Die Gartenlaube (1876)/Heft 9
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No. 9. | 1876. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
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setzungsrecht vorbehalten. |
Seit dem Gesellschaftsabend war eine Woche verstrichen; „eine entsetzlich fatiguirende Woche!“ seufzte erschöpft die Präsidentin und schalt gleich darauf nachdrücklich und energisch ihre Schneiderin, daß sie die Toilette zu dem achten dieser ermüdenden Tage nicht elegant genug arrangirt habe, daß die Schleppe absolut zu kurz, die Spitzen nicht breit genug, die Stoffe allzu leicht seien. Es waren mehrere große Damenthee’s und Kaffeegesellschaften in den höchsten Kreisen zu bewältigen gewesen; außerdem hatte Flora zu lebenden Bildern, die bei einem kleinen Hoffest gestellt wurden, die Verse machen und sprechen müssen, „man war kaum zu Athem gekommen.“
Henriette mußte aus Rücksicht auf ihr verschlimmertes Kranksein dieses aufregende Treiben streng meiden, und Käthe blieb, obgleich sie stets sehr freundlich mit eingeladen wurde, consequent bei ihr zu Hause. Dann tranken sie den Thee allein im Musikzimmer, und Käthe erzählte Schnurren und spielte unermüdlich Clavier, um Henriettens Trübsinn zu verscheuchen. So scharf auch die Urtheilskraft der Kranken war, so tief sie auch das Oberflächliche, die wehende Kühle in dem gesellschaftlichen Leben und Treiben empfand, sie war und blieb doch das Kind der vornehmen Welt; sie war im Salon, unter den aristokratischen Freunden der Großmama aufgewachsen, und so sagte sie oft bitter lächelnd, wenn zur Thee- oder Theaterstunde das Getöse der rollenden Wagen von der Stadt fern herüberscholl, ihr sei zu Muthe, wie einem invaliden Streitroß, das, lahm und schwach, beim Signal die Ohren spitze und um Alles gern mitlaufen möchte.
Blendend wie eine Fee schwebte Flora abschiednehmend durch das Musikzimmer. Sie hatte meist eine Unmuthsfalte zwischen den Brauen und ein Spottlächeln auf den Lippen, das den jugendlich knappen Toiletten der Großmama galt; sie beklagte die verlorene kostbare Zeit, aber sie warf den schützenden Schleier über die blumengeschmückten Locken, nahm die Schleppe auf und ging, um draußen den wartenden Wagen zu besteigen und – „sich zu opfern“.
Der Commerzienrath war vor sechs Tagen in Geschäften nach Berlin gereist. Er schrieb täglich an die Präsidentin „wahrhaft goldtrunkene Briefe“, sagte sie bedeutungsvoll lächelnd. Vorgestern aber waren prachtvolle Bouquets an die drei Schwägerinnen gekommen, und da hatte die Frau Präsidentin nicht gelacht. Für Flora und Henriette hatte der galante Schwager Camellien und Veilchen binden lassen, Käthe’s Rosenstrauch dagegen strotzte von Orangenblüthen und Myrthe. Der Präsidentin wäre wahrscheinlich die zarte Sprache aus der Ferne entgangen; sie nahm achtlos die Bouquets aus der Kiste und war eben im Begriff, die zwei für Henriette und Käthe bestimmten hinaufzuschicken, als Flora, sich schüttelnd vor Lachen, mit dem Finger auf das ausdrucksvolle Blumenarrangement zeigte. Da wurde das Gesicht der alten Dame lang und fahl, wie noch nie in ihrem ganzen, langen Leben. „Aber, Großmama, hast Du denn wirklich geglaubt, Moritz werde sich den Adel mit solchen Unsummen erkaufen, um dann sein Geschlecht aussterben zu lassen?“ rief Flora in ihrer übermüthigen, frivolen Scherzweise. „Du hättest doch wissen müssen, daß ein Mann wie er, noch ziemlich jung, reich und stattlich, nicht zeitlebens Wittwer bleiben wird! Und er freit nicht vergeblich um Käthe – das weiß ich am besten.“
Mit diesem kleinen Zwischenfall trat plötzlich ein Spukwesen in der Villa Baumgarten auf. Käthe ahnte sein Dasein nicht; sie hatte die auf Draht gebundenen Blumen mit frischem Wasser bespritzt, um sie nicht so rasch verschmachten zu lassen, und das Bouquet auf das Fensterbrett gestellt, ohne die bedeutungsvolle Blumenschrift verstanden zu haben. Durch die Gemächer der Präsidentin aber wandelte die graue dräuende Gestalt; sie verdüsterte den Glanz der vielfach beneideten Seidensammt-Möbel, der Goldbronzen und der unschätzbaren Meißner Porcellangarnitur; sie saß im Wintergarten auf dem Lieblingsplatz der Präsidentin und vergällte ihr den Genuß an Allem, was ihr das Leben schmückte. Die alte Dame sorgte um ihre Zukunft, als habe sie erst die Hälfte ihres Lebens hinter sich; der Commerzienrath durfte sich nicht wieder verheirathen; er war ihr das schuldig. Sie hatte ihn durch ihre Connexionen, ihren gesellschaftlichen Einfluß erst zu dem gemacht, was er geworden war; sie hatte mit ihrem unvergleichlichen Geschmack sein Haus zu einem kleinen Schloß umgestaltet, das selbst den verwöhntesten Hofleuten imponirte, und war es ihrerseits nicht ein bedeutendes Opfer, ein Act der Selbstüberwindung gewesen, mit welchem sie sich an die Spitze seines damals noch ziemlich simplen, bürgerlichen Hauswesens gestellt? Und nun, als sich Alles so gefügt, wie sie gewünscht und unablässig erstrebt hatte, nun sollte es plötzlich eine junge Frau von Römer geben, die hier unten in den prachtvollen Räumen empfing – und wer die Frau Präsidentin Urach sehen wollte, der mußte hinaufsteigen [142] in „das Auszugsstübchen“, das man „der Großmama“ eingeräumt. Nicht einmal Flora, das Kind ihrer eigenen Tochter, hätte sie an dieser Stelle sehen mögen, geschweige denn die Enkelin des Schloßmüllers. Die Frau Präsidentin sprach mit einem Mal sehr interessirt von Käthe’s Heim in Dresden; sie zeigte sich so besorgt, daß das wundervolle musikalische Talent vier Wochen lang brach liegen müsse, und ging mit der Idee um, das junge Mädchen in höchsteigener Person nach Dresden zurückzubringen.
Käthe ließ alle diese ausgesuchten Höflichkeiten schweigend über sich ergehen. Sie wollte abwarten, ob sich Henriette nicht doch durch Doctor Bruck bestimmen ließe, die Schwester zu begleiten. Bis jetzt hatte er noch keinen Versuch gemacht, wahrscheinlich weil er den Plan an der Reizbarkeit der Kranken nicht scheitern sehen mochte, und aufgeregt und gereizt war sie augenblicklich in hohem Grade. Er kam jeden Morgen um die bestimmte Stunde. Die Wohnzimmer der beiden Schwestern stießen an einander, und die Thür stand stets offen. Käthe hörte dann seine beschwichtigende Stimme, sein sanftes Zureden; er konnte aber auch so herzlich auflachen, daß die Kranke unwillkürlich einstimmte. Für Käthe’s Ohr hatte dieses metallreiche, frohmüthige und doch so angenehm beherrschte Lachen einen eigenthümlichen Reiz – es zeugte so unwiderleglich von der unangetasteten Jugendfrische der Seele; es bewies ihr, daß er seiner Sache, seiner Zukunft gewiß war, daß er sich auch innerlich absolut nicht den tausend Widerwärtigkeiten und Kränkungen beugte, die auf ihn einstürmten.
Sie selbst sprach ihn nicht. Um diese Zeit meist an ihrem Arbeitstische sitzend, konnte sie ihn drüben auf- und abwandeln sehen, aber so unzertrennlich auch sonst die beiden Schwestern waren, kurz vor der Besuchsstunde des Arztes zog sich Henriette stets in ihr Zimmer zurück, und Käthe hütete sich, mit einem hinübergerufenen Worte oder auch nur einem verständnißvollen Blicke Theilnahme an dem Gespräche zu verrathen, die von der Kranken offenbar nicht gewünscht wurde. … Die Tante Diaconus aber sprach sie sehr oft, und zwar in der Schloßmühle. Die alte Frau sah täglich nach Suse, seit sie so nahe wohnte; sie brachte ihr Suppen und eingemachte Früchte und saß stundenlang bei der Haushälterin, die sich durchaus nicht darein fand und sehr unglücklich war, daß es mit dem Spinnen, Stricken und Waschen „immer noch nicht gehen wollte“.
Das waren trauliche Dämmerstündchen in der Schloßmühlenstube. Die Tante erzählte aus ihrer Jugend, aus der Zeit, wo sie noch „die Frau Seelsorgerin“ im Dorfe gewesen war; sie beschrieb den schweren, thränenreichen Moment, wo sie den Doctor als achtjährigen Knaben aus dem Elternhause weggeholt hatte, weil ihm Vater und Mutter in Zeit von wenigen Tagen gestorben waren, und mochte sie auch mit kleinen Erlebnissen aus ihrer sonnigen Mädchenzeit oder aus ihrem glücklichen Eheleben beginnen, stets und immer gipfelten ihre Schilderungen in dem Zusammensein mit dem Doctor, der so recht der Sonnenschein ihres Lebens geworden war, wie sie versicherte.
Beim Nachhausegehen begleitete Käthe die alte Frau den rauschenden Fluß entlang bis an die Brücke. Die kleine Hand der Tante lag dann auf dem Arme des jungen Mädchens, und sie wandelten dahin, wie zusammengehörig, als müßten sie auch mit einander über die Brücke schreiten und hineingehen in „des Doctors Haus“, das so still und friedlich, so weltverloren und vom Dämmerlichte eingesponnen, hinter dem Ufergebüsche lag. Die Abende waren noch sehr frisch, und von dem schwarzen, starrenden Walde her zogen dünne Nebelschleier und feuchteten Haar und Kleider – da schlüpft man gern unter das gastliche Dach, auf welchem der Schornstein raucht. Gewöhnlich brannte schon die grünverschleierte Lampe in der Eckstube; durch das eine unverhüllte Fenster fiel ihr Licht, breit und hell, schräg über die Brücke. Die heimkommende alte Frau konnte nicht fehlgehen, wenn es auch schon tief dunkelte. Dann ging sie hinein; der letzte Fensterladen wurde geschlossen, und dort in der behaglichen Ofenecke – Käthe konnte sie mit ihren scharfen Augen vollkommen übersehen –, wo der grüne, verblichene Fußteppich lag und hinter dem runden Tische ein hochlehniger, gepolsterter Armstuhl stand, arrangirte sie geräuschlos den Abendtisch und wartete strickend, bis der Doctor sein Pensum beendet hatte. …
Das hatte sie dem jungen Mädchen auf der Abendwanderung wiederholt geschildert, und gar so gern blieb sie dann einen Augenblick auf der Brücke stehen, überblickte ihr trautes Heim und deutete lächelnd nach dem Manne, der arbeitend seinen dunkellockigen Kopf über den Schreibtisch beugte. Aber er sprang dann gewöhnlich auf und öffnete das Fenster, denn der neu angeschaffte Kettenhund fuhr mit wüthendem Gebelle auf die Herankommenden los. „Bist Du es, Tante?“ rief der Doctor herüber. Bei diesen Lauten floh Käthe aus dem Bereiche des Lampenscheines. Mit einem flüchtigen „Gute Nacht!“ stürmte sie die einsame Allee hinauf; sie kam sich vor wie ausgestoßen, und so mußte auch ihm später zu Muthe sein – falls er Flora wirklich noch an seine Seite zu zwingen vermochte –, wenn er aus dem Hause am Flusse in die Stadtwohnung zurückkehrte und von seinem Weibe, der Seele des Hauses, mit kühlem Gruße am Schreibtische, oder geschmückt zu einer Abendgesellschaft, im flüchtigen Vorübergehen empfangen wurde. – –
Es war am siebenten Tage nach der Abreise des Commerzienrathes, als die Nachricht aus Berlin eintraf, daß die Spinnerei verkauft sei. Die Präsidentin war von dieser Neuigkeit so angenehm berührt, daß sie, noch im Cachemirschlafrocke, mit dem Briefe in der Hand, die Treppe zur Beletage hinaufstieg und in Henriettens Zimmer trat, wo sich auch Flora kurz vorher eingefunden hatte.
Die alte Dame setzte sich in einen Lehnstuhl und erzählte. „Gott sei Dank, daß Moritz ein Ende macht!“ sagte sie heiter gestimmt. „Er hat ein brillantes Geschäft abgeschlossen; das Etablissement wird ihm so horrend bezahlt, daß er selbst ganz überrascht ist.“ Sie legte die feinen Hände gefaltet auf den Tisch und sah unendlich zufrieden aus. „Er wird nun ganz und gar mit seiner kaufmännischen Vergangenheit brechen. Damit fallen auch die fatalen Rücksichten für die sogenannten Geschäftsfreunde weg; denkt nur zurück, wie oft wir ungehobelte Gäste beim Diner gehabt haben, die besser am Domestikentische gesessen hätten! Mein Gott, waren das peinliche, verlegene Momente! Ach ja, man hat sich so manchmal stillschweigend überwinden müssen.“
Käthe stand währenddem am Fenster. Von dieser Stelle aus konnte man das große Fabrikgebäude inmitten seiner unvollendeten, neuen Anlagen liegen sehen. Der weite Kiesplatz vor dem Hause wimmelte von Menschen, von Männern, Weibern, Kindern, die aufgeregt durcheinanderfuhren und gesticulirten. Die Maschinen standen verlassen; es mochte kein einziger Arbeiter in den Sälen verblieben sein.
Das junge Mädchen am Fenster deutete betroffen hinüber.
„Weiß schon,“ sagte die Präsidentin lächelnd; sie erhob sich und trat an das Fenster. „Der Kutscher hat mir eben im Corridore Meldung gemacht, es solle sehr laut da drüben zugehen. Man ist außer sich, daß die Spinnerei an eine Actiengesellschaft verkauft worden ist, deren Directorium hauptsächlich aus Juden zusammengesetzt sein soll. Ja, ja, so geht’s, die guten Leute ernten nun, was sie gesäet haben. Moritz hätte auf keinen Fall so überraschend schnell tabula rasa gemacht; sein Herz hing ja in für mich unbegreiflicher Weise an der Spinnerei, aber die letzten Vorgänge haben ihm den Besitz gründlich verleidet, er will mit der Sache nichts mehr zu thun haben.“
„Das sieht genau aus, als habe er sich gefürchtet, der gute Moritz,“ meinte Flora mit verächtlich sich wölbenden Lippen. „Ich für meinen Theil hätte gerade in diesem Momente die Fabrik nicht für Millionen hingegeben; erst mußten die Kläffer sich überzeugen, daß ihr Lärmen umsonst gewesen sei, daß man ihre Schreckschüsse verlache. Der Grimm schnürt mir den Hals zu, wenn ich mir denke, es könnte nun heißen, die Drohbriefe an mich hätten uns eingeschüchtert.“
„Sei ruhig, Flora! Das glaubt Niemand von Dir; man sieht Dir die Soldatencourage und Zuversicht auf hundert Schritte an,“ spottete Henriette.
Die schöne Schwester rauschte schweigend nach der Thür; sie ignorirte ja derartige Bemerkungen der Kranken stets mit einem kalten Lächeln, und auch die Großmama erhob sich, um Toilette zum Diner zu machen.
„Bruck hat Dir für heute einen kleinen Spaziergang erlaubt, Henriette?“ fragte die alte Dame, sich an der Thür noch einmal zurückwendend.
[143] „Ich soll mich ein wenig im Stadtforste ergehen, um Tannenharzluft zu athmen.“
„Dann werde ich mich anschließen,“ sagte Flora. „Ich brauche auch Luft, Luft, um nicht zu ersticken unter der Last von Widerwärtigkeiten, die mir das Schicksal aufbürdet.“
Sie reichte der Präsidentin den Arm, um sie die Treppe hinabzuführen.
Henriette stampfte zornig mit dem Fuße; sie hätte weinen mögen vor Aerger, aber verhindern konnte sie es doch nicht, daß die schöne Schwester nach Tische im weißen Filzhütchen, den Palmblattfächer in der Hand, erschien, um sie auf dem Waldspaziergange zu begleiten.
Es war ein herrlicher Apriltag mit wolkenlos blauem Himmel, mit glitzerndem Sonnengolde auf Weg und Steg und dem Dufte der ersten Veilchen in seinen sammetweichen Lüften. Noch war es hell in dem Streifen Laubwald, der den schwarzgrünen Mantel des Tannenforstes gleichsam verbrämte, so hell, als sei die Kuppel von diesen sonst so wonnig dunkelnden Säulengängen genommen; noch lag das machtvolle Grün, das die knorrigsten Aeste bewältigt und sie geschmeidig jung aussehen macht, zu Milliarden weicher Flöckchen zusammengedrückt, im engen, braunen Schrein der Knospen; nur das feinzweigige Unterholz umschleierte ein bläßlich grüner Hauch, und aus den feuchten Moospolstern reckten sich langstielige weiße Glöckchen. Diesen kleinen hellen Blumen ging Käthe pflückend nach, während Flora und Henriette auf dem schmalen Wege blieben, der nach dem Tannengrunde führte.
Still war es heute nicht im Walde – es war der Tag, an welchem sich die Armen der Stadt das dürre Holz holen durften. Man hörte das Einknicken verdorrter Aeste, das gegenseitige Zurufen von Menschenstimmen, und tief im Gestrüpp stand Käthe plötzlich vor einem braunen Weibe, das eben einen abgesägten armstarken Buchenast zu Boden riß. War es, weil sie grünes statt des erlaubten dürren Holzes in den Händen hielt, oder machte ihr die unerwartet hervortretende Erscheinung selbst einen zornerregenden Eindruck – sie warf unter dem lilafarbenen Tuch hervor, das sie um den Kopf gebunden hatte, einen wilden Blick auf das junge Mädchen; in der Art und Weise aber, wie sie, kerzengerade aufgerichtet, mit dem Ast gleichsam spielend über den Boden hin- und herfegte, lag eine freche Herausforderung.
Käthe fürchtete sich nicht im Geringsten; sie bückte sich, um eine ganze Familie Anemonen unter dem nächsten Strauche zu pflücken; in diesem Augenblick drang vom Wege her ein vereinzelter Ruf, ein schwacher Laut, dem ein Tumult von geflissentlich gedämpften Stimmen folgte.
Das Weib horchte auf, schleuderte den Ast fort und schlug sich in der Richtung des Lärms quer durch das Untergesträuch. Und jetzt zitterte der Aufschrei wieder herüber – es war Henriettens krankhaft verschleierte, dünne Stimme. Käthe folgte der Frau auf den Fersen; die Dornen rissen ihr Fetzen vom Kleide, und die Büsche, die das Weib mit kräftigen Armen theilte, schlugen zurückschnellend und klatschend in ihr Gesicht, aber sie kam rasch heraus auf den Weg.
Zuerst sah sie nur einen Knäuel von Weibern und zerlumpten Jungen, der sich um den Stamm einer Kiefer drängte; bei den heftigen Bewegungen der Versammelten aber theilte sich da und dort das Conglomerat von struppigen Haaren und schmutzigen Kopftüchern und ließ Flora’s weißes Hütchen mit der emporstehenden blauen Feder auftauchen.
„Lasse den Zwerg los, Fritz!“ rief ein bärenhaftes Weib.
„Aber sie schreit ja wie närrisch,“ sagte eine Jungenstimme.
„Ach was, das Piepen hört kein Mensch.“ Die Frau hatte eine breite Stumpfnase und kleine, boshafte Augen und überragte in hünenhafter Länge alle Anderen.
Jetzt sprach Flora – Käthe erkannte kaum ihre Stimme.
Ein vielstimmiges Hohngelächter antwortete ihr.
„Aus dem Wege gehen?“ wiederholte das große Weib. „Das ist der Stadtforst, Fräulein; da kann der ärmste Bürger spazieren gehen, so gut, wie die großen Herren – den will ich sehen, der mich da vertreibt.“ Sie stellte sich noch breitspuriger hin. „Da guckt her, ihr Leute! Unsereins sieht das Gesicht sonst nur in der stolzen Kutsche, wenn die Pferde um die Ecken rennen und den armen Leuten am liebsten die Beine wegfahren möchten. … Ein schönes Frauenzimmer sind Sie, Fräulein – das muß Ihnen der Neid lassen. Alles Natur, nichts angestrichen; eine Haut wie Sammet und Seide – ’neinbeißen möchte man.“ Sie bog den Kopf dicht neben das weiße Hütchen.
Die Frau, die vor Käthe hergelaufen war, wühlte sich förmlich in den Kreis. „Da kommt noch Eine!“ rief sie und zeigte mit dem Finger auf das junge Mädchen zurück.
Die Nächststehenden fuhren herum und traten unwillkürlich auseinander. Da stand Schwester Flora, weiß wie Schnee auf Wangen und Lippen; man sah ihre Kniee wanken – sie rang sichtlich nach der gewohnten stolzen Haltung.
„Die geht uns nichts an,“ schrie ein Junge und wandte Käthe den Rücken; der Kreis schloß sich wieder, noch enger, dichter als vorher.
„Käthe!“ rief Henriette in hülfloser Angst hinter der Mauer von Menschenleibern, aber der Ruf wurde sofort erstickt; man hörte deutlich, daß ihr eine Hand auf den Mund gepreßt wurde. In demselben Moment taumelten drei, vier Jungen rechts und links. Käthe stieß mit kraftvollen Armen selbst das Hünenweib auf die Seite und trat vor ihre Schwestern. „Was wollt Ihr?“ fragte sie mit lauter, fester Stimme.
Einen Augenblick standen die Angreifer bestürzt, aber auch nur einen Augenblick – es war ja nur ein Mädchen mit einem blutjungen Gesicht, das da zu Hülfe kam. Nun wurde auch sie unter lautem Gelächter mit eingeschlossen.
„Tausendsapperlot, die fragt ja so kurz und knapp wie die Herren auf dem Gericht,“ rief die Große und schlug sich klatschend auf die breite Hüfte.
„Ja, und thut so stolz, als ob sie directement von den heiligen drei Königen abstammte,“ fiel die Frau im violetten Kopftuch ein. „Hören Sie, Ihre Großmutter war aus meinem Dorfe. Schuh’ und Strümpfe hab’ ich dazumal nicht an ihren Füßen gesehen, und ich weiß auch noch recht gut, wie Ihr Großvater Hü und Hott bei dem alten Müller Klaus seinen Pferden machte –“
„Glaubt Ihr, ich weiß das nicht, oder ich schäme mich dessen?“ unterbrach sie Käthe ruhig und kalt, aber jeder Blutstropfen war ihr aus dem ernsten Gesicht gewichen.
„Wär’ auch noch schöner – ist Ihnen doch sein Geld gut gewesen, das viele, viele Geld,“ rief eine Dritte, sich dicht an das junge Mädchen hinandrängend. Sie griff nach Käthe’s seidenem Kleide und rieb den Stoff prüfend zwischen den Fingern. „Ein schönes Kleid! Ein Staatskleid! Und so mitten in der Woche und im Walde, wo die Fetzen an den Dornen hängen bleiben! Na, was schadet’s denn? Das Geld ist ja da. Spreukörbe voll haben sie bei dem Alten gefunden. Aber wo es hergekommen ist? Gelt, darnach wird nicht gefragt? Ob der Schloßmüller den armen Leuten das Korn vor der Nase weggekauft und auf seinen Böden eingeschlossen hat, viel tausend scheffelweise – das ist Ihnen sehr einerlei, Fräulein. Und ob er gesagt hat, es müßte erst so und so hoch im Preise steigen, ehe er auch nur eine Schaufel voll hergäbe, und wenn die Leute wie die hungrigen Mäuse pfiffen –“
„Lüge!“ rief Käthe außer sich.
„So – Lüge? Es ist wohl auch nicht wahr, daß wir nun den Gründern in die Krallen geworfen werden? Die nehmen uns die letzte Kartoffel aus dem Topfe. Das giebt ein Unglück. Meine Tochter geht lieber in’s Wasser, als daß sie bei den Menschenschindern arbeitet.“
„Und mein Bruder schießt sie am ersten Tage über den Haufen,“ prahlte ein halbwüchsiger Bursche.
„Ja, wie dem Zwerg da seine Tauben,“ sagte ein anderer anzüglich und mit den Augen blinzelnd und zeigte auf Henriette, die sich mit zuckendem Gesicht, in wahnsinniger Angst an Käthe anklammerte.
Da scholl in ziemlicher Nähe das Gekläff eines Hundes. Augenblicklich richtete sich Flora auf, und der ganze kalte Hochmuth, der ihr zu Gebote stand, spiegelte sich auf ihrem Gesicht. „Was geht mich der Verkauf der Spinnerei an?“ fragte sie verächtlich. „Macht das mit dem Commerzienrathe aus! Er wird Euch schon zu antworten wissen. Und nun, marsch aus dem Wege! Eure Unverschämtheit soll Euch sehr schlecht bekommen – darauf könnt Ihr Euch verlassen.“
Sie streckte den Arm mit einer herrischen Geberde gegen [144] die Umstehenden aus, aber das große, starke Weib ergriff die feinbekleidete Hand, als sei sie zu einem freundschaftlichen Druck geboten, und schüttelte sie derb, mit gutgespielter Treuherzigkeit; dabei lachte sie aus vollem Halse, und die Anderen stimmten johlend ein. „Fräulein, Sie kriegen ja Courage, wie ein Gensd’arm – wohl, weil dort drüben“ – sie zeigte mit dem Daumen über die Schulter zurück – „ein Hund gebellt hat? Das ist dem Kreiser Sonnemann sein Dachsel; ich kenn’ ihn an der Stimme, und der alte Sonnemann ist stocktaub, und sein Dachsel geht nicht von ihm weg. Die gehen miteinander nach Oberndorf in die Schenke, wie jeden Nachmittag. Hierher kommen sie nicht – da seien Sie ganz ruhig! Und es geht Sie wirklich nichts an, Sie schönes Frauenzimmer, Sie, daß die Spinnerei verkauft worden ist? Wer’s glaubt! Man braucht Sie nur anzusehen, da weiß ein Jeder gleich, wo Barthel Most holt. Sie und die alte Madame regieren und commandiren, und der Commerzienrath hat blos zu gehorchen, und weil er nun reich genug ist, da sollen die gemeinen Leute, die ihm das Geld verdient haben, abgeschüttelt werden wie Ungeziefer. Na, ändern können wir’s freilich nicht, aber bedanken wollen wir uns doch bei Ihnen, Fräulein.“
Sie rückte näher, und der funkelnde Blick aus ihren kleinen, schiefen Augen hatte etwas katzenartig Grausames.
Flora schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht. „Gott im Himmel, sie wollen uns ermorden,“ stöhnte sie tonlos mit bebenden Lippen.
Der ganze Chor lachte.
„Denken Sie nicht daran, Fräulein!“ sagte die Frau. „So dumm sind wir nicht. Da geht’s uns ja selbst,“ sie strich sich bezeichnend mit der Hand unter dem Kinne weg, „an den Kragen; was haben wir davon? Nur einen kleinen Denkzettel sollen Sie haben.“
Flora griff plötzlich, wie infolge einer plötzlichen Eingebung, in die Tasche ihres Kleides, öffnete ihr Portemonnaie und schüttete den ganzen Inhalt, Gold und Silber, auf die Erde. Sofort erweiterte sich der Kreis, und die Vordersten, meist Knaben, waren im Begriffe, sich über das Geld herzustürzen. „Untersteht Euch!“ schrie die Große und stellte sich mit ausgestreckten Armen zurückdrängend vor sie hin, daß sie wie eingekeilt standen. „Dazu ist’s nachher auch noch Zeit. Nachher, Fräulein,“ wandte sie sich bedachtsam und ironisch höflich an die schöne Dame, „erst den Denkzettel!“
„Hüten Sie sich, uns zu berühren!“ sagte Käthe. Sie behielt vollkommen ihre Fassung, während beide Schwestern dem Umsinken nahe waren.
„Ach Sie! Was mischen Sie sich denn da hinein? – Vor was soll ich mich denn hüten? Ein paar Wochen brummen,“ sie machte eine wegwerfende Bewegung, „das läßt man sich schon einmal gefallen, und mehr geben sie Einem beim Gerichte nicht für – na, für eine Ohrfeige, oder ein paar Schrammen im Gesichte. Und die sollen Sie haben, Fräulein, so gewiß wie ich dastehe,“ wandte sie sich mit erhöhter Stimme an Flora. „Ich will Ihre schneeweiße Haut malen, daß Sie zeitlebens an mich denken. Sie sollen ein Gesichtchen kriegen, so schöngestreift wie ein Tigerthier in der Menagerie.“
Blitzschnell hob sie die Hände, um mit den schmutzigen Nägeln Flora’s Gesicht zu zerkratzen; allein ebenso rasch griff Käthe zu. Mit einem einzigen Rucke packte sie die knochigen Fäuste und stieß das Weib zurück, daß der wuchtige Körper taumelnd eine Bresche in die Menschenmauer schlug. Und nun entstand ein unbeschreiblicher Tumult. Wie ein wüthend gereizter Bienenschwarm stürzte sich die Menge auf das große, kraftvolle Mädchen, das leichenblaß, aber hochaufgerichtet dastand, die Schwestern mit ihrem Leibe deckend. Flora war zu Boden gesunken; sie umklammerte, halbtodt vor Angst, den Kieferstamm und drückte das bedrohte Gesicht an seine Rinde. Das herabfallende weiße Hütchen wurde unter den Füßen der Angreifer zerstampft.
„Hülfe, Hülfe!“ schrie Henriette mit übermenschlicher Anstrengung, während alle Hände nach Käthe griffen; schon hing die schwarze Spitzenpelerine in Fetzen von ihren Schultern. Der Hut wurde ihr vom Kopfe gerissen, und die Flechten fielen gelöst über den Rücken hinab; da kreischte der Junge, der abermals seine Hände auf Henriettens Mund gepreßt hatte, wild auf. „Herr Jesus, was ist denn mit der da?“ schrie er und wühlte sich durch das Gemenge, um zu entfliehen.
Ein Blutstrom quoll über die Lippen der Kranken, die mit versagenden Blicken und tastenden Händen nach einer Stütze griff, aber Alles wich scheu zurück. Blut! … Im Nu zerstob die Menge nach allen Richtungen hin. Im Gebüsche rauschte und knackte es, wie wenn ein Rudel Wild durchbricht, dann war es still, als sei das wilde Heer, das sich eben noch so wüthend geberdet hatte, im Waldboden versunken. Und wenn auch da und dort der Kopf eines Jungen aus dem Gestrüpp lugte, um die Stelle, wo das Geld auf der Erde verstreut lag, nicht aus den Augen zu verlieren, so geschah das vorsichtig und vollkommen lautlos.
Käthe hatte die Schwester in den Armen aufgefangen und ließ sich mit ihr zu Boden gleiten. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Kiefer und bettete den Kopf der Kranken an ihrer Brust. In dieser Lage hörte das Blut allmählich auf zu strömen.
„Hole Hülfe!“ sagte sie, ohne die weinenden Augen von dem todtenähnlichen Gesichte der Kranken wegzuwenden, zu Flora, die in Angst und Ungeduld auf die Gruppe niedersah und ihre krampfhaft verschränkten Hände gegen den Busen drückte.
„Bist Du wahnsinnig?“ fuhr sie mit gedämpfter Stimme auf. „Soll ich der Meute geradewegs in die Hände laufen? Allein rühre ich mich nicht von der Stelle. Wir müssen versuchen, Henriette fortzuschaffen.“
Käthe sagte kein Wort; sie sah, daß sie an diesen grenzenlosen Egoismus vergebens appellirte. Nach verschiedenen vorsichtigen Manipulationen, bei denen Flora behülflich war, stand sie endlich auf den Füßen und trug Henriette wie ein Kind auf dem Arme; der Kopf der noch immer Bewußtlosen ruhte auf ihrer Schulter. Sie glitt förmlich über den Boden und wich dem kleinsten Steine aus, um jede gefahrbringende Erschütterung zu vermeiden. Diese Bemühungen erschwerten ihr die Last bedeutend, aber stehen bleiben und nur einmal tief Athem schöpfen durfte sie nicht.
„Ruhe aus, so lange Du Lust hast, wenn wir draußen im freien Felde sind – nur hier nicht, wenn Du nicht willst, daß ich vor Angst sterben soll!“ sagte Flora in gebieterischem Tone. Sie ging dicht an Käthe’s Seite, mit hochgehobenem Kopfe und ihrer gewohnten imposanten Haltung, aber unausgesetzt das verrätherische Gebüsch am Wege scheu beobachtend, um bei dem geringsten verdächtigen Geräusche die Flucht zu ergreifen. – Wo war die „Soldatencourage“, die Henriette heute ironisch betont hatte? Wo die stets so geflissentlich zur Schau getragene Consequenz und Sicherheit, der schroff männliche Geist? Käthe sagte sich in dieser schweren Stunde ernster Erfahrung, daß da, wo bei der Frau das edel weibliche Denken, Empfinden und Streben aufhört, die – Komödie beginnt.
Die von Nürnberg, der Mutter aller deutschen Spielwaarenstädte, zuerst vor anderen Concurrenten emancipirten Sonneberger Kaufleute betrieben anfangs lediglich Meßhandel, und da bekanntlich ehedem jede größere Stadt ihre Messe hatte und die Sonneberger Spielwaaren überall guten Absatz fanden, so zogen sie lustig von einem Meßplatze zum andern. Die Sonneberger Spielwaaren, buntfarbig bemalt, „ergötzlich“ und „g’spaßig“ anzuschauen, galten überall und allezeit als „Nürnberger“ und
[146] wurden vorzugsweise gekauft. Aber nicht auf den Handelszügen, sondern daheim im Comptoir und Haus wollen wir einen solchen Kaufherrn betrachten. Sie hatten, einer wie der andere, ihre eigenen Manieren, als junge wie als alte. Wenn nämlich ein solcher alter Sonneberger es auch über sich vermocht hatte, die Söhne in das Geschäft aufzunehmen, oder dasselbe ihnen abzutreten, so arbeitete er dennoch nach wie vor auf gewohnte Weise bis an sein Lebensende fort und behielt sich „das Recht der Disposition“ wohl ebenso lange vor. Der Grund, warum die alten Kaufherren auf ihre kaufmännische Wirksamkeit nicht verzichten wollten, lag aber weniger in der Gewohnheit, thätig zu sein, und in der Einbildung, daß ihre Söhne ohne sie nicht „reüssiren“ würden, als hauptsächlich in der Unzertrennlichkeit von ihrem Comptoir. Dieses hatten sie sich nach Jahrzehnten so gemüthlich und gemächlich eingerichtet, daß sie sich förmlich dahin sehnten, wenn Krankheit eine Zeitlang sie an ihre Wohnstube gefesselt hielt. Dort im Comptoir und nicht in der Wohnung, wo sie von der Familie gestört wurden, fröhnten sie all den Liebhabereien, auf die sie in ihren jüngeren