaunen, daß dem kleinen Rechenmeister ein Fehler aufgefallen war, den die Erwachsenen übersehen hatten.

Professor Sartorius von Waltershausen, der seinem Freundschaftsverhältniß zu Gauß in einer 1856 erschienenen Gedächtnißschrift ein schönes Denkmal gesetzt hat, berichtet aus des Gefeierten Munde noch ein andres Beispiel der aus einwohnender Anlage hervorgesproßten Zahlenmächtigkeit des Knaben. Kaum in die obere, sogenannte Rechenclasse der Katharinen-Volksschule seiner Vaterstadt vorgerückt, setzte er sich bei dem Rechenlehrer Büttner alsbald in Respect. Es war in der Rechenstunde üblich, daß der Schüler, welcher zuerst sein Exempel beendigt hatte, seine Schiefertafel auf einen großen Tisch legen mußte, auf diese der zweite die seinige und so fort. In einer der ersten Stunden gab der Lehrer die Summation einer arithmetischen Reihe als Aufgabe, aber kaum war dieselbe ausgesprochen, als Gauß, ohne von der nach damaliger Unterrichtsmethode unablässig nachhelfenden „Karbatsche“ des Lehrers geschreckt zu werden, seine Tafel mit den gleichsam verächtlichen Worten. „Ligget se!“ (da liegt sie!) auf den Tisch warf. Während die andern Schüler emsig weiter rechnen, multipliciren und addiren, geht der sich seiner Würde bewußte Lehrer auf und ab, von Zeit zu Zeit einen halb mitleidigen, halb sarkastischen Blick auf den kleinsten seiner Schüler werfend, der längst seine Aufgabe beendigt hatte. Dieser saß dagegen ruhig da, schon damals eben so sehr von dem festen unerschütterlichen Bewußtsein durchdrungen, welches ihn bis zum Ende seiner Tage bei jeder vollendeten Leistung erfüllte, daß seine Aufgabe richtig gelöst sei und daß das Endergebniß kein anderes sein könne. Schließlich wurden die Tafeln umgekehrt; diejenige von Gauß mit einer einzigen Zahl, und zwar der richtigen Endsumme, lag obenauf, während viele der übrigen unrichtig waren und mit der Karbatsche rectificirt werden mußten. Der Lehrer war einsichtsvoll genug, bald zu erklären, daß Gauß in seiner Schule nichts mehr lernen könne.

Inzwischen war demselben wesentliche Förderung zu Theil geworden durch die freudschaftliche Unterstützung eines in dieser Schule mit untergeordneten Pflichten betraueten jungen Hülfslehrers Namens Bartels, der sich für mathematische Studien interessirte, brauchbare Lehrbücher anschaffte und, seinerseits angeregt durch den Eifer des damals zehnjährigen Knaben, gemeinschaftlich mit demselben den Weg zur höheren Mathematik fand, der ihn selbst später auf einen Lehrstuhl der Universität Dorpat geführt hat, so daß sich die dem jüngeren Genossen erwiesene Unterstützung unmittelbar belohnte. Bartels, dem Gauß stets eine dankbare Freundschaft bewahrte, hat sich auch das weitere Verdienst erworben, mehrere hochgestellte Personen in Braunschweig, wie dem geheimen Etatsrath von Zimmermann und den Geheimrath von Feronce auf die ungewöhnlichen Gaben seines jungen Freundes aufmerksam gemacht zu haben, mit deren Unterstützung dann nicht nur für weitere Fortbildung gesorgt, sondern auch der Widerwille des Vaters gegen eine gelehrte Laufbahn überwunden wurde. Als elfjähriger Knabe kam Gauß (1788) auf das Katharinen-Gymnasium, bemächtigte sich hier mit so unglaublicher Schnelligkeit der alten Sprachen, daß er die Bewunderung aller Lehrer und Schüler erregte und nach zwei Jahren die Prima erreichte. Um diese Zeit wurde durch die obenerwähnten Gönner die Aufmerksamkeit des Herzog Karl Wilhelm Ferdinand auf den vielversprechenden jungen Mann gelenkt. Er wurde 1791 bei Hofe vorgestellt und gewann sofort die Gunst des edlen Fürsten, die ihm derselbe bis zu seinem unglücklichen Ende bewahrt hat. Wir sehen, wie uneigennützige Freundschaft und Theilnahme dem [279] jungen Manne auf allen seinen Wegen entgegenkam, und diese göttliche Gabe, nicht nur den Verstand, sondern auch die Herzen der Menschen für sich zu gewinnen, ist ihm allezeit treu geblieben; sie erläutert deutlicher, als es viele Worte zu thun vermöchten, die anspruchslose Liebenswürdigkeit seines Wesens.

Daß Gauß nicht in die Classe der durch Eitelkeit und künstliche Dressur erzogenen „Wunderkinder“ gehöre, die nur zu bald in den Reihen der Alltäglichkeit zu verschwinden pflegen, bewies er bereits während seiner Göttinger Universitätszeit, indem er, damals noch nicht einmal entschieden, ob er nicht vielmehr die alten Sprachen zu seinem Fachstudium wählen sollte, als achtzehnjähriger Student (1795) seine Methode der kleinsten Quadrate und andere Rechnungsfortschritte entdeckte, von denen eine neue Epoche der Zahlentheorie datirt. Ein zwanzigjähriger Jüngling, schrieb er die grundlegenden, seinem Herzoge gewidmeten arithmetischen Untersuchungen (Disquisitiones arithmeticae), deren Drucklegung sich bis 1801 verzögerte, die aber dann auch sofort die Blicke der gesammten rechnenden Welt auf den Autor zogen und ihm die Ernennung zum Mitgliede der Petersburger Akademie als Vorläuferin unzähliger ähnlicher Ehrenbezeigungen eintrugen. Ein damals am Himmel neuentdecktes Gestirn trug übrigens nicht wenig dazu bei, das auf Erden aufgegangene der Welt bekannt zu machen.

Das neunzehnte Jahrhundert war gar würdig eröffnet worden; der italienische Astronom P. Piazzi hatte an seinem ersten Tage in Palermo einen kleinen Stern mit lebhafter Eigenbewegung entdeckt, den er für einen Planeten halten mußte und Ceres Ferdinandea nannte. Diese Entdeckung des ersten der jetzt zu einem großen Schwarm angewachsenen kleinen Planeten oder Planetoiden machte darum ein verdientes Aufsehen, weil den Astronomen die große Kluft zwischen Mars und Jupiter in unserm Planetensysteme immer ein Räthsel gewesen war, sodaß schon Kepler mit Bestimmtheit vorhergesagt hatte, es gehöre ein noch unbekannter Planet dazwischen. Die Astronomen Titius und Bode hatten diese auszufüllende Lücke sogar durch ein besonderes Gesetz der Planeten-Anordnung nachweisen zu können geglaubt.

Aber o Jammer! Piazzi hatte die langersehnte und endlich gefundene Lückenbüßerin Ceres nach wenigen Ortsbestimmungen wieder aus den Augen verloren, und alle Astronomen Europas bemühten sich fast ein ganzes Jahr lang vergeblich, der Verlorenen wieder auf die Spur zu kommen. Die Gegner der „Naturordnung“ jubelten, und Hegel, der Philosoph, eröffnete seine Ruhmeslaufbahn mit einer lateinischen Abhandlung, in welcher er unzweifelhaft bewies, daß der Raum zwischen Mars und Jupiter „aus philosophischen Gründen“ nothwendig leer sein müsse. Die Spannung der gelehrten und ungelehrten Welt war somit mächtig erregt. Bei der Dürftigkeit der von Piazzi gemachten Bestimmungen konnte nur ein großer Rechner die Astronomen aus der Klemme ziehen, und diesen Retter fanden sie in Gauß. Obwohl derselbe nicht das Mindeste auf jenes „schöne Gesetz“ hielt, vielmehr auf den ersten Blick erkannte, daß ja gleich das erste Glied der Reihe falsch sei und nicht 4 + 0, sondern 4 - 1½ = 5½ (Entfernung des Mercur) hätte heißen müssen, berechnete er die Bahn der Verlorenen, und trotz der Dürftigkeit der Beobachtungen mit einer solchen Genauigkeit, daß Olbers am Jahrestage der Entdeckung die Ceres genau an dem von Gauß berechneten Orte auffand, ihr übrigens wenige Monate darauf eine Gesellschafterin (Pallas) in dem „philosophisch leeren Raum“ Hegel’s ausfindig machte.

Damals neigten sich alle Astronomen der Welt vor dem vorher kaum bekannten Namen Gauß, und es leiteten sich unmittelbar darauf die auf tiefer Achtung gegründeten Freundschaftsbündnisse ein, die ihn mit Laplace, Zach, Olbers, Bessel und allen berühmten Astronomen der Zeit verbanden. Aber gleichzeitig begannen mit den großen Erfolgen des Fünfundzwanzigjährigen auch die Bemühungen der Petersburger Akademie, ihn seinem Vaterlande zu entführen. Die entgegengesetzten Bemühungen von Olbers und die Dankbarkeit, die er seinem Fürsten schuldete, hielten ihn ab, diesen glänzenden Anerbietungen zu folgen. Erst nachdem das unglückliche Geschick Deutschlands jene Bande tiefempfundener gegenseitiger Achtung und Verehrung zerrissen hatte, Herzog Ferdinand bei Jena die Todeswunde empfangen und auf der Flucht gestorben war, folgte Gauß einem inzwischen an ihn ergangenen Rufe als Director der neuzuerbauenden Sternwarte nach Göttingen.

Es waren traurige Verhältnisse, unter denen er sein Amt antrat. Dem Verluste des Herzogs, der ihm bisher über alle kleinlichen Sorgen des Lebens hinweggeholfen hatte, folgte der seines Vaters, und zwei Jahre später der einer heißgeliebten Gattin, mit welcher er sich 1805 vermählt hatte. Dazu allerlei äußeres Mißgeschick! Noch hatte er keinen Pfennig Gehalt aus seiner neuen Stellung bezogen, als Napoleon die Stadt der Wissenschaft mit einer ungeheuren Kriegscontribution belegte, für welche auf den Neuangekommenen gleichsam zur Begrüßung ein Beitrag von zweitausend Franken entfiel. Die Freunde, welche wußten, daß Gauß unbemittelt war, baten, für ihn zahlen zu dürfen; Olbers sandte die Summe aus Bremen; Laplace zeigte ihm an, daß er dieselbe in Paris bereits für ihn eingezahlt habe, Gauß aber wies alle diese Anerbietungen zurück; er wollte seinen Antheil an Deutschlands Unglück selbst tragen, erhielt übrigens bald darauf den Betrag anonym aus Frankfurt am Main zugesendet, ein Geschenk des Fürsten Primas, wie er später erfuhr.

Gauß suchte sich über das persönliche und allgemeine Unglück durch Arbeit hinwegzuhelfen, und schrieb in den ersten Jahren seines Göttinger Aufenthaltes sein für die rechnende Astronomie bahnbrechendes Werk über die Theorie der in sogenannten Kegelschnitten (d. h. kreisförmigen, elliptischen, parabolischen und hyperbolischen Bahnen) um die Sonne kreisenden Weltkörper, nach der sich dieselben, wie er bei der Ceres gezeigt, ungleich einfacher berechnen ließen, als bisher. In besonderem Maße galt dies für die Berechnung der Kometenbahnen, die früher sehr viel Sorge machte, und dem Beispiele des poetisch gearteten Kepler folgend, welcher seinen großen Vorgänger Tycho de Brahe wie einen Feldherrn geschildert hatte, der den Kriegsplaneten Mars erst nach langen Belagerungen und Nachtwachen gefangen genommen habe, durfte Gauß in seiner Vorrede von den Kometen sagen, daß sie sich, obwohl mehrmals bereits für besiegt gehalten, immer wieder als Rebellen erwiesen hätten, bis ihnen nunmehr feste Zügel angelegt worden seien, sodaß auch sie fromm der Rechnung folgen würden. Um die Vortheile seiner Methode an einem augenfälligen Beispiele zu zeigen, pflegte er zu erzählen, wie der berühmte deutsche Mathematiker Euler blind geworden sei in Folge der drei volle Tage angestrengtester Arbeit erfordernden Berechnung einer Kometenbahn nach einer von demselben bereits sehr vereinfachten Methode, während Gauß die nämliche Aufgabe nach seiner Theorie, indem er die Uhr vor sich auf den Tisch legte, in einer einzigen Stunde löste.

Nach einer großen Reihe mathematischer und astronomischer Untersuchungen, die mehr in das Gebiet der reinen Wissenschaft fielen, bot sich dem großen Rechner in den zwanziger Jahren Gelegenheit, sein Genie auf einem mehr praktischen und recht eigentlich irdischen Gebiete zu erproben, nämlich bei der großen vom Grafen von Münster in’s Werk gesetzten hannoverschen Gradmessung. Hierbei kommt es besonders darauf an, sehr weit von einander gelegene Punkte genau zu beobachten, um die Meßinstrumente haarscharf darauf einzustellen. Während man diese Arbeiten früher des Nachts unter Anwendung heller Lampen als Richtpunkte vornehmen mußte und dieselben trotzdem nur in geringen Entfernungen sehen konnte, erdachte Gauß ein höchst einfaches Instrument, das Heliotrop, um am Tage von einem hohen Fernsichtspunkte aus vermittelst zweier, mit einem Fernrohr verbundenen Spiegelchen einen Sonnenstrahl nach der entferntesten noch am Horizonte sichtbaren Bergkuppe hinzusenden, von wo aus derselbe wie ein strahlender Stern erblickt wird. Noch heute geht den Geometern, die sofort alle älteren Instrumente in die Rumpelkammer warfen, bei dem Aufblitzen dieses Sternes jedesmal wieder das Herz auf, sobald sie sich den großen mit diesem einfachen Werkzeuge erzielten Fortschritt der Erdmeßkunst vergegenwärtigen. Es wurde beispielsweise mit demselben das ungeheure Dreieck zwischen Brocken, Inselsberg und dem Hohenhagen (unweit Göttingen) so genau gemessen, daß die Winkelsumme nur um zweizehntel Secunde von den vorschriftsmäßigen zwei Rechten abwich.

Nachdem Gauß so nach einander auf den Gebieten der Mathematik, Astronomie und Feldmeßkunst bahnbrechend gewirkt hatte, sollte er ähnliche Dienste auch der Physik erzeigen. Wir müssen jedoch hier ein wenig zurückgreifen. Seit zwanzig Jahren hatten [280] die beiden Humboldts, erst Wilhelm, dann Alexander, daran gearbeitet, Gauß für Berlin zu gewinnen. Allein dieser hatte seit seiner Wiederverheirathung (1810) eine so beglückende Häuslichkeit, durch die erwähnten Arbeiten einen so erfolgreichen Wirkungskreis in Göttingen gefunden, daß er sich nicht entschließen konnte, dem ehrenvollen und vortheilhaften Rufe zu folgen. Aber der angeregte nähere Verkehr mit Alexander von Humboldt trug in anderer Richtung Früchte. Gemeinschaftlich schufen sie eine neue, wie aus der Erde hervorgestampfte Wissenschaft, die Wissenschaft von den Gesetzen des Erdmagnetismus. Gelegentlich eines Besuches bei Humboldt im Herbste 1828 hatte Gauß Wilhelm Weber kennen gelernt, in demselben eine ihm nahe verwandte Natur erkannt und dessen Berufung nach Göttingen (1831) durchgesetzt, um mit demselben eine gemeinsame Thätigkeit zu beginnen, die nur der Tod lösen konnte.

Im Jahre 1833 wurde im Vereine mit Humboldt der „Magnetische Verein“ begründet, die erste Organisation einer gemeinschaftlichen Arbeit zahlreicher, über die Länder zerstreuter Forscher an derselben Aufgabe, aus der später die meteorologischen Institute hervorgegangen sind. Wie Gauß den Geometern das Heliotrop gegeben, so bot er den Physikern jetzt ein bewunderungswürdiges Meßinstrument dar, das später von ihm selbst und von Weber noch verbesserte Magnetometer, ein Instrument, welches die kleinsten Schwankungen im Erdmagnetismus, bei elektrischen Strömungen etc. sicht- und meßbar macht und den Physikern so wichtig geworden ist, wie die Elle dem Kaufmann. Es wird in der Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen unvergessen bleiben, daß von dem magnetischen Häuschen bei Göttingen Gauß und Weber 1833 die Drähte des ersten wirklich benutzten elektromagnetischen Telegraphen zogen, zuerst bis zur Sternwarte, später bis zum physikalischen Cabinet, auf eine Strecke von nahezu Meilenlänge, um einander ihre Beobachtungen blitzschnell mittheilen zu können. So diente der erste elektrische Telegraph, der diesen Namen verdiente – denn Anläufe dazu waren schon hundert Jahre früher genommen worden – rein wissenschaftlichen Zwecken, und führt es denen, die das vergessen könnten, zu Gemüthe, wie die Wissenschaft gewohnt ist, die oft sehr kärglichen Mittel, die man ihr gewährt, mit ungeheuren Zinsen zurückzuzahlen. Nicht ohne Interesse mag es dabei sein, zu erwähnen, daß der transatlantische Telegraph nach langen anderweitigen Versuchen beinahe genau zu der Form der Zeichengebung zurückgekehrt ist, welche Gauß und Weber dem ersten Telegraphen gegeben hatten.

Gauß und Weber blieben die Dioskuren der mathematischen Physik, in enger Arbeit verbunden, auch nachdem der Letztere in Folge der bekannten Erklärung gegen den hannöverschen Verfassungsbruch (1837) seines Lehramtes entsetzt worden und später (1843) für einige Zeit nach Leipzig gegangen, um 1849 an die Stätte der gemeinsamen Wirksamkeit zurückzukehren. Gauß hatte keine unmittelbare Veranlassung, sich an jenem Proteste zu betheiligen, da er, in den Zeiten der Fremdherrschaft angestellt, niemals auf irgend eine Verfassung vereidigt worden war, was ihn übrigens bekanntlich nicht abgehalten hat, dem Vaterlande ebenso treu zu dienen. Das echt deutsche Verhältniß der beiden Forscher konnte, wie gesagt, nur der Tod lösen, ihre Namen aber bleiben über denselben hinaus so unlöslich verschlungen, wie diejenigen von Luther und Melanchthon, Goethe und Schiller.

Gauß starb am 23. Februar 1855; Wilhelm Weber, der Letzte der Göttinger Sieben, entzückt die Gemeinde der Denker und Forscher durch immer neue Einblicke in das Innerste der Natur, und hat im vergangenen Jahre mit vollkommenster Geistesfrische sein fünfzigjähriges Doctorjubiläum feiern können. Freundschaft erwerben und Freundschaft erhalten, war, wie wir schon eingangs hervorhoben, eine hervorragende Gabe von Gauß, und diese Tugend, die ja alle übrigen im Keime gleichsam einschließt, muß an ihm besonders hervorgehoben werden, als Erinnerung, daß bei dem großen Rechner doch nicht Alles Berechnung war, und daß neben dem durchdringenden Verstande das Gemüth keineswegs zu kurz gekommen war. Mit Liebe umfaßte er die ganze Menschheit und wandte seine wahrhaftig nicht unfruchtbare oder trockene Zahlenwissenschaft mit eindringlicher Hingebung auch den rein menschlichen Verhältnissen, der Nationalökonomie, dem Versicherungswesen, der Mortalitätsstatistik und den Staatsfinanzen zu. Sein Entwurf für die Göttinger Universitäts-Wittwencasse wird als das Muster derjenigen aller ähnlichen humanitären Institute gerühmt.

Gauß war, wenn auch wahrscheinlich nicht streng kirchengläubig, so doch tief religiös, streng gegen sich selbst und milde gegen Andere, aller Eitelkeit fremd und in seinen Bedürfnissen bis zur Uebertreibung schlicht und einfach. „Ein kleines Studirzimmer, ein mit weißer Oelfarbe gestrichenes Stehpult, ein schmales Sopha und ein Lehnstuhl nach seinem siebenzigsten Jahre, ein einziges, trübe brennendes Licht, eine unheizbare Schlafkammer, einfache Lebensmittel, ein Schlafrock und ein Sammetkäppchen,“ das waren, wie Sartorius von Waltershausen erzählt, selbst in der Zeit seines ruhmvollen Alters alle seine Bedürfnisse. Er war immer der bescheidene Bürgerssohn vom Wendengraben in Braunschweig geblieben.

Dort hat sich nunmehr unter dem Präsidium des Geheimerath Dr. Trieps und dem Vorsitze des Oberbürgermeisters Dr. Caspari ein Comité gebildet, um dem großen Forscher in seiner Geburtsstadt ein Standbild zu errichten, dessen Grundstein an seinem hundertjährigen Geburtstage, dem 30. April, gelegt werden soll und für welches die Beisteuer aller seiner Verehrer in Anspruch genommen wird.[1] Wenn es auch einleuchtend ist, daß er sich in seinen Arbeiten ein schöneres Denkmal gestiftet hat, als ihm die Nachwelt je errichten kann, so wird doch selten die Pflicht eines äußerlichen Gedenkzeichens, die wir ja immer nur uns zur Ehre erfüllen, mahnender vor Augen treten, als gerade Gauß gegenüber, dessen unsterbliche Verdienste der Mehrzahl nicht unmittelbar bekannt und erkennbar sind. Man könnte glauben, daß die Deutschen ihre größten Geister nicht zu schätzen wissen, wenn sie auf diesen Geistesheros nicht so stolz blicken wollten, wie sie es mit gutem Gewissen dürfen.

Carus Sterne.



Kleinköpfige Kinder.
Von Dr. L. Büchner.

Im Jahrgange 1869 der „Gartenlaube“ (Nr. 44) habe ich in einem Aufsatze „Zwei Affenmenschen“ zwei mikrocephale oder kleinköpfige Kinder beschrieben, von denen das eine, Helene Becker von Offenbach, inzwischen gestorben ist, während in derselben Familie nicht weniger als drei weitere Kinder von ganz derselben Art zur Welt gekommen sind. Eins derselben starb schon vier Tage nach der Geburt; die zwei übrigen, Gretchen und Franz, leben in einem Alter von sieben und vier Jahren. Von diesen ist der vierjährige Franz wahrscheinlich der hochgradigste Mikrocephale, welcher bis jetzt überhaupt lebend und in einem gewissen Lebensalter beobachtet worden ist, da er seine verstorbene Schwester Helene durch den Grad seiner Verunstaltung noch übertrifft und da diese Letztere, mit Ausnahme eines von Dr. Sander beschriebenen fünf Monate alten Knäbchens, das kleinste Gehirn besessen hat, das bei Menschen bis jetzt gefunden worden ist. Dasselbe wog zweihundertneunzehn französische Gramm, während das gewöhnliche Gewicht eines erwachsenen menschlichen Gehirns dreizehn- bis fünfzehnhundert Gramm beträgt und zwei gleichaltrige Kindergehirne Gewichte von tausend und tausenddreihundert Gramm besaßen.

Wir verdanken diese Zahlen den Wägungen des Herrn Professor Theodor Bischoff in München, welcher die Leiche der Helene Becker sogleich nach deren im achten Lebensjahre erfolgtem Tode einer genauen anatomischen Untersuchung unterwarf und mit dieser Untersuchung einen höchst werthvollen Beitrag zur genauen und gründlichen Beurtheilung der menschlichen Mikrocephalen oder „Affenkinder“ lieferte. Die Bezeichnung Affenkinder oder Affenmenschen verdienen diese unglücklichen Wesen nämlich deshalb, weil sie nicht blos in dem anatomischen Baue ihres Körpers und ihrer Organe, insbesondere des Gehirns, sondern [281] auch in ihrem ganzen Wesen während des Lebens eine auffallende Aehnlichkeit mit jenen uns so nahe stehenden Thieren an den Tag legen. Das Gehirn der Helene Becker hatte nach Professor Bischoff das Ansehen eines normalen Thiergehirns und machte ungefähr den Eindruck des Gehirns eines Affen von der Größe eines Pavians.[2] Besonders schlecht entwickelt und nach vorn zugespitzt waren die Stirntheile, während dagegen das kleine Gehirn sowie die mittleren und unteren Theile des großen Gehirns eine normale Entwickelung zeigten, sodaß also der enorme Defect oder Mangel des Gesammtgehirns fast nur durch die schlechte Entwickelung der beiden großen Hirnhalbkugeln oder derjenigen Theile des Gehirns bedingt war, welche der Intelligenz oder dem geistigen Wesen vorstehen. Nur der sogenannte Balken, welcher die beiden großen Hirnhalbkugeln untereinander verbindet und ebenfalls zu den mittleren Theilen des Gehirns gerechnet wird, befand sich in sehr verkümmertem Zustande.

Die Windungen der Gehirnoberfläche waren noch weniger zahlreich, als diejenigen an dem Gehirne der menschenähnlichen Affen, und zeigten auch in ihrer sonstigen Beschaffenheit und Anordnung „zahlreiche Affenähnlichkeiten“. So fehlte die dritte Stirnwindung, welche durch ihre starke Entwickelung die Breite der menschlichen Stirn und der menschlichen Stirnlappen bedingt, ebenso wie am Affengehirne, fast gänzlich (sogar das Gehirn des Gibbon, des niedrigsten der menschenähnlichen Affen, zeigt diese Windung besser entwickelt), und der vordere Schenkel der sogenannten Sylvischen Grube oder jenes tiefen Einschnittes, welcher den vorderen Hirnlappen von dem mittleren trennt, zeigte sich ebenso verkümmert und kaum vorhanden, wie am Affengehirne. Auch die Bildung des Schädels der Helene Becker, eines der kleinsten bekannten Menschenschädel, zeigte mehrere Affenähnlichkeiten. Fast alle sogenannten Schädelnähte waren offen bis auf die beiden Schuppennähte und die sogenannte Pfeilnaht, welche letztere fast geschlossen war und welche sich auch an dem Schädel der menschenähnlichen Affen zuerst schließt. Der Unterkiefer war nicht spitz wie sonst, sondern bildete einen rundlichen Bogen wie bei einem neugebornen Kinde.

Einige weitere Affenähnlichkeiten fanden sich auch im übrigen Körper, so in der Anordnung mehrerer Muskelgruppen, in der Bildung der sogenannten Darmfalten, in der anatomischen Anordnung der großen, aus dem Herzen entspringenden Gefäße etc. Uebrigens ließ sich im Gehirne der Helene Becker keine Spur eines krankhaften Processes nachweisen, welcher als Ursache oder Veranlassung der merkwürdigen Verkümmerung desselben hätte angesehen werden können. Auch eine erbliche Ursache ist nicht aufzufinden, da beide Eltern gesund und wohlgebildet sind und aus Familien stammen, in denen ein ähnliches Leiden seit Menschengedenken nicht vorgekommen ist.

Diesem merkwürdigen Sachverhalt entsprechend, stand die Helene Becker während ihres Lebens auf einer Stufe körperlicher und geistiger Befähigung, welche sie dem Thiere nicht blos sehr nahe, sondern in vielfacher Beziehung unter dasselbe bringt. Sie konnte nicht sprechen sondern brachte nur thierische, unarticulirte Töne oder Schreie hervor, welche indeß, gerade so wie bei den Thieren auch, verschieden waren, je nachdem sie Freude oder Unlust ausdrücken wollte. Sie hatte kein Gedächtniß, keine Anhänglichkeit an bestimmte Personen und machte auch keinerlei geistige Fortschritte. Sie äußerte kein bestimmtes Verlangen nach Essen und Trinken, sondern mußte künstlich gefüttert werden; sie konnte auch nichts ergreifen oder festhalten. Ihre Sinne waren zwar alle gut und thätig, bis auf ein krankes Auge, aber die durch dieselben hervorgebrachten Eindrücke waren außer Stande, Vorstellungen oder ein geistiges Leben zu wecken. Das Auge war stier und ausdruckslos, nur glänzende, grellrothe Gegenstände oder Musik vermochten ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. Sie lachte nicht und weinte nicht, spielte auch nicht mit Puppen. Der Schlaf der Helene Becker war, wie bei allen mikrocephalen Kindern äußerst leicht, oft unterbrochen und mußte in der Regel durch Opium erzwungen werden; das geringste Geräusch weckte sie auf. Im Wachen war ihr Körper in einer steten rastlosen Unruhe und Beweglichkeit was auf den Beschauer äußerst unangenehm und ermüdend wirkte; ihre Bewegungen hatten oft etwas Affenartiges.

Bedeutend bessere Fähigkeiten zeigt Helenens noch lebende Schwester, Gretchen Becker, welche der Verfasser dieses Aufsatzes am 8. Januar dieses Jahres dem Vereine hessischer Aerzte in Darmstadt vorstellte. Sie ist sieben Jahre alt und hat, obgleich in derselben Weise mikrocephal, wie ihre Schwester, doch in allen ihren Kopfmaßen gegen diese einen ungefähren Vorsprung von einem halben Zoll. Ihre Stirn ist mehr sichtbar; der Schädel fällt nicht so dachförmig nach beiden Seiten ab, die Augenhöhlenränder sind nicht so vortretend, wie bei der Helene Becker. Das Auge hat einen gewissen Ausdruck und ist äußerst beweglich. Es drückt sich darin große Neugierde aus, welche dem Kinde auch sonst in hohem Grade eigen ist, indem es nach allen Gegenständen im Zimmer greift und sie untersucht. Es hat, wie seine Schwester, keinen Augenblick Ruhe und zeigt deren affenartige Beweglichkeit in noch höherem Grade, indem es fortwährend auf Tische und Stühle klettert. Offenbar ist die Kleine im Stande, über ihre Muskeln eine größere Herrschaft auszuüben, als ihre Schwester. Sie erschrickt sehr leicht bei plötzlichen Tönen, z. B. wenn ein Wagen fährt, oder bei Hundegebell, hat aber, wie ihre Schwester, Freude an Musik und glänzenden, grellrothen Gegenständen. Sie spielt mit Puppen, wirft sie aber sogleich wieder fort, sodaß man sich veranlaßt gesehen hat, ihr keine solchen mehr zu reichen. Sie spielt mit andern Kindern, wobei sie großen Eigensinn an den Tag legt, am liebsten aber mit Thieren, wie Pferden, Hunden, Katzen. Sie zerreißt ihre Kleider und andere zerreißbare Gegenstände gern und ist sehr zornig und beißsüchtig. Sie lacht und weint, kann aber nur das einzige Wort „Mama“ hervorbringen. Statt der übrigen Aeußerungen durch die Sprache stößt sie unarticulirte Töne und Schreie aus, aber nicht so laut und ungeberdig, wie Helene und wie ihr noch zu beschreibender Bruder Franz. Ihr Schlaf ist besser, als der Helenens es war, aber doch auch sehr leicht und oft unterbrochen. Alle Sinne sind gut; Empfindlichkeit der Haut ist da, aber nicht nachhaltig, sodaß sie Schmerzen durch Schneiden, Stechen oder dergleichen schnell vergißt. Gegenstände kann sie ergreifen und festhalten; sie kann ihre Bedürfnisse äußern und selbst essen, sogar Suppe mit dem Löffel. Essen und Trinken verlangt sie durch Geberden. Sie hat auch Anhänglichkeit an bestimmte Personen. Ihr übriges geistiges Leben ist fast gleich Null.

Auf einer noch viel tieferen Stufe und selbst tiefer als die Helene steht der gegenwärtig vier Jahre alte Bruder Franz, dessen Kopfbildung die ungünstigste unter den drei Geschwistern ist. Er ist so ungeberdig, daß er nicht einmal transportirt und daher auch von den Eltern nicht in Vereinen vorgestellt werden kann. Er lacht und weint nicht, zerreißt Alles, was er in die Hände bekommt, muß vollständig gefüttert werden, schläft gar nicht, es sei denn mit Hülfe von Mohnthee, und ist in allen Stücken das in die höhere Potenz erhobene Gegenstück seiner Schwestern.

Daß diese unglücklichen Geschöpfe im inneren Bau ihres Körpers und ihrer Organe viele Aehnlichkeiten mit den entsprechenden Bildungen bei Thieren, insbesondere bei den uns am nächsten stehenden Affen, zeigen, das wurde, wie oben gesagt, an der Hand eines so ausgezeichneten und zuverlässigen Beobachters, wie Professor Bischoff, nachgewiesen. Aber auch ihr Benehmen im Leben läßt diese Aehnlichkeiten deutlich erkennen. Die Rastlosigkeit, die Neigung zum Klettern, die Neugier, die sexuelle Erregbarkeit, die Unfähigkeit zu lachen oder zu weinen und einiges Weitere können zum wenigsten als Annäherungen an die uns zunächst stehende Thierheit betrachtet werden. Auch die merkwürdige Neigung des Gretchen Becker zum Umgang mit Thieren darf um so eher hierher gerechnet werden, als auch von andern Mikrocephalen Aehnliches berichtet wird. Die Marie Sophie Wyß in Hindelbank bei Bern lief den Hunden auf der Straße nach, balgte sich mit ihnen herum und jagte ihnen ihr Fressen ab. Von dem Michel Sohn und dessen Bruder, welche im Jahre 1833 als Kinder einer armen, bei Bromberg wohnenden Wittwe bekannt und in dem amtlich über sie erstatteten Berichte als „menschliche Affen-Organismen“ bezeichnet wurden, wird mitgetheilt, daß sie gern Bäume erkletterten und dabei ein thierisches Geheul ausstießen, daß sie Alles zerrissen oder zerpflückten und ihre Gefühle oder [282] Begierden nur mittelst unarticulirter Laute zu erkennen gaben. Auch Conrad Schüttelndreyer aus Nienstädt bei Bückeburg, welcher bereits im Jahre 1813 von dem berühmten Physiologen Blumenbach abgebildet und als „Thiermensch“ bezeichnet wurde, kletterte gern auf Bäume und zerriß am liebsten Papier oder alte Lappen, welche man ihm reichte, in kleine Stücke.

Freilich sind diese von der wahren Menschen-Natur so weit abweichenden Wesen keine wirklichen Thiere oder Affen und könnten dies auch niemals sein, da es allen Gesetzen der Natur zuwiderlaufen würde, wenn der sogenannte Atavismus oder Rückschlag so verstanden werden wollte, als ob er bis zum vollständigen Wiedererscheinen uralter, längst ausgestorbener Stammformen führen könne oder müsse. Ein Mensch kann heutzutage ebensowenig einen Affen hervorbringen, wie ein Pferd seine Stammform aus der Pliocen-Zeit, das Hipparion, oder gar einen noch älteren Vorfahren, z. B. das Anchitherium. Dagegen kommt es häufig genug vor, daß Pferde geboren werden, welche den nicht in einen einzigen Huf, sondern in drei Zehenglieder auslaufenden Fuß des Hipparion durch den Besitz zweier seitlichen, mehr oder weniger verkümmerten Afterzehen wiederholen.

In ähnlicher Weise nun wiederholen die menschlichen Affenkinder einige Bildungen oder Eigenthümlichkeiten aus einer hunderttausende von Jahren hinter uns liegenden thierischen Vergangenheit des Menschen, ohne aber darum selbst Thiere oder Affen zu sein. Es sind regelwidrige Menschen mit einem verkümmerten oder auf einer früheren Stufe der Entwickelung stehengebliebenen Gehirn, welche eben deswegen nur halbe Menschen, aber auch nur halbe Thiere sind. Denn das Gehirn ist ja gerade dasjenige Organ, dessen vollkommenere Ausbildung und Entwickelung dem Menschen sein eigentliches Uebergewicht über das Thier verleiht und das ihn durch diese hohe Ausbildung erst zum wirklichen Menschen gemacht hat. Es ist daher auch in keiner Weise zu verwundern, daß eine den Menschen zum halben Thier herabwürdigende Verkümmerung oder Verunstaltung sich zumeist und vorzugsweise in diesem Organe äußert, während die übrigen Theile oder Organe des Körpers nur in geringerem Grade oder auch gar nicht betroffen werden. Daher können sie auch keine normalen, sondern nur abnorme oder fehlerhafte Wesen sein, da bei einem normalen Wesen, sei es Mensch oder Thier, alle Organe oder Theile in einem regelrechten Verhältniß unter einander stehen müssen.

Die so viel besprochene Lücke zwischen Mensch und Thier ist gewiß eine sehr große, namentlich in geistiger Beziehung, und wird als solche von Niemandem, auch nicht von den entschiedensten Anhängern und Vertretern der Abstammungslehre, geleugnet werden. Wenn man aber in dieser Beziehung einen Blick in die Thierwelt wirft, so überzeugt man sich sehr leicht, daß dort zwischen Thieren, an deren systematische Trennung kein Zoologe auch nur entfernt denkt, Lücken und Abstände bestehen, welche an Tiefe oder Weite jene Lücke zwischen dem Menschen und den ihm am nächsten stehenden Thieren weit hinter sich lassen. Man denke z. B. an Ameisen und Bienen, deren wunderbare, oft an das Fabelhafte streifende geistige Befähigungen und Leistungen der Verfasser dieses Aufsatzes erst vor Kurzem eingehend geschildert hat,[3] und vergleiche dieselben mit den Befähigungen und Leistungen eines der unintelligenten Käfer oder Schmetterlinge oder gar einer Schildlaus – Thieren, welche den sogenannten Immen ganz nahe stehen und mit in dieselbe Classe der Insecten gehören! Welch ein enormer Abstand ist hier zu bemerken! Auch bei den Ameisen und Bienen ist es, gerade so wie bei den Menschen, nur die starke Entwickelung und verhältnißmäßige Ausbildung ihres Gehirns, sowie die Differenzirung oder Ausbildung ihrer Organe, welche ihnen jenes enorme geistige, künstlerische und moralische Uebergewicht über ihre Mitwesen verleiht, das sie in so hohem Grade besitzen.

Kennten wir also auch nicht jene oben beschriebenen traurigen Geschöpfe, welche eine Mittelstellung zwischen Mensch und Thier einnehmen, wüßten wir nichts von niederen, wilden oder barbarischen Menschenracen, welche in ihrem ganzen Sein und Wesen dem Thiere oft näher stehen, als jenem Menschheitsideal, welches wir in der Regel im Kopfe haben, hätten wir keine fossilen Menschenreste gefunden, welche noch eine Stufe tiefer oder näher an die Thierwelt hinabweisen, und hätten wir keine gegründete Hoffnung, daß solche, die Lücke zwischen Mensch und Thier immer mehr verengernde Reste, sowohl nach thierischer, wie nach menschlicher Seite, im Laufe der Zeit aus den Tiefen der Erde werden hervorgeholt werden: – so würde doch jene Lücke, oder jener Abstand, von einem allgemeineren naturhistorischen oder naturphilosophischen Standpunkte aus betrachtet, an und für sich durchaus nicht jene tiefgreifende Bedeutung beanspruchen können, welche man ihr so oft von Gegnern der Descendenz- oder Abstammungslehre beilegen hört. Die genaueren Gesetze, nach denen die große Entwickelung und Fortbildung der organischen Welt vor sich geht und vor sich gegangen ist, sind ja noch zum größten Theile unbekannt, und jene Entwickelung kann in einzelnen Fällen gerade so gut und ohne Unterbrechung der natürlichen Reihenfolge sprungweise erfolgt sein, wie sie in vielen anderen Fällen ohne Zweifel einen ganz allmählichen und überaus langsamen Verlauf genommen hat.

Gegen die aus den mikrocephalen Menschen oder Menschenkindern hergeleitete Beweiskraft wird allerdings Mancher protestiren, indem er diese Geschöpfe einfach als „kranke“ bezeichnet und darauf hinweist, daß aus solchen krankhaften, der Regel sich entziehenden Abweichungen ein Schluß auf normale oder regelrechte Entwickelung nicht gezogen werden könne. Aber als „krank“ in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes können die hier bezeichneten Kinder doch nicht bezeichnet werden. Von Gretchen Becker z. B. sagte ihre Mutter ausdrücklich, daß sie noch niemals wesentlich krank gewesen sei, und an dem Gehirne oder Schädel der Helene Becker fand sich nach Professor Bischoff's Versicherung, wie schon angeführt wurde, keine Spur eines pathologischen oder krankhaften Processes vor, welcher als Ursache oder Veranlassung der großen Abnormität hätte angesehen werden können.

Allerdings fehlt es nicht an Mikrocephalen, bei denen solche krankhafte Ursachen mit Leichtigkeit nachgewiesen werden konnten, wie frühzeitige Verknöcherung der sogenannten Schädelnähte, welche die weitere Entwickelung des Gehirns mechanisch behindern, oder beträchtliche Verdickungen der harten Hirnhaut oder Anfüllung und Ausdehnung der sogenannten Hirnhöhlen durch Wasser oder Blutaustritte oder blasige, mit Wasser gefüllte Auftreibungen der sogenannten Spinnwebenhaut oder wässerige Durchfeuchtung der Gehirnsubstanz selbst, etc. etc. Aber von allem diesem war, außer einem starken, den Verhältnissen des neugeborenen Kindergehirns entsprechenden Wassergehalte der Gehirnsubstanz, an dem Gehirn der Helene Becker nichts aufzufinden, und namentlich waren die meisten Schädelnähte nicht verwachsen, sondern im Gegentheil so locker, daß die einzelnen Schädeltheile auseinander zu fallen drohten. Es war auch keine Erblichkeit nachzuweisen; es bestand keine Verwandtschaftsehe, und die englische Krankheit der Helene Becker trat erst in den allerletzten Lebensjahren ein. Also war es offenbar eine aus innerer und unbekannter Ursache hervorgegangene Bildungshemmung oder Hemmungsbildung des Gehirnes selbst, aber deren entferntere Veranlassung die Meinungen allerdings verschieden sein können, ohne daß man im Stande wäre, die atavistische Theorie oder die Erklärung durch theilweisen sogenannten Rückschlag in einen längst hinter uns liegenden, halb menschlichen, halb thierischen Typus mit bestimmten Gründen zurückweisen zu können. Wer aber auch dieser Theorie nicht zustimmt oder zuzustimmen Neigung hat, wird nicht leugnen können, daß jene halb thierischen, halb menschlichen Geschöpfe mit ihrer armseligen Gehirnbildung einen wahrhaft niederschmetternden Beweis gegen alle Diejenigen bilden, welche sich für berechtigt halten, dem menschlichen Geiste oder Seelenwesen eine besondere, für sich bestehende und von seinem materiellen Substrat oder dem Gehirn mehr oder weniger unabhängige Existenz während des Lebens einzuräumen.



[283]
Aus einem deutschen Kleinstaat.

Von Karl Volckhausen.

I.

Französische Reisegesellschaft. – Ein deutscher Reichstagsabgeordneter. – Ein lippescher Prügel-Amtmann. – Weiterfahrt nach Horn. – Hausmann als Rechtsanwalt.

Seit einer Reihe von Jahren hatte ich mein Specialvaterländchen, das Fürstenthum Lippe, nicht besucht. Umsomehr regte sich in mir das Heimathsgefühl, als ich an einem der letzten Tage des September vorigen Jahres von der Eisenbahnstation Herford aus an dem rothgelben Grenzpfahle vorbei in das unter Woldemar des Ersten Scepter stehende Territorium hineinfuhr. Das Fürstenthum Lippe entbehrt noch der Wohlthat, von Schienenwegen durchkreuzt zu werden. Es wird nur von der Hannover-Altenbekener Eisenbahn an seinem südöstlichen Rande gestreift und die Post vermittelt den spärlichen Personenverkehr innerhalb der Grenzen des Ländchens. Auf die nach Lemgo abgehende Post hätte ich mehrere Stunden in Herford warten müssen aber auf dem Wege zum Postgebäude fand ich einen Hauderer, der sich gerade zur Abfahrt anschickte. „Wohin, Kutscher?“

„Nach Lemgo.“

„Wollen Sie mich mitnehmen für die Posttaxe?“

„Wenn der Herr, der den Wagen gemiethet hat, damit einverstanden ist.“

Der Herr trat hinter dem Wagen hervor; wir wurden rasch einig, und ich stieg ein. Es war ein junger Mann, kaum zwanzig Jahre alt, der, telegraphisch aus einer der größeren Fabrikstädte des nördlichen Frankreich herberufen, einer gestorbenen Verwandten das Geleite zum Friedhofe geben wollte. Er war Tag und Nacht gefahren und hatte sich kaum Zeit gegönnt, etwas zu genießen. Nachdem ich mein Frühstück aus dem Reisesacke genommen und mit ihm getheilt, kamen wir in ein lebhafteres Gespräch. Der Sohn eines in Frankreich naturalisirten Deutschen und während des deutsch-französischen Krieges noch ein Kind, war er damals zu Verwandten nach Lippe geschickt worden und hatte es nicht vergessen, daß seine lippeschen Schulcameraden ihn gelegentlich als Reichsfeind tractirten. Jetzt war er vollständig Franzose; der Hochmuth der Grande Nation schwellte bereits seine junge Brust, und es war ein wunderbarer Contrast, wie er sich sympathisch äußerte über seine lippeschen Verwandten, das heißt über die einzelnen Deutschen, die er kannte, und wie er sich unmuthig ausließ über die Bevölkerung Lippes und Deutschlands im Allgemeinen, von der seine geographische und geschichtliche Kunde höchst dürftig war. Da er bald herausfand, daß ich weder ein blinder Bewunderer deutscher Zustände noch ein Franzosenhasser war, so ließ er sich in ungenirter und naiver Weise gehen. Er machte die üblichen Scherze über das deutsche Kleinfürstenthum; er grollte über den Krieg und die Kriegführung, vor Allem aber variirte er das Thema: Wir sind ein reiches Volk, und Ihr seid trotz der Milliarden eine arme Nation.

Die Strecke lippeschen Landes, die wir durchfuhren, bot ihm dazu einen ausgiebigen Stoff. Das Terrain zwischen Herford und Lemgo ist ziemlich eben und baumlos. Die Felder waren, so weit das Auge reichte, öde und leer, theils wegen der bereits vollzogenen Ernte, theils in Folge der anhaltenden Dürre des August. Die bewaldeten Hügel, die sich in einiger Entfernung links vom Wege hinziehen, ließen sich kaum erkennen, denn es war ein grauer, wolkenverhängter Septembertag, der von Zeit zu Zeit einen Regenschauer auf uns niederschüttete. Dank den Regengüssen der vorigen Tage trat der bedauernswerthe Zustand der Chaussee recht grell hervor; die ausgefahrenen Geleise waren in Pfützen verwandelt, und Koth und Wasser spritzten an den Pferden und an den Rädern hoch hinauf. Nur äußerst spärliche Spuren des Lebens erblickten wir auf der mehrstündigen Fahrt; keine Equipage, kein Postwagen, kein Reiter kam uns zu Gesicht. Zwischen zwölf und zwei Uhr Mittags rastet der Landmann, und das mochte die Ursache sein, daß wir auch nur zweimal ein Ackerfuhrwerk sahen und daß auf den grau-braunen Feldern rechts und links ein paar einsame Krähen die unbestrittene Alleinherrschaft hatten.

Das lippesche Städtchen Salzuffeln, das man passiren muß, macht auch keinen erbaulichen Eindruck. Den Titel einer Stadt führt es nur nach historischem Rechte; der weitaus größte Theil desselben sieht aus wie ein ärmliches Dorf. Es hat sich seit den vierzig bis fünfundvierzig Jahren, wo ich als Knabe es kannte, wenig vergrößert oder verändert. Fast wollte es mir scheinen, als ob das holprige Pflaster von damals noch heute dasselbe sei, und die zerbröckelten Mauern, die rissigen Wände verschiedener Häuser, einige Misthaufen an der Straße grinsten mich als alte Bekannte an. Ein freundlicheres Intermezzo bildet nur die kurze Straße von Salzuffeln bis nach dem nahe gelegenen saubern Dorfe Schötmer. Von da an wird die Scenerie wieder ganz monoton.

Es wäre verlorene Mühe gewesen, wenn ich meinem französischen Reisegefährten eine bessere Meinung von dem lippeschen Lande und dessen Bevölkerung hätte beizubringen versuchen wollen, und ich gab mir diese Mühe auch nicht. National überhitzte Gemüther sind der Belehrung ebenso unzugänglich wie die religiösen Fanatiker. Nur das konnte ich mir nicht versagen, den jungen Mann leise zu mahnen, ein wenig Gerechtigkeit und Unparteilichkeit zu üben. Er mußte auch Etwas vom deutschen Michel gehört haben, und sprach seine Bewunderung darüber aus, daß dieser sich von seinen Fürsten so lange und so geduldig am Gängelbande hätte führen lassen.

„Ja wohl,“ sagte ich ihm, „es ist das Unglück der Völker, daß sie aus der Geschichte Nichts lernen und das Meiste vergessen. Wir theilen dieses Malheur mit fast allen Nationen und auch mit der Ihrigen. Frankreich hat die Ideen von 1789, aber an jenem Unglück, das Sie mit uns theilen, liegt es, daß Bourbonismus und Orleanismus, Bonapartismus und Clericalismus noch heute eine Macht sind, welche jene Ideen nur kümmerlich zur Verwirklichung kommen ließen.“

So traurig, wie das lippesche Land dem Fremden erschien, ist es in der That durchaus nicht. Selbst jene monotone Strecke, die wir an dem regnichten Septembertage durchfuhren, ist ein äußerst fruchtbares Gelände. Im Frühling und Hochsommer wogen dort die üppigsten Saaten. Die Hügelkette, die sich zwischen Herford und Lemgo zur Linken der Chaussee hinzieht, birgt eine Anzahl hübscher Dörfer und stattlicher Gehöfte. Gehölz und Feld und Wiese wechseln ab in anmuthigem Gemisch. Zumeist sind es Bauerngüter von erheblichem Umfange, welche an den Berghängen und in den Thälern zerstreut liegen. Bei weitem schöner wird aber das Land, wenn man weiter nach Süden – südöstlich in den Bereich der Weserberge, südwestlich zum Teutoburger Walde – gelangt. Einen so anmuthigen Wechsel von Berg und Thal, von Feld und Gehölz, von sattem Wiesen- und reichnüancirtem Waldesgrün findet man im deutschen Reiche nicht leicht. Himmelanstrebende Berge, schroffe Hänge, wilde Gießbäche giebt es da freilich nicht, aber manche Dorfkirche mit dem von Bäumen beschatteten Pfarrhause, manche Mühle am Bache und manch einsamer Bauernhof sieht aus wie ein verkörpertes reizendes Idyll. Um diese Blüthen landschaftlicher Schönheit zu Gesicht zu bekommen, bedarf es freilich des Abweichens von der Heerstraße.

Seit das Hermannsdenkmal vollendet und eingeweiht ist, hat sich der Ruf, daß ein Durchwandern des lippeschen Ländchens „lohnend“ sei, auch in andern deutschen Gauen verbreitet. Die Einweihungsfeier des Jahres 1875 lockte Gäste aus weiter Ferne herbei, und sie sind die Apostel der Reize des Teutoburger Waldes geworden. Jener große Waldcomplex, den man unter diesem Namen auf der Karte zwischen Detmold und Paderborn verzeichnet findet, wurde, wie ich mir sagen ließ, in den Sommermonaten dieses Jahres von mehreren tausend Touristen durchstreift, und die Dörfchen, die am Rande des Waldes, von Detmold bis zum Städtchen Horn, von der Grotenburg bis zu den Externsteinen zerstreut liegen, sind von Vielen als Standquartier für längeres Verweilen benutzt worden. Ein Besuch, den ich meinem langjährigen Freunde, dem Reichstagsabgeordneten für Lippe Franz Hausmann, abstattete, führte auch mich in dieses Revier.

[284]

Der unterbrochene Tanz.
Originalzeichnung von Alois Gabl.

[285]

Die Ringer.
Originalzeichnung von F. Defregger.

[286] Der Reichstagsabgeordnete Hausmann ist mit der neuesten Geschichte des Fürstenthums Lippe eng verwachsen. Der Verfassungskampf, den das Land seit einem Vierteljahrhundert geführt hat, ruhte vorzugsweise auf seinen Schultern. Das große Ansehen, das er in der Bevölkerung genießt, hat er nicht etwa im Sturme, auf der Rednertribüne errungen. Seine oratorischen Gaben sind nicht gerade bedeutend. Seine Feder ist schwer und entbehrt der journalistischen Eleganz. Wie seine Rede, so ist seine schriftliche Diction eine an den gefunden Menschenverstand und an das Rechtsbewußtsein appellirende Auseinandersetzung. Aber man hört auf das, was er sagt und schreibt, weil man Respect hat vor seinem klaren Verstande, vor seiner redlichen Gesinnung, vor seiner rücksichtslosen Energie, weil sich diese wie jener in einer langen Reihe von Jahren, unter den schwierigsten Verhältnissen erprobt haben. Schon als junger Jurist kam er in eine oppositionelle Stellung zur lippeschen Bureaukratie.

Im Fürstenthum Lippe war in den vierziger Jahren und ist noch heute Justiz und Verwaltung nicht getrennt. Ein lippescher Amtmann ist in seinem Bezirk Verwaltungsbeamter und Richter zugleich, und es hat Amtmänner gegeben, die an Willkür einem türkischen Pascha Nichts nachgaben. Zu einem solchen kam Hausmann, bald nachdem er sein juristisches Examen absolvirt hatte. Herr Liebich war das Vorbild des Gellert’schen Amtmanns, der lediglich durch Machtsprüche regierte. Ich habe ihn selbst gekannt und erinnere mich seiner als einer stattlichen Figur, wohlbeleibt, hoch aufgerichtet und würdevoll die Straße entlang schreitend, Jeden, der ihm begegnete, fest ansehend, als ob er einen Gruß erwarte, und halb zürnend halb schmerzlich bewegt mit den Lippen zuckend, wenn dieser nicht erfolgte. Schlimmer noch als seine Bauern waren seine Untergebenen, Assessor, Auditor, Untervogt und Pedell, daran. Er tyrannisirte und chicanirte dieselben in tragikomischer Weise. Da er ein Hagestolz war, so sollte die Gerichtsstube ihm das Familienzimmer ersetzen, und er dehnte die Verhandlungen in’s Unendliche hinaus, um sich die Zeit zu vertreiben; die unglücklichen Assessoren und Auditoren mußten die Protokolle, die er dictirte, niederschreiben bis in die Nacht und dazwischen anhören, wie er mit lächerlichem Pathos Stellen aus den Classikern recitirte. Einen Assessor, dem die Tyrannei zu arg wurde und der einen Anlauf nahm, sich zu emancipiren, hat er eigenhändig durchgeprügelt. Der Zerbläute erhob Klage oder Beschwerde bei der Regierung. Der Amtmann leugnete; der einzige Zeuge, der Amtspedell, sagte aus, daß er zwar denn Assessor auf der Erde liegend und den Amtmann knieend mit Jenem beschäftigt gesehen, aber keine Prügel wahrgenommen habe. Die Regierung verfügte, daß frühere Assessoren verhört werden sollten, ob sie den Amtmann einer solchen That wohl für fähig hielten, aber ehe diese Vernehmung erfolgte, zog der Assessor seine Beschwerde zurück, und die Regierung fand sich nicht gemüßigt, auf Fortsetzung der Untersuchung zu bestehen. Es blieb also beim Alten.

Zu diesem Amtmanne kam Hausmann. Es waren Jahre der grausamsten Quälerei. Vor dem Schlimmsten wußte er sich freilich zu sichern. Es mochte ihn der Gedanke anwandeln, daß der Pascha sich auch einmal an ihm vergreifen könne. Er erzählte also eines Tages Jenem beim Becher, daß er ein außerordentlich jähzorniger Mann sei, daß er in seinem Jähzorne kein Maß kenne und gelegentlich dann sogar zum Messer greife. Die Erzählung erwies sich als ein vortreffliches Präservativ gegen den ebenso feigen wie brutalen Menschen. Wenn die Beiden später in Wortwechsel geriethen und Hausmann eine zufällige kleine Bewegung mit der rechten Hand machte, so sprang Liebich ein paar Schritte zurück, schrie auch wohl: „Lassen Sie das Messer nur stecken!“ Aber Friede hatte der Auditor darum doch nicht; es war ein ewiger Kriegszustand zwischen ihm und seinem Obern. Die endlosen Protokolle, welche der Amtmann dictirte und der Auditor niederschreiben sollte, waren eine unversiechbare Quelle des Haders. Unzählige Male weigerte sich Hausmann, die Dictate zu Papier zu bringen, denn der Amtmann hatte u. A. auch die abscheuliche Gewohnheit, Dinge in’s Protokoll aufzunehmen, welche die vor Gericht stehenden Parteien gar nicht gesagt hatten. Auch daß Hausmann nicht bis in die Nacht hinein auf dem Amte bleiben wollte, sondern zur bestimmten Stunde die Feder niederlegte, den Hut nahm und nach Hause ging, war ein fortwährender Anlaß zu Reibungen. Der Amtmann beschwerte sich eines Tages über seinen Auditor bei der Regierung; diese forderte den Verklagten zur Vernehmlassung auf, und derselbe kam der Aufforderung nach, indem er eine drastische Schilderung von dem ganzen Thun und Treiben des Amtmanns einreichte. Der Letztere erhielt eine Abschrift davon, und die Schilderung verdroß ihn so, daß er seine Beschwerde nicht weiter verfolgte. Aber der Kriegszustand hörte darum nicht auf; der Pascha besserte sich nicht, und auch die Regierung that keinen Schritt, um dem unleidlichen Zustande ein Ende zu machen. Daß Hausmann aus dieser seiner Stellung, als er dieselbe später mit dem Posten eines Stadtrichters in Horn vertauschte, eine wohlbegründete Abneigung gegen den Bureaukratismus mit hinwegnahm, lag in der Natur der Dinge. Die Revolution von 1848 berief ihn in den constituirenden lippeschen Landtag, und er war bald der erklärte Führer der demokratischen Partei in demselben. Er ist das Haupt dieser Partei noch heute, und wenn auch der Name „demokratische Partei“ im Laufe der Zeit und unter dem Drucke einer tollen Reaction – welche ebenso sprüchwörtlich in Deutschland geworden ist wie die mecklenburgische – demjenigen der „Fortschrittspartei“ weichen mußte, die Ziele und Bestrebungen sind die gleichen geblieben.

Um die drei bis vier Stunden Wegs von Lemgo nach Horn in einem Ruck zu durchmessen, reichte der postalische Verkehr für mich nicht aus. Ein Postwagen fuhr Abends von Lemgo nach Detmold, aber nicht weiter nach Horn. Hausmann machte mich, als er die Ankündigung meines Besuches beantwortete, brieflich darauf aufmerksam und versprach, mich vom Posthause in Detmold mit seinem eigenen Fuhrwerk abzuholen. Im Postwagen von Lemgo nach Detmold war ich der einzige Passagier, aber den einsamen, nächtlichen Weg, den ich in jungen Jahren gar oft zu Fuße gewandert, verkürzten mir nicht nur die Erinnernungen an vergangene Tage, sondern auch der blasende Postillon. Hier in den lippeschen Bergen scheint die alte Kunst, dem Posthorne melodische Töne zu entlocken, die in vielen Theilen des Reiches fast erloschen ist, noch zu blühen. Der Schwager blies das Mantellied so präcis, daß ich mich gedrungen fühlte, ihm seine Kehle beim ersten Wirthshause anfeuchten zu lassen und ihn so zu mehrmaliger Wiederholung zu reizen. Wie die vollen Töne so melancholisch klangen, als wir durch das dunkle Gehölz, und dann so schmetternd, als wir hinabrasselten von der Höhe in die hell und freundlich erleuchtete Residenz!

Im Posthause traf ich den Freund, und an seiner Seite rollte ich in dessen Halbchaise bald dahin auf dem Wege nach Horn. Er führte selbst die Zügel und lenkte das Pferd, eine Peitsche verschmähend, mittelst derselben. Ein warmer Thierfreund, wie er ist, – die richterliche Bewährung dieser Freundschaft für die gefiederten Sänger des Waldes hat ihm einstmals einen Proceß und eine Geldstrafe zugezogen – steht er auch auf cameradschaftlichem Fuße mit seinem Roß. Ich erhielt auf dieser Fahrt sofort eine Probe davon. Wir mochten unter lebhaftem Gespräch eine halbe Stunde gefahren sein, als unsere lebendige Locomotive plötzlich stehen blieb. Besorgt fragte ich Hausmann, was das zu bedeuten haben möge.

„O,“ sagte er, „das ist nichts Ungewöhnliches; der Gaul ist ein ziemlich altes Militärpferd, das mitunter das Bedürfniß fühlt, ein wenig auszuruhen. Er wird gleich von selbst weitergehen.“

In der That setzte sich das Thier nach Verlauf von zwei oder drei Minuten wieder in Trab. Es machte noch ein oder zwei Mal solche Pausen während der Fahrt, sonst aber griff es kräftig aus und brachte uns ziemlich rasch vor Hausmann’s Wohnung.

Das Städtchen Horn hat an und für sich keine besonderen Reize. Es ist ein Landstädtchen mit etwa zweitausend Einwohnern, die größtentheils vom Ackerbau leben. Der Wohlstand, der unter ihnen herrscht, fällt wenig in’s Auge. In dieser kleinbürgerlichen Welt ist noch Alles streng zugeschnitten auf den Bedarf, nicht auf die Schönheit und auf den Schmuck des Lebens. Um den städtischen Häusercomplex, von welchem man draußen nur die einförmigen rothen Ziegelsteindächer sieht, lagern sich rings Gemüsegärten, und daran schließen sich nach allen Richtungen hin, Hügel auf Hügel ab, bis zu den Waldrändern hin, die Korn- und Kleefelder der Bürger Horns, nur hier und da von lebendigen Hecken eingerahmt und durchbrochen. Aber die weitere Umgebung der Stadt ist von hoher landschaftlicher Schönheit. Mein [287] Freund Hausmann hat sich, seit eine Feuersbrunst vor Jahren mit einem bedeutenden Theile der Stadt seine Wohnung in Asche legte, ein stattliches Haus vor dem Thore gebaut; aus den Fenstern desselben genießt man eine Aussicht, die ihres Gleichen sucht. Von dem Kranze dicht bewaldeter Hügel und Berge, welche die Gemarkung Horn einrahmen, sieht man dort mehr als ein Drittheil, und jedenfalls das schönste Drittheil. Gen Süden ragen aus dem Waldgewirre ein paar steil abfallende Berge hervor, der stundenweiten Entfernung halber in Dust verschleiert. An sie schließen sich nach Westen zu in langgestreckten Wellenlinien, im Hintergrunde wieder von höheren Kuppen überragt, niedrigere Hänge, die sich an einem Punkte bis auf eine Viertelstunde der Stadt nähern. Gerade da aber, wo sie das thun, wird der Blick gefesselt von ein paar grauen Kolossen, die aus dem Blättermeere hervorlugen. Es sind die Externsteine (S. Jahrg. 1862, S. 381), jene Felsengruppe, in der der Sandstein, das Knochengerüst des Teutoburger Waldes, sich an die Oberfläche drängt.

In den paar Tagen, die ich bei Hausmann verweilte, habe ich diese Umgebung von Horn mit meinem freundlichen Wirthe fleißig durchstreift. Während das Auge sich labte an den in herbstlicher Farbengluth strahlenden Laubmassen, während die Lunge sich erfrischte auf den ozonduftigen Waldwegen, bot sich mir zugleich die willkommene Gelegenheit, mich über die Zustände und Schicksale des Fürstenthums Lippe zu orientiren und die Lücken meiner eigenen Kunde davon zu ergänzen. Hausmann ist damit ganz genau vertraut. Die mittelalterliche Justizverfassung des Ländchens gestattet es dem Richter, macht es ihm des spärlichen Gehalts wegen wohl auch nöthig, neben seinem richterlichen Berufe die advocatorische Praxis zu treiben. Natürlich nur außerhalb des richterlichen Bezirks. So ist denn Hausmann ein vielbeschäftigter Rechtsanwalt. In denjenigen Fällen, wo es darauf ankommt, mit Energie und ohne Rücksicht aufzutreten, wendet man sich aus den entlegensten Winkeln des Landes an ihn. Wer einen Proceß gegen die fürstliche Domainenkammer hat, kommt zu ihm. Wer irgend eine einflußreiche Person im Lande verklagen muß, ersucht den Stadtrichter von Horn, seine Sache zu führen. Daß den Bauern und den Gemeinden das Jagdrecht auf eigenem Grund trotz Flotten-Fischer und Oheimb und Flottwell auf processualischem Wege gerettet oder vielmehr wiedererobert wurde, ist Hausmann’s Verdienst. In den Tagen, in denen ich bei ihm war, kam durch Besuche oder einlaufende Briefe die Rede auf mehrere interessante schwebende Processe. Da hatte ihn um seine Hülfe ein Vater ersucht, dessen Knabe als Scheibengucker vom Sohne eines in Detmold sich aufhaltenden deutschen Generalconsuls a. D. zum Krüppel geschossen war und dem die gebotene Entschädigung von fünfhundert Thaler nicht genügend erschien. Da streitet er als Anwalt einer Bauerschaft gegen die fürstliche Domainenkammer, welche althergebrachte Holzlieferungen unter sonderbaren Vorwänden einstellen will. Auch jener merkwürdige Proceß, welcher bereits zu einem Kriege en miniature geführt hat und seiner Zeit im preußischen Abgeordnetenhause zur Sprache kam, ruht gegenwärtig in seiner Hand. Es ist die Sache des Colonus Romke bei Lippstadt, dem die Verwaltung des lippeschen Fräuleinstiftes daselbst einen am Flüßchen Glenne gelegenen Zipfel Weidelandes abstreitet und eines schönen Tages mit bewaffneter Mannschaft occupirte. Der streitige Zipfel Weideland liegt auf der Grenze der preußischen Provinz Westfalen und Lippes, und als die preußischen Gerichte unter Berufung auf den Grenzregulierungsvertrag sich für incompetent erklärten, wandte sich der preußische Colonus Romke an Hausmann, damit dieser seine Sache vor den lippeschen Gerichten führe. Hausmann hat, nachdem er sich an Ort und Stelle instruirt, den Proceß übernommen und bereits eine vorläufige für seinen Clienten günstige Entscheidung erstritten. Noch einen tieferen Einblick als die advocatorische Praxis hat dem Stadtrichter von Horn aber seine hervorragende Betheiligung an den Verfassungskämpfen des Landes in die Verhältnisse desselben verstattet.

Diese Kämpfe haben ein volles Vierteljahrhundert gedauert. Sie kamen vor das Forum des alten Bundestages und vor dasjenige des deutschen Reichstages; sie zogen die Aufmerksamkeit von ganz Deutschland auf sich, und wenn sie im Laufe dieses Jahres auch einen formellen Abschluß fanden, so kann man doch leider kaum annehmen, daß die Streitaxt definitiv begraben worden sei.




Eine schwarze Kugel.
Erzählung von A. Godin.[4]

Hört man irgendwie die Bezeichnung „Muttersöhnchen“, so entwirft sich die Phantasie sogleich das Bild eines Jünglings, der Leckerbissen zu schätzen weiß, den Schnupfen fürchtet und sich mit naiver Zuversicht als Mittelpunkt des Stückchens Welt betrachtet, auf welchem er sich gerade befindet. Es giebt aber noch eine zweite Ausgabe dieser Species, ebenso liebenswürdig, wie die erstere fragwürdig ist: Jünglinge, selbst Männer, die ein gewisser Hauch feinen Sinnes umweht wie jener Schatten von Duft, den man zuweilen mit sich fortträgt, nachdem man den Raum, wo er wirklich ausströmte, längst verlassen hat. Fast mit Bestimmtheit läßt sich behaupten, daß solche Männer von früher Jugend auf viel in Gesellschaft einer zartfühlenden und liebevollen Mutter gewesen und dann lebenslang unter diesem Einflusse sowohl ihre Eindrücke empfangen wie sich selbst äußern – namentlich in allen Dingen des Geschmacks und Gefühls.

In diesem Sinne durfte Hermann Barner ein „Muttersöhnchen“ genannt werden. Ihm ward zu Theil, was selbst unter günstigen Verhältnissen nur Wenigen in vollem Maße bescheert wird: eine durchaus glückliche Knaben- und Jünglingszeit. Sein Vater, der sich in reifem Mannesalter verheirathet hatte und zur Zeit der Geburt dieses einzigen Kindes schon ein hohes Amt im Staate bekleidete, fand trotzdem immer Zeit, das Familienleben zu pflegen. Seine Mutter, welche ihre Stellung zur großen Welt fein zu behaupten wußte, sprach ohne Hehl den Grundsatz aus, daß die Rücksicht auf Mann und Kind jeder andern voraus ginge, und handelte danach. Jede Anlage des begabten jungen Menschen ward sorgsam gepflegt, sein Verkehr mit frischen Altersgenossen niemals gehemmt, und während er die Grundlage allgemeiner Bildung empfing, bereiteten ihn die Ferienmonate auf den erwünschtesten Lebensberuf vor, da er dieselben häufig auf dem ansehnlichen Gute seines Großvaters verlebte, welches ihm dereinst als Erbe zufallen sollte. Die Provinzialhauptstadt, deren Regierungscollegium Präsident Barner vorstand, besaß den Vorzug einer Universität, und nach Wunsch des Vaters sollte Hermann dort geeignete Collegien besuchen, ehe er sich der Landwirthschaft dauernd widmete.

Was durch das Leben so fest verbunden war, wurde plötzlich durch den Tod getrennt. Der Präsident erlitt inmitten seiner Vollkraft einen Nervenschlag, der ihn binnen wenigen Stunden den Seinen entriß. Fortan zog sich die Wittwe und zwar für immer von der Welt zurück und lebte mehr als je dem Einzigen, was ihr geblieben. Nachdem Hermann’s Ausbildung nach dem Plane des Vaters beendet war, siedelten Beide auf das Gut des Großvaters Barner über, um dort die Heimath der Zukunft zu gründen. So hatte Hermann sein vierundzwanzigstes Jahr erreicht, ohne jemals länger von seiner Mutter getrennt zu sein, als durch kurze Reisen oder die wiederholten Landwehrübungen, welche ihm die Qualification zum Officier verschafft hattet.

Da kam die Mobilmachung des Jahres 18.., und der junge Landwehrlieutenant wurde einberufen. Schien es auch noch sehr ungewiß, ob ein Krieg wirklich ausbrechen würde, so zitterte doch das Herz der Mutter in tiefem Schrecken, als sie den Liebling ziehen lassen mußte – ein Schreck, den sie vor Hermann zu verheimlichen strebte, denn dieser hatte kein Hehl der Freude, womit er dem ergangenen Rufe folgte. Die Stadt, wohin seine militärische Pflicht ihn führte, war reizvoll gelegen; er hatte dort bereits einmal während seiner letzten Uebungszeit angenehme Wochen verlebt und freute sich auf den cameradschaftlichen Verkehr mit Bekannten – freute sich weit lebhafter noch auf Anderes.

Ein eigenthümliches Dämmern und Träumen war über ihn

[288] gekommen und dämpfte die sonnige Tageshelle, welche meist von ihm ausströmte. Nahm er ein Buch zur Hand, so ruhte es bald müßig auf seinem Knie und der in das Weite gerichtete Blick schien Worte zu lesen, die ein unsichtbarer Griffel in die Luft geschrieben. Mitten im Gespräch über Gleichgültiges sprang ein kurzes, glückliches Lachen auf, wie ein Blitz verhaltener Freude. Er sprach nicht über solche Stimmungen, seine Mutter wußte aber gut, weshalb er sie oft so lebhaft umfing, so häufig küßte. Sie schwieg, seufzte wohl ganz im Stillen ein wenig – was heute noch ein Traum, eine Erinnerung war, konnte sich vielleicht bald zu jenem Neuen verdichten, welches jedem liebenden Weibe, sei sie nun Mutter, Schwester oder Frau, im ersten Augenblicke furchtbar erscheint. – –

Es war um die Zeit voller Mittagshöhe, als der Dampfer, welcher Hermann seiner Bestimmung entgegentrug, landete. Der junge Mann sprang leichten Fußes auf den Kai, gab den Matrosen eine Adresse an, wohin sein Gepäck gebracht werden sollte, und richtete dann seine Schritte den Anlagen zu, welche sich rings um die Stadt zogen. Dieselbe Erregung, welche jede seiner Geberden, seinen Gang beherrschte, färbte auch sein angenehmes Gesicht mit leichter Röthe, während er die zur gegenwärtigen Stunde völlig menschenleeren Laubgänge durcheilte.

Als sich die Anlagen in der Nähe eines Stadtthores öffneten, wurde sein Schritt zögernd; sein leuchtendes Auge spann ein rebenumzogenes Häuschen, das dicht an der Straße lag, gleichsam ein; er setzte sich auf eine der Bänke, die einladend unter den letzten Platanen standen, und schaute lächelnd auf das von der Sonne umfunkelte Haus. Plötzlich fiel ein Schatten über die helle Stirn. – Zwei Jahre! – Wer weiß? Es ließ ihn nicht mehr ruhen; er stand hastig auf und ging ohne Zögern dem Hause zu, ohne doch dort einzutreten. Sein Auge spähte nur erwartungsvoll in die Fenster des Erdgeschosses; jählings stieg ihm das Blut bis unter die Haare.

Da saß sie ja – an demselben Platze noch, wo er sie damals so oft gegrüßt, die Näharbeit in den fleißigen Händen. Sie blickte nicht auf, und er wußte kaum, ob ihm das leid oder lieb war, denn nun konnte er sie ein paar Augenblicke betrachten. – Nicht verändert, oder doch nur wenig! Der feine Kopf mit den schweren dunkeln Flechten, die sie auch jetzt noch so einfach verschlungen trug, zeigte das früher kindlich gerundete Gesichtchen vielleicht etwas ovaler; die zarte Gestalt schien voller geworden, im Uebrigen aber war sie es ganz – ja ganz! in all ihrer unbewußten Anmuth, mit der schlichten und doch so eigenthümlichen Haltung, mit dem feinen Zuge um den auch im Schweigen beredten Mund.

Ein Glücksgefühl wallte in ihm auf; er mußte sich Gewalt anthun, nicht stehen zu bleiben und ihren Aufblick abzuwarten, nicht gar einzutreten in das Haus, welches er doch niemals zuvor betreten hatte. Als er weiter ging, war sein Schritt, sein Herz beflügelt. Im Begriff, sich durch das Thor der Stadt zuzuwenden, besann er sich, warf einen flüchtigen Blick über seine durch die Wasserfahrt kaum derangirte Toilette, sah nach der Uhr und schlug dann den weiteren Weg durch die Anlagen zur Linken ein. Es war, um einen Besuch abzustatten, allerdings fast noch zu früh, doch wußte er, daß die Familie, zu der sein Wunsch ihn zog, von drei Uhr an für nähere Bekannte stets zu Hause war, und hierzu durfte er sich ja rechnen. Weshalb überhaupt dem lebhaften Zuge, der ihn lockte, nicht folgen, einer bloßen Etiquettenfrage wegen?

Die schöne Villa, in welche er bald nachher trat, lag etwas seitwärts von der Straße, inmitten eines schattigen Gartens. Schon bei dem flüchtigsten Ueberblicke der kleinen Niederlassung gewann man den Eindruck der Wohlhabenheit. Manchen Häusern ist gleichsam etwas von der Physiognomie ihrer Besitzer aufgeprägt; in diesem erschien Alles vornehm und stattlich. So auch der schnurrbärtige, martialisch dreinschauende Diener, welcher auf Hermann’s Klingeln öffnete und bei dessen Anblick ein unendlich gutmüthiges Lachen vernehmen ließ.

„Aha, der Herr Lieutenant! Na, die Herrschaften haben alle die Tage her davon geredet, daß Sie nun bald kommen müßten. Treten Sie gefälligst ein! Der Herr Oberst sind nicht da, aber die gnädige Frau sitzt im Gartensälchen. Melden braucht’s da nicht erst.“

Rasch schritt der junge Mann dem wohlbekannten Familienzimmer zu und stand im nächsten Augenblicke vor der alten Freundin seiner Mutter, die ihn freudig willkommen hieß. Gleich im ersten Moment ward ihm wieder wohl bis in’s Herz hinein dieser mütterlichen Frau gegenüber, welche auf Alle, die in ihre Nähe gelangten, leise aber dauernde Anziehungskraft übte. Clara Kettler mochte nie schön gewesen sein, anmuthig war sie aber noch heute, und wenn sie sprach, erwachten in dem zarten, verblühten Gesicht ein paar Grübchen, die sie unendlich verjüngten. Diesem Aeußeren entsprach ihr Wesen. Mehr herzlich als geistreich, mehr harmonisch als beweglich, von der wohlthuendsten Ruhe in Wort und Geberde, in ihrer Denkweise ursprünglich und durchaus wahr: so hatte Hermann’s Mutter ihm ihre Jugendfreundin geschildert, als sie ihm die ersten Grüße mitgegeben; so hatte er sie im fast täglichen Verkehre jener Wochen erfunden.

„Der Herr Oberst ist nicht zu Hause – aber doch hier?“ fragte Hermann nach den ersten Begrüßungen.

„Noch ist er hier,“ sagte Frau Kettler, „aber er denkt in Kurzem für einige Wochen nach Paris zu gehen, was mir lieb ist. Ihnen darf ich es wohl sagen, lieber Hermann, und Sie werden es rasch genug selbst erkennen – mein Mann ist tief verstimmt. Zwar spricht er nicht darüber, aber es verräth sich mit jedem Athemzuge, und ich weiß ja auch, was ihn drückt. Nie hat er es überwunden, daß jener unglückliche Sturz, der ihm den Fuß beschädigte, seine Carriere mitten durchschnitt. Für einen Mann seines Naturells ist ein Leben, das nur für Liebhabereien thätig sein kann, auch wahrlich nicht befriedigend. Nun regt sich ringsum ein doppelt frisches militärisches Treiben; ein Krieg ist in Aussicht – da muß es ihm gar schwer fallen, als Zuschauer daneben zu stehen. Sobald er den Gedanken hinwarf, eine Reise zu unternehmen, habe ich ihm lebhaft zugeredet. Wer weiß, wie sich die Dinge gestaltet haben werden, bis er heimkehrt. Eben ist er mit Ida nach der Stadt gegangen, um einige kleine Reisebedürfnisse einzukaufen.“

„Und Fräulein Ida geht es gut?“

„Eine glückliche Braut, neunzehn Jahr dazu, wie sollte es Einem da nicht gut gehen! Aber Sie sprechen von Ida und fragen nicht nach Paula? Die Beiden pflegt doch Jeder in einem Athem zu nennen.“

Verrätherisches Roth jagte seiner Antwort voraus. „Ich komme direct vom Kai; da führte mich mein Weg am Hause Fräulein Hollbach’s vorüber. Sie saß am Fenster. Wenn sich auch keine Gelegenheit ergab, mich bemerklich zu machen, sah ich doch, daß sie wohlauf zu sein scheint.“

„Nun, heute Abend sind Sie natürlich bei uns, und da Paula selten ausbleibt, können Sie sich davon persönlich überzeugen. Im Hause dort ist Alles beim Alten: Die Mutter an ihren Krankenstuhl gefesselt, Paula ihre treue Pflegerin. Beständen wir beiden Mütter nicht so entschieden darauf, daß sie die Abende regelmäßig mit Ida verlebt, so würde sie sogar dann zu Hause bleiben; sie hat dazu neuerdings manchen Anlauf genommen. Zum Glück ist Frau Hollbach aber mit mir einverstanden, daß so gänzliches Einspinnen für die Jugend ungesund ist; sie gönnt der Tochter nicht nur, sondern beansprucht für sie jugendlichen Verkehr. Je freier von Egoismus sie sich aber zeigt, desto mehr erscheint gesteigerte Hingabe Paula als Bedürfniß. Um das gebundene Leben einer Leidenden webt sich eine natürliche Melancholie, die für die Umgebung etwas gefährlich Anziehendes hat gleich dem Wasser.“

„Zur Melancholie zeigte Fräulein Hollbach doch früher niemals Hang,“ sagte Hermann betroffen; „ihre sonnige Heiterkeit –“

„Ist nicht verloren gegangen,“ vertheidigte Frau Clara. „Jenes frische Erfassen des Augenblicks, das auf Jeden so erfreulich wirkt, ist ihr auch jetzt noch eigen. Das Mädchen hat sich herrlich entwickelt, und wenn ein gewisser Hang zur Träumerei mir an ihr neu und deshalb besorglich ist, so muß ich doch sagen, daß auch dies ihr gut steht. Sie werden ja sehen. Ich freue mich auf die kleine Ueberraschungsscene. Wir haben ihr nicht erzählt, daß wir Sie erwarten.“

„Worauf Fräulein Paula auch schwerlich Gewicht legen würde,“ sagte der junge Mann etwas hastig.

„Wer weiß!“ Die leise Schelmerei, welche aus den Augen der Freundin lachte, stand ihrem sanften Gesichte besonders wohl; [289] „trügt mich mein Gedächtniß nicht, so waren Sie der erste Verehrer, und dergleichen vergißt sich nicht so leicht. Inzwischen haben Sie freilich manchen Nachfolger gehabt; wir sind vorigen Winter zu Ball gewesen, und all der junge Flug, welcher hier im Hause aus- und einflattert, ist auch weder blind noch müßig. Nun, vor Ihren Träumen wird auch inzwischen manche Blonde oder Braune die Locken geschüttelt haben. – Zwei Jahre!“

Es berührte Hermann eigenthümlich, fast scharf, als er dieses Wort, das ihm zuvor so ernst durch die Gedanken gezogen, nun scherzweise und doch in gleicher Beziehung aussprechen hörte. Eine plötzliche Verstimmung überkam ihn, und er mußte sich einige Gewalt anthun, um in unbefangenem Tone weiter zu sprechen als er sich erhob:

„Wenn ich zur Theezeit wiederkommen darf, möchte ich mich jetzt empfehlen und von dem Zimmer Besitz ergreifen, das mir ein Camerad im englischen Club-Hause bestellt hat. Ueberhaupt giebt es für die nächsten Stunden noch allerlei zu erledigen.“

„Kommen Sie nicht zu spät!“ sagte die Frau Oberst, indem Hermann Abschied nahm. –

Als der junge Mann, durch verschiedene Begegnungen und Besorgungen länger in Anspruch genommen, als ihm erwünscht war, in das Kettler'sche Haus zurückkehrte, traf er am Theetische die Familie vollzählig, aber allein. Von der Tochter des Hauses lebhaft begrüßt, die ihn mit dem jungen Baumeister, ihrem Verlobten, bekannt machte, fand er sich vom ersten Moment an in reges Gespräch verflochten, kam aber nicht über das Gefühl heimlicher Enttäuschung hinweg. Erst als sich das Brautpaar in irgend eine Erörterung über künftige Haushaltungsangelegenheiten vertiefte, Frau Kettler mit gewohnter Geduld die unsterblichen Anekdoten ihres Logirgastes, eines alten Hausonkels, abhörte und Hermann sich nun ganz dem Hausherrn zuwenden konnte, fand er sich bald so gefesselt, daß er vergaß, was sein Herz bedrückte.

Oberst Kettler war eine jener prononcirten Naturen, die raschen und sicheren Eindruck erwecken, gleich dem kernigen Styl mancher Bücher; vielleicht war Hermann vor zwei Jahren noch zu unfertig gewesen, um die ganze Bedeutung dieser charaktervollen Persönlichkeit zu erfassen; jedenfalls wirkte dieselbe heute in weit stärkerem Maße auf ihn, als zur Zeit jener früheren Begegnung. Die machtvolle Gestalt des Obersten und sein edler Kopf standen kaum so ausdrucksvoll in des jungen Mannes Erinnerung, wie er beides jetzt bewundern mußte. Noch war die breite Stirn faltenlos, nur ein leichtes Ergrauen der Spitzen des schönen Bartes verrieth den beginnenden Fünfziger. Das classisch geschnittene, deshalb etwas strenge Gesicht wurde durch einen Zug von Milde um Mund und Augen eigenthümlich gesänftigt, oder war es ein Zug von Schwermuth? Frau Kettler's Aeußerung über die Verstimmung ihres Gatten kam Hermann wieder in den Sinn, während er mit dem Oberst sprach.

So kräftig, ja scharf Gedanken und Worte in seiner Unterhaltung sich ausprägten, so lebendig der hochgebildete Mann sich über Persönliches wie Allgemeines äußerte und jeder Idee, welche sein Gast berührte, gleichsam einen Gesellschafter gab, lauschte doch in dem stahlblauen Auge ein seltsam nach innen gekehrter Blick – wie eines Menschen, der sich anstrengt, allem Gegenwärtigen aufmerksam zu folgen, dabei aber auf ferne Töne hinhorcht, die ihn näher angehen dürften. Als er sich erhob, um Cigarren herbeizuholen, und Hermann das kaum merkliche, nur den Eingeweihten auffallende Nachziehen des beschädigten Fußes wahrnahm, wallte seine Sympathie lebhaft auf. Er begriff den Schmerz eines Soldaten, eines Mannes in reichster Fülle der Kraft, sich in solchem für sein Vaterland vielleicht kritischen Moment zur Unthätigkeit verdammt und höchstens auf eine jener Verwendungen Halb-Invalider beschränkt zu sehen.

Es schlug acht Uhr. Indem die Hausfrau um den Thee klingelte, rief sie bedauernd zu den Männern hinüber: „Jetzt kommt sie nicht mehr.“ In derselben Minute tönte die Hausglocke. Eine melodische Stimme wechselte draußen einige Worte mit dem alten Franz, und Ida schoß mit einer ihrer blitzschnellen Bewegungen zur Thür hinaus, um gleich darauf mit der Freundin zurückzukehren.

Hermann stand ihr gegenüber – dem Mädchen gegenüber, deren Bild ihn unablässig begleitet hatte, seit er von ihr geschieden war. Wenn diese Begegnung sie überraschte, kam das doch nicht zum Vorschein; die freundliche Bewillkommnung Paula Hollbach's klang sehr gelassen. Er selbst war zu befangen, um mehr zu erwarten oder etwas zu vermissen. Im Banne dieser großen poetischen Augen empfand er nichts als ihre Nähe.

Der Kreis bildete sich von Neuem; ein leichtes Gespräch schwirrte hin und wieder, während der Thee eingenommen wurde. Hermann saß den jungen Freundinnen gegenüber. Paula's Gestalt füllte ihm den Raum; Alles war ihm lichter geworden, jeder Einzelne liebenswürdiger, und das war in der That nicht bloßer Reflex eigenen Empfindens. Es giebt Menschen, die unbewußt für alle Uebrigen zum Mittelpunkt werden, sobald sie erscheinen – weit seltener durch hervorragenden Geist als durch einen herzgewinnenden Zug ihres inneren Wesens, der sich so wenig beschreiben läßt wie harmonische Klänge. Das junge Mädchen, deren Anziehungskraft hier so merklich auf Personen des verschiedensten Naturells wirkte, war kaum neunzehn Jahre alt und nicht von hervorragender Schönheit. Niemand konnte sich ungekünstelter ausdrücken, anspruchsloser benehmen als sie, und doch strahlte eine Wärme von ihr aus, die sich Jedem mittheilte. Unwillkürlich regte sich in Allen das Bedürfniß ihr Angenehmes zu erweisen und ebenso unwillkürlich nahm sich Jeder zusammen, der ruhigen Entschlossenheit gegenüber, welche ihre breite, weiße Stirn aussprach.

Bald nachdem der Thee eingenommen worden, erhob und verabschiedete sich der Hausherr; er entschuldigte sich mit der Nothwendigkeit, noch heute einen Geschäftsbrief vollenden zu müssen. Im Begriff das Zimmer zu verlassen, wandte er sich an der Thür zurück und sagte in formellem Tone: „Franz wird später das Fräulein nach Hause begleiten.“

„Das Fräulein?“ lachte Ida; „Paula, bist Du das?“

Paula antwortete nicht. Der bange Blick, mit dem sie dem Oberst nachsah, welcher eben die Thür hinter sich schloß, fiel Hermann auf und berührte ihn eigenthümlich. Die sichere, in sich geschlossene Natur konnte also auch demüthig sein. Er hielt sich nicht bei der Frage auf, was Kettler Anlaß gegeben haben mochte, dem allgemeinen Lieblinge des Hauses ein so kühles Wort zurückzulassen, daß Paula jedoch offenbar eine auf sich gerichtete Mißstimmung empfunden und sie so still hingenommen, verlieh ihr in den Augen des jungen Mannes einen neuen Reiz. Die Laune des Obersten, der jedenfalls Unrecht haben mußte, verdroß Hermann, ihm war, als müsse er dem lieben Mädchen dafür um so wärmer huldigen. Sein Auge sprach die Empfindung vielleicht allzu lebhaft aus, denn Paula erröthete unter seinem Blicke, und ein leiser Zug von Scheu trat auf die feinen Lippen. Mit jenem Hellseher-Instinct aller Liebenden empfand Hermann auf der Stelle, daß sie sich innerlich vor ihm zurückzog, und suchte nach einem unbefangenen Worte; schon hatte das Brautpaar von Neuem zu flüstern und der Onkel die Hausfrau in Beschlag zu nehmen begonnen.

„Sie werden Fräulein Ida sehr vermissen,“ sagte Hermann; „gewiß bangt Ihnen schon jetzt vor dem nahen Verlust. Freilich ist eine Braut der Freundschaft ohnehin schon halb verloren.“

„Das fürchte ich nicht,“ erwiderte Paula rasch mit einem warmen Blick zur Freundin hinüber. „Ich denke im Gegentheil, wenn man einen Menschen so recht innig lieb hat, liebt man Alles, was man sonst besitzt, doppelt treu und bewußt.“

„Zugegeben! Der Löwenantheil an solchem bräutlichen Herzen dürfte aber doch kaum mehr der Freundin gehören,“ scherzte er.

Sie lächelte. „Und was kommt darauf an? Ist Freundschaft denn ein Tauschhandel, bei dem man fragt, was Einem heimbezahlt wird? Der Löwenantheil bleibt immer Derjenigen, die festhält am Geben; das Empfangen folgt dann ganz von selbst.“

Das seelenvolle, heiter gesprochene Wort blieb für Hermann der Grundaccord aller Töne, welche noch im Verlaufe des Abends angeschlagen wurden. Es klang in ihm nach, als er in später Stunde unter dem sternbesäeten Nachthimmel, zwischen leise rauschenden Bäumen der Stadt zuwanderte. Der leise Athemzug der ringsum schlummernden Welt wurde ihm zum Echo der geliebten Stimme. Die Ewigkeit und der gegenwärtige Augenblick verschmolzen sich ihm zum gleichen Begriffe.




Es war etwa sechs Wochen später, an einem jener unbeschreiblichen Herbstnachmittage, welche in einem Glanze leuchten, der nicht von dieser Welt zu sein scheint. Hermann Barner schlenderte seinen Lieblingsweg am Kai entlang und ließ das Auge [290] über Brücke und Fluß nach den jenseitigen mit Weingelock überkleideten Bergen schweifen. Schon verdunkelte sich ihr goldig durchflimmertes Roth, und endlich schob sich das Gewölk, welches um die Höhen zog, gleich Coulissen vor den Niedergang der Sonne.

Die Luft wurde schwül. Eine müde, schwere Stimmung überkam den Wanderer und ließ ihn umkehren, als er von fern ein paar Cameraden des Weges kommen sah. Einsamkeit und Schweigen waren ihm heute tiefstes Bedürfniß. Rasch, mit gesenkten Auge verschwand er zwischen den Bäumen der Anlage und ließ sich ermattet, als hätte er weite, weite Strecken zurückgelegt, auf einer dicht umbuschten, abseits stehenden Bank nieder. Kaum hätte er selbst zu sagen gewußt, wohin all seine Lebensfreudigkeit entwichen war, woher ihm soeben ein Gefühl aufgestiegen, als sei mit dem Verschwinden dieser glühenden Sonne die ganze Welt abgestorben. Und doch – er wußte dies, wußte es wohl. In wenigen Tagen hieß es Scheiden – von Allem, was ihn hielt und band, und als ihn so der Gedanke an das Ende beschlich, mußte er des Anfangs gedenken, jener ersten Stunde, die ihn unter die gleichen Bäume geführt.

Grübelnd ließ er heute, wie schon so manches Mal, jede der Stunden an sich vorüberziehen, von denen er so viel erhofft; es mag zuweilen schwierig sein, sicher zu wissen, ob man geliebt wird – daß man es nicht wird, erkennt sich nur allzu leicht. Paula war gütig gegen ihn gewesen, all diese Zeit, aber wie frei stand sie ihm gegenüber! So oft sein aufglühendes Gefühl sich Rechte schaffen wollte, bedurfte es nur eines Blickes ihrer klaren und doch so unergründlichen Augen, und all seinen heißen Wünschen zum Trotze schloß ihm ein Gott die Lippen zu. Jetzt, wenn er schied, begleitete ihn nicht mehr der holde Gedanke: auf Wiedersehen! Was er Jahre hindurch als verschwiegene Lebenshoffnung in sich getragen, hatte keine Zukunft mehr. Und doch wußte er, Nichts würde dieses Bild in ihm je auslöschen, noch ersetzen.

Ein wundersam weher und doch reizvoller Traumzustand überkam ihn. Vergangenheit und Zukunft schwebten dämmerig an seiner Seele vorüber; die Gegenwart empfand er nur als Fähigkeit zum Leide, und das umspann ihn mit all dem wilden Zauber, den es am stärksten um glückgewohnte Jugend webt. Längst waren die letzten, vereinzelten Vogelstimmen schweigsam geworden; der schwache, noch draußen irrende Dämmerschein erstarb inmitten der Schatten, welche Büsche und Bäume umschleierten. Durch die gelichteten Bäume fiel mitunter ein heller elektrischer Strahl, um doppeltes Düster hinter sich zu lassen.

Hermann mochte sich nicht zum Gehen enschließen. Im Laubversteck dieser Büsche, welche ihn wie ein Eiland von der Welt abtrennten, im wachsenden Dunkel, wo jede Farbe starb und nur das leise Regen der Blätter um ihn, über ihm die Stille unterbrach, ward ihm leichter zu Muthe. Schon geraume Zeit mochte er so mit halbgeschlossenen Augen geträumt haben, als er in seiner unmittelbaren Nähe Schritte vernahm. Ueber das ihn bergende Buschwerk hinweg unterschied er die unbestimmten Umrisse eines Paares, das den Pfad entlang gekommen sein mußte, und sich nun, wenige Schritte von ihm, einer Bank zuwandte, auf welche die kleinere der Gestalten sich niederließ. Ehe sie Hermann's Augen entschwand, erkannte er, daß es ein Weib war. Ihr Gefährte blieb vor ihr stehen und stammelte in gebrochenen, kaum verständlichen Lauten:

„Wenn ich nicht wahnsinnig werden soll, muß ich Dir einmal, einmal sagen, daß ich an Dich meine Seele verloren habe.“

Hermann, zu dessen Ohr jede Silbe drang, fühlte sich von tödtlicher Verlegenheit ergriffen. Aus seiner Träumerei jäh emporgeschreckt, hatte er Niemand näher kommen hören und wußte nun nicht, wie er es anfangen sollte, der quälenden Lage eines unfreiwilligen Lauschers zu entkommen. Um den Platz zu verlassen, dessen Versteck er geflissentlich gewählt, mußte er an den Beiden vorüber, so dicht vorüber, daß es unmöglich war, unbemerkt zu bleiben. Nach dem stürmischen Geständnisse, das so unvermittelt hervorgebrochen, dessen Ausdrucksweise verrieth, daß die Ahnungslosen gleichem Lebenskreise angehörten, wie er, war solches Auftauchen eines Zeugen von der äußersten Peinlichkeit, besonders für die Dame. Die bloße Vorstellung des Entsetzens, welches ein junges Mädchen ohne Frage erfassen müßte, wenn sie die Nähe eines Dritten auch nur ahnte, trieb ihm eine heiße Gluth bis in die Stirn. Trotz seines Widerwillens, in einer so beschämenden Lage ausharren zu sollen, rang er sich doch den Entschluß ab, zu bleiben, wo er war, sich nicht zu regen und im Bewußtsein eigener, höchster Discretion den Trost zu suchen, dessen sein Zartgefühl bedurfte.

Er vergrub den Kopf in beide Hände, um so wenig wie möglich zu vernehmen. Wirklich drang während der nächsten Augenblicke nur gedämpftes Murmeln und leises, kurzes Aufschluchzen an sein Ohr, bis er plötzlich zusammenzuckte und aus seiner gebeugten Stellung jählings auffuhr. Die Stimme dieses Mannes, welche – unvorsichtig genug! – immer lauter und deutlicher erklang – diese Stimme kannte er.

Aber nein, nein – es war ein Trug seiner Sinne, eine bloße Aehnlichkeit des Klanges. Das volltönende Organ konnte nicht Oberst Kettler's Stimme sein. Sein Ohr mußte ihn täuschen, auch war ja der Oberst nicht hier – dennoch, mit jeder Secunde wich der gewaltsam festgehaltene Zweifel mehr der Gewißheit.

Und jetzt drang auch, leise wie ein Hauch, Antwort herüber: „Sie sind – Sie sind nicht frei – o lassen Sie mich –“

Die halberstickten, kaum unterscheidbaren Laute trafen Hermann wie ein scharfer Stich; er wußte nicht warum. Zuweilen ahnt aber das Herz seinen Tod.

„Ich weiß – ja, ich weiß,“ stammelte der Oberst. „Erinnere mich aber nicht daran – nicht in diesem Augenblicke! Ich lasse Dich – heute – immer – Du sollst mich nicht wiedersehen – nur gewähre mir Eines! Seit mich Deine süßen Lippen berührten, verzehre ich mich in Sehnsucht nach einem freiwilligen Kusse von Dir. Vergiß, was gewesen ist und was sein wird! Gewähre mir die eine große Gabe, vielleicht daß ich dann wieder Mann werde, wieder Herrschaft gewinne über die untergegangene Seele. O Kind, wachst auch Du zuweilen dem Tage entgegen? Weißt auch Du, was es heißt, von einem nie rastenden Wunsche verfolgt, schlummerlos dazuliegen, sich Möglichkeiten zu ersinnen, die vor dem Lichte des Tages zerstieben wie hohnlachende Gespenster und mit verstärkter Gewalt wiederkehren, sobald Nacht und Dunkel sie von Neuem wieder frei läßt? Oft, wie oft, wenn ich vor Dir stehe, überfällt mich ein Zittern; dann regt sich der Wunsch wie ein Dämon, und siehst Du mich dann an mit den liebreich fragenden Augen, und doch meiner innersten Qual so unbewußt, so ist mir, als müßte ich vor Dir umsinken, wie eine Garbe, als müßte ich diesen versengenden Durst zugleich mit meinem Leben verlöschen, und als dürfte mich doch kein Tod berühren, ehe Deine Lippen mich berührt haben. Erbarme Dich meiner!“

Kein Laut als das schwache Rascheln einzelner niedertaumelnder Blätter. Schwül und schwer hing das Dunkel über den Bäumen; keine Cicade unterbrach mit ihrem Liede die Todtenstille.

Dem Lauscher – er war kaum ein unfreiwilliger Lauscher mehr – wurde seltsam zu Muthe. Eine Angst überschauerte ihn; seine Hände wurden kalt und schlossen sich fest ineinander.

Und jetzt – Hermann fuhr zusammen – der Frevler an Allem, was heilig war, hatte nicht umsonst gefleht.

Glühender Unwille ergoß sich durch alle Adern des jungen Mannes. Er sprang auf, nicht mit Zurückhaltung – nein, mit der Absicht, die Nähe eines Dritten bemerklich zu machen. Nicht länger wollte er Zeuge, Mitschuldiger von Sünde und Schmach sein. Hochaufgerichtet stand er; sein Auge bohrte sich durch das Dunkel.

In demselben Momente trat plötzlich der Vollmond aus dem schweren Gewölke und tauchte alle Nähe und Ferne in sein weißes Licht. Ueber das Gebüsch hinweg, welches Hermann's Gestalt verdeckte, begegneten sich die Augen beider Männer und hafteten eine Secunde lang ineinander. Der Oberst stand wie entgeistert und starrte den schönen blassen Jünglingskopf an, der gleich einer Marmorbüste aus dem dunkeln Laube aufragte. Nichts schien an diesem Kopfe zu leben als die glühenden, drohenden Augen.

Im nächsten Momente beugte sich der Oberst zu seiner Dame nieder und stieß leise, heftig die Worte hervor: „Rege Dich nicht!“ Als er sich wieder aufrichtete, that er einen Schritt auf den jungen Mann zu, aber schon der erste Aufblick zeigte ihm, daß es zu spät, daß auch seine Gefährtin erkannt war.

[291] Der Ausdruck in Hermann’s Zügen hatte sich wie mit einem Schlage verwandelt; sie waren in tödtlichem Schreck erstarrt, als hätte er das Haupt der Medusa geschaut. Nur eine Secunde lang – dann verschwand dieses versteinerte Gesicht, während Kettler noch gleich einer Säule dicht vor dem Gebüsche stand, das seinen Schritt gehemmt; zwischen dem Laube zitterte nur das silberne Licht. Der Oberst wandte sich jäh, erfaßte die beiden Hände seiner Gefährtin und zog sie von dem Sitze in die Höhe, auf dem sie bisher regungslos verweilt hatte. Er ließ ihren Arm unter den seinen gleiten und führte sie stumm von dannen.

(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüthen.

Die Burg der „schlimmen Liesel“. (Mit Abbildung S. 277.) Das größte und wohl einst prachtvollste der vielen Bergschlösser der österreichischen Alpenwelt ist die obersteierische Veste[5] Riegersburg. Der deutsche Reisende erreicht sie wohl am bequemsten, wenn er auf der Wien-Triester Eisenbahn an der zwischen Graz und Marburg liegenden Station Spielfeld Halt macht und von da den Stellwagen nach dem bekannten Bade Gleichenberg benutzt, zu dessen Ausflugsorten dieses großartige Stück Natur- und Menschenwerk jetzt gehört.

Mit dem reichen Kranze von Gebäuden und Mauern weit im Lande sichtbar, streckt der über fünfzehnhundert Fuß hohe Fels, auf dem die Riegersburg thront, sich in so beträchtlicher Länge aus, daß derselbe aus weiter Ferne wie ein geschmückter Sargdeckel erscheint. Wir führen in unserer Abbildung den Leser von der östlichen Schmalseite her zur Burg. Von hier ist sie allein zugänglich; auf den drei andern Seiten stürzt der Fels steil ab bis zu dem Gebirgsbache, der ihn bespült. Hier liegt auch, ebenfalls schon in ansehnlicher Höhe, der Markt Riegersburg mit seiner hochragenden St. Martinskirche.

Man bekommt Achtung vor Dem, was dem Menschen möglich ist, wenn man diese Veste besteigt. Man erkennt, daß ältere Burgbauten, aber vereinzelt, an und auf dem Felsen vorhanden waren, ehe eine energische Hand die Theile zu dem jetzt noch äußerlich der Zeit trotzenden Riesenbaue zusammenzwang. Und diese Hand war eine Frauenhand, die unerbittlich strenge der „schlimmen Liesel“. So nannte das Volk der Burgunterthanen die Herrin derselben zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts, jene Freifrau Katharina von Galler, die, wie in einer Vorahnung der Stürme, die von Ost und West dem Steierlande und Oesterreich noch drohen sollten, im Jahre 1813 der Riegersburg die Gestalt gab, die sie heute noch hat.

Sieben Thore hat man zu durchwandern, ehe man durch die übereinander emporenartig aufsteigenden Befestigungen bis zum höchsten Theil der Veste, der Burg Kroneck, gelangt. Die ersten drei Thore führen auf einem breiten, in den Fels gebrochenen und im Zickzack laufenden Fahrweg nur durch Wälle und Basteien; durch das vierte Thor erreicht man Lichteneck, eine abgesonderte, jetzt verfallene Burg; das fünfte ist reich mit Wappen und Bildhauerarbeiten geziert, und wiederum über Brücken und tiefe Felsgräben gelangt man durch das sechste auf die Hochfläche des Bergs und erst durch das siebente in die Burg Kroneck. Zu dem Bau soll die „schlimme Liesel“ nicht blos ihre Unterthanen scharf in Frohndienst gehalten, sondern auch viele gefangene Türken verwendet haben. Von den Gallern kam die Veste erst an die Grafen Purgstall und von diesen an die nun europäisch-souverainen Fürsten von Liechtenstein und Vaduz.

Bei dem ungeheuren Grundeigenthum dieser Familie – man versichert, daß der derzeitig regierende Fürst und Souverain des freilich nur zweiundeinhalb Quadratmeilen großen Fürstenthums in Oesterreich Besitzer von sechsundachtzig Burgen und Schlössern ist – wurde die weitläufige Veste, die sich keiner besonderen Vorliebe ihres Herrn zu erfreuen scheint, allmählich vernachlässigt. Zum mindesten spricht die Art der inneren Erhaltung dafür, da die nach Hunderten zählenden Säle, Zimmer und Corridors jedes Schmuckes an alterthümlichen Mobilien und reichhaltigen Sammlungen von Gegenständen aus der Ritterzeit beraubt erscheinen. Sie wanderten sämmtlich nach einem Lieblingssitze des Liechtensteiners, dem ebenfalls in Steiermark belegenen Schloß Holleneck, wo sie in buntem Durcheinander sich einer sinn- und planlosen Aufbewahrung erfreuen.

In der dreifachen Kette von Burgen und befestigten Kirchen, welche noch heute im Osttheile Steiermarks und im Süden Niederösterreichs nachweisbar sind und die von den deutschen Bewohnern zum Schutze wider räuberische Einfälle ungarischer Horden im Mittelalter errichtet wurden, nimmt die Grenzveste Riegersburg unzweifelhaft den ersten Rang ein. Unzertrennlich mit der Erinnerung an die Riegersburg verbunden ist die Historie vom grausigen Geschick der armen Gärtnerstochter Katharine Paltauff. Sie verfiel unschuldig dem finstern Wahne mittelalterlicher Anschauung. Weil das schöne Mädchen es verstand, immer frischblühende Rosen zu ziehen, so machte man ihr den Proceß im Sinne damaliger Rechtspflege, und die Blumenfreundin starb als Hexe den Feuertod. Ihr Bildniß sieht man neben denen von elf andern Hexen im sogenannten Hexenzimmer des Kroneckschlosses.

Wer von der Höhe dieser Veste in die Lande ringsum herabblickt oder vom Thale zu ihrer Höhe emporschaut, der wird schwer den Gedanken los, wie viel Menschenarbeit hier einen Bau aufthürmte, der heutzutage keinen höhern Zweck hat, wie den, als Sehenswürdigkeit für die Gleichenberger Badegäste zu dienen. Wer das der „schlimmen Liesel“ gesagt hätte!

Ein amerikanischer Wunderschwindel. Die jüngste unter den Großstädten des amerikanischen Continents, Chicago, macht wieder einmal viel von sich reden, und zwar in einer Angelegenheit, die nicht eben geeignet ist, ihren guten Ruf in der Union beträchtlich zu heben. Schon jetzt haben die auswärtigen Blätter in wenig schmeichelhafter Weise die Sache aufgegriffen und scheinen Chicago, als der Geburtsstätte dieses neuen Schwindels, über den ich berichten will, einen Theil der Verantwortlichkeit für denselben aufbürden zu wollen.

Man hört in den Vereinigten Staaten Chicago öfters die „Wunderstadt“ nennen, eine Bezeichnung, welche es wohl hauptsächlich seinem schnellen Wachsthume vom Fischerdorf zur Weltstadt, seinen seltsamen Entwickelungsverhältnissen und ganz besonders seinem raschen Wiederaufbau nach der verheerenden Feuersbrunst des Jahres 1871 verdankt. Diese Bezeichnung hat jedoch in den letzten Tagen noch eine weitere und sehr unliebsame Bedeutung erhalten, welche die Stadt in unerwünschte verwandtschaftliche Beziehungen zu Marpingen und Lourdes bringen kann. Würden diese modernen Wunder, die sich hierselbst ereignet haben sollen, von den Kanzeln der alleinseligmachenden Kirche verkündet, so würde die ganze Angelegenheit kaum der Besprechung werth sein. Warum sollen nicht auch einmal in Amerika an einigen arbeitsscheuen Bummlern oder an fanatischen Menschen, die in der Kunst des Verstellens geübt sind, angebliche Wunder verübt werden? Die Ursprünglichkeit der Chicagoer Wunder besteht darin, daß sie sich in der protestantischen Welt ereignet haben sollen und von protestantischen Geistlichen ihren gläubigen Gemeinden verkündet werden. Es sind nicht etwa Wunder der Industrie und der Freiheit, wie sie der rastlos thätige, unermüdliche Menschengeist ersann, nein, Wunder der religiösen Verblendung.[6] Ein Wunder in dieser lichtvollen Gegenwart, im geräuschvollen Getriebe einer unserer großen Welthandelsstädte – ist das nicht der reine Geisterspuk beim hellen Scheine der Mittagssonne?

Das erste Wunder wurde kürzlich von einem jungen Geistlichen dem Reverend Arthur Mitchell, der Stadt Chicago verkündet, die ziemlich verblüfft dreinschaute und offenbar anfänglich nicht mehr zu wissen schien, wie sie die Geschichte auffassen sollte, bis schließlich die Einen sich anschickten, die Erzählung von dem neuen Wunder gläubig hinzunehmen, während die Anderen gegen den schändlichen Unfug einen geräuschvollen Protest erhoben, sodaß Reverend Mitchell vielleicht für nützlich erachten wird, seine weiteren Wunder, die er wohl noch auf Lager hat, vorläufig der Welt nicht weiter zum Besten zu geben.

In einem Hintergebäude des Hauses 303 Süd State Str. hierselbst lebt Frau Jeannette M. Robertson, die zeitweise ein wenig vom Rheumatismus gezwickt wurde, wie andere Menschenkinder auch, und die deshalb in letzter Zeit mit der Außenwelt wenig im Verkehr stand. So wagte sie es denn jetzt, nachdem sie sich, vermuthlich durch den Gebrauch einer Patent-Medicin, von dem Uebel befreit hat, mit der Behauptung aufzutreten, daß sie gänzlich gelähmt und stumm gewesen sei, durch die „Macht des Gebetes“ aber den Gebrauch ihrer Gliedmaßen und die Sprache unerwartet zurückerhalten habe. Mit ihrer Umgebung steht sie jedenfalls in heimlichem Einverständnisse; sich von Aerzten prüfen zu lassen, weigert sie sich beharrlich. Die Speculation ist wahrscheinlich gar nicht so übel; die reichen Gläubigen werden der begnadeten Frau sicherlich vielfache Spenden zukommen lassen. Ob der Reverend Mitchell, der die undankbare Rolle übernommen hat, das Wunder zu verkünden, Betrogener oder Betrüger ist, würde sich wohl nur schwer ermitteln lassen. In den meisten Zeitungen ist er natürlich sehr unsanft behandelt worden, daß er sich indessen daraus etwas macht, ist unwahrscheinlich, da seine Gemeinde den erbitterten Protesten der „Ungläubigen“ (infidels) kein Gehör schenkt.

Diese Wundergeschichte muß dem Wanderprediger und „Revivalisten“ Bruder Moody, der von Chicago, wo er früher das ehrsame Gewerbe eines Schusters betrieb, seinen Ausgang nahm und den Leuten in England und in verschiedenen Großstädten der Union die Köpfe verdrehte, als eine ganz ausgezeichnete Speculation erschienen sein. Augenscheinlich beklagte der Sensationsprediger ungemein, daß er nicht selber zuerst auf den klugen Einfall gekommen war, seiner Gemeinde ein wirkliches Wunder mitzutheilen. Nachdem sein letztes, mehrmonatliches Gastspiel zu Ende, predigt er jetzt in Boston, und er beeilte sich nachzuholen, was er bisher versäumt hatte. Das fromme Boston war just der geeignete Ort dazu. Das Wunder, welches er letzthin die Dreistigkeit hatte seinen Zuhörern zu berichten, soll an ihm selber geschehen sein; man könnte die ganze Geschichte für einen faulen Witz halten, wenn nicht alle Nebenumstände diese Annahme ausschlössen. So erzählt er denn, daß er im Beginne seiner Predigerlaufbahn viele Schwierigkeiten gehabt habe, da eines seiner Beine um einige Zoll kürzer als das andere gewesen sei, also daß ihn das anhaltende Stehen fast ermüdet habe. So habe er sich denn eines schönen Abends entschlossen, der Sache ein Ende zu machen und seinem Gott das Anliegen vorzutragen, indem er ihm die Bedingung stellte, daß ihm dieser entweder sein zu kurzes Bein möge länger wachsen lassen, oder er werde aufhören zu predigen. Diese Drohung scheint denn auch ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben; Moody behauptet, daß noch in selbiger Nacht sein Bein um einige Zoll gewachsen sei.

Und Solches in dem Zeitalter der Eisenbahnen und Telegraphen und der bahnbrechenden Forschungen von Darwin und Häckel! Möchte man da nicht an allem Fortschritte verzweifeln? In unserer Zeit bewegen sich die Gegensätze schroff und unvermittelt neben einander. Der Lügenprophet Moody kennt sein Publicum und weiß, was er demselben bieten darf. Das entrüstete Geschrei, das sich von allen Seiten erhebt, kümmert ihn wenig und schadet ihm nicht. Von dem denkenden Theile der [292] Menschheit hat er ohnehin nichts für sich zu erwarten. Der Anglo-Amerikaner ist so verblendet durch seinen puritanischen Glaubensfanatismus, daß selbst große Zeitungen das Moody’sche Wunder gläubig und ernsthaft mittheilen wie z. B. die weitverbreitete „Times“ (Ausgabe vom 4. Februar), welche einen Vergleich anstellt zwischen Moody und dem Propheten des jüdischen Alterthums, Jonas, der sehr zum Vortheil des Erstern ausfällt.

Der aufgeklärte Theil der amerikanischen Presse widmet diesem neuen Schwindel vorläufig noch verhältnißmäßig wenig Beachtung; man weiß, daß er sich in unserer wechselvollen Zeit bald überlebt haben wird und daß andererseits alles Protestiren mit logischen Gründen bei den Anhängern des schlauen Wunder- und Wanderpredigers nichts fruchten würde. Zudem tauchen im verworrenen Durcheinander des amerikanischen öffentlichen Lebens oft so seltsame Erscheinungen und Bestrebungen auf, daß auch das Seltsamste nicht mehr überrascht, das Dümmste nicht mehr ärgert.

Der einzige Trost bei dem heillosen Unfuge ist, daß dieser Wunderschwindel nur ein kurzes Dasein haben und, wie zahlreiche andere epidemische Geisteskrankheiten, in wenigen Jahren schon gänzlich erloschen sein wird. Da wir nun aber doch einmal in der Zeit der Wunder leben sollen, so thut man besser, sich auf Alles gefaßt zu machen; vielleicht geschieht demnächst das noch unglaublichere Wunder, daß einmal bei der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten amerikanischer Großstädte keine Schwindeleien mehr verübt werden.
Curt Thiersch.

„Unser Vaterland“. (Mit Abbildungen S. 284 und 285.) Wer dem deutschen Volke in eindrucksvoller Weise ein Bild des großen Vaterlandes entrollen will, der muß bei der eigenartigen Natur unseres Volksstammes vor Allem an das Herz appelliren; er muß sich nicht sowohl an das Vaterlands- wie an das individuelle Heimathsgefühl jedes Einzelnen im provinziellen Sinne des Wortes wenden; denn hier liegen – ein naturgemäßes Ergebniß unseres geschichtlichen Entwickelungsganges – die tiefsten Wurzeln unseres nationalen Gemüthslebens. Für den Schilderer mit Feder oder Stift giebt es aber keinen wirksameren Weg zum Herzen des deutschen Volkes als den einer fortschreitenden Charakterisirung des großen Vaterlandes von Landschaft zu Landschaft. Wer so schildert, der wird uns die einzelnen Theile des imposanten Ganzen in ihren Besonderheiten und Eigenthümlichkeiten vorführen und dadurch im Laufe der Darlegung jedem Leser, jedem Beschauer an irgend einem Punkte ein ihm besonders Liebes darbieten, das seinem Gemüthe eine willkommene Nahrung giebt, er wird uns aber auch als Summe dieser einzelnen Theile ein concretes Gemälde liefern, das sich der verstandesgemäßen Auffassung Aller anschaulich und bedeutsam nahe legt.

Dieser Idee leiht ein Unternehmen Ausdruck, welches unter dem Titel „Unser Vaterland“ bei Gebrüder Kröner in Stuttgart erscheint und als ein Volks-Prachtwerk bester Art bezeichnet werden darf. Es sucht seinen ausgesprochenen Zweck, jedem Vaterlandsfreunde ein Beitrag zur Kenntniß der deutschen Lande zu werden, auf die oben angedeutete Weise zu erreichen, indem es nach jahrelangen Vorbereitungen die Arbeit von mehr als einem Hundert bewährter Schriftsteller, Zeichner, Maler, Holz- und Formschneider aus allen Bezirken Deutschlands in sich zusammenfaßt und uns so ein umfassendes Conterfei des deutschen Lebens in Land und Leuten, in Geschichte und Culturgeschichte, in Sitten und Volksleben durch Wort und Bild vor’s Auge rückt. Neben eingehender Schilderung der landschaftlichen Reize unseres Vaterlandes will es die Gesammtheit des deutschen Volkes in seinem Schaffen und Wirken, in seinem Denken und Dichten in den Kreis der Betrachtung ziehen; es will den geistigen Arbeiter aufsuchen in seiner Werkstatt, aber auch den Forstmann im Walde, den Fischer am Strande, den Bauer auf dem Felde, den Bergmann im Schachte und den Handwerker und Industriellen im Arbeitssaale und in der Fabrik. Und neben dem Ernste der Arbeit wird hier namentlich auch die heitere Seite des deutschen Lebens nicht vergessen werden: der Volkshumor und die Volkspoesie sollen in ihren drastischen wie in ihren idealen Aeußerungen entsprechend vertreten sein, und über Allem wird der Geist künstlerischer Gediegenheit wehen.

„Das ganze Deutschland soll es sein.“ Denn das „Reich“ sowohl wie Deutsch-Oesterreich ist es, was das dankenswerthe Werk in seinen Rahmen zusammenzufassen gedenkt. Durch Eintheilung in einzelne Serien wird es den praktischen Rücksichten auf das Publicum insofern Rechnung tragen als es jeden einzelnen Landschaftsabschnitt als ein für sich käufliches, möglichst abgerundetes Ganzes behandeln wird. – Die zunächst erscheinende erste Serie „Die deutschen Alpen“, herausgegeben von unserm geschätzten Mitarbeiter Herman von Schmid in München, liegt uns bereits in den sechs ersten Aushängebogen vor und entspricht an künstlerischer und textlicher Gediegenheit wie an Eleganz der äußeren Ausstattung durchaus dem günstigen Vorurtheile, mit dem wir dem Erscheinen des Unternehmens entgegensahen. Wir dürfen es in seinem Fortgange mit um so zuversichtlicheren Hoffnungen begleiten, als in Betreff des literarischen Theils Namen wie Ludwig Steub, I. Zingerle, Karl Stieler und andere für den Erfolg bürgen, während die illustrativen Aufgaben in den Händen eines R. Püttner. F. Defregger, A. Gabl und Genossen wohl einer glänzenden Lösung sicher sein dürfen. Die in unsrer heutigen Nummer wiedergegebenen trefflichen Illustrationsproben von der Hand der beiden letztgenannten Meister werden unsre Hoffnung gewiß gerechtfertigt erscheinen lassen.

Der Gedanke des Werkes ist nicht gerade neu; er ist in frühern Jahrhunderten – wir erinnern nur an die Merian’schen „Topographien“ des siebenzehnten Jahrhunderts – vereinzelt, in dem gegenwärtigen aber mehrmals in ähnlicher Weise verwirklicht worden, in so plan- und lichtvoller Ausführung wie hier dürfte er jedoch noch nicht realisirt worden sein. Wenn wir das Unternehmen daher schon deshalb willkommen heißen, so geschieht dies in noch höherm Grade im Hinblicke auf das nicht zu unterschätzende volkspädagogische Moment, das ihm innewohnt, im Hinblicke auf die ihm zu Grunde liegende nationale Idee.

Ein rettender Adelsbrief. In den Erinnerungen eines russischen Publicisten von Fr. Meyer von Waldeck (Nr. 47, 1876 unseres Blattes) wurden einige interessante Aufschlüsse über die Hindernisse mitgetheilt, welche der Verlobung des Generals Todtleben entgegenstanden. Zur Ergänzung derselben mögen noch folgende authentische Mittheilungen dienen:

Bei Professor Dr. Hermann Hauff, bekannt als Verfasser mehrerer werthvollen eigenen Schriften und als Bruder des liebenswürdigen Erzählers Wilhelm Hauff, erschienen eines Tages auf der Stuttgarter Bibliothek, bei der er angestellt war, zwei fremde Herren. Der Eine derselben stellte sich als Darmstädter Consul, Namens Hauff, vor und erbat sich Auskunft über einen Adelsbrief, der dem Vernehmen nach in älteren Zeiten der in Württemberg ansässigen Hauff’schen Familie ausgestellt worden sei und noch in deren Händen sich befinde. Professor Hauff erinnerte sich auch wirklich, bei einem Verwandten dieses Namens, allerdings in jungen Jahren, einen solchen Adelsbrief gesehen zu haben. Derselbe sei, so viel er wisse, von einem deutschen Kaiser ausgestellt worden zu Gunsten einzelner um das Kaiserhaus verdienter Glieder der Familie Hauff, die später in Württemberg sich angesiedelt und fortgeerbt haben. Allem Vermuthen nach sei die auf Pergament geschriebene Urkunde gegenwärtig im Besitz des ältesten Sohnes jenes Verwandten. Dieser, damals Pfarrer in der Nähe von Tübingen, erhielt denn auch in Folge der erhaltenen Mittheilung eine Zuschrift, worin er ersucht wurde, den Adelsbrief, falls derselbe in seinen Händen sei, dem Herrn Consul Hauff auf einige Wochen zur Verfügung zu stellen, um mittelst desselben ein Hinderniß der Heirath seiner Tochter mit General Todtleben aus dem Wege zu räumen. Kaiser Nicolaus wolle die Verheirathung der Verlobten nicht gestatten, weil seine Tochter von bürgerlicher Herkunft sei.

Dem höflichen Ansuchen wurde bereitwilligst entsprochen, die Urkunde eingeschickt, höchsten Orts vorgelegt und echt und völlig ausreichend befunden. Nach Monatsfrist erhielt der Eigenthümer derselben das Actenstück mit entsprechender Dankbezeugung zurück. Beigelegt war ein Exemplar der russischen „Staatszeitung“, worin ein kaiserlicher Erlaß zu lesen war des Inhalts: „Da urkundlich nachgewiesen sei, daß die Tochter des darmstädtischen Consuls Hauff von altadeligem Geschlecht abstamme, stehe deren Verheirathung mit General Todtleben nichts mehr im Wege.“

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Kleiner Briefkasten.

Herrn L. Maison in Milwaukee. Also selbst in Amerika wird diese Frage aufgeworfen? Die Antwort ist einfach: Der Redacteur der „Gegenwart“ kann mit Dingelstedt von sich sagen: „Ich bin kein Jude, – leider nicht! – sonst hätte ich es weiter gebracht.“ Er selbst hat dies gelegentlich öffentlich ausgesprochen, und zwar schon in seinem ersten Buche, in welchem er in Heine’schen Versen eine Reise durch Venetien schildert. Er theilt da eine Unterredung mit einem österreichischen Paßbeamten mit, in welchem er ausdrücklich erklärt, daß „protestantisches Pastorblut in ihm riesele“.

Als Lindau wegen Veröffentlichung des bekannten Scherr’schen Aufsatzes verurtheilt wurde, hob das Obertribunal als besonders gravirend hervor, daß das Christenthum, „zu welchem Angeklagter sich selbst bekenne“, hier durch einen Christen gelästert sei. Darauf bezog sich auch Lindau in einer Polemik, die er mit einem ultramontanen Blatte hatte; bei dieser Gelegenheit wurde er wiederum als Jude heftig angegriffen, und er entgegnete darauf in Nr. 22 des siebenten Bandes der „Gegenwart“:

„Der Redacteur der ‚Gegenwart‘ ist zufällig kein Jude, weder ein geborener, noch ein getaufter, noch ein gelernter; wenn er es auch nicht liebt, von seinem unverdienten Christenthume öffentlichen Gebrauch zu machen. Es ist ein Verhängniß! Hier, wie in vielen früheren Fällen, wird von unsern publicistischen Gegnern als letzter Trumpf, der unsere Partie unrettbar verloren macht, das Judenthum gegen mich ausgespielt, während in dem Erkenntniß des Obertribunals als Motiv für scharfe Bestrafung hervorgehoben wurde, daß der Redacteur der ‚Gegenwart‘ sich selbst zu dem christlichen Gotte, der in dem von ihm geleiteten Blatte gelästert worden sei, bekenne. Es ist, wie gesagt, eine verzwickte Geschichte. Als Jude wird der Redacteur verbrannt – und als Christ auch.“

Uebrigens ist der Irrthum über das Bekenntniß Lindau’s ein sehr verbreiteter, und er selbst erzählte uns gelegentlich eine lustige Geschichte. Er fuhr auf der Bahn mit zwei Herren, die Lindau persönlich nicht kannten. Der eine derselben behauptete, Lindau sei ein Jude, der andere, er sei ein Christ; da rief der Erste aus: „Lindau heißt er; krause Haare hat er; Schriftsteller ist er. – Ist ein Jüd!“

A. B. in R. Wenn Sie uns als etwas ganz Besonderes mittheilen, daß in den amerikanischen Hinterwäldern in irgend einer neuen Ansiedelung Jemand eine Zeitung herausgiebt und dabei auf seine eigene persönliche Kraft angewiesen ist, indem er sie allein redigirt, setzt, druckt und vertreibt, so erwidern wir Ihnen darauf: Sie brauchen nicht in die transatlantische Wildniß zu gehen, um solche publicistische Wunder anzustaunen, Sie können solche vielmehr mitten im Herzen von Deutschland jeden Tag leibhaftig vor sich sehen. Der Besitzer und Redacteur des in den anhaltischen Landen viel gelesenen und stark verbreiteten „Bernburger Wochenblattes“, Herr Alexander Meyer, vollbringt seit wer weiß wie langer Zeit dasselbe, wie jener mythische Hinterwäldler, nur daß er dessen Leistungen insofern noch bei Weitem übertrifft, als er seine Artikel, gleichviel ob leitende, kritisirende oder referirende, nicht erst niederschreibt, sondern – wir bürgen für die Wahrheit – gleich aus dem Kopfe setzt. Herr Meyer kennt und schreibt kein Manuscript. Die bleiernen Lettern vertreten bei ihm die Stelle der Feder, und statt der Tinte bedient er sich gleich der Druckerschwärze.


  1. Beiträge für das Standbild werden von der Braunschweiger Bank entgegengenommen.
  2. Man vergleiche: „Abhandlungen der mathematisch-physikalischen Classe der königlich bairischen Akademie der Wissenschaften“, elfter Band, zweite Abtheilung, Seite 119 und folgende.
  3. „Aus dem Geistesleben der Thiere oder Staaten und Thaten der Kleinen“ von Dr. Ludwig Büchner. Berlin, A. Hoffmann. 1876.
  4. Verf. von Kein Herz“.
  5. Berichtigung: Lies in Nr. 17 auf S. 291, Z. 3 der Blätter und Blüthen statt obersteierische „untersteierische Veste“.
  6. Ganz wie bei uns!
    D. Red.