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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[1]

No. 1.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Jubelgruß der „Gartenlaube“.


Die Pforte auf zum festgeschmückten Jahr!
Am Eingang bleiben wir voll Andacht stehen,
Um auf den Weg, wo unser Ausgang war,
Und die durchmess’ne Bahn zurückzusehen.

5
Ein Wandern war es durch die lange Reihe

Von vierundzwanzig Jahren, und uns hebt
Die Brust der Schauer einer stillen Weihe
Vor dem Gewaltigen, das wir erlebt.

Wir zogen aus zur Fahrt am trüben Tag,

10
Wo kampfesmüd’ und hoffnungsarm am Boden

Das deutsche Volk in seiner Ohnmacht lag,
Beneidend die Verbannten und die Todten.

Da schaarten die Genossen wir zusammen,
Erst eine kleine Zahl, und doch auf’s Neu’

15
Erglühend an des deutschen Geistes Flammen,

Der Freiheit und dem Vaterlande treu. –

Jetzt wisset Ihr, warum einst Fest auf Fest
Wir feierten dem deutschen Geist zu Ehren:
Denn „daß Gott seine Deutschen nicht verläßt” –

20
Sollt’ alle Welt die nächste Zukunft lehren.


Die rechte Zeit kam zu dem rechten Volke –
Im Boden aller Herzen lag die Saat –
Die Sehne klang – der Pfeil flog durch die Wolke –
Und die Geschichte kränzt ein Volk der That.

25
Und treu zusammen, wie zur trüben Zeit,

Hat uns’re Schaar in Kampf und Sieg gehalten,
Und stolz bereit zum edlen Männerstreit
Steh’n Tausende von Jungen bei den Alten.

Und wie „Die Gartenlaube” mitgestanden

30
Und mitgesiegt in ihrer Helden Reih’n,

Zieht sie getrost in allen deutschen Landen –
Glück auf! – heut’ in ihr Jubeljahr hinein.




Aus gährender Zeit.
Erzählungen von Victor Blüthgen.
1.

Ein junges Mädchen stand in einer Mondnacht des Juni am offenen Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Es ist eine Weile her, fast dreißig Jahre. Die Häuser gegenüber, deren eines ein Hôtel zu sein schien, obschon keine der zwei- oder dreisprachigen Firmen, welche in Deutschland üblich sind, von dieser seiner Bestimmung Meldung that, lagen hell wie am Tage; der wassergefüllte Canal, welcher an Stelle des sonstigen Fahrweges die Mitte der Straße bildete, lief zur Hälfte schon im Schatten der einen Häuserreihe, während die andere mit blitzenden Wasserstreifen im Mondscheine lag, welche das Hingleiten des fließenden Wassers an der aufgemauerten Uferwand verursachte. Eine wunderliche Straße – eine Straße wie in der Märchenstadt Venedig, nur daß keine schwarze Gondel darüber glitt, weich und schattenhaft, und daß die Wasser nicht Meereskinder waren, welche neugierig durch die Wohnungen der Menschen hin plätscherten, sondern einem Bache angehörten, bis zu dessen Ufern sich zwei Theile einer Stadt einander genähert hatten. Die Trottoirs an den Seiten waren schmal; mehr als vier Menschen hätten sie bequem nebeneinander nicht passiren können.

Die Häuser zeigten die im Bergischen übliche Bauart; die meisten hatten eine glatte Front, welche mit Schiefer schuppenartig belegt war, und grüne Läden oder Jalousien, darüber unförmliche Riesendächer. Nur das Haus, in welchem das junge Mädchen sich befand, machte eine Ausnahme; es war ein wunderlich verschnörkelter Bau, dreistöckig, an die süddeutsche Art erinnernd und dem Anscheine nach sehr alt. Sein Schatten, wie er sich im Canale drunten abzirkelte, zeigte ein Gewirr von Spitzen und Ecken. Vier Stufen führten zu einer quer durchgetheilten Doppelthür, an deren unterer Hälfte ein mächtiger Ring von Eisen hing, seitwärts konnte man ein hohes Geschäftsfenster gewahren, dessen Laden geschlossen war. Stumm und geschlossen lagen alle Fensterläden der unteren Stockwerke sammt den Thüren in der stillen, mondbeschienenen Straße. Es war spät in der Nacht.

Das Erkerfenster, zu dem das Mädchen sich jetzt weiter hinauslegte, war ohne Licht, gleich allen anderen. Nur die wie mit Holzrippen durchgitterten Hôtelfenster im zweiten Stocke gegenüber lagen hell, und die Gäste, welche sich dahinter bewegten, waren deutlich erkennbar. Indeß kein Blick der mandelförmigen, dunklen Augen schweifte dorthin. Das ovale, volle, aber, wie es aussah, blasse Gesicht der Schönen neigte sich dem ruhig und kaum hörbar strömenden Wasser zu, und die Augen folgten dem blitzenden Spiele da unten, bis sie starr wurden und zu träumen begannen. Die laue Juniluft streifte um ihre Wangen und wehte leicht in den weißen Gardinen neben ihr. Das Geräusch der großen Stadt schlief bis auf einen schallenden Tritt in der Nebenstraße oder den Pfiff eines Nachtwächters in der Ferne.

Als sich die Hôtelthür gegenüber öffnete und ein Trupp später Gäste pfeifend und schwatzend auf die Straße schlenderte, zog

[2] das Mädchen rasch die Arme unter der vollen Brust hervor und die hohe, geschmeidige Gestalt trat in das Zimmerdunkel zurück. Ein paar Männer aus der Gesellschaft mochten sie doch erblickt haben, denn ein scherzendes „Gute Nacht, schöne Emilie!“ tönte hinauf, und sie stampfte, Worte des Verdrusses flüsternd, leicht mit dem Fuße auf. Die Thür öffnete sich dann noch einige Male, um Gäste herauszulassen; die Lampen drüben verloschen allmählich; das Hôtel schloß seine Augen wie die übrigen Häuser.

Spät noch trat ein Einzelner auf die Straße, warf die Thür heftig hinter sich zu und schritt, mit verhaltener Stimme das Ständchen aus Mozart's Don Juan vor sich hinsingend, über den schmalen Steg, welcher seitwärts von einer Querstraße her den Bach überbrückte.

Als er mitten auf dem schwankenden Brette stand, hielt er einen Moment inne und blickte den Canal hinunter bis dahin, wo die dunklen Brückenbogen die Kaiserstraße mit der Wallstraße verbanden. Das Mondlicht flimmerte auf dem hellen breitkrämpigen Strohhute, der sein bis auf ein Schnurrbärtchen bartloses Gesicht beschattete, und der schlanke, ungewöhnlich große junge Mann hob wie in Ekstase den rechten Arm empor und begann halblaut vor sich hin zu declamiren:

„Freiheit! Du schlachtenfreudiges Weib, das ich anbete, blitzäugige Walküre Du, wir wollen kämpfen. Wappne Dich mit der Wehr aus der Götterschmiede! Wir wollen den Tyrannen die Köpfe zerschlagen. Zweihundert begeisterte handfeste Männer und ein paar anständige Officiere für sie stelle ich Dir zur Verfügung, und wir werden ihrer mehr werden; wir werden wachsen wie das Schneekorn, das über die Winterhänge der Alpen rollt. Und wenn uns die Teufel mit zehn neuen Baststricken binden: wir werden die Kraft von zehnmal zehn Simsons zeigen. Zu Boden mit den Schergen! Zu Boden!“

Seine kräftige Gestalt hob sich höher, und das Brett zitterte unter ihm. War es nur der verhaltene Ausbruch einer heißblütigen Natur, der aus ihm sprüht, oder war es echte Begeisterung? Oder hatte auch der Wein des Wiedenhofes drüben seinen Antheil an der letzteren?

Er nahm den Hut vom Kopfe. „Ich wollte, ich könnte mich hier baden,“ murmelte er; „ich möchte der Nix dieser Pfütze Wassers sein, wenn es nur nicht über allen Kehricht zu laufen hätte. Mir ist heiß, als ob ich ein Glas voll Grog wäre.“

Ueber ihm im Fenster lehnte sich ein Weißes heraus und halblaut und dringend rief es hernieder: „Heinrich!“ Ueberrascht blickte er auf, und seine Haltung ward plötzlich eine ruhigere. Er durchmaß schnell die paar Schritt bis zum Ufer und trat so vorsichtig, wie er vermochte, unter den Erker. „Heinrich,“ flüsterte das junge Mädchen droben, „Du mußt warten; ich will und muß Dich sprechen. Gott verzeih' mir's, aber ich kann nicht anders.“

„Komm!“ sagte er hinauf und nickte, und dann setzte er den Hut wieder auf und bog, als er nach einer Pause das leise Knarren der Hausthür vernahm, in die Seitenstraße, welche auf den Steg mündete. Es war ein schmales Gäßchen, in welchem die silberne Dämmerung der Mondesschatten webte.

Die helle Gestalt des Mädchens schritt rasch auf ihn zu und lag einen Moment leise weinend an seiner Brust. Er schlug die Arme um sie und bog sich nieder, um sie zu küssen. „Heinrich,“ stieß sie angstvoll heraus, „es muß anders werden mit uns; wir müssen die Mutter zu gewinnen trachten und das bald, sonst wäre ich wahrlich nicht herunter gekommen zu Dir bei der Nacht, gegen alle Zucht und gegen eine Stimme in mir, die mich warnte. Du darfst nicht den Stolzen und Trotzigen spielen, und Du darfst die Mutter um ihrer Schwächen willen nicht beleidigen – – aber nein, nein – es ist doch alles vorüber; ich sinne und zersinne mir den Kopf und weiß keine Hülfe zu finden.“

Er preßte sie fest an sich, so fest, daß sie hätte aufschreien mögen, und sagte endlich: „Hast Du Sorge, daß wir uns verlieren? Ich hoffe, daß der Himmel und meine guten Engel, wenn ich deren habe, uns beisammen halten werden. Und nun weine nicht und nimm Deinen lieben Kopf zusammen! Ich kann nicht Weiber weinen sehen und Dich am wenigsten. Sei stark, Milli, und sprich, was Dich ängstigt! Du weißt, daß ich der Letzte bin, welcher verzweifelt.“

Sie machte sich aus seinen Armen los und nahm das Tuch, das sie in der Eile umgeschlagen hatte, fester um die Schultern. „Wir werden doch nicht gesehen werden?“ fragte sie ängstlich. „Bist Du denn nicht im Club gewesen, und wo kommst Du jetzt schon her?“

„Es war zuviel Tabaksrauch oben,“ entgegnete er ein wenig nachlässig; „Du weißt, ich kann ihn nicht vertragen, und die da oben können erst donnern, wenn sie in Wolken sitzen. Sie sind herrlich im Zuge, und Dein Bruder ist ein geborener General. Es ist Volk unter ihnen, daß sich Gott erbarm! Aber wir brauchen sie alle, wenn die Stunde schlagen wird; wir erlösen die Freiheit, mein Engel, und der Freiheit Glockenläuten wird unser Hochzeitsgeläute sein. Mit oder ohne Blut,“ setzte er hinzu, „gleichviel; das Morgenroth ist auch blutig – –"

„Still!“ unterbrach sie ihn und horchte. Ein Wächter schlürfte durch die Canalstraße, und sie standen einen Moment lautlos, bis der Schritt in der Ferne verhallte. „Laß das jetzt, Heinrich! Wir haben Anderes zu reden. Es ist Jemand zurückgekommen aus Amerika: Franz Zehren ist wieder da.“

„Das wäre!“ fuhr der junge Mann auf. „Und er ist wieder Deiner Mutter erklärter Günstling wie vordem? Ein Mensch, der taub ist wie eine Nuß und trocken wie eine Backbirne, ein Mensch, der, glaube ich, kaum soviel Galle besitzt, wie man nöthig hat um einen Tropfen Wassers zu verbittern! Wie bezeichnend, daß er sich nicht wohl fühlt in einem Lande, wo es kein Königthum, keinen Adel und keine Spione giebt! Doch halt – irre ich nicht, so ist er ja der Erbe der Wattenfabrik Zehren und Compagnie. Ich habe auch seinen Onkel mit curiren helfen, nachdem ihn die Wassersucht schon beim Kragen hatte. Ist es nicht so, Emilie? – Nimm meinen Arm, Schatz, und laß uns einen Augenblick auf und nieder gehen! Das sieht unschuldiger aus, als wenn wir hier wie angewurzelt einander gegenüberstehen.“

Sie legte ihren Arm in den seinen, und dann schritten Beide langsam die kurze Gasse hinunter und wieder zurück. „Es ist wahr,“ sagte das schöne Mädchen, „er ist zurückgekehrt und reich geworden, reicher als man geglaubt hat. Acht lange Tage habe ich Dich nicht gesehen, und an jedem dieser acht Tage hat er ein paar Stunden bei uns zugebracht. Wie es die Mutter anfängt, sich mit ihm zu unterhalten, ohne die Geduld zu verlieren, verstehe ich nicht. Sie verständigen sich leider noch immer wenigstens so gut wie früher. Aber das ist alles Nebensache, Heinrich; er hat heute zur Mutter gesagt, daß er mich zur Frau wünsche, daß er mich leidenschaftlich liebe, wie vor Jahren –“

„Und,“ fügte der junge Mann hinzu, als sie wie vor innerem Widerwillen inne hielt, „die kluge Mutter hat eingesehen wie alle anderen klugen Mütter, daß es nichts Erwünschteres für ihre Tochter giebt als eine gute Versorgung und eine Hand, welche sie gegen sich selbst und gefährliche Männer schützt, welche keine 'guten Partien' sind.“

„Ich hasse ihn,“ fuhr sie leidenschaftlich auf, dann aber dämpfte sie die Stimme wieder und sprach weiter: „Zehren ist gewiß nicht dumm; er hat ein edles Gesicht. Aber er hat dabei etwas so Fertiges, so Unfehlbares, so Gleichmäßiges, daß ich ihm jede Beleidigung anthun könnte, nur um ihn aus dem Gleichgewichte zu bringen. Er steht da wie ein Heiliger, der zum Anbeten fertig geworden ist. Rette mich vor dem Menschen, Heinrich, oder ich werde unglücklich! Entführe mich, wenn es nicht anders geht! Du hast Freunde allenthalben, und es wird ja wohl irgend ein mitleidiger Pfarrer darunter sein, der uns zusammenspricht ohne ein anderes Ja und Amen als unser eigenes. Ich denke, daß ich meinen Bruder bewege uns behülflich zu sein; Du weißt, wie schwärmerisch er mich liebt, und ich habe Dir schon gesagt, daß er große Stücke auf Dich hält. Du bist Arzt und ungebunden; Du kannst Dich niederlassen, wo Du willst.“

Ihr Begleiter lachte kurz auf. „Du bist eine Himmelstürmerin,“ sagte er, „aber Du hast Muth. Ich denke, ich rede erst mit Deiner Mutter.“

„Nein, nein – sie hat ihm schon das Versprechen gegeben, daß ich die Seine werde; kein Mensch weiß sich zu erinnern, daß sie ein verpfändetes Wort zurückgenommen hat. Sie ist von Stahl und Eisen.“

„Gleichviel! Ich bin zu Allem fähig, aber ich greife nicht zum Aeußersten ohne Noth. Ich bin hier schwer entbehrlich, liebes Herz; ich muß helfen ein Werk thun, das ohne meine Mitwirkung leicht zusammenfällt, ein Werk für die Menschheit, Milli. Ich werde ein Stück Heiland sein, wenn es gelingt, und es ist süß, ein lebendiges Denkmal zu sein, dessen Piedestal tausende [3] dankbarer Menschen bilden. Wenn ich Dich aber so theuer bezahlen muß, nun – dann will ich auch das Opfer bringen, will das Blatt zerreißen, auf das ich meine Zukunft berechnet habe. Du Stolze, Du Prächtige, ich liebe Dich, und soweit es auf mich ankommt, soll Dich Niemand besitzen außer mir.“

Sie standen am Ausgange zum Canale. Wieder schlug er den Arm um sie; um seine Nüstern zuckte es stolz und sein Auge ruhte brennend auf ihrem erregten Gesichte. Das Blut floß ihr zu Kopfe; sie wand sich los und sah ihn ernst an. „Schwöre mir, daß Du mich retten willst! Ich müßte sterben, wenn ich das Weib jenes Mannes werden sollte.“

„Ich schwöre es,“ sagte er.

„Ich danke Dir, Heinrich. Gute Nacht, und habe mich lieb!“ Sie schritt flüchtig um die Ecke und eilte die Stufen hinauf. Gebückt schlüpfte sie unter dem oberen Thürflügel durch, schob den unteren so vorsichtig wie möglich zu und steckte den schweren Holzriegel durch die Klammern. Einen Moment stand sie hochaufathmend drinnen und horchte, ob sich im Hause etwas regte. Die alten Treppen knisterten leise, und eine Maus arbeitete irgendwo im Holzwerke. Die Uhr im lutherischen Kirchthurme in der Nähe schlug Eins, und ein paar andere Thurmuhren folgten. Milli schien das Geräusch benutzen zu wollen, um dasjenige ihrer Schritte zu verdecken, denn sie huschte geschwind die Stufen hinauf.

Als sie über den Corridor ging, der zu ihrem Zimmer hin führte, sah sie, wie ein Lichtstrahl durch eine Thürritze über die Dielen des Bodens fiel, und gleichzeitig knarrte eine der Dielen unter ihrem Tritte laut und häßlich. Sie wurde bleich und griff nach ihrem Herzen. Sie wollte weiterschleichen, aber die Thür vor ihr öffnete sich, und der volle Schein einer Kerze strahlte auf ihr verstörtes Antlitz. Auf der Schwelle stand die Strenge, Gefürchtete: ihre Mutter, die nothdürftigsten Kleidungsstücke umgeworfen, die Nachthaube auf dem Kopfe, deren tadellose Weiße das derbe, energische Gesicht mit den scharfen braunen Augen nur noch dunkler röthete, als es ohnehin schon war.

„Mutter,“ stammelte das junge Mädchen, „sind Sie noch wach? Ich war drunten, weil ich glaubte klopfen zu hören und vermuthete, Karl sei vor der Thür und wolle aufgeriegelt haben.“

„Komm näher!“ entgegnete die alte Frau lakonisch, und dabei wandte sie sich um und stellte das Licht auf den Nachttisch, indem sie es der Tochter überließ, die Thür hinter sich zu schließen. Sie setzte sich dann in einen Rohrstuhl, legte ein Tuch über die Füße und forderte die Tochter mit einer kurzen Geberde auf, gleichfalls Platz zu nehmen.

„Du wirst die Güte haben, Emilie, mir ohne Umschweife und Winkelzüge zu erklären, was Dich um diese Stunde noch in voller Kleidung hält und was Du da unten zu suchen hattest. Dein Bruder Karl ist Mann und mag verantworten, was er die Nächte über angiebt, welche er vorzieht, außer dem Hause zuzubringen. Von meiner Tochter wünsche ich Aufschluß über nächtliche Irrfahrten.“

Das junge Mädchen hatte seine feste Haltung wiedergefunden; bei der letzten Aeußerung der Mutter stieg ihr das Blut in die Wangen. „Ich denke, meine Mutter wird wissen, daß ich nicht danach erzogen bin, um die Gebote der Schicklichkeit mit nächtlichen Irrfahrten zu überschreiten,“ sagte sie ausweichend, aber ohne zu stocken.

„In der That, recht schön gesagt, Emilie, Du bist leider emancipirt genug von dem Einflusse Deiner Mutter, als daß es Dir zukäme, Dich auf die Wirkungen meiner Erziehungsweise zu berufen.“

Das junge Mädchen sah einen Augenblick vor sich nieder. „Ja,“ sagte sie dann, wie mit plötzlichem Entschlusse, „ich habe meinen Willen, Mutter, und ich will ihn haben. Kein göttliches Gesetz hat die Kinder zu willenlosen Sclaven der Eltern gemacht. Ich habe auch ein Herz, Mutter, und mein Herz hat seine eigenen Empfindungen und Wünsche. Ich würde nicht jedes Schicksal tragen können, aber das Schicksal, welches ich mir wünsche, trüge ich, und wenn es im tiefen Elend endigte, weil ich es gewollt habe, und wenn ich mir Disteln und Dornen zum Lager bereite, dann habe ich Kraft genug, darauf zu schlafen. Aber wenn mich eine andere Hand in's Elend wirft,“ fuhr sie mit erhobener Stimme fort, „dann kann sie mir nicht zugleich die Kraft mittheilen, darin auszuharren, in mir selber aber würde ich sie nicht finden.“

Sie war aufgestanden; ihre Augen blitzten, und ihr voller Mund war von Stolz geschürzt, ohne daß sie die plastische Haltung verlor, welche dem vollen, ebenmäßigen Bau des schönen Mädchens eignen zu müssen schien.

„Das Blut unseres Ahnherrn!“ murmelte die alte Frau, indem sie, die Stirn runzelnd, eine Weile bei Seite blickte; „wir haben es alle.“

Dann deutete sie wieder mit ausgestrecktem Finger auf den Holzstuhl, auf dem Emilie gesessen hatte und der so farben-unbestimmt und verwittert aussah, wie das ganze Meublement dieser Kammer. „Du bist eine Närrin,“ sprach sie schneidend. „Du hast Verstand genug für fünf Mädchen, aber Du willst ihn nicht gebrauchen, weil ihn Dein sogenanntes Herz nicht zum Reden kommen läßt. Ich habe nie verlangt, daß Du meine Sclavin sein sollst, aber ich wünsche jenes Vertrauen von Dir, welches den Gehorsam des Kindes gegen seine Eltern begründet. Du sollst glauben, was ich Dir sage: nämlich daß in Deinen Jahren der Mensch einen ungesunden Ueberschuß an Herz hat, und daß er alle die Phantasien und Träumereien, an welche er sein Glück hängt, belächeln wird, wenn er zwanzig Jahre älter sein wird und Herz und Kopf im Gleichgewicht sein werden. Wir Alten waren, was Ihr seid, und wissen, wie es um die Jugend beschaffen ist, und das ist der Grund, warum wir Gehorsam fordern und zu fordern ein Recht haben. Ich weiß, was Dir im Kopfe spukt, Milli,“ fuhr sie ruhigeren Tones fort. „Ich weiß, daß Du an jenem unruhigen, zerfahrenen Menschen hängst, an dem keine geordnete Faser ist, der wie ein Feuerwerk umherprasselt und der selber keinen Gott und kein Glück hat und keine Seele glücklich machen kann –“

„Beschimpfen Sie den Mann, den ich liebe, nicht, Mutter, wenn Sie nicht wollen, daß ich das Zimmer verlasse oder mir die Ohren zuhalte! Ich will Ihnen sagen, worin sein ganzes Verbrechen besteht: darin, daß er keine friedliche Rechenmaschine ist wie dieser – dieser – Zehren, daß er keinen Onkel zu beerben hat, daß er verschmäht, Ihnen – den Hof zu machen – – – ach, Mutter – mein Gott, ich bin von Sinnen – verzeihen Sie einer Unglücklichen! Ich durfte Sie nicht kränken, nicht so grausame Worte sagen –“

Sie war zu der alten Frau hingeeilt, welche die Heftige, außer sich Gerathene starr angeblickt hatte und dann mit geschlossenen Lidern in den Sessel zurückgesunken war, und sie lag vor ihr auf den Knieen, die Augen in Thränen gebadet und ihr die kalten weißen Hände streichelnd. Langsam lösten sich diese Hände aus den ihrigen, und die Frau richtete sich aus dem Sessel auf und trat zur Seite, ohne der Reuigen, welche angstvoll zu ihr hinaufsah, einen Blick zu gönnen. „Du kannst gehen, Emilie,“ sagte sie bitter. „Dein Platz ist zwei Zimmer weiter.“

Bei dem jungen Mädchen verflog die weiche Stimmung mit der nämlichen Schnelligkeit, mit welcher sie gekommen war. Sie erhob sich rasch und verließ mit einem tonlosen „Gute Nacht, Mutter!“ das Zimmer. Das ihrige war bald erreicht. Das Fenster stand noch offen, und sie lehnte sich noch einmal hinaus und trocknete still die brennenden Augen. Der Mond war tiefer gegangen; die Nachtluft wehte kühler von dem verdunkelten Canal herauf. Ueber die steinerne, mächtige Bogenbrücke rechts drüben huschte es wie ein größerer Trupp Menschen, welche es eilig hatten, und hinter ihr in der Kammer der Mutter glaubte sie diese murmelnd und hüstelnd auf- und niedergehen zu hören.




2.

Der junge Arzt stand noch einige Zeit an der Hausecke, nachdem die helle Gestalt des jungen Mädchens in der Hausthür verschwunden war, und rieb sich, während er nachdachte, mechanisch die Stirn. „Enfin – was kann's nützen?“ meinte er endlich halblaut. „Daß ich sie liebe, fühle ich mehr als deutlich; eine Königin, Feuers und Geistes voll – das ist sie, wie ich sie haben muß, um guten Muthes in Fesseln zugehen. Was finge Unsereins mit einer Frau an, die sich darauf capriciren würde, ihn für die Häuslichkeit zu gewinnen und ihm den Hausschlüssel vorzuenthalten! Ich fürchte, in vier Wochen säße sie wieder bei der Frau Mama am Fenster und stickte ein Canevas-Muster, wie sie es während der Unschuldszeit ihrer Mädchenjahre gethan hat.“

„Heirathen! Und eine Entführung dazu! Ich habe kein Loth [4] sentimentaler Romantik in mir. Um eine Familie zu ernähren, müßte ich endlich damit beginnen, meine Praxis zu pflegen und sogar nervöse Damen zu curiren, wenn es verlangt würde. Warum nicht? Man kann jeden Beruf als melkende Kuh betrachten, wenn es sein muß. Bei Gott, ich ertrüge es nicht, zu sehen, ohne dumme Streiche zu machen, daß sie mit einem Einfaltspinsel wie Zehren als Mann über die Straße geht. Ich wäre im Stande, sie vor allem Volk von ihm loszureißen und mit ihr weiterzugehen. Und so sei es denn! Komme, was wolle! Das Beste ist, ich rede zunächst mit Karl, mit dem Pascha von sieben Roßschweifen. Er wird ja noch in der Schlucht drüben sein, und ich bin nicht in der Laune, etwas auf morgen zu verschieben, was ich heute thun kann.“

„Vorwärts!“ rief er, und stieß einen Stein mit der Fußspitze vor sich hin, daß er beim Steg in's Wasser rollte. Er passirte wieder das Brett und schlenderte das Ufer hinunter, an dem Hotel vorbei, dem er nicht die geringste Beachtung schenkte, vielmehr wollte er weiterhin bei der Kaiserbrücke in die breite Wallstraße einbiegen, stutzte indeß einen Moment bei der Ecke, da zwanzig Schritt hinunter zwei Menschen im Schatten der linken Häuserreihe in eifrigem Gespräch standen, deren einer, wie sein scharfes Auge leicht bemerkte, den blinkenden Helm des Soldaten oder Polizei-Lieutenants auf dem Kopfe trug. Militär war nicht am Orte, und somit zweifelte er keine Secunde, daß dort Polizei stehe.

„Zum Teufel,“ murmelte er überrascht, „wie kommen die Beiden vor die Thür da? Ich will nicht hoffen, daß sie Witterung haben und im Hinterhalte liegen. Da muß Rath geschafft werden auf alle Fälle. Wenn ich nicht irre, so ist es Donner, welcher da spionirt; das wäre noch Glück im Unglück.“

Er ging so behaglich wie möglich vorwärts, indem er zu singen begann:

„Bei der Nacht um halber Eine
Macht sich Donner auf die Beine,
Und dann denkt er siegbewußt:
Schleppen, schleppen – welche Lust!“

Es war das ein Spottvers, der in aller Munde war und sich auf das nächtliche Verhaften politisch Verdächtiger bezog; „schleppen“ war der technische Name dafür.

„Wer ist das?“ fuhr der Polizeibeamte auf und that rasch ein paar Schritte auf den verwegenen Sänger zu. „Wer wagt hier mich zu höhnen?“

„Halten Sie mich nicht auf meinem Berufswege auf, Commissar, oder Sie laden ein Menschenleben auf Ihr Gewissen!“ sagte der junge Mann lachend. „Uebrigens bin ich erbötig den Beweis der Wahrheit anzutreten.“

„Sie sind es, Doctor?“ meinte der Polizeicommissar ärgerlich lachend. „Kranke besuchen, he? Ist aber verdammt zeitig noch für Sie; aus dem Bett hat Sie doch jetzt noch Niemand klingeln können. Glaube nicht, daß Sie vor zwei Uhr zu Hause zu finden sind, und wüßte gern, wie man Ihrer habhaft geworden ist.“

„Nur durch einen unangenehmen Zufall,“ war die launige Antwort. „Wie wär's, Freundchen, wenn Sie Ihren Nachtrath dort“ – er zeigte auf den Wächter in der Nähe – „stehen ließen und mich ein Stück begleiteten? Es wird schon, wenn mein Patient besorgt ist, noch irgendwo eine anständige Flasche Mosel für uns zu finden sein. Ich habe Ihnen unter der Hand einen Wink zu geben, der Ihnen einen Orden sammt Beförderung eintragen kann. Der Zufall hat mich heute an einen Ort geführt, wo es viele Menschen giebt – sehr viele! Sie verstehen mich wohl, Mann des Gesetzes!“

Der Commissar blickte ihn zweifelnd an und sah dann zu der Thür hinüber, vor welche sich der Wächter breit hingepflanzt hatte. Die Thür schloß einen jener Schlupfgänge ab, wie sie in rheinischen Städten als bequeme Verkehrswege zwischen Hof und Straße vielfach die Häuser durchbohren.

„Reden Sie im Ernst, Doctor, oder wollen Sie mich zum Narren haben?“ flüsterte der Beamte, nahe an den Arzt herantretend, welcher mit überlegenem Lächeln auf sein fast um einen Kopf kleineres Gegenüber heruntersah. „Glaubte, ehrlich gesagt, etwas Aehnliches auf der Spur zu haben. Ein unruhiges Volk das, hier in den Rheinlanden; mit den Arbeitern hat man schon seine Noth, denn sie können das Messer nicht in der Tasche behalten, und jetzt wiegelt man gar die Bürger und Handwerksleute gegen die Obrigkeit auf; ich wollte, daß ich im Osten geblieben wäre!“

„Nun, nun, Freundchen,“ meinte der Doctor mit gutmüthigem Ausdrucke, „nur nicht zu weit im Osten. Ich dächte es wäre nicht viel über ein Jahr, daß sie die Polen abgefangen haben. Aber was gehen mich die Polen an! Ich befleißige mich ein friedlicher Staatsbürger zu sein, verabscheue alle Arten von Kugeln, ausgenommen die Pillen, und alles Pulver, welches nicht in der Apotheke zubereitet wird, und würde ein wenig Revolution höchstens darum nicht ungern sehen, weil es blutige Köpfe dabei absetzen würde. Daß wir der Freiheit entbehren, kann ich für meine Person nicht einsehen, da mich noch Niemand gehindert hat, meinen Abendtrunk zu mir zu nehmen, wie und wo ich wollte. Aber nun kommen Sie!“ fuhr er dringender fort, „es wird Zeit, daß ich zu meinem Patienten komme, und für Sie giebt es vielleicht noch heute zu thun. En avant!“

Es lag in der ganzen Art des Sprechers etwas, was eine Ablehnung schwer machte. Der Beamte schwankte noch einen Moment, dann rief er der Nachtwache zu: „Halten Sie sich einstweilen in der Nähe auf, Gräbner! Vielleicht daß doch etwas passirt.“ Dann gingen die beiden Männer hallenden Schrittes die Straße hinunter.

Der Doctor verbarg seine innere Unruhe mit bewunderungswürdiger Selbstbeherrschung. „Ich habe eine leise Ahnung von dem, was Sie suchen, alter Freund,“ meinte er nachdrücklich, als er bemerkte, daß sein Begleiter nicht eben zufrieden mit sich schien und mehrmals dahin zurückblickte, wo er den Wächter verlassen hatte. „Es gährt hier; es ist etwas in der Luft wie Pulvergeruch.“

„Das weiß Gott,“ seufzte der Commissar. „Es gäbe ein niedliches Leben für uns, wenn es wirklich zum Aufruhr käme. Ich hoffe indeß, wir werden tüchtig dahinter sein, daß aller Unfug erstickt wird, ehe er uns über den Kopf geht. Es ist nicht zu begreifen, was die Menschen heutzutage zu raisonniren haben, denn ich möchte wissen, wo es ordentlicher zuginge als bei uns. Aber wenn Schuster und Schneider mitregieren wollen, dann kann es freilich nur Unordnung geben. Ich sage Ihnen, Doctor, sie sollen bei Leisten und Scheere bleiben, sonst werden ihnen die Finger geklopft. Uebrigens – wie ist mir denn?“ – er trat einen Schritt zurück, schnippte mit den Fingern und warf einen scharfen Blick auf seinen Begleiter –, „Sie sind ja auch nicht ganz sauber; wir haben so etwas läuten hören –“



(Fortsetzung folgt)



Die Zeit der Rosen.

In den lauen Lenzestagen
Wehn im Wald die Lüfte weich;
Lerchen singen, Drosseln schlagen;
Busch und Baum stehn blüthenreich.

5
Und der Schwan zieht leise, leise

Auf dem Weiher seine Kreise,
Dem die Welle silbern schwoll.
Zeit der Düfte, Zeit der Rosen,
Wo die Lüfte lauer kosen,

10
Sprich, was all dein Locken soll?!


Und die Jungfrau schön und wonnig.
Schlank an Wuchs, an Gliedern fein.
Morgenfrisch und lenzessonnig,
schreitet leichtgeschürzt waldein.

15
O, von zwanzig Sommern hangen

Gluth und Luft ihr auf den Wangen;
Sinnig lacht der Mund dazu.
Zeit der Düfte, Zeit der Rosen
Wo die Lüfte lauer kosen.

20
Sie ist just so schön wie du.


Und vom Strauche Ros’ um Rose
bricht sie mit der weißen Hand,
Mischt sie leise, flicht sie lose,
Schlingt darum ein duftig Band,

25
Küßt sie dann mit heißem Sehnen,

Ach! und lächelnd unter Thränen
Flüstert seinen Namen sie.
Zeit der Düfte, Zeit der Rosen,
Wo die Lüste lauer kosen,

30
Schwändest, traute, du doch nie!
Ernst Ziel


[5] 

Die Zeit der Rosen und der Träume.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Professor Paul Thumann in Berlin.

[6]
Aus dem Herzensleben unseres Lieblingsdichters.
von Fr. Helbig.
I.

Wenn das Facit eines glücklichen Lebens wesentlich gewonnen wird durch ein glückliches Lieben, so ergiebt das Leben unseres größten nationalen Dichters Schiller eine der günstigsten Bilancen. Während das Liebesleben Goethe’s ein durchaus zerstücktes und fragmentarisches war, das bei aller Reichhaltigkeit doch in keinem Falle zu einem befriedigenden Abschlusse gekommen ist, war dagegen das Lieben Schiller’s so machtvoll concentrirt und so hoch veranlagt, daß es die ganze Fülle seiner Segnungen entfalten konnte. Und so gewahrt es auch einen hohen und reinen Genuß, dem Werdeprocesse dieser naturgemäß in eine glückliche Ehe verlaufenden Liebe Schiller’s auf Grund der urkundlichen Überlieferungen, namentlich der brieflichen Correspondenz, nachzugehen. Wenn wir die Leser der „Gartenlaube“ bitten, uns auf diesem Gange zu folgen, möge uns nur die Versicherung noch gestattet sein, daß wir dabei alles novellistische Beiwerk geflissentlich gemieden und daß die von uns gezogenen Schlüsse lediglich Thatsachen zur Voraussetzung haben.

Zwei Begegnungen.

Wir versetzen uns nach Rudolstadt, der anmuthigen Residenz eines thüringischen Kleinstaates. Dort lebt – es ist im Jahre 1787 – im eigenen frei an einem Berge gelegenen Hanse die Forstmeisterswittwe Johanne von Lengefeld mit ihren zwei Töchtern Caroline und Charlotte. Jene, die ältere, ist mit dem Kammerherrn und Legationsrathe von Beulwitz verheirathet. Die Ehe ist kinderlos, der Gatte lebt mit im Hause. Caroline war eine zarte sensible Natur, der ein nervöses Leiden eine gewisse schmerzliche Verklärung aufgedrückt hatte; ihr ganzes Wesen überhaupt trug einen ernsten Grundton. Ihr nicht gewöhnlicher, fast männlich gearteter Geist neigte sich zu einen, reflectirenden Innenleben, während im vollen Gegensätze dazu auf dem nicht eben regelmäßig schönen, aber herzlich gewinnenden Gesichte der jüngern Schwester eine sanfte Heiterkeit ausgegossen lag, welche in der That auch der Reflex ihres Seelenlebens war und sie zu einer unbefangenen kritiklosen Entgegennahme der Dinge außer ihr, namentlich zu einer theilnehmenden Freude an den Vorgängen und Erscheinungen der Natur stimmte. Beide Schwestern lebten in einer innigen Vertraulichkeit, die in der Liebe zur Mutter einen gemeinsamen Mittelpunkt hatte. Der Gatte Carolinens, ein etwas trockener Berufsmensch und in Folge seiner mannigfachen Berufspflichten oft etwas übel gelaunt, stand dem Kreise geistig ziemlich fern. Die Familie war vor Kurzem erst von einem längern Aufenthalte in der Schweiz, am Genfersee, zurückgekehrt. Dort hatte Lottchen Fertigkeit in der französischen Sprache und Weltton sich erwerben sollen, um sich für den Beruf einer Hofdame vorzubilden. Wieder eingetreten in die alten vielfach beschränkten Verhältnisse der kleinen Residenz, empfinden die jungen Frauenseelen jetzt oft eine wehmüthige Sehnsucht nach den blauen Firnen der Alpen, unter deren Einflusse ihnen die gewohnte Umgebung altmodisch und langweilig erscheint. Der Contrast zwischen dem freien und heitern Leben der französischen Schweiz und der „geschmacklosen Förmlichkeit“ eines kleinen Hofes fordert dicht neben der Wehmuth einen muthwilligen Humor heraus. Dann flüchten sie wohl aus der sie umschließenden Einsamkeit in das bunte Reich der Phantasie und vergleichen sich mit verwunschenen Prinzessinnen, die hinter ihren grünen Bergen auf Erlösung harren. Und diese Erlösung kam.

An einem trüben winterlichen Tage – es war der sechste December 1787 – kamen zwei Reiter die Straße heraus, tief in Mäntel verhüllt. Der eine hatte, offenbar um nicht erkannt zu werden, das ganze Gesicht bis dicht unter die Augen verdeckt. Die Damen standen, nicht ohne Neugier am Fenster. Als die Reiter vor dem Hause angekommen waren, hielten sie still. Der Mantel fiel, und ein Vetter des Hauses, Wilhelm von Wolzogen, entpuppte sich als der Eine. Den andern stellte er noch auf der Straße als seinen Freund und Studiengenossen von der Württemberger Karls-Akademie, Friedrich Schiller, vor. Beide baten um die Erlaubniß, den Abend in der Familie zubringen zu können.

Es war nicht die erste Begegnung der jungen Damen mit dem damals schon bekannten und gefeierten Dichter der „Räuber“, des „Fiesco“ und der „Luise Millerin“. Auf der Rückreise von der Schweiz machten sie eine kurze Rast in Mannheim. Die Mutter ließ sich bei Schiller, der damals dort als Theaterdichter lebte, anmelden, um ihm Grüße von seinen Eltern zu bringen, mit denen sie auf der Solitüde zusammen getroffen war. Sie traf Schiller nicht an. Als sie jedoch im Begriffe standen wieder abzureisen und der Wagen bereits harrte, kam der Dichter noch heran, die Damen zu begrüßen. Damit war die Bekanntschaft nur auf ein paar flüchtige Momente beschränkt. Es blieb nicht einmal soviel Zeit übrig, um ein Gespräch über Fiesco und die in der „Anthologie“ erschienenen Gedichte anzuknüpfen, welche die Gemüther der Schwestern sehr angesprochen während die „Masse von wildem Leben“ in den „Räubern“ sie abgestoßen hatte. So fiel kein Wort, das lebhaften Antheil hätte erregen können. Ohnedies waren die Herzen der Damen noch zu voll von den großen Eindrücken der Alpennatur. Von der kurzen Begegnung war nur der Eindruck der äußeren Gestalt Schiller’s verblieben, einer hohen und edlen Gestalt, die „zwar etwas Frappirendes, aber andererseits doch wieder so viel Weiche und Sanftmuth hatte, daß man sich wundern konnte, daß ein so gewaltiges und ungezähmtes Genie ein so sanftes Aeußere haben konnte.“ Ebenso eindruckslos war die Begegnung auf Schiller geblieben. Auch den jetzigen Abstecher nach Rudolstadt auf der Heimreise der beiden Freunde von dem Wolzogen’schen Gute in Bauerbach bei Meiningen hatte er ohne Neigung, ja mit einem gewissen Widerstreben und nur auf Drängen des Freundes gemacht.

Lottchen, der jüngeren Schwester, kam der Besuch auch nicht ganz gelegen. Sie fühlte sich an dem Tage gerade nicht recht wohl, hatte Kopfschmerzen und beschloß deshalb, wie immer, ihrer älteren Schwester die Führung der Unterhaltung allein zu überlassen. Diese aber redete ihr, wie von einer inneren Ahnung der Bedeutsamkeit dieser zweiten Begegnung getrieben, lebhaft zu, von ihrer sonstigen Gewohnheit diesmal abzulassen. Sie versprach es denn auch, jedoch „lediglich aus Gefälligkeit zu Carolinen“. Die Gemeldeten kamen, und der Abend verging unter Clavierspiel und Gesprächen. Lottchen hielt Wort. Sie sprach weit mehr als gewöhnlich, weil sie den Geist des vetterlichen Freundes nach ihrem späteren Geständnisse an dem Abende sehr interessant fand. Man sprach über dessen Gedichte, über die Briefe von Julius an Raphael, welche man kannte. Als derselbe jedoch seiner neuesten Dichtung, des „Don Carlos“, Erwähnung that, bekannte man aufrichtig, dieselbe noch nicht gelesen zu haben. Schiller versprach sie mitzutheilen. Es war keine kritische Basis, auf der man sich bewegte. Man gab sich einfach, unbefangen, natürlich, „aus Liebe zum Geistigen, aus der Wärme herzlicher Empfindung“. Der Eindruck der kurzen flüchtigen Stunden war diesmal ein nachhaltiger. Er erzeugte den Wunsch einer Fortsetzung des angeknüpften Verhältnisses. Schiller stellte sogar seine Wiederkehr an einem der nächsten Sonntage in Aussicht. Als dieser Sonntag kam, bemächtigte sich Lottchens eine angstvolle Erwartung. Bei jedem Tritte, den sie hörte – sie erzählt das selbst so – dachte sie, er käme, und als er dennoch ausblieb, war es ihr gar nicht ganz recht. Ein Billet von Schiller’s Hand, das sich im Besitze des Vetters gefunden, nahm sie heimlich an sich und verwahrte es sorgsam. Ihr Herz war schon – leise getroffen. Auch Schiller bekennt in einem Briefe an seine mütterliche Freundin in Bauerbach, es sei ihm die Trennung von den hochachtbaren und liebenswürdigen Leuten so schwer geworden, daß nur die dringendste Nothwendigkeit ihn wieder nach Weimar gezogen habe, und in einem Briefe an Freund Körner schwärmt er bereits von den Segnungen und der Wohlthat einer häuslichen Existenz. Und doch war sein Herz damals nachhaltig noch nicht berührt; es lag in jenen Tagen und noch den ganzen Winter hindurch in den Fesseln eines dämonischen Weibes – Charlotte von Kalb. –

Im Vorfrühling.

Eine jener sogenannten glücklichen Fügungen, denen man so gern im Liebesleben eine Rolle zuertheilt, führte eher, als man gehofft, eine weitere persönliche Annäherung zwischen Schiller und [7] Lottchen Lengefeld herbei. Die letztere kam im Februar 1788 nach Weimar zum Besuche der ihr befreundeten Familie der Frau von Imhof. Die Absicht der Mutter war darauf gerichtet, die Tochter dem weimarischen Hofe etwas näher zu bringen, der die Aussicht auf eine Hofdamenstelle schon früher eröffnet hatte.

Anfangs war das Sichsehen und Sichbegegnen dort nur ein zufälliges. Lottchen hing, um in ihrer eigenen Sprache zu sprechen, an dem fremden Orte weit weniger von sich selbst ab als zu Hause, aber man begann doch schon diesen Zufall als eine freundliche Gunst zu empfinden. „Eben zieht mich ein Schlitten an’s Fenster, und wie ich hinaussehe, sind Sie’s. Ich habe Sie gesehen, und das ist doch etwas für diesen Tag.“ So Schiller. Bald traten die Begegnungen aus dem Kreise des Zufalls heraus. Schiller hatte sich die Erlaubniß erwirkt, für Lottchens Lectüre zu sorgen. In die Bücher, die zu ihr hin und her wanderten, verirrten sich allmählich auch kleine, ganz unschuldige Billete. Schon der Zauber der Schriftzüge wirkt gar eigen. Aber in die Briefe schlüpften versteckte dienstbare Geister, welche die Zeitpunkte feststellten, die für die Besuche Schiller’s in der Familie Imhof am geeignetsten waren. In dem gastfreien Hause war viel Verkehr, und es war nöthig, die starken Gasttage auszuscheiden, da an diesen die Frau von Imhof – natürlich handelte es sich nur um diese! – ja gehindert worden wäre, Schiller’s Gesellschaft zu genießen. Schon verlangt das Herz, wenn dieser Gasttage mehrere Hintereinander gewesen sind, nach einem beruhigenden Troste. – „Glauben Sie, daß ich Ihrer oft gedacht habe, ob ich gleich Sie nicht sehen konnte. Lotte v. L.“ – Auch Schiller hält es schon für nöthig, in einem solchen Falle sich gegen die Annahme zu verwahren, daß er unfähig sei, den Werth ihres Umganges zu empfinden.

Oft auch wandte sich Lottchens Auge als Diener des Herzens am Fenster nach der Esplanade hin, um zu sehen, ob der Freund da heraufkomme. „Wie fern,“ schreibt sie später zu diesem Geständnisse, „waren wir, und doch wie nah fühlt’ ich Deine Seele mir! Du warst mir gleich so viel mehr wie alle Anderen.“

Da ihre Abreise wieder nah bevorstand, so bat sie Schiller, der Zeitsitte folgend, um ein Stammbuchsblatt, und Schiller schrieb ihr das in wenig veränderter Form unter der Aufschrift „Einer jungen Freundin in’s Stammbuch“ in seine Werke aufgenommene bekannte Gedicht. Lottchen scheint von den eigenthümlichen Versen nicht eben erbaut gewesen zu sein. Sie erklärt „die Zeilen als ein Zeichen seines Andenkens“ werth halten zu wollen. Weiter nichts. Und doch sind sie nicht blos um deswillen von Bedeutung, weil sie erkennen lassen, wie genau der Dichter schon damals die ganze naive und unbefangene Auffassungsweise Lottchens durchschaut hatte, sondern auch weil sie, wenn auch versteckt, gleichzeitig einem stillen, eifersüchtigen Neide Ausdruck leihen, den der Dichter darüber empfindet, daß sie am süßen Ueberzählen der Glücklichen, die sie gemacht, der Seelen, die sie gewonnen, Freude findet, statt – so ergänzt sich der Satz – einem Einzigen zu gehören, der frei von aller Verlogenheit und Schmeichelei ihren wahren Werth zu schätzen weiß.

In den letzten Tagen vor dem Scheiden wurden die Briefe häufiger und länger. Man sah, wie dann immer, jetzt erst ein, daß man sich doch gar Manches noch zu sagen habe. Freilich die natürliche Zurückhaltung der weiblichen Natur giebt auch hier noch wenig. – „Auch Sie verlasse ich ungern,“ schreibt Lottchen, „denn Ihr Umgang (ich mag nicht Freundschaft sagen, weil Sie das Wort nicht gern haben) hat mir manche Freude verschafft – die Hoffnung Sie bei uns zu sehen macht mir den Abschied leichter. Kommen Sie, sobald als Sie können! Denken Sie meiner! Ich wünsche, daß es oft geschähe.“ Das klingt im Ganzen doch noch etwas nüchtern und kühl. Da giebt der Mann schon weit mehr. „Sie werden gehen, liebstes Fräulein, und ich fühle, daß Sie mir den besten Theil meiner jetzigen Freuden mit sich hinwegnehmen. So wenig Augenblicke Ihres Hierseins auch die meinigen waren und die meinigen sein konnten, so war nur Ihr Hiersein doch schon an sich allein Vergnügen und die Möglichkeit, Sie zu sehen, ein Gewinn für mich. Ihre Abreise bringt mich um Alles Dies. Der Name (Freundschaft, den sie dem Verhältniß nicht geben will) soll mich nicht stören. Lassen Sie das kleine Samenkorn nur aufgehen; wenn die Frühlingssonne darauf scheint, so wollen wir schon sehen, was daraus wird. Sehen will ich Sie vor Ihrer Abreise nicht mehr – Abschiede auch auf kurze Zeit sind etwas so Trauriges für mich. Vielleicht sehe ich Sie im Vorbeifahren noch. Leben Sie also recht wohl, bestes Fräulein, erinnern Sie sich manchmal und gern daran, daß hier Jemand ist, der es unter die schönsten Zufälle seines Lebens zählt, Sie gekannt zu haben. Noch einmal: Leben Sie recht glücklich!“

Worte, wie diese letzten, redet schon kaum die Freundschaft mehr. Hinter der tiefen Wehmuth des Ausdruckes lauert, wenn auch geflissentlich versteckt, bereits der kleine blinde Gott mit Pfeil und Köcher. Jedenfalls stand jetzt das Eine fest, daß die Hofdamenabsichten der Frau von Lengefeld bei diesem Besuche in Weimar gänzlich gescheitert waren.

Eine Sommervilleggiatur.

Lottchen hatte vorsichtigerweise Bücher zurückbehalten, und so erlitt der Briefwechsel auch in der nächsten Zeit keine Unterbrechung.

Später aber erfüllt sie mit liebend geschäftiger Sorgfalt den lang gehegten Wunsch des Dichters, ihm ein seiner Individualität entsprechendes sommerliches Heim in der Nähe von Rudolstadt auszusuchen, und entwirft davon eine anheimelnde Beschreibung.

In der zweiten Hälfte des Mai, als das Wetter beständigere Tage verhieß, „flog“ Schiller „auf’s Land“ – und nun beginnt jene anmuthige Sommeridylle der Liebe, deren Verlauf sich aus kleinen losen Blättern, die hin und her fliegen, verfolgen läßt. Der Morgen gehörte der Arbeit, der spätere Nachmittag und Abend der Liebe, oder sagen wir, weil die Betheiligten es also wollen, der Freundschaft. Schiller arbeitete an der „Geschichte des Abfalls der Niederlande“ und später an dem „Geisterseher“. Er las die einzelnen Abschnitte den Schwestern vor. Sie saßen dann wohl in der von Pappeln schützend umgebenen Hütte des Hausgartens, oder in Lottchens „traulichem“ Stübchen. Bei gutem Wetter gingen die Schwestern – denn die vereitelte Hofdame befand sich, schon um der „Schicklichkeit“ willen, auf welche die Frau Mama sehr viel gab, stets in Begleitung der älteren Schwester – dem Freunde entgegen. Eine Brücke, welche über einen Waldbach führte, der sich dort in die Saale ergoß, war das Ziel, wo sie ihn erwarteten. „Wenn wir,“ erzählt später Caroline, „ihn im Schimmer der Abendröthe auf uns zukommend erblickten, dann erschloß sich ein heiteres ideales Leben unserem inneren Sinne. Hoher Ernst und anmuthige geistreiche Leichtigkeit des offenen reinen Gemüths waren in Schiller immer lebendig. Man wandelte wie zwischen den unwandelbaren Sternen des Himmels und den Blumen der Erde in seinem Gespräche. Schiller fühlte immerwährend das Bedürfniß, in Ideen zu leben.“

In Wirklichkeit fand diese Wanderung gewöhnlich in einer schattigen Allee, entlang des Uferdammes der Saale, statt. Caroline als die Aeltere und durch ihre Verheirathung gewissermaßen Gedecktere leitete meist das Gespräch ein und gab ihm immer einen philosophischen Relief. Die Freigeisterei war ohnedies damals eine Modesache geworden. Schiller verwerthete einen Theil der Gespräche später in seinem „Geisterseher“. Ein gewöhnliches Rendezvous bildete die fürstliche Gärtnerei zu Cumbach, von Schiller, wahrscheinlich im Anklang an die Grumbach’schen Händel, meist Grumbach genannt. Im dortigen Jagdwirthshause wurde oft gemeinschaftlich der Kaffee eingenommen. Wenn die Billete anzeigten, daß die Luft rein war, das heißt daß keine Gesellschaft, kein fremder Besuch, keine Kaffeevisite drüben zu erwarten sei, nahm Schiller auch schon am Nachmittage seine Einkehr im Hause, oder kam durch das von außen zugängige Gartenthor in den Garten. Außer jenen stets als lästig empfundenen Gesellschaften gab es auch noch anderweite hindernde Elemente, welche den stillen Kreislauf des Glückes unterbrachen. Als ein solches zeigte sich gleich anfangs das Regenwetter, das es einmal so arg trieb, daß der Blitz im Dorfe einschlug. Dazu gesellte sich aber bald noch ein weit schlimmerer Gesell, das war der – Schnupfen. Er nahm zuerst Einkehr im Haupte des Dichters.

„Mein Kopf ist ganz hin. Sagen Sie mir, daß Sie meiner gedenken,“ jammert der Heimgesuchte.

„Der böse Schnupfen! Wir vermissen Ihre Gesellschaft. Glauben Sie’s nur!“ erwidert voll Theilnahme Lottchen. Diese Teilnahme geht schließlich so weit, daß man drüben im Hause [8] am Berge ihn auch bekommt. Dann aber kommen auch wieder längere sonnige und schmerzfreie Tage. Die Herzen athmen wieder auf.

Mit den gegenseitigen Briefen wandern zugleich allerlei süße Sachen, als da sind: Gebackenes, Kirschen, Aprikosen, Thee, mit hin und her. Auch mit Blumen schmückt die sinnige Frauenhand das schmucklose Zimmer des Freundes. Trauliche Erkundigungen über den Schlaf und Traum der Nacht ziehen mit hin und her. Die Leidenschaft aber hält sich dabei tief im Versteck. Ist doch der wahrhaftig Glückliche sich seines Glückes meist nie bewußt. „Ich möchte Ihnen oft so viel sagen,“ schreibt einmal Schiller deutungsvoll, „und wenn ich von Ihnen gehe, habe ich nichts gesagt. Bin ich bei Ihnen, so fühle ich, daß mir wohl ist, und ich genieße es mehr, als daß ich es mittheilen könnte.“

Schiller ging aber auch einer innigeren, sein Herz verpflichtenden Annäherung mit Geflissenheit aus dem Wege, wenigstens hatte er sich das von vornherein vorgenommen. „Ich werde,“ schrieb er schon in den ersten Tagen seiner Uebersiedelung an Körner, den Vertrauten seiner Seele, „eine sehr nahe Anhänglichkeiten an dieses Haus und eine ausschließende an irgend eine einzelne Person aus demselben sehr ernstlich zu vermeiden suchen. Es hätte mir“ – das Geständniß kann er dabei doch nicht zurückhalten – „etwas derart begegnen können, wenn ich mich mir selbst hätte überlassen wollen.“ Als Grund führt er dabei an, daß er „das bißchen Ordnung, das er mit Mühe in seinen Kopf, sein Herz und seine Geschäfte gebracht habe, durch eine solche Distraction nicht wieder über den Haufen werfen wolle.“ Es sollte sich das wohl auf sein kaum zum Abschluß gekommenes Verhältniß zu Charlotte von Kalb oder seine „Dresdener Liaison“ beziehen. Bei dem, was sein Herz in der Sache bereits gesprochen hatte, war das freilich eine etwas eigene, jedenfalls aber eine etwas späte Vornahme. Vielleicht hatte sie nur die reservirte Haltung Lottchens hervorgebracht. Er fühlte das wohl auch selbst; er traute seinem Herzen doch nicht recht und nahm deshalb seine Zuflucht zu einem etwas seltsamen, sehr phantastisch angehauchten Experimente. Er nahm sich nämlich vor, sein Herz – es sind dies seine eigenen Worte – durch Vertheilung (auf beide Schwestern) zu schwächen.

Dieses löbliche Vorhaben hinderte ihn indeß nicht, oft die seicht gewordene Saale zu durchwaten, um desto rascher bei den Schwestern zu sein, in Folge welchen Umstandes sich der alte rheumatische Kobold wieder von Neuem anmeldet, schlaflose Nächte bringt und seine Wohnung in einem hohlen Zahne aufschlägt, dort aber so gewaltig pocht und hämmert, daß die Wange schwillt und das Gesicht sich „bis zur Unkenntlichkeit“ verzerrt. Da entschließt sich des Dichter rasch, seine Umsiedelung nach Rudolstadt vorzunehmen, obwohl er sich sagen muß, daß er damit der Gefahr nur näher in’s Auge sieht.

Er wohnt jetzt den Freundinnen so nahe, daß seine Augen ihr Fenster erreichen, sofern nicht der Sturmwind die dazwischen liegenden Bäume und Wirthshausschilder in Unruhe versetzt. Die Nähe thut ihm wohl, und doch knüpft er daran sofort wieder den Wunsch, daß sie eine noch größere sein möchte, um das Bild Lottchens im Spiegel aufzufangen, der über dem Schreibtische seines Platz erhielte. Dann könnte man mit ihr sprechen, ohne daß es ein Mensch wüßte. Um für die traulichen Besuchsabende, die mit den kürzer werdenden Tagen, sich längten, einen geistigen Mittelpunkt zu gewinnen, lesen sie jetzt gemeinschaftlich Homer, von dem die Schwestern bislang nur einige Bruchstücke kannten. „Schiller las uns Abends die Odyssee vor,“ schreibt in späteren Jahren Caroline, „und es war uns, als rieselte ein neuer Lebensquell um uns her.“ Die bilderreiche Sprache des alten Griechen überträgt sich dabei scherzhaft in die kleinen Billete, die auch jetzt noch hin und wider gingen. Da übersetzt sich der Gutenmorgengruß in den Wunsch, daß nach der langen Ruhe im „zierlich gezimmerten Bette die dämmernde Frühe mit Rosenfingern den Schläfer erweckt haben möge“, und es sind nicht mehr so ganz gewöhnliche, sondern schon „geflügelte“ Worte, die jetzt gewechselt werden. Mitten hinein in dieses poetische Rankengewächs fällt denn wohl die prosaische Einladung zu einem Gerichte thüringer Klöße.

Dann erhebt sich plötzlich wieder Gott Amor aus seinem unfreiwilligen Verstecke und macht die Dialektik der „Vertheilung“ zu Schanden. Die Stimme, welche ihn hervorlockt, ist die einer wenn auch nur gelinden Eifersucht.

Lottchen ist zu einem Balle eingeladen, ein Vergnügen, dem Schiller von vornherein abhold ist, da er aus früheren Erfahrungen weiß, daß es das Blut unordentlich erhitzt und die besseren Menschen den armseligen so nahe bringt und mit ihnen vermischt, die feineren Gefühle und die edleren Genüsse des Geistes aber gern auf eine Zeitlang hinwegschwemmt. Der Gedanke nun, Lottchen auf einem solchen Balle zu wissen, macht ihm die lebhafteste Unruhe – er drängt sich störend in seinen Schlaf, in seine Träume. Froh erleichtert begrüßt er den Morgen, weil er ihm die Gewißheit giebt, daß sie nicht mehr auf dem Balle ist. Er kann sich unter dem Einflüsse dieser Qual nicht enthalten, ihr mit einem fast herben Egoismus seine Verstimmung mitzutheilen: „Es ist mir ordentlich lieb, daß er – der Ball – vorbei ist. So sehr ich das Vergnügen meiner Freunde liebe, so wünsche ich Sie doch so selten als möglich auf Bällen. … Wenn ich es könnte, sehen Sie, ich würde so ungerecht sein und Sie allen anderen Menschen mißgönnen. Ich weiß wohl,“ fügt dann sein Kleinmuth gleich hinzu, „daß ich kein Recht darauf habe, aber es ist etwas so gar Schönes, sich das, was Einem lieb ist, als sein Eigenthum zu denken, und was ich denke, thut Ihnen ja auch nichts. Lassen Sie nur also immer diese Freude!“


Kanossa.[1]
Von Johannes Scherr.

Hochidealische Religionen wie der Buddhismus und das Christenthum tragen vom Anfang an einen Widerspruch in sich, welcher herauskommt, sobald sie in der Welt zur Geltung und Macht gelangen. Denn die Wirklichkeit rächt sich an dem Ideal dadurch, daß sich es zur Karikatur seiner selbst macht. Was ist aus der Lehre der Weltverleugnung und Weltverachtung, welche Buddha und Christus gepredigt haben, auf geschichtlichem Boden geworden? Hüben wie drüben ein hierarchisches System, welches eingestandenermaßen das Leben bedingen und bestimmen, die Welt so oder so besitzen und beherrschen will. Auf die idealische Frage nach der Menschenbruderschaft gab die Geschichte den faulen Lamaismus und den herrschsüchtigen Papalismus, die Ketzerverfolgungen und die Religionskriege zur Antwort. Die metaphysische Substanz des buddhistischen wie des christlichen Dogma’s verflüchtigte sich spurlos in dem Pomp und Geräusch eines auf sinnliche Wirkung berechneten Kultus. Die abstrakte Doktrin verwandelte sich in konkreten Götzendienst. An die Stellen der idealisch-erhabenen Erscheinungen des Königssohnes von Kapilavastu und des Zimmermannssohnes von Nazara traten ihre größenwahnwitzig-realen Zerrbilder, der Tale Lama zu Hlassa und der Papst in Rom.

Der Mensch will getäuscht sein. Das verlangt seine Natur, welche nach Täuschung lechzt und die Wahrheit mehr fürchtet als Feuer und Schwert. Vom Beginne der menschlichen Gesellschaft bis zur heutigen Stunde war die Lüge ihr Schoßkind. Sie wird es auch bleiben, so lange die Gesellschaft dauert. Erst der letzte Mensch wird der letzte Sichselbstbelüger, der letzte betrogene Betrüger sein.

Die Illusion ist, so zu sagen, die Butter zum täglichen Brote des Menschendaseins. Je dicker sie aufgetragen wird, desto lieber beißt der Mensch darein. Das haben alle Gründer und Schwindler gewußt und benützt vom Apollonius von Tyana bis zur Spitzeder. Am besten aber wußten und am ausgiebigsten benützten es zu allen Zeiten die Hierarchen. Unermüdlich drehten sie die Kurbel des Glaubensfasses, worin „die Milch der frommen Denkart“ zu Illusionen gebuttert wurde. Schon in den Tempeln von Memphis und Babel, war ihnen klargeworden, daß man dem menschlichen Täuschungsbedürfniß alles, aber auch gar alles zumuthen dürfte.

[9] Die christlichen Auguren überboten dann ihre heidnischen Kollegen und verstanden es auch noch besser als diese, das Lachen zu verhalten, wenn sie einander begegneten. Mit der ernsthaftesten, ja mit der erhabensten Miene von der Welt verkündigten sie die plattesten Orakel. Und sie wirkten damit wirklich Wunder, gar keine Frage. Unter vielen anderen dieses, daß dem Windei der faulen Fabel, Petrus wäre Bischof zu Rom gewesen, der weltgeschichtliche Koloß des Papstthums entkroch.

Was die Menschen glauben, das ist. Die Menschen des Mittelalters mußten, so, wie sie waren, an das Papstthum als an eine, nein, als an die Weltmacht glauben, und darum war es eine solche. In den Augen der Millionen und wieder Millionen, die noch heute daran glauben, ist es noch jetzt eine, nein, die oberste Weltmacht. Nicht das Sein der Dinge, sondern das Scheinen bedingt ja ihren Werth und ihre Wirkung. Spottet nicht über den „Fels Petri“! Der ist dauerhafter als Granit. Nur ein ebenbürtiger, nur ein gleich riesenhafter Wahn wird ihn zerschlagen können. Noch aber ragt er steil und stolz und an dem Schatten, welchen er über die Gegenwart hinwirft, läßt sich die Wolkenhöhe messen, in welcher er sich vor achthundert Jahren den Menschen dargestellt hat.

Ein unserem Vaterlande mißgünstiger Stern stand über der Stunde, wo der Bischof von Rom, von den Umständen gedrängt, den Entschluß faßte, die Tradition vom römischen „Imperium“ dem Germanenthum aufzupfropfen. Karl der Große gab sich zum Imperator her, weil er vom Größenwahn der Weltherrschaft besessen war, wie vor ihm der makedonische Alexander und wie nach ihm der korsische Napoleon. Nun hob jener Kampf zwischen Kaiserthum und Papstthum an, welcher das ganze Mittelalter hindurch in wechselnder Gestalt getobt hat. Anfangs freilich, etliche Jahrhunderte lang sogar, mußte sich das „geistliche Schwert“ demüthig unter das „weltliche Schwert“ ducken. Noch war ja das Schutzbedürfniß des Papstthums ein zu gebieterisches, als daß ihm hätte beikommen können, sich dem Kaiserthum gleichstellen oder gar über dasselbe sich erheben zu wollen. Thatsächlich waren die deutschen Kaiser die Herren und Gebieter der römischen Päpste. Otto der Große stellte dieses Verhältniß auch staatsrechtlich fest, indem er durchsetzte, daß zwar Klerus und Volk der Stadt Rom das Recht, die Päpste zu wählen, haben sollten, aber das Recht der Bestätigung oder Verwerfung dieser Wahl beim Kaiser sein sollte, welchem neugewählte und bestätigte Päpste einen förmlichen Treueid schwören mußten.

Diese kaiserliche Oberherrlichkeit über den römischen Stuhl ist zur deutlichsten und glänzendsten Erscheinung gekommen unter der Reichsherrschaft Kaiser Heinrichs des Dritten (1039-1056), welcher geniale und erlauchte Mann überhaupt dem „Imperium“ deutscher Nation die höchste Machtfülle und den hellsten Glanz verliehen hat. Und der große Kaiser war auch ein im besten Sinne frommer Mann, welcher seine Pflicht, der Kirche Schirmherr zu sein, sehr ernst und strenge nahm. In den schrecklichen Nöthen jener eisernen Zeit war wieder einmal in der sogenannten Christenheit der Wunsch und Wille kundgeworden, mit dem Christenthum Ernst zu machen und namentlich auch die Geistlichkeit aus ihrer sittlichen Versunkenheit herauszuheben. Der Mittelpunkt dieser Reformströmung war das Kloster Kluny in Burgund, und Heinrich der Dritte förderte und unterstützte von ganzem Herzen die kluniacensische Richtung, insbesondere durch sein Vorgehen gegen den verderblichen Mißbrauch des Schachers mit geistlichen Aemtern („Simonie“). Wo es sich um Beseitigung von Schäden handelte, welche als für die Kirche geradezu lebensgefährliche erscheinen mußten, griff seine Herrscherhand energisch durch. So, als es galt, dem Skandal einer päpstlichen Dreifaltigkeit oder vielmehr Dreispaltigkeit ein Ende zu machen. Denn es gab ja zu seiner Zeit drei Päpste zugleich und diese, Benedikt der Neunte, Sylvester der Dritte und Gregor der Sechste, ja, diese „Statthalter“ des Stifters der „Religion der Liebe“ bannten und verfluchten einander gegenseitig, wie das unter gleichen oder ähnlichen Umständen die „Nachfolger Petri“ ad majorem dei gloriam immer zu thun pflegten. Auf seiner Romfahrt i. J. 1046 versammelte der Kaiser eine Synode von Bischöfen zu Sutri, ließ durch dieselbe die drei Unfehlbaren absetzen und machte den frommen Bischof von Bamberg, Suidger, zum rechtmäßigen Papst. Einem der degradirten Tiaraträger, Gregor, war das Urtheil gesprochen, nach Deutschland in's Exil zu gehen, und dorthin begleitete ihn sein Kaplan Hildebrand.

Das war ein kleiner, schmächtiger, unansehnlicher Mann, welcher die Mönchskutte der Kongregation von Kluny trug. Sprach er, so that er es mit einer schwachen, unangenehm heiseren Stimme. Gewiß haben nur wenige Menschen, ja vielleicht hat niemand auf der Reise über die Alpen und später am deutschen Kaiserhofe des unscheinbaren Mönches sonderlich geachtet. Und doch trug derselbe das Schicksal Deutschlands in sich, und doch sollte diese heisere Stimme dereinst Worte sprechen, welche mit der schütternden Gewalt des Donners durch Europa rollten. Der Mönch Hildebrand ist eben einer jener weltgeschichtlichen Charaktere gewesen, von welchen die Natur etwa von Jahrtausend zu Jahrtausend einen schafft, einer jener Herrscher-Menschen, welche wie den besten so auch den bösesten Hang und Drang einer Zeit in sich zusammenfassen und mit souveräner Genialität ihrer Zeit einen Stämpel aufprägen, welcher Jahrhunderte lang dauert und wirkt.

Unser Land hat niemals einen gefährlicheren Feind und Hasser gehabt, als dieser Mönch von germanisch-langobardischer Herkunft und mit dem urdeutschen Namen Hildebrand einer gewesen ist. Aber diese Feindschaft und dieser Haß ist nicht etwa klein-persönlichen Motiven, sondern vielmehr einem großen Princip entsprungen: – Deutschland besaß das Imperium, und dieses sollte der Theokratie unterworfen, das Kaiserthum zum Fußschemel des Papstthums gemacht werden.

Hildebrands Geburtsjahr ist nicht mit zweifelloser Bestimmtheit nachzuweisen. Sein Vater war ein Bäuerlein Namens Bonizo und bewirthschaftete den Meierhof Roavakum, unweit der Stadt Soana in Tuscien (Toskana) gelegen. Später hat man die Legende aufgebracht, Hildebrand sei der Sohn eines Zimmermannes in Rom gewesen, augenscheinlich in der Absicht, an die Herkunft Jesu zu erinnern. Er selbst hat echtmönchisch nie von seinen Eltern gesprochen, wie um durch solches Schweigen anzudeuten, daß er das, was er mit unerbittlicher Folgerichtigkeit der ganzen Klerisei auferlegte, die Loslösung von Familienbanden, zuvor an sich selber vollzogen habe. Die Gunst des Geschickes wollte, daß das Genie des Bauernjungen von Roavakum nicht in der Stallatmosphäre verkümmerte. Ein Bruder seines Vaters war Abt des hochangesehenen Santa-Maria-Klosters auf dem Aventin zu Rom. Hier fand der junge Hildebrand Aufnahme als Novize und nicht allein eine mönchische Erziehung, sondern auch seine Ausbildung zum klerikalen Politiker und Diplomaten. Die spärlichen Bildungsmittel des 11. Jahrhunderts befanden sich ja ausschließlich im Besitze der Kirche. Dieser eignete auch bis zur Zeit, wo sie der Schablonewirthschaft des Jesuitismus verfiel, der demokratische Zug, dem Talente freie Bahn zu schaffen. Darum finden wir unsern Bauernsohn von Roavakum als Fünfundzwanzigjährigen schon als Kaplan Gregors des Sechsten. Auf deutschem Boden mag ihm zuerst Sinn und Bedeutung von Machtfülle und Weltherrschaft aufgegangen sein, wie er ja in den kaiserlichen, fürstlichen und bischöflichen Pfalzen unseres Landes Gelegenheit hatte, die Stärke und die Schwäche des Reiches auszuspähen. Unschwer mag er erkannt haben, daß nur eine Herrenhand wie die des dritten Heinrichs die ewige deutsche Adelsanarchie niederzuhalten und welche Vortheile sein Gedanke aus dem unseligen Centrifugalgeiste der Deutschen zu ziehen vermöchte. Der Mönch kam rasch empor. Unter dem Pontifikat Leo’s des Neunten hatte er am päpstlichen Hofe bereits einen großen Stand. Vom Subdiakon stieg er dann zum Erzdiakon, war Mitglied des Kollegiums der Kardinäle, verwaltete die städtischen Angelegenheiten Roms und zugleich die päpstlichen Finanzen. Als Finanzminister der Kurie trat er in Kompagnonschaft mit einem getauften jüdischen Bankherrn und diese Verbindung war sowohl für die päpstliche Kasse wie für die hildebrandische sehr gewinnreich. Es ist zweifelhaft, ob das polnische Sprüchwort: „Spricht das Geld, schweigt die Welt“ – damals schon erfunden war, aber unzweifelhaft ist, daß der Gesellschafter des getauften Juden sehr wohl wußte, was alles man der Welt zu beweisen vermöchte, so man Säcke voll Gold und Silber als Beweisgründe vorführen könnte. Unter den Päpsten Viktor dem Zweiten, Nikolaus dem Zweiten und Alexander dem Zweiten leitete der Premierminister Hildebrand die Politik des „heiligen Stuhls“ mit ebenso kluger wie kühner Hand und brachte sie Schritt vor Schritt dem Ziele [10] näher, welches seine Genialität ihr gesetzt. Seit Kaiser Heinrich der Dritte im Oktober von 1056 eines so beklagenswerth-vorzeitigen Todes gestorben war und seinen Sohn und Nachfolger, König Heinrich den Vierten, als unmündigen Knaben hinterlassen hatte, rückte Hildebrand dieses sein Ziel mehr und mehr in die Tageshelle. Der große Kaiser war todt; jetzt war Platz für den größeren Papst. Doch begnügte sich der päpstliche Minister noch mit dem Wesen der Macht und gönnte anderen, dem zweiten Nikolaus und dem zweiten Alexander, den Schein und Namen. Während dieser beiden Pontifikate that er schon manches Entschiedene, um die Tiara von der Kaiserkrone zu befreien und die Umkehrung des bisherigen Verhältnisses der „beiden Schwerter“ anzubahnen. So dieses, daß er die Wahl der Päpste auf das Kollegium der Kardinäle übertragen ließ, wobei vom kaiserlichen Rechte der Bestätigung oder Verwerfung schon nur noch nebenbei die Rede war. Die praktische Schlußfolgerung aus dieser Prämisse zog Hildebrand, indem er die Wahl Alexanders des Zweiten ohne alle Rücksicht auf den deutschen Kaiserhof machte. Nach dem Ableben dieser seiner päpstlichen Marionette, hielt der Minister dafür, daß jetzt die Zeit gekommen wäre, wo er auch formell werden müßte, was er sachlich schon lange gewesen. Am 29. Juni von 1073 ist er demzufolge unter dem Namen Gregors des Siebenten in der Peterskirche als Papst geweiht und aufgethront worden.



Was wollte Gregor?
Daß die Erde ein Gottesstaat sei.
Wer sollte denselben regieren?
Der Statthalter Gottes auf Erden, der Papst.

Die alte kirchliche Vorstellung von dem einen Hirten und der einen Heerde erfuhr eine zeitgemäße Umbildung. Das Princip des Lehnstaates wurde auf das Verhältniß von Kirche und Staat, von Papst und Kaiser angewandt: – Gott, der Oberlehnsherr der Welt, hat den „heiligen Vater“ mit dem Erdkreis belehnt. Kraft der ihm also übertragenen göttlichen Machtvollkommenheit theilt der Papst Länder und Reiche als Lehen aus und zieht auch die verwirkten wieder ein. Der Kaiser ist demzufolge nur der erste Vasall des Papstes, die kaiserliche Oberlehnsherrlichkeit über die Christenheit nur ein Ausfluß der päpstlichen, ein „Beneficium“, das verdient werden muß und verwirkt werden kann, eine Gnade, die nach Gefallen erwiesen oder verweigert wird. Der Papst ist also von rechtswegen der Oberherr aller weltlichen Machthaber. Er steht ebenso hoch über dem Kaiser und über den Königen, wie der Gott über den Menschen, der Himmel über der Erde, die Kirche als göttliche Einsetzung über dem Staate als menschlicher Einrichtung steht.

Die Menschen des 11. Jahrhunderts glaubten, mit verschwindend wenigen Ausnahmen, an diesen Schwindelkoloß von Papstprämisse und folglich nahmen sie auch die Konsequenzen derselben an.

Gregor selber glaubte zweifellos an seine Aufstellungen. Er war von seinem Rechte, die Weltherrschaft ansprechen zu dürfen, zu müssen, vollständig überzeugt. Nichts könnte irriger sein, als zu wähnen, dieser Mann habe aus Gründen kleinlicher Selbstsucht gehandelt. Ordinäre pfäffische Herrschgelüste lagen weit unter ihm. Er wollte die Erde zu einem Gottesstaate machen; er wähnte, es zu können. Ein Revolutionär vom radikalsten und kühnsten Schlage, hat dieser Mönch, in den Formen seiner Zeit und indem er sich als oberster Feudalherr proklamirte, dem Feudalsystem den Krieg gemacht und wenigstens instinktiv eine sociale Umwälzung angestrebt, basirt auf die Vorstellung von einer absoluten Gleichheit der Menschen vor Gott, beziehungsweise vor dem Vicegott, dem Papste. Gregor war ein glühender Idealist, ein begeisterter Optimist. Er glaubte an das Märchen von der Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen; er glaubte an die Möglichkeit einer Harmonie auf Erden, an die Möglichkeit eines selbstlosen Hirten und einer friedsamen Heerde von wohlgepflegten und wohlgehüteten Lämmern. Und doch brauchte er nur die Augen aufzuthun, um wahrzunehmen, daß die Menschen weit mehr ins Fach der Wölfischkeit als in das der Lämmerlichkeit schlügen. Der Grundirrthum des großen Papstes war genau der, von welchem unsere modernen Socialisten und Kommunisten – die ehrlichen nämlich – sich narren lassen, also das Phantasiegebilde von der Menschen- und Völkerbruderschaft. Als ob die Menschen und die Völker von Haus aus Brüder und nicht vielmehr Feinde oder, milder ausgedrückt, Konkurrenten im Geschäfte des Daseins wären! Als solche läßt die biblische Ursprungssage bedeutungsvoll schon die zwei ersten Brüder auftreten und richtig den einen durch den andern echtkonkurrentisch todtschlagen. Diese Konkurrenz zu verklagen oder gar zu verleugnen, ist ganz thöricht. Sie ist ja Schicksalsschluß. Ohne sie müßte das Geschäft des Daseins bald flau und faul werden, müßte geradezu verlottern und verlumpen, versimpeln und versiechen.

Abgesehen von der Widernatürlichkeit und folglich Unmöglichkeit des Systems, welches Gregor verwirklichen wollte, muß man ihm zugestehen, daß er mit ebenso großer Genialität wie Thatkraft an dieser Verwirklichung arbeitete. Er übersah nicht sein Jahrhundert, aber er wußte es zu fassen und zu führen. Sein Arbeitsmaterial war der Glaube seiner Zeitgenossen. Sein Hauptwerkzeug mußte demnach selbstverständlich die Klerisei sein. Er richtete dieses Werkzeug meisterhaft zu seinen Zwecken her. Er gab der Klerisei die stramme Organisation einer Kaste, deren Interessen mit denen des Staates nichts mehr gemein haben sollten. Die gesammte Geistlichkeit wurde straff-hierarchisch gegliedert und mittels schärfster Disciplin zu einem streitfertigen Heere gemacht, von seinen obersten bis zu seinen untersten Graden jedem Wort und Wink des Papst-Generalissimus unbedingt gehorsam und dienstbereit. Wenigstens war das Gregors hierarchisches Ideal, welches jedoch das Schicksal aller Ideale hatte, d. h. keineswegs vollständig verwirklicht wurde. Namentlich darum nicht, weil es dazumal noch deutsche Bischöfe und Priester gab, welche das Vaterland höher stellten als den Vatikan und dem verfluchenden Papste zum Trotz dem verfluchten Kaiser die Treue hielten.

Als Mittel, das benöthigte wohldisciplinirte und streitbare geistliche Heer zu schaffen, handhabte Gregor, wie jedermann weiß, drei Verbote: das der Simonie, das der Laien-Investitur und das der Priesterehe. Das erste war sittlicher, die beiden andern waren hochpolitischer Natur. Die Aufhebung der Laien-Investitur, d. h. der die staatliche Vasallenschaft der Bischöfe und Aebte feststellenden Belehnung derselben von seiten der Könige mittels Ringes und Stabes, lös’te die Prälaten vom Staate los, die Durchsetzung des Cölibats die Priester von der Familie. Die socialpolitischen Folgen dieser Loslösung ergaben sich von selbst: der Priester stand außerhalb der Gesellschaft; ihre Mühen und Sorgen, ihre Freuden und Leiden waren nicht die seinigen. Was ging ihn fürder die „Welt“ an? Was Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Weib und Kind, was Heimat und Vaterland? Ihm sollte das alles die Kirche ersetzen, sie sollte sein Ein- und Alles sein. Aber in der Wirklichkeit war das doch nur eine tolle Einbildung. Nur in den allerseltensten Ausnahmefällen kann der Mensch über sich selbst hinaus und die verleugnete oder tyrannisirte Natur rächt sich unfehlbar und mit einer gewissen Schadenfreude an ihren Verleugnern und Tyrannen. Man braucht daher über die gräuelhaften Folgen des Priestercölibats kein großes Geschrei zu machen. Sie mußten kommen. Die harmloseste dieser Folgen war, daß an die Stelle der rechtmäßigen Ehe der Priester die wilde trat, der Konkubinat. Keine Frage übrigens, daß es auch Priester gab, welche den Cölibat streng und strikt meinten und nahmen. Mittels mühsäligster Selbstquälerei hielten sich diese Asketen und Zeloten von dem „Quell des Bösen“, von den „Fackeln des Satans“ – das waren in ihren Augen die Frauen – ängstlich fern. Aber es ist doch sehr kennzeichnend, daß einer dieser Fanatiker, ein vorragender Zeit- und Gesinnungsgenosse Hildebrands, der Kardinal Peter Damiani, in seinem Hymnus auf die Freuden des christlichen Paradieses diese Freuden mit ebenso glühenden Farben gemalt hat, wie Mohammed die des islamischen Paradieses im Koran geschildert hatte. Ferner, daß derselbe Peter, obzwar schon ein durch Fasten, Selbstgeißelung und Bußgürtelpein abgemergelter Greis, bekannte, runzelige und triefäugige Weiber vermöchte er wohl ohne Gefahr anzusehen, aber vor jungen und hübschen müßte er Augen und Herz hüten, wie ein gebranntes Kind das Feuer fürchtete. Endlich, daß abermals besagter heiliger Peter bei einer Gelegenheit ganz naiv erzählte, die in rechtmäßiger Ehe lebenden Priester Oberitaliens zeichneten sich durch Bildung, Pflichttreue und sittliche Lebensführung aus, während die im Cölibat lebende Klerisei Mittelitaliens in aller Rohheit und Lasterhaftigkeit förmlich sich wälzte. Die sehr nahe liegende Nutzanwendung dieser von ihm selber berührten Thatsache zu ziehen, fiel aber dem Manne nicht ein.

[11] Papst Gregor war ein zu geriebener Politiker, um nicht zu wissen, daß es rathsam, mehr als einen Strang am Bogen zu haben. Darum verließ er sich weder auf das streitbar organisirte klerikale Heer allein, noch erwartete er alles von dem groben geistlichen Geschütze, von dem Bannstral- und Interdiktschleuderwerk. Vor- und umsichtig blickte er nach verlässlichen Bundesgenossen aus, und er wußte solche zu finden in einer erklecklichen Anzahl von deutschen Fürsten und Bischöfen, in den normannischen Häuptlingen, welche damals ihr junges Reich in Unteritalien gegründet hatten, in vielen lombardischen Städtebürgerschaften, deren italisches und republikanisches Gefühl er sehr geschickt gegen die deutsche Kaiserschaft aufstachelte, und in der mächtigen und charakterfesten Markgräfin Mathildis von Tuscien, welche ihn wie ihren Herrn und Heiland verehrte. Winkelskribenten und Schmutzblättler, welche schon im 11. Jahrhundert thaten, was sie noch heute thun, nämlich den Inhalt der Geifer- und Giftblase, welche sie statt der Seele in der Brust tragen, gegen alles geistig Hochragende emporspeien – solche Schmutzblättler und Winkelskribenten haben das Verhältnis Gregors zu Mathildis als ein unlauteres ausgeschrieen. Aber der Geifer des Neides und das Gift der Verleumdung haben die Höhe, auf welcher der große Papst stand, nicht zu erreichen vermocht. Dagegen ist es den Schmierfinken, welche auf päpstlicher Seite lästernd und verleumdend arbeiteten, nur allzu gut gelungen, ihr Ziel, den deutschen König Heinrich den Vierten, zu erreichen. Dieses Ziel stand eben, die Wahrheit zu sagen, nicht so hoch wie das der widerpäpstlichen Sudler.

König Heinrich war freilich mit nichten der „Wütherich“ und das „Ungeheuer“, als welchen und welches die päpstlichen Pamphletisten ihn darstellten. Aber er war auch nicht der Mann, dem weltherrschaftlichen Größenwahnsinn Gregors die Zwangsjacke berechtigter Staatsansprüche anzuthun. Seine Jugend war nur eine Verkettung verwildernder und verbitternder Geschehnisse, er selber ein Zankapfel zwischen seiner frommen Mutter Agnes, die zur Erzieherin und Regentin auch nicht das Zeug hatte, und gewissenlos-machtgierigen Prälaten gewesen. Als sechszehnjähriger Jüngling mit dem Königsschwert umgürtet, hatte er das heiße Gefühl, daß es ihm ziemte, die während seiner Minderjährigkeit zum höchsten Uebermuth ausgeschlagene Adelsanarchie zu bändigen und die gänzlich darniederliegende königliche Gewalt im Reiche wieder aufzurichten. Aber dem guten Wollen entsprach das Können bei weitem nicht. Wo höchste Staatsklugheit, Umsicht und Geduld hätten zur Anwendung kommen müssen, fuhr Heinrich, übelberathen und schlechtbedient, mit brausender Leidenschaftlichkeit darein. Am allerungeschicktesten verfuhr er dem stolzen und trotzigen Sachsenstamme gegenüber, von welchem dann auch die große Verschwörung und Empörung gegen das Reichsoberhaupt ausging (1073), zusammentreffend mit Hildebrands Erhebung auf den „Stuhl Petri“.

(Schluß folgt.)




Der Spiritismus vor dem Gerichtshofe der Wissenschaft.
I.


Die spiritistische Bewegung nimmt, namentlich in England und Amerika, immer größere Dimensionen an. Eine gut geleitete Presse verkündet dem Inselreiche das neu erstandene Heil. „Es ist Methode in dem Wahnsinn“, und wissenschaftlich gebildete, ehrliche Männer sind überzeugungstreue Spiritisten. Die Anschauungen der in dieser sonderbaren Wissenschaft wirklich Bewanderten auf logische Weise zu widerlegen, ist platterdings unmöglich; denn in ihrem gut ausgebeuteten System finden sie auf jeden Einwurf eine Entgegnung, die, von ihrem Boden ausgehend, vollkommen berechtigt ist. Wir wollen uns daher lediglich an die Thatsachen halten, die von den Spiritisten uns gemeldet werden, und auf diesem concreten Gebiet sie zu schlagen suchen.

Ich habe zahlreichen Sitzungen dieser merkwürdigen Gemeinde beigewohnt. Eine der hervorragendsten Versammlungen, bei denen ich gegenwärtig war, fand in London bei der in den dortigen spiritistischen Kreisen – und diese erstrecken sich bis in das high life – sehr bekannten Mrs. V… statt. Der liebenswürdigen Tochter eines mir rasch liebgewordenen Hauses gelang es, wenn auch mit vieler Mühe, uns Beiden noch Plätze zu der demnächstigen Tafelrunde, deren Mitgliederzahl stets eine beschränkte ist, zu verschaffen. Vor Allem lag mir aber daran, etwas Näheres über Mrs. V… selbst zu erfahren.

„Nun, sie ist eine ganz ungebildete Frau aus den niederen Volksclassen, die von ihrem ersten Manne ein schönes Stück Geld ererbte und sich vor Kurzem wieder verheirathete. Die Leute machen jetzt ein großes, wenn auch nicht gerade allzu geschmackvolles Haus und halten alle vierzehn Tage eine Sitzung, an der nur Geladene theilnehmen dürfen.“

„Machen sie ein Geschäft daraus?“ fragte ich. „Denn in diesem Falle würde ich kaum hinzugehen geneigt sein.“

„Im Gegentheil!“ lautete die eifrige Versicherung. „Jede Sitzung kostet Mrs. V… fast so viel wie eine kleine Soirée, denn die Theilnehmer bleiben zum Thee und einem splendiden Abendbrode dort. Ein materieller Vortheil kann also den Leuten auf keinen Fall daraus erwachsen.“

Ich schwieg und wartete der Dinge, die da kommen sollten.

Am Abende gingen wir, Fräulein P. und ich, zu Mrs. V… , der ich als ungläubiger Wissenschafter schon gemeldet worden war. In dem wirklich elegant eingerichteten Salon empfing uns Mr. V… im tadellos schwarzen Frack, seine Gattin in voller Toilette, und bald wurde ich von den anderen Gästen in's Gebet genommen. Da war ein Herr C. C., Professor der Jurisprudenz, Mr. W., Professor der Chemie, Graf und Gräfin W. Baron F., Reisebegleiter und Erzieher einer fürstlichen Persönlichkeit, und so fort, Alles gläubige Spiritisten, die in feiner Weise mir ihr Erstaunen darüber zu erkennen gaben, daß ich noch nicht zu den Ihrigen gehöre. Eine Unzahl von Wundern wurde mir aufgetischt, die Mrs. V… mit Hülfe ihrer Geister schon ausgeführt haben sollte. Letztere saß breitspurig in ihrem Fauteuil, hatte aber Ueberlegung genug, sich nur in sehr karger Weise an dem allgemeinen Gespräche zu betheiligen, das in der durchaus feingebildeten Gesellschaft geführt wurde. Ich konnte mich nicht genug darüber verwundern, wie so geistreiche und den wahrhaft höheren Ständen angehörige Leute Spiritisten sein konnten, und so kam es, daß ich mir vornahm, in der allerunparteiischsten Weise und wirklich ohne jedes Vorurtheil das Kommende zu beobachten.

„Sie haben Glück,“ sagte Baron F. zu mir, „denn gerade für heute haben die Geister versprochen, sich sichtbar zu machen. Sie werden einer der seltensten und beweiskräftigsten Sitzungen beiwohnen und gewiß als einer der Unsrigen das Haus verlassen.“

„Das Letztere wollen wir vorläufig noch nicht erörtern,“ entgegnete ich. „Aber um mich zu überzeugen, müßte mir gestattet werden, alle mir nöthig scheinenden Untersuchungen ohne Weiteres vorzunehmen. Darf ich das?“

„Gewiß,“ meinte die Dame des Hauses. „Nur müssen Sie sich natürlich den von den Geistern gegebenen Anordnungen fügen. Ohne ein solches Versprechen von Ihrer Seite würden die Geister überhaupt nicht kommen.“

„Damit ist ja aber die mir soeben ertheilte Erlaubniß zur freien Untersuchung vollkommen illusorisch geworden. Die Geister werden mir eben Alles verbieten, was ihnen nicht paßt.“

Man zuckte die Achseln. „Die Geister bedürfen gewisser Vorbedingungen, um sich uns mittheilen zu können. Hoffen wir, daß sie Ihnen freie Hand lassen!“

„Ohne vorherige Anfrage darf ich also nichts thun, darf nicht im gegebenen Augenblicke mir mit Hülfe meiner Augen und Hände Aufklärung zu verschaffen suchen?“

„Gewiß nicht!“

„Dann verzichte ich auf die Rolle des Untersuchenden und begnüge mich mit der des Beobachters,“ schloß ich unmuthig. „Aber welches sind denn die hauptsächlichsten Vorbedingungen zur Manifestirung Ihrer Geister?“

„In dem Sitzungszimmer darf kein Feuer angezündet werden.“

Es war im März und bitter kalt.

„Dann werde ich mir erlauben, meinen Ueberzieher anzulegen. Und sonst?“

„Das Zimmer darf auch nicht erleuchtet sein. Nur in seltenen Fällen gestatten die Geister ein schwaches Halbdunkel.“

[12] 

Der Gratulationsbesuch bei der Gutsherrschaft.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz übertragen von Jac. Leisten in Düsseldorf.

[13]  WS: Das Bild wurde auf der vorigen Seite vervollständigt [14] „Welchen Regeln habe ich mich zu unterwerfen,“ fragte ich, „da Beleuchtung und Heizung nicht von mir abhängen?“

„Sie müssen den Platz einnehmen und behalten, den die Geister Ihnen anweisen. Wenn Sie Mitglied der 'Kette' sind, dürfen Sie Ihre Hände nicht vom Tische nehmen u. dgl. mehr.“

Ich konnte die Bemerkung doch nicht unterdrücken, daß auf diese Weise die Prüfung der Geister nur in sehr engen Grenzen möglich sei, daß man derart überhaupt nichts prüfen könne.

Man zuckte wieder die Achseln. „Wir Menschen können doch unmöglich wissen, wozu die Geister diese oder jene Anordnung treffen; wir können nicht anders, als uns diesen Anordnungen fügen.“

„Dann aber dürfen Sie nicht behaupten, wie Sie dies so oft thun und auch mir gegenüber gethan haben, daß der Spiritismus jede Prüfung gestatte und vor jeder Prüfung Stand gehalten habe,“ meinte ich. „Dann müssen Sie zugeben, daß Sie in ganz gewöhnlicher, ungeprüfter und unbewiesener Weise glauben, ohne diesen Glauben logisch beweisen zu können.“

„Wenn nicht logisch, so doch thatsächlich,“ entgegnete der Chemiker mit überlegenem Lächeln. „Warten Sie nur bis nach der Sitzung, dann werden Sie selbst gewiß anders sprechen.“

Diese unerschütterliche Siegesgewißheit verfehlte doch nicht, einen gewissen Eindruck auf mich zu machen, und mit großer Erwartung folgte ich der Gesellschaft in das eine Treppe höher gelegene Sitzungszimmer.

Ein kahles, kaltes Gelaß, ohne Feuer und ohne Licht. Nahe der Thür ein großer, massiver, runder Tisch, mit einem runden, großen excentrisch gelegenen Loche, der Oeffnung, durch welche die Geister ihre verschiedenen Productionen vorführen sollten. Um diesen Tisch ein Dutzend harte, ungemüthliche Stühle, im Hintergrunde ein gewöhnlicher Divan, so etwas wie ein Küchenschrank nahe dem Tische – das war das ganze Meublement des frostigen Zimmers.

Auf dem Flure brannte ein einsames Licht; die Thür wurde geschlossen, nachdem die ganze Gesellschaft Platz genommen hatte, und undurchdringliche Finsterniß umgab uns. Die Dame des Hauses, das Medium, saß zunächst der Geisteröffnung im Tische, ich auf dem Stuhle zu ihrer Rechten (ich wollte die rechte Hand der Dame unter meiner Controle haben). Die Sitzung begann, indem jeder Anwesende seine Hände auf den Tisch legte. Plaudern war gestattet, und so entspann sich bald ein leises Gespräch, das sich natürlich nur um die verschiedenen, bereits erlebten oder von Anderen erzählten Wunderdinge drehte. Plötzlich machte sich ein leises Klopfen an oder vielmehr unter dem Tische hörbar, etwa wie das Knacken eines Pistolenhahns – die Geister weilten in unserer Mitte.

Nun begann das zeitraubende Gespräch mit den Ueberirdischen, indem das Alphabet langsam hergesagt und der Buchstabe gemerkt wurde, bei dem der Tisch klopfte; zur Erleichterung des Verkehrs drückte der Tisch bei an ihn gestellten Fragen seine Bejahung durch dreimaliges und seine Verneinung durch ein einziges Klopfen aus.

Nach etwa einer Stunde dieses mühevollen Zwiegespräches befanden sich die Geister endlich in der angenehmen Verfassung, alle ihre buchstabenweise gegebenen Anordnungen erfüllt zu sehen und die „thatsächlichen Beweise ihrer Existenz“ beibringen zu können. In dieser Stunde nämlich wurden zuerst ich und dann noch drei Herren aus der Kette hinausbugsirt, und nur mit Mühe erlangten wir die Erlaubniß, hinter den Stühlen der Sitzengebliebenen uns aufhalten zu dürfen. Dann mußten die Sitzenden ihre Plätze so lange wechseln, bis in unmittelbarer Umgebung des an dem Geisterloche gebliebenen Mediums nur zwei sehr unschädliche alte Damen sich befanden, von denen ich die Eine aus guten Gründen für eine Helfershelferin der Dame vom Hause halten mußte. Nun wurde das Geisterloch mit einem großen Glassturze bedeckt, der vorher von einer im anderen Zimmer befindlichen Stutzuhr abgenommen worden war. Außerdem mußten die Damen ihre Kleider derart um den Tisch ausbreiten, daß der untere Raum desselben, von der Tischplatte abwärts, ganz abgeschlossen war – gleichsam ein Ankleidezimmer für die auf der Bühne erscheinenden Geister. Endlich wurde auf meine ausdrückliche Anfrage ein „schwaches Licht“ von den Ueberirdischen gestattet – es wurde dadurch hergestellt, daß man die zum Flure führende Thür in einem von den Geistern genau bestimmten Maße öffnete.

Und nun begann ein monotoner, wahrhaft schrecklicher Gesang aller Assistirenden, der sich innerhalb weniger, stets gleich bleibender Töne auf und ab bewegte – „damit die Gedanken der Anwesenden nicht von der Sache abgelenkt würden“, wie man mir auf meine erschrockene Anfrage über den Grund dieses Singsangs beruhigend erklärte; im ersten Augenblicke hatte ich nämlich nicht anders gedacht, als daß die ganze ehrenwerte Gesellschaft plötzlich den Verstand verloren habe.

Die Lage wurde immer kritischer, der Gesang immer ernster und schrecklicher; die Erwartung machte die Stimmen beben und die Hände schlottern, – es schien mir beinahe, als ob die alten Herren Furcht hätten. Da hörte ich ein leises Knistern und roch etwas wie Phosphor. Der Singsang wurde entsetzlich, denn jetzt mußten die Geister bald sichtbar werden, und richtig: plötzlich verstummte der Gesang; leise, von Furcht und Grauen erstickte Stimmen flüsterten: „Der Geist, der Geist,“ und Alles blickte unverwandt nach dem Glassturze über dem Loche. Auch ich, aber ich sah nichts als weiße, wallende Wolken innerhalb des Glases, und außerdem bemerkte ich noch, daß die eine Hand des Mediums nicht an ihrem Platze war. Nach einigen Secunden verzogen sich die Wolken aus dem Sturze, und Baron F. verfehlte nicht, dem verschwindenden „Geiste“ wie einem intimen Freunde zuzunicken und ihm zwei- oder dreimal mit zitternder Stimme nachzurufen: „Dank' Dir, lieber Geist, dank' Dir!“ Dann entfesselte sich ein wahrer Sturm unter den Anwesenden, – „er hat mir zugelächelt,“ – „er hat mir gewinkt,“ – „mir auch,“ – „er sah aus wie ein alter Mann,“ – „nein, wie ein Engel,“ – „es war ein kleines Kind,“ –„mit einer Wunde an der Stirn,“ – „ja, ja, ein Kind mit einer Wunde,“ riefen jetzt Mehrere, und plötzlich hatten Alle das verwundete Kind gesehen, auch diejenigen, die kurz vorher „einen alten Mann“ und „einen Engel“ erblickt hatten.

Nach und nach legte sich der Sturm der Begeisterung, und die Komödie (eigentlich Tragödie!) begann von Neuem; die Hände wurden wieder .in Ordnung gebracht, und der Singsang wühlte sich auf's Neue in mein Gehirn. Wieder die weißen Dampfwolken innerhalb des Glassturzes, wieder allgemeines „Ah!“ der Bewunderung und dann lautloses Schweigen, aber jetzt sah auch ich, wie die Wolken sich gleichsam verdichteten und endlich etwas in dem Glassturze erschien wie ein durchsichtiger, verschwommener Kopf. Richtig! Ein Gesicht mit blonden in die Stirn gekämmten Haaren, nach allen Seiten sich wendend und nickend, und endlich in die Oeffnung gleichsam zurücksinkend. „Aber das ist ja der Reflex eines Bildes, wie man sie so häufig vor dem Auftauchen der Daguerrotypie und Photographie anfertigte, eine elende Pinselei in Wasserfarben und in Holzmanier,“ hätte ich beinahe laut ausgerufen, aber ich besann mich noch zu rechter Zeit darauf, in welcher Gesellschaft ich mich befand, und schwieg.

Kaum hörte ich noch auf den weiteren Unsinn, der da vorgebracht wurde. Ich wollte einige Fragen an die „Geister“ richten, aber sie erklärten, zu der Antwort „jetzt nicht disponirt“ zu sein. Natürlich! Wann hätten so unendlich hochstehende Gewalten – überirdische oder irdische – sich je um die Scrupel des „beschränkten Unterthanenverstandes“ viel gekümmert!

Ich war froh, als die „Sitzung“ beendet war und wir uns in das Eßzimmer zu einem ganz ausgesucht leckeren Abendessen verfügten; ich hatte entschieden mehr Verständniß für die mir hier gebotenen materiellen Genüsse, als für die „geistigen“, die mir eine Treppe höher zu Theil geworden waren. Das schien auch die Gesellschaft zu bemerken, da ich kein Wort über das soeben Erlebte verlor; man war entweder zu stolz oder zu siegesgewiß, um mich zur Aussprache meines Urtheils zu veranlassen; nur Baron F., mein Nachbar, konnte nicht umhin, mich mit stolzem Selbstbewußtsein zu fragen, ob ich nun noch irgend einen Zweifel gegen den Spiritismus hege?! Glücklicherweise sprach er deutsch zu mir, so daß ich ihm antworten konnte, er möge doch so freundlich sein, mich wenigstens so lange mit jeder Discussion über diesen Gegenstand zu verschonen, wie wir uns in der Gesellschaft des Mediums befänden; das hörte auch Fräulein P., meine liebenswürdige Begleiterin, und unterdrückte die Fragen, die ihr schon auf den Lippen geschwebt hatten.

Als wir aber das Haus verlassen hatten, stürmte Alles auf mich ein.

„Nun?“ begann Fräulein P.

[15] „Nun,“ sagte ich, „solche Thatsachen werden im Leben nichts für Sie und den Spiritismus beweisen – ich halte den ganzen Vorgang für bewußten Schwindel, für bloße Taschenspielerkünste.“

Ungeheure Entrüstung von allen Seiten.

„Wir uns beschwindeln lassen! Unsinn! Haben Sie denn die Geister nicht selbst gesehen?“

„Erlauben Sie, meine Verehrten! Sie sind gläubige Spiritisten und sehen deshalb rasch, was Sie zu sehen wünschen und Andere sehen lassen wollen. Durch das Gespräch im Salon schon in die Wunder- und Märchenwelt versetzt, kommen Sie mit Anderen, die in derselben Verfassung sich befinden, in das finstere, kalte Sitzungszimmer. Sie sehen nichts, gar nichts von dem, was um Sie her vorgeht. Sie hören nichts Anderes, als Geschichten von den bisher erlebten Wunderdingen. Eine volle Stunde und darüber werden Sie mit Vorbereitungen gequält, bis die Anwesenden die 'fehlerfreie Kette' zu Stande gebracht haben. Was unter dem Tische vorgeht, das müssen Sie mit Hülfe Ihrer eigenen Kleider hermetisch von der Außenwelt abschließen, damit ja kein profaner Blick in den geheiligten Raum zu dringen vermöge. Sind Sie so gehörig vorbereitet, dann beginnt der 'Geistersang', und Sie, Fräulein P., die Sie so eminent musikalisch sind, werden mir gewiß zugeben, daß diese Musik im Stande ist, das bischen noch übrig gebliebene Ueberlegung – ich bitte um Verzeihung, meine Verehrten – vollends in Verwirrung zu bringen. Das Medium hat nun freies Spiel …“

„Aber die Geister waren doch effectiv da,“ unterbrach man mich, „.wir haben sie ja Alle gesehen.“

„Ein wenig Geduld, bitte! Die Aufmerksamkeit ist nun genügend abgelenkt, die Erwartung gespannt, – da brennt das Medium irgend eine Substanz an, welche diese weißen Wolken erzeugt. Ich wenigstens habe kurze Zeit vor der 'Erscheinung' deutlich ein Knistern gehört und einen Phosphorgeruch wahrgenommen.“

„Ich auch, ich auch,“ murmelten Einige, „aber so kündigen sich die Geister an.“

„Gleichzeitig ist eine Flamme angezündet worden – vielleicht in dem dem Tische zunächst stehenden Schranke, dessen unterer Theil inzwischen geöffnet wurde – und von einer ganz gewöhnlichen Wasserfarbensudelei, wie Sie deren in allen Trödelbuden finden und die einen schrecklich hölzern gemalten Männerkopf darstellt, ist mit Hülfe eines Reflexionsspiegels das Bild in den Glassturz, wie in eine camera obscura, geworfen worden.“

„Ah!“

„Und da der Glassturz rund ist, so stellt sich das Bild des Gesichtes ebenfalls rund dar; es nimmt damit eine natürliche Gestalt an, und Sie glauben, die Vordertheile eines Kopfes zu sehen.“

„Und wer soll denn das Alles gemacht haben?“

„Wahrscheinlich Mrs. V…“

„Aber sie hatte ja die Hände ununterbrochen auf dem Tische.“

„Nicht ununterbrochen. Aber abgesehen davon, wozu hat sie denn ihre Füße?“

„Und das Klopfen?“

„Ebenfalls mit Hülfe des Fußes und einer im Tische verborgenen kleinen Feder.“

„Haben Sie denn das Alles gesehen?“

„Dazu war es viel zu finster,“ entgegnete ich; aber ich erkläre mir das so auf die ungezwungenste Art; ich combinire mir das.“

„Immer betrügt Mrs. V… nicht,“ nahm nun eine kleine Dame schüchtern das Wort, „aber doch manchmal, wenn die Geister nicht kommen wollen. Sie ist ein gutes Medium sonst, und heute hat sie gewiß den Geistern nicht nachgeholfen.“

„Und woher schließen Sie, daß Sie es ein anderes Mal thut?“ fragte ich gespannt.

„Nun denn,“ sprach die junge Frau zögernd, „die Blume, welche Baron F. unlängst von den Geistern erhielt, lag vorher auf dem Schooße der Mrs. V., – ich saß neben ihr –, und ich sah deutlich, daß es auch ihre Hand war, die ihm die Blume durch die Oeffnung im Tische reichte. Der Baron wäre aber auch ganz untröstlich gewesen, wenn ihm die Geister das kleine Geschenk, um das er flehentlichst bat, verweigert hätten.“

Wie sehr bedauerte ich, daß der Baron, der Jurist und der Chemiker inzwischen weggegangen waren!

„Warum deckten Sie aber den Betrug nicht auf?“ fragte ich.

„Ich fürchtete mich,“ lautete die einfache Antwort.

Gräfin W. lachte vor sich hin.

„So darf ich wohl auch eine kleine Entdeckung zum Besten geben? Unter Ihrem Schutze, Herr Doctor,“ fügte sie hinzu.

Ich bat darum.

„Unlängst war ein Geist so freundlich, seine Hand anfühlen zu lassen – es war aber der nackte Fuß der Mrs. V. Ich habe es deutlich gesehen.“

Ich konnte mich eines lauten Lachens nicht erwehren.

„Und warum warteten auch Sie so lange mit der Entdeckung?“ fragte ich wieder.

„Weil es mir Niemand geglaubt hätte, auch mein Mann nicht,“ entgegnete die Gräfin. „Sie hätten Alle von Sinnestäuschung gesprochen, wenn ich auch meiner Sache noch so gewiß war.“

„Ich gebe zu, daß Mrs. V. manchmal den Geistern nachhilft,“ meinte Fräulein P. nun ziemlich kleinlaut, „aber ich bin noch fester davon überzeugt, daß sie es nicht immer thut. Wozu sollte sie es auch? Was für einen Grund hätte sie denn dazu?“

„Der Grund ist doch ziemlich leicht zu entdecken,“ wandte ich ein. „Sagen Sie, Fräulein P., würden Sie Mrs. V. besuchen, wenn sie kein Medium wäre? Würde diese Dame ohne ihre Geisterwirthschaft das für sie unschätzbare und auf gar keine andere Weise zu erreichende Glück haben, Koryphäen der Wissenschaft und der Gesellschaft in ihren Salons versammelt zu sehen? Halten Sie das für keinen genügenden Grund? – –

Wenn ich diese mir ewig denkwürdige „Sitzung“ sammt ihrem kläglichen Ende so ausführlich erzählte, so that ich dies, um dem deutschen Leser einen Begriff davon zu geben, in welch primitiver Art die hohen und höchsten Kreise in England sich manchmal von diesen scheinbar uneigennützigen Medien düpiren lassen. Aber auch für unsere Erörterung können wir einen wichtigen Satz daraus ableiten, denjenigen nämlich:

Kein sogenanntes, von den Spiritisten vollbrachtes Wunder ist im Stande, die Wahrheit des Spiritismus zu erhärten, so lange dieses Wunder auch als auf rein mechanischem oder technischem Wege erzeugt gedacht werden kann – gleichviel, ob man sich das Zustandekommen desselben sofort erklären kann oder nicht. Wir sehen auch von „Professoren der Magie“, d. h. Taschenspielern, oft genug Kunststücke selbst ohne Zuhülfenahme jedes Apparates ausgeführt, die unsere höchste Bewunderung erregen und deren Zustandekommen der Zuschauer sich gar nicht erklären kann, aber an eine Mithülfe von Geistern glaubt deshalb doch Niemand. Wir werden auf diesen Satz in einem zweiten Artikel zurückzukommen Gelegenheit haben.




Parlamentarische Photographien aus Versailles.

Von Julius Walter.[2]

1. Leon Gambetta.

Hätte Julius Cäsar den Leon Gambetta gekannt, nimmer hätte er den Wunsch geäußert: „Laßt nur Dicke um mich sein!“

Wenn Gambetta so daher streicht im behaglich schleifenden Schritte, den glänzenden Cylinder tief im Nacken, die fleischigen weißen Hände auf dem Rücken oder über das mächtig vordringliche Spitzbäuchlein gekreuzt, mit diesen feisten Wangen in sattem Bordeaux-Roth-Ton, da glaubt man einen guten Bourgeois vor sich zu haben oder einen reichen Weinhändler in Pension, nimmer aber den Banquo des Kaiserreiches, den „männermordenden“ Exdictator, von dem es noch kürzlich hieß:

„Denn was er sinnt, ist Schrecken;
Und was er blickt, ist Wuth. – –“

[16] Gambetta sieht, dank seiner Wohlbeleibtheit, weit älter aus als er ist, denn 1838 geboren, hat er das vierzigste Jahr noch nicht erreicht, aber er ist trotzdem ein alter politischer Kämpe, und kaum den Jünglingsjahren entwachsen, klopft er schon ganz gewaltig, als junger Advocat, dem Kaiserreiche auf die unsauberen Finger, führt in den Wählerversammlungen das große Wort, und als der Minister Pinard die Journale verfolgt, welche mit dem Klingbeutel zur Errichtung eines Monumentes für Baudin herumgehen, öffnet sich dem Vertheidiger in der Affaire Baudin sofort die große Pforte zur politischen Arena.

1869 candidirt er für die Kammer zugleich in Paris und in Marseille; hier gegen Thiers und Lesseps, dort gegen Carnot. „Ich nehme nur ein Mandat an,“ ruft er seinen Wählern zu, „das der unversöhnlichen Opposition,“ und ihm antwortet ein lautes freudiges Echo; in beiden Städten gewählt, nimmt er das Mandat von Marseille an, und Rochefort tritt in Paris an seine Stelle. Seine Wahl hält ganz Frankreich in Athem. Mit freudiger Erwartung sieht das Land auf den Neuerwählten; bange Ahnung beschleicht die Kaiserlichen. Da hält ihn ein Kehlkopfleiden von der Tribüne fern. Aber hergestellt, steht er bald an der Spitze der Unversöhnlichen – der Unversöhnlichste.

Keiner hat dem Kaiserreiche so wehe gethan wie er. Keiner hat es so energisch, mit solch meisterhafter Strategie und raffinirter Taktik bekämpft. Thiers kämpfte gegen Napoleon, wie er einst gegen Guizot kämpfte, Jules Favre wie ein findiger Advocat, der nebenbei sentimental ist, Rochefort wie ein Gassenjunge, aber Gambetta riß dem Kaiserreiche mit einem Griffe die falschen Feigenblätter des Liberalismus herab. Während noch ganz Europa den geheimnißvollen Mechanismus desselben anstaunte, nahm er eine Feder um die andere aus demselben heraus, und während noch die Welt vor dem schweigsamen Wundermanne zitterte, entlarvte er ihn als einen ganz gewöhnlichen Taschenspieler. Niemand begrüßt die „Krönung des Gebäudes“, Niemand die „liberale Aera“ mit solch grellauflachendem Hohne wie Gambetta. Mit zwingendster Ueberzeugung zeigt er die liberal geschminkte Lüge, die Unverträglichkeit des Kaiserreichs und der Freiheit. „Allgemeines Stimmrecht und Monarchie sind unverträglich; das Kaiserreich und die Freiheit schließen sich aus; sie bekämpfen sich auf Leben und Tod; sie harren nur ihrer Erbschaft; man kann nicht zwei so divergirende Meinungen an den Staatswagen spannen, ohne daß sie ihn zertrümmern und in den Abgrund stürzen“ – tönt es als ewige Melodie aus allen seinen Reden und aus dem Glaubensbekenntnisse vor seinen Wählern. „Der größte Fehler im staatlichen wie im sittlichen Leben ist die Lüge. Die Institutionen eines Staates müssen seinen Principien entsprechen; man kann nicht die Monarchie mit republikanischen, die Republik mit monarchischen Formen stützen“, ruft er warnend aus.

Als Ollivier in der denkwürdigen Sitzung vom 15. Juli 1870 mit „leichtem Herzen“ die Kriegserklärung an Preußen der freudig aufheulenden Kammer anzeigte, da bekämpfte ihn auch Gambetta mit wuchtiger Rede und verweigerte mit Thiers die Bewilligung der Kriegsmittel. Aber die enthusiastischen Verehrer und dithyrambischen Lobredner des Exdictators betrügen sich selbst, wenn sie ihn darob mit der Glorie eines Sehers umgeben. Damals gab es in der Kammer nur einen Mann, der die Kriegserklärung bekämpfte und verdammte in Kenntniß der unzulänglichen Mittel und der schwachen Kriegstüchtigkeit Frankreichs, nur Einen, der Frankreichs Niederlage ahnte – das war der kleine, fahle Mann im hohen bis zum spitzen Kinn zugeknöpften schwarzen Rock, mit der großen Hornbrille auf der Nase: Thiers, der vom Krankenbette herbei eilt und mit bebender Stimme die Versammlung beschwört, gegen den Krieg zu votiren, der, vom Geheule der Deputirten, bei welchem die Galerien mit brüllen, fortwährend unterbrochen, mit Schimpfworten und Drohungen überhäuft – man pfiff, polterte, erhob drohend die Fäuste – ruhig und muthig dastand und für Frankreich bat – ein dreiundsiebenzigjähriger Greis!

Wenn aber Gambetta mit seinen Genossen gegen den Krieg stimmte, so war es wahrlich nicht sein friedlicher Sinn und nicht seine Furcht vor Niederlagen, die ihn dazu drängten; Gambetta dachte nicht geringer von der französischen Armee und hielt sie für ebenso unbesiegbar, wie dies die Schreier auf den Boulevards thaten, die ihr „Auf nach Berlin!“ anstimmten und heulend vor den Fenstern Thiers' vorüberzogen. Auch Gambetta war eine Schlacht gleichbedeutend mit einem Siege, und ein französischer Krieg galt ihm gleich einer Eroberung; deshalb eben stimmte er mit den Seinen gegen den Krieg. Er fürchtete, daß, wenn das Blut vertrocknet, der Pulverdampf verraucht und das Todesröcheln der Gefallenen verstummt sein werden, das Kaiserreich, gestärkt und gefestigt mit der ganzen nationalen Glorie aus dem Kriege hervorgehen werde. Nicht die Furcht vor den Niederlagen der Armee, sondern vor ihren Siegen, nicht die Furcht vor Verlusten, sondern die Furcht vor Eroberungen, die Furcht vor den siegreich heimkehrenden kaiserlichen Adlern stimmte Gambetta gegen den Krieg. Nicht der Franzose, sondern der Parteimann Gambetta stimmte am 15. Juli 1870 gegen den Krieg mit Deutschland.

In die Regierung vom 4. September trat er als Minister des Innern neben Trochu als Kriegsminister und Ministerpräsident und Jules Favre als Vicepräsident und Minister des Aeußern. Seine Luftfahrt von dem rings eingeschlossenen Paris nach Tours und seine Wirksamkeit als Organisator des Widerstandes gegen die deutschen Truppen sind bereits zur Legende geworden. Seine Thätigkeit, seine Energie, sein Genie als Organisator des bewaffneten Widerstandes sind auch in der That bewundernswerth; staunenswerth ist es, mit welcher Leichtigkeit und Gründlichkeit er sich in Dinge findet und hineinarbeitet, die ihm noch kürzlich ganz fremd sind, von welch hohem Standpunkte er sie sofort überschaut und den Fachmännern dadurch Achtung und Vertrauen abringt; er stampft Armeen aus dem Boden – die Loirearmee, die Westarmee und die des Centrums – er bekleidet, bewaffnet, drillt und verproviantirt sie; er prüft die Bewaffnung, leitet Schießproben mit den neuen Gewehren, sitzt im Kriegsrath, correspondirt mit Jedem und Allen, wirkt überall anregend, aufmunternd und anspannend, und Alle fühlen die Uebermacht seines Genies, dem sich auch die alten Generale und die zur Vertheidigung des Vaterlandes herbeigeeilten Prinzen von Orleans beugen; er weiß die Departements mit der Hauptstadt zu versöhnen, das sinkende Vertrauen neu zu beleben und mit den heißen Flammen seiner Begeisterung die oft erlöschenden Gluthen des nationalen Patriotismus und Fanatismus zu neuem Brande zu entflammen.

Was ein ganzer Mann in den Tagen des Unglückes vermag, was er seinem Vaterlande werth ist – Gambetta hat es bewiesen; Frankreich hat es anerkannt, indem es ihm eine Viertelmillion seiner Söhne gab, um den Krieg bis auf's Aeußerste zu führen, den er auch noch forderte, als das Friedensparlament nach Bordeaux berufen wurde, welches er mit Protest gegen den Friedensschluß und gegen die Abtretung von Elsaß-Lothringen verließ.

Die wenigen Jahre seit dem Friedensschlusse haben Gambetta sehr verändert. Der einst schlanke, nervöse, rasch in heller Flamme auflodernde und wild dahinstürmende Jüngling ist heute ein wohlbeleibter, angenehm temperirter, maßvoll ausschreitender Mann. Die harte Schule des Septennats hat ihn gereift; sie gab ihm Zeit, Ein- und Umschau zu halten. Aus dem Agitator ist ein Organisator geworden, aus dem Parteimanne ein Staatsmann. Nicht Umstürzen, Aufbauen ist heute seine Parole. Und er weiß, daß über Nacht nur Luftschlösser gebaut werden, um beim ersten Morgengrauen wieder einzustürzen. Er weiß auch, daß das Wort wenig ist, der Name nichts zur Sache thut und die großen Phrasen seinem Vaterlande stets das größte Unheil brachten. Thiers, der ihn noch vor wenigen Jahren als „einen wüthenden Narren“ von der Tribüne herab stigmatisirte, sucht heute in ihm den Mann der Zukunft. Die Bourgeoisie, die Welt des Geldes und die Industrie, Handel und Börse, von der er sich kürzlich noch berühmen konnte, daß er, wie der Räuber Jaromir, „in ihrem Nachtgebet hart neben dem Teufel steht“, erkennt in ihm den wahren Bändiger der Revolution und den Bürgen des socialen Friedens. Baron Rothschild liest zwei Mal die „République française“, bevor er an die Börse geht. Wenn Gambetta spricht, ist die Diplomatenloge stets gefüllt; seine Reden werden nach dem stenographischen Protokoll im „Reichsanzeiger“ reproducirt, und der zwei Mal geschlagene Exrepublikaner Flognet nennt ihn bereits einen Abtrünnigen.

Gambetta ist heute vielleicht der friedliebendste Mann in Frankreich und derjenige, dessen Nachtruhe am wenigsten durch Revancheträumereien gestört wird. Seine Friedensstimmung ist echtfarbig. Er hat die Franzosen bei der Kriegsarbeit gesehen, wie Wenige; er weiß jetzt, daß die Franzosen nur im phantastischen Haupte Victor Hugo’s an der Spitze der Civilisation marschiren,

[17]

Mylord und Milady.
Nach einer Skizze von Herbert König aus dessen Album „Aus unserer Zeit“.


und wie breit und tief die allgemeine Unbildung bei ihnen ist. „Obligatorischer, unentgeltlicher Laienunterricht“, „Allgemeine Volkserziehung als Grundlage des Staates“ ist das Leitmotiv all seiner Reden seit sechs Jahren, ist das A und das O seines entschiedenen Kampfes gegen den verdummenden Clerus. „Dafür muß Geld vorhanden sein, Geld in Ueberfluß“ – ruft er in seiner berühmten Rede in Angers aus – „denn es handelt sich um Größeres, als um die Befreiung des Landes (Elsaß und Lothringen); es handelt sich um die Befreiung des Nationalgeistes. Das ist unsere Aufgabe und wohl auch die Aufgabe der nächsten Generation.“ In der Volkserziehung, in der Möglichkeit, die Jedem geboten, ja in dem Zwange, der Jedem angethan wird, durch den obligatorischen Unterricht zu lernen, sieht er auch die einzige Möglichkeit, die sociale Frage zu begrenzen, „denn es giebt kein Wundermittel, kein Universalelixir, Alle reich und glücklich zu machen,“ sagt Gambetta, worauf Louis Blanc die „République“ auf den socialistischen Index setzte.

Die „République française“, das Organ Gambetta’s, ist – ohne zu schmeicheln – das langweiligste Journal Frankreichs. Gambetta spielt da den journalistischen Brutus. Alle Nächte Schlag elf Uhr – die Redactions-Bureaus der Pariser Journale sind täglich von zwölf Uhr Mittags bis zwölf Uhr Nachts geöffnet; freilich erscheint auch das frühzeitigste nicht vor neun Uhr, und sie haben nur eine Ausgabe – erscheint Gambetta in der Redaction; im großen ledernen Fauteuil beim milden Schein der Lampe eine Havanna schmauchend, prüft er auf das Genaueste die Bürstenabzüge für das morgige Blatt, vom Leitartikel bis zur kleinsten Theaternotiz, bis zum harmlosesten [18] Inserat hinab und wacht strenge, daß kein Geist in das Blatt komme, und auch der geringste Keim von Esprit wird mit rücksichtsloser Hand ausgejätet. Diese sprüchwörtliche Langweiligkeit der „République française“, deren Anerkennung Gambetta mehr schmeichelt als aller Weihrauch, den man ihm sonst streut, hat die Existenz des Blattes gewährleistet, auf welches seit seiner Begründung (im November 1871) die polizeilichen Spürhunde fahndeten, ohne es jemals am Kragen fassen zu können. Ist das Blatt fertig, dann beginnt der große journalistische Kriegsrath für die nächste Nummer. Mit wenigen, aber charakteristischen Strichen weiß Gambetta die schwierigsten Fragen klar zu legen und die verwickeltsten aufzurollen; geistessprühend wie er ist, genügt oft ein Wort, um eine dunkle Situation zu erhellen. Er trifft stets den Nagel auf den Kopf. Da ist auch der Ort, wo er seinem oft derben Humor die Zügel schießen läßt und seine Gegner mit einem spitzen Worte niederspießt.

Herr Leon Gambetta führt aber nicht nur glänzend das Wort und schneidig die Feder, er ist auch ein Meister der Gabel; ist der Exdictator als Redner hinreißend, als Publicist überwältigend, so ist er als Zechcumpan bezaubernd. Gambetta ist groß auf der Tribüne, groß im Advocaten-Ornate, aber auch nicht weniger groß, mit der weißen Serviette umgürtet; er versteht nicht minder ein junges Huhn wie eine ministerielle Vorlage in ihre kleinsten Fäserchen zu zerlegen, und sein Keller ist nicht schlechter bestellt als seine Bibliothek, in welcher die besten deutschen Schriftsteller nicht auf dem obersten Gestelle stehen, freilich in französischer Uebersetzung, denn Gambetta kann nicht deutsch. Auch Bier kann er nicht trinken, doch hat er vor dem deutschen Biere eine hohe Achtung und macht sich weidlich lustig über Pasteur, den berühmten Chemiker, der den Franzosen, um sie für den Verlust von Elsaß, seines Bieres wegen, zu entschädigen, ein neues Bier nach streng wissenschaftlichen Grundsätzen in seinem Laboratorium brauen will.

Schon in nächster Zeit übersiedelt Gambetta in das neue Haus der „République française“, von dort ist aber nur ein kurzer Schritt zum Palais Elysée, in welchem Mac-Mahon bereits drei Jahre des Septennats abgedient hat.

Halb Frankreich hofft, halb Frankreich fürchtet, daß Gambetta diesen Schritt 1880 machen wird.




Die Taufe des deutschen Aristophanes.
Mitgetheilt von W. T.


An der Halle-Casseler Eisenbahn, ziemlich in der Mitte zwischen Nordhausen und Cassel, liegt – lang gestreckt – in dem schmalen Leinethal das freundliche Städtchen Heiligenstadt, die Hauptstadt des Eichsfeldes, bekannt durch die jährlich von da ausströmenden Arbeitermassen und als Burg des Ultramontanismus, einer Erbschaft aus der früheren Zugehörigkeit zum Kurfürstenthum Mainz. Weniger bekannt ist, daß das Eichsfeld eine Menge landschaftlicher Schönheiten und prachtvoller Aussichtspunkte besitzt, die trotz der Bahnverbindung noch ihres Bädecker oder Meyer harren, der sie für die größere Touristenschaar entdeckt.

Die Zeit, von welcher wir sprechen, kannte Eisenbahnen noch nicht, wohl aber lag Heiligenstadt an einer damals bedeutenden Verkehrsader, der sogenannten großen Rheinstraße; lange Reihen schwerer, hochbethürmter Frachtwagen und zweirädriger Karren, mit schweren Brabanter Hengsten bespannt, durchzogen die Straßen der Stadt, um ihre Abfertigung nach der nahen hessischen und hannoverschen Grenze auf dem Zollamte zu bewirken, denn es war noch die Zeit, wo jedes auch noch so kleine deutsche Vaterländchen seine Grenzen der Zufuhr aus dem Nachbarländchen nur gegen hohe Zölle öffnete – zum Glück vergangene und jetzt fast vergessene Zeiten!

Wenn man sich der Stadt auf der Rheinstraße von Nordhausen her nähert, erscheint zunächst ein Doppelthurm, bis zur Kreuzblume von massiven Sandsteinquadern gebaut, und scheinbar dazwischen stehend, ein schiefergedeckter Thurm, hochragend, von außerordentlich feiner, eleganter Form. Beide Kirchen, zu denen diese Thürme gehören, liegen auf hügeligen Erhöhungen. Die doppelthürmige Liebfrauenkirche auf dem Kirchberge inmitten der Stadt ist die katholische Hauptkirche; neben ihr sehen wir eine kleine Capelle in mustergültigem gothischem Baustyle. Die Martinskirche mit dem schlanken Schieferthurme auf dem „Berg“, am Westende der Stadt, wurde bei Aufhebung des Martinsstiftes der evangelischen Gemeinde überwiesen. Neben der Kirche liegt das frühere kurfürstliche Residenzschloß, hoch die Stadt überragend und weit über dieselbe hinweg in die hübsche Landschaft hinausblickend. Tief unter dem Schlosse, in einem schmalen ungepflasterten Gäßchen, blickt die Amtswohnung des evangelischen Geistlichen mit wenigen Fenstern trübe und traurig nach dem Gäßchen, desto freundlicher aber auf der Rückseite nach dem großen Obst- und Gemüsegarten. Das Haus, früher fast ganz überwachsen von weißen und rothen Kletterrosen, ist heute dieses Schmuckes beraubt, weil – es neu angestrichen werden sollte.

Es war um die Rosenblüthe 1825. Im Pfarrhause herrschte reges Leben. Die Hausfrau hatte vor einigen Wochen ihren Mann, den Superintendenten M. Gottlob Grimm, mit einem Zwillingspärchen beschenkt, und der morgige Tag war zur Taufe der Zwillinge bestimmt, zu welcher der Freund des Hauses, Dr. Bonitz aus Langensalza, als erbetener Pathe schon gestern eingetroffen war. Es sollte eine große Taufe sein, und alle Hände waren voll Arbeit, doch als der Hausherr die kurze Mittheilung machte: „Wir haben heute noch einen Gast,“ war es weniger das Erscheinen eines neuen Tischgenossen, was den weiblichen Theil der Familie beschäftigte, denn man lebte in einfachen Zeiten und war gewohnt, Gäste zu sehen, wenn auch bei einfacher Bewirthung und wenig Gerichten – es war mehr die ungewohnte lakonische Kürze der Mittheilung, welche über die Person des Fremden keine Auskunft gab und deshalb den Vermuthungen freies Spiel ließ.

Kurz vor zehn Uhr klingelte es, und die Dienstmagd, welche geöffnet hatte, meldete, es sei der blasse Göttinger Student, welcher in letzter Zeit öfter da gewesen, gekommen und habe sich sofort nach oben zum Herrn begeben, wo auch schon der Herr Dr. Bonitz warte. Damit war nun zwar der Gast bekannt, was aber der blasse Student so oft bei dem Hausherrn zu thun habe, darüber fehlte die Aufklärung. Nach zwölf Uhr erschienen die Herren im Familienzimmer und stellte der Hausherr den Fremden als stud. jur. Heinrich Heine vor, unwillkürlich auf den Vornamen einen stärkeren Accent legend, was den Freund Bonitz zu einem raschen Aufblicken und Lächeln veranlaßte. Das Mittagessen verlief still; der Hausherr und Bonitz führten die Unterhaltung ziemlich allein, aber auch nur mit halber Aufmerksamkeit. Heine betheiligte sich dabei nur so viel wie nöthig, um nicht unhöflich zu sein; sein Gesicht trug den Stempel tiefer innerlicher Erregung, und in den dunkeln Augen war erkenntlich, daß seine Gedanken nicht bei der Unterhaltung waren. Ebenso ging es den geistlichen Herren, die, beide als geistreiche Gesellschafter in ihren Kreisen bekannt, heute offenbar mit anderen als den geführten Gesprächsgegenständen beschäftigt waren und öfter ihre Blicke zu dem jungen Manne prüfend und doch mit einer besondern Milde und Freudigkeit hinüber gleiten ließen. Nach Tische empfahl sich Heine bald. Sein Abschied von dem Superintendenten Grimm war ein besonders herzlicher und warmer, und als er, schon an der Thür, sich nochmals umwendete und denselben wiederholt die Hand reichte, schimmerte es ihm feucht im Auge.

Nun theilte Grimm seiner Familie mit, daß heute der jüdische Student Heine von ihm die Taufe empfangen habe, nachdem die Vorbereitung dazu seit längerer Zeit geschehen, und daß Bonitz dessen Pathe sei. –

Ueber diese Taufe haben sich in den nachgelassenen Papieren des Superintendenten Grimm Aufzeichnungen gefunden, deren Bekanntwerden jedenfalls von weiterem Interesse ist. Ich gebe dieselben nachstehend im genauen Wortlaute der Originalien.

Ueber das Vorleben des Täuflings hatte Grimm sorgfältige Erkundigungen eingezogen, welche sehr günstig ausgefallen waren. Dahin gehörten vor Allem folgende „Zeugnisse, welche der Proselyt Heinrich Heine vorgelegt hatten“: Und zwar 1) Testimonium der [19] Juristenfacultät zu Berlin vom 23. December 1823 über mit ununterbrochenem Fleiße gehörte Vorlesungen. – 2) Testimonium für den Studiosus juris Harry Heine d. d. Berlin 24. December 1823 vom Rector der Universität Hoffmann: daß derselbe am 4. April 1821 immatriculirt und sich während seines Aufenthaltes auf der Universität gesittet betragen. – 3) Testimonium morum, unterzeichnet Bonn, den 14. September 1820. Königl. Preuß. Rhein-Universität. Augusti h. t. Rector: daß des Heine sittliches Betragen vom Herbste 1819 an, wo er die Universität bezogen, stets untadelhaft gewesen sei. – 4) Ein Dekanats-Zeugniß von demselben Dato, der Juristenfaculität, über gehörte Vorlesungen. – 5) Zeugniß des Directors des Gymnasii zu Düsseldorf Kortüm vom 16. September 1819, daß Harry Heine, ältester Sohn des Kaufmanns Heine zu Düsseldorf, vom Jahre 1809 bis Michaelis 1814 auf dem Lyceum in Hinsicht seines Fleißes und seines Betragens zu den vorzüglichsten Schülern gehört habe. – 6) Zeugniß des Prorectors Tychsen zu Göttingen vom 9. Februar 1821: daß Heine vom 4. October 1820, der Zeit der Aufnahme unter die Bürger der Universität, an sich durchaus lobenswerth betragen habe, aber am 23. Januar 1821 wegen intendirten Pistolenduells mit dem Consilio abeundi auf ein halbes Jahr bestraft worden sei. – 7) bis 9) Drei Zeugnisse der Aufnahme unter die akademischen Bürger d. d. Bonn, 13. December 1819, d. d. Göttingen, 14. October 1820, renovirt 30. Januar 1824, d. d. Berlin a. d. IV. mens. Aprilis 1821.

In mehr als einer Beziehung fesseln unsere Theilnahme die für gewisse theologische Richtungen unserer Zeit nach Inhalt und Form sehr beachtenswerthen „Gegenstände der Unterredung mit dem Studiosus juris Heine von Göttingen den 28. Juni 1825.“ Wir theilen dieselben hier vollständig mit:

„1) In der christlichen Religion ist die Vorstellung von Gott als einem liebevollen Vater der Menschen vorherrschend. – Seine Liebe und Fürsorge erstreckt sich nicht nur auf ein Volk, sondern umfaßt das ganze Menschengeschlecht. Seine Gesetze sind nicht Vorschriften der Willkür, sondern nothwendige Forderungen eines heiligen Wesens.

2) Durch äußerliche Ehrenbezeigungen und Handlungen wird Gott nicht verehrt, sondern durch fromme Gesinnungen und Empfindungen und durch ein mit den Vorschriften des Sittengesetzes übereinstimmendes Verhalten.

3) Die vollkommenste Belehrung über Gott, über seine Eigenschaften und über seine Rathschläge hat Jesus Christus den Menschen ertheilt. Zu den durch Jesum uns bekannt gemachten Rathschlüssen Gottes gehört: a) daß Gott durch Jesum sich am vollkommensten habe offenbaren wollen, und eine noch vollkommenere Religion und Offenbarung nicht zu erwarten sei; b) daß Gott den Menschen um Jesu Christi willen die Sünden verzeihen wolle; c) daß Gott die Menschen zu einem ewigen Leben bestimmt habe.

4) Jesus Christus war ein Gesandter Gottes, beauftragt: a) die Menschen zu belehren, b) für die Menschen zu leiden und zu sterben, c) als vollendetes Muster der Tugend ihnen vorzuleuchten.

5) Der Tod Christi soll nach Gottes Absicht und Willen den Menschen eine Bestätigung sein, daß Gott die Sünden verzeihen wolle. Uns liegt ob, um Verzeihung zu erlangen, diese Bestätigung gläubig anzunehmen und gelten zu lassen und uns mit allem Ernste der Besserung zu befleißigen.

6) Jesus hat zwei religiöse Gebräuche angeordnet, die wir Sacramente oder verpflichtende Handlungen nennen: a. die Taufe, zur Aufnahme in die christliche Religionsgesellschaft und zur Uebernahme der damit verbundenen Rechte und Pflichten; b. das heilige Abendmahl, zur Erinnerung an Jesu Tod, und zum verpflichtenden Zeichen, daß wir ihm angehören.

7) In dem künftigen Leben wird der Zustand der Menschen, ihrer Würdigkeit und ihrem Verhalten auf Erden gemäß, entweder selig oder unselig sein.

8) Die einzige Erkenntnißquelle der Lehre Jesu ist die heilige Schrift.“

Grimm hat zu verschiedenen Malen sich über dieses Examen geäußert und stets sehr anerkennend für Heine. „Die Antworten desselben,“ versichert er, „zeigten von eingehendem Nachdenken über den Inhalt und das Wesen der christlichen Religion, seine Fragen von scharfem Geiste; überhaupt nahm er die vorgetragene Lehre nicht einfach gläubig hin – er wollte überzeugt sein, und der Glaubenswechsel war ihm nicht ein bloßer Wechsel einer äußeren Form, erschien vielmehr als das Resultat einer aus dem Inneren dringenden Nothwendigkeit. Wir (Grimm und Bonitz) haben bei der Unterredung übereinstimmend die Ansicht gewonnen, daß Heine mit voller Ueberzeugung Christ geworden ist, und ich bin heute noch der festen Ansicht, daß sein späterer Skepticismus in Glaubenssachen nur auf der Oberfläche lag und er im innersten Herzen den Glauben an Gott nie verloren hat. Ich habe vor der Taufe tief in sein Innerstes geblickt, und er hat uns sein ganzes Denken und Fühlen bloß gelegt, ein Mensch aber, der so denkt und fühlt, wie Heine damals, kann meiner innersten Ueberzeugung nach den Glauben an Gott nie ganz verlieren.“ –

Auch die „Rede bei der Taufe des Proselyten Harry Heine, den 28. Juni 1825, Vormittags nach 10 Uhr“ ist noch erhalten. In derselben heißt es, nachdem Wesen und Vorzüge des Christenthums, ungefähr den Inhalt der soeben angegebenen „Gegenstände der Unterredung“ weiter ausführend, dargethan worden sind:

„Dies sind die unaussprechlich großen Segnungen, welche das Christenthum Ihnen darbietet, deren hoher Werth Ihr Gemüth ergreifen und mit dankbaren Empfindungen gegen Gott erfüllen muß, daß Sie zur Theilnahme an denselben gelangen sollen. Und obschon mit dem Bekenntnisse der Lehre Jesu in christlichen Staaten auch wichtige äußere Vortheile verknüpft sind, so sind es diese doch nicht und sollen es nicht sein, welche in dieser feierlichen Stunde Ihnen vorschweben. Durch höhere Güter müssen Sie sich angezogen fühlen. Ihrem Verlangen, an die Gemeine der Christen sich anzuschließen, muß die Ueberzeugung zum Grunde liegen, daß in dem Schoße derselben die reinste Gotteserkenntniß, die herrlichsten Belehrungen, die erquickendsten Tröstungen, die wirksamsten Antriebe zum Guten, die seligsten Hoffnungen der Menschheit zu finden sind.

Der Anspruch an diese Güter legt Ihnen aber auch die Verbindlichkeit auf, sich derselben würdig zu beweisen. Sie sollen gesinnt sein, wie Jesus Christus gesinnt war, und wandeln, wie er gewandelt hat. Sie sollen Ihren Glauben durch Reinheit der Sitten, durch Wohlwollen und Liebe, durch regen Eifer, Gutes zu wirken, durch gewissenhafte Pflichtachtung und Pflichterfüllung rechtfertigen. Das äußerliche Bekenntniß, die Annahme der Taufe, macht noch nicht zum Christen. Der Erlöser erklärt (Matth. 7, 21): Es werden nicht Alle, die zu mir 'Herr, Herr' sagen, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen thun meines Vaters im Himmel.

Bei der Taufe, die der Apostel Petrus (1. Petr. 3, 21) den Bund eines guten Gewissens mit Gott nennt, legen Sie das Gelübde vor Gott dem Allwissenden ab, ein gutes schuldloses Gewissen zu bewahren und den Namen eines Christen, den Sie erlangen, durch christliche Tugenden zu zieren. In erhabenen Ausdrücken schildert eben dieser Apostel die Vorzüge und die Würde der wahren echten Bekenner Christi, wenn er sagt (1. Petr. 2, 9): Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priesterthum, das heilige Volk, das Volk des Eigenthums, daß ihr verkündigen sollt die Tugenden des, der Euch berufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht.“ (Nach der Verlesung des Glaubensbekenntnisses erhob der Geistliche die Fragen:)

„Begehren Sie die Taufe und wollen Sie durch die Taufe zum Bekenntniß dieser Wahrheiten sich verpflichten? Und Sie (Dr. Bonitz), als erbetener Taufzeuge, halten Sie den Täufling für geeignet, die Taufe zu empfangen, und wollen Sie, daß die Taufe vollzogen werde? So verpflichten Sie sich zum treuen Bekenntniß der Wahrheiten des Christenthums und zur gewissenhaften Befolgung seiner Vorschriften durch einen Handschlag!

Zur Erinnerung an Ihre Aufnahme in die Gemeine Jesu Christi sollen Sie die Namen Christian Johann Heinrich empfangen.“ (Es erfolgte nun die Taufe und dann folgende Einsegnung:)

„Der barmherzige Gott, der Sie in das Reich und in die Gemeine Jesu Christi aufgenommen hat, der erhalte Sie in seiner Gnade und lasse Ihnen die Segnungen des Christenthums in reichem Maße zu Theil werden! Gott, Vater unseres Herrn Jesu Christi, du hast das Gelübde dessen gehört, der sich deinem Sohne und seiner Religion geweiht hat! du hast ihn in die Gemeine aufgenommen, die Jesus Christus sich erworben hat. Laß ihn auf immer sein Eigenthum sein, laß ihn in dem Lichte wandeln, das dein Sohn der Menschheit angezündet hat! Laß [20] ihn in den Anstalten der Besserung und Bildung, die von Jesu gestiftet sind, Ermunterung, Kraft und Stärkung, und in den Quellen des Trostes, die sich den Seinigen öffnen, erquickende Beruhigung finden! Laß ihn wachsen und zunehmen an christlicher Weisheit und Erkenntniß, an Liebe und Fleiß in guten Werken, laß ihn treu bleiben bis an’s Ende und das Ziel des Glaubens, die Seligkeit, davonbringen! O Vater im Himmel, sei mit ihm, leite ihn, regiere und segne ihn, und laß ihn Deine unendliche Huld um Christi willen erfahren! Ja, du erhörest uns, du wirst den Segen erfüllen, den ich jetzt im Vertrauen auf deine Erbarmung in Christo über ihn ausspreche.

Der Herr segne Sie und behüte Sie! Der Herr erleuchte sein Angesicht über Sie und sei Ihnen gnädig! Der Herr erhebe sein Angesicht auf Sie und gebe Ihnen seinen Frieden! Amen!“

Wir lassen zum Schlusse auch das über diesen Act ausgestellte „Taufzeugniß“ hier folgen. Es lautet:

„Nachdem der zu Düsseldorf den 13. December 1799 geborene, in Göttingen die Rechte studirende Herr Heinrich Heine am heutigen Tage in Gegenwart des Herrn Superintendenten Dr. Bonitz aus Langensalza über die Hauptlehren des Christenthums geprüft worden ist und aus der Prüfung sich ergeben hat, daß er die Wahrheiten des Christenthums richtig erfaßt habe und mit denselben vertraut sei, er auch sehr vortheilhafte Zeugnisse über sein sittliches Verhalten beigebracht hatte, so ist derselbe heute, als am 28. Juni 1825, in Gegenwart des Herrn Dr. Bonitz als Zeugen, von mir getauft worden, und hat mit Beibehaltung des Familiennamens Heine in der Taufe die Namen

Christian Johann Heinrich

empfangen.

Solches wird hierdurch pflichtmäßig bescheinigt und durch meine, des Pfarrers, der die Taufe verrichtet hat, Unterschrift, unter Beidrückung des öffentlichen Siegels, beglaubigt.

Heiligenstadt, den 28. Juni 1825.

M. Grimm,
Pfarrer der evangelischen Gemeine und Superintendent.“

Ob Heine wirklich, wie der Herr Pfarrer von Heiligenstadt so überzeugungsfest meint, aus innerstem Herzensdrange zum Christenthum übergetreten, ob der später so weltkluge und menschenkundige Dichter nicht schon damals doch eine praktischere Auffassung seiner Zugehörigkeit zur Gemeine der Christen hegte, wer kann das entscheiden? Wer vermag darüber ein vollgültiges Urtheil abzugeben, ob Heine in seiner späteren Zeit wirklich ein Skeptiker „nur auf der Oberfläche“ gewesen?


Blätter und Blüthen.


Nochmals die Eisenbahnen. Man hat durch Erfahrung festgestellt, daß im Winter der Mensch in seiner Wohnung bei circa 15° C. Wärme sich am wohlsten befinde. Namentlich bei sitzender Lebensweise. Ein Arbeitender, besonders ein Handarbeiter, bedarf weniger Wärme; Letzterer, z. B. ein Tischler, wird sich mit +10° C. gewiß vollkommen zufrieden erklären. Ein Denker, ein Schriftsteller – auch die Thätigkeit des Gehirns ist Arbeit – hat natürlich damit nicht genug, weil die Gehirnthätigkeit allerdings Stoffwechsel bedingt und Wärme erzeugend wirkt, aber nicht in dem Maße, wie das bei Handwerkern der Fall ist, wo der größte Theil der körperlichen Musculatur in Anspruch genommen wird.

Seit einem Monate und vielleicht noch länger haben wir eine durchschnittliche Temperatur von +3 bis 4° C., eine Wärme, welche keineswegs genügend erachtet werden kann, daß Jemand im ruhenden Zustande sich dabei behaglich oder, was dasselbe ist, wohl fühle. Trotzdem sind die Coupés der den Privatgesellschaften gehörenden Bahnen nicht, oder doch so mangelhaft geheizt, daß die Temperatur im Innern selten über +6° C. kommt. Dies ist durch thermometrische Beobachtung bewiesen. Stellt sich ein höherer Wärmegrad heraus, so ist er bedingt durch eigene menschliche Wärmeerzeugung.

Man kann sich vorstellen, wie unangenehm das Reisen in der jetzigen Jahreszeit für die Reisenden 1. und 2. Classe ist, denn die 3. und 4. Classe-Waggons sind gut geheizt; glücklicher Weise, weil die Waggons dieser Classen durchgehend, während die Waggons 1. und 2. Classe in vier oder fünf ganz geschiedene Räume getheilt sind. Es wäre daher sehr wünschenswerth, daß sich das Reichs-Eisenbahnamt dieser Sache annähme, da noch so viele Beschwerden des Publicums bis jetzt keinen Erfolg hatten.

Glücklich sind in dieser Beziehung die Süddeutschen daran; die Baiern, weil sämmtliche Waggons durch von dem Kessel der Locomotive ausgehenden Dampf geheizt werden, die Württemberger, weil ihre durch Gänge getheilten Waggons gut geheizte Oefen haben.

In den norddeutschen Waggons sind in eisernen Kästen gepreßte Kohlen als Heizung angebracht, eine äußerst unangenehme Wärme-Erzeugung wegen der brennenden Hitze, falls alle Kästen gefüllt werden, und vollkommen ungenügend, falls nur ein Kasten gefüllt wird. Die entsetzlichen Fußwärmer sind noch ungenügender, weil dabei die Luft nicht erwärmt wird.

Genügende Hülfe werden wir Norddeutschen wohl erst dann haben, wenn die Bahnen, wie in Süddeutschland, Staatseigenthum geworden sind. Denn es ist ja ganz natürlich, daß jede Gesellschaft so viel wie möglich zu sparen sucht und daß aus diesem Sparsystem sich nach und nach bei den Directoren und Beamten der Bahn der Wahn entwickelt, das Publicum sei der Eisenbahn wegen da, nicht aber die Bahn zum Nutzen und Frommen des Publicums. G. Rohlfs.     


Gratulation bei der Gutsherrschaft. (Abbildung Seite 12 und 13.) Der Düsseldorfer Maler Jac. Leisten hat den glücklichen Gedanken gehabt, uns eine häusliche Scene voll wohlthuender Contraste darzustellen. Er führt uns an das Lager einer jungen Mutter, und zwar in dem Augenblicke, wo eine jugendliche Freundin und die Dienerschaft des Hauses ihren ersten Wochenbesuch abstatten dürfen. Das Alles liegt so klar vor den Augen des Lesers, daß jedes Wort der Erklärung überflüssig erscheint. Oder sollen wir noch besonders hindeuten auf die rührende Schönheit der jungen glücklichen Mutter, auf die demüthig huldigende Frau, die ihr eigenes Kind bei sich hat, das Mädchen, das sich ganz verdutzt an der Schürze der Mutter festhält? Oder auf die sichtliche Scheu und Unbeholfenheit des Forstwarts und der hinter ihm sich nahenden Alten, über die sogar der Lakai am Eingang lächelt? Wie anmuthig füllen die übrigen Gestalten um die Wöchnerin das Bild aus! Ueberall freundliches Leben und doch eine Ruhe, als ob Alles der zur Schonung mahnenden Hand des Mannes zur andern Seite des Himmelbettes folgte. Das Bild spricht zum Gemüth, und darum ist es sicher, Vielen zu gefallen.


Aus dem Nachlasse Herbert König’s ist kürzlich eine Sammlung von Zeichnungen in photographischer Nachbildung unter dem Titel „Aus unserer Zeit“ in die Welt hinausgegangen. Das ansprechende kleine Werk zeichnet sich durch die an dem dahingegangenen Meister bekannten Vorzüge eines flott zugreifenden Humors und jener scharf treffenden Satire aus, welche ihre dem Leben abgelauschten Typen ebenso rücksichtslos wie pikant hinzustellen weiß. Daß jede Zeit immer am liebsten ihr eigenes Conterfei sieht, und zeige es ihr auch in mancher Linie einen beißenden Sarkasmus, das beweist wieder einmal der ungewöhnlich starke Absatz, den diese auch äußerlich höchst elegant ausgestatteten Zeichnungen „Aus unserer Zeit“ auf dem eben abgeräumten Weihnachtsmarkte gefunden haben.

Wir unsererseits führen unseren Lesern heute mit Genehmigung der Wittwe König’s ein reizendes kleines Bild aus der genannten Sammlung in bedeutend vergrößertem Maßstabe vor. „Mylord und Mylady“ ist das Product eines jener Momente, die im Leben unseres Künstlers nur hie und da hervortraten, jener Momente, wo an die Stelle der kecken, oft etwas schroffen Satire eine weiche poesievolle Stimmung trat, wo der Realismus seiner Lebensanschauung einer schönen Idealität Platz machte. Unsere Leser werden dieses duftige Bildchen als einen letzten Gruß des heimgegangenen talentvollen Zeichners gewiß freundlich aufnehmen.



Kleiner Briefkasten.

E. K. in Königshütte. Was die Bewohnbarkeit der Planeten betrifft, so wissen Sie wohl, daß wir uns in diesen Dingen auf hypothetischem Boden bewegen und man verschiedener Meinung darüber sein darf. Die Einzelnheiten Ihrer Einwendungen sind ganz richtig bis auf Ihre Ansicht vom Jupiter. Die Streifen dieses Planeten sind Wolkenlücken, und das Spectrum des Jupiter wies Wasserdampf in seiner Atmosphäre nach. (Vogel, Spectra der Planeten pag. 33.) Es muß sich deshalb auch nothwendig condensirtes Wasser (flüssig oder fest) auf dem Jupiter befinden. Ob wir dasselbe auf der Oberfläche zu suchen haben, ist eine zu weit gehende Frage; wir wissen es nicht. Die geringe Dichte des Jupiter scheint es allerdings wahrscheinlich zu machen. Doch läßt sich auch hierüber streiten. Jedenfalls haben Sie Recht, wenn Sie daran zweifeln, daß auf den noch ferner stehenden Planeten Saturn etc. noch gegenwärtig organisches Leben existire; diese haben ihre Aufgabe erfüllt, und die Sonne vernachlässigt sie deshalb. Wohl aber halte ich es für sehr wahrscheinlich, daß sie früher in Blüthe gestanden haben.

In Bezug auf die Eintheilung der Planeten in innere und äußere sind Sie im Irrthume. Die Grenzscheide zwischen diesen beiden Gruppen bildet der Ring der Planetoiden. Vergleichen Sie darüber z. B. Humboldt, Kosmos III, pag. 427 u. ff. Meyer in Z.     



Zur Nachricht!

An Novellen liegen augenblicklich noch vor und kommen schon in den nächsten Wochen zum Abdruck:

Frühlingsstürme von Alfred Meißner. – Im Himmelmoos von Herman Schmid. – Gebunden von Ernst Wichert (Verfasser des „Schuster Lange“). – Hohe Fluth von H. Harring.

Die Redaction.     


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Zum Gedächtniß der Januartage von 1077.
    D. Red.
  2. Verfasser der bekannten „Carlsbader Sprudelsteine“, auf die wir demnächst ausführlicher zurückkommen werden. D. Red.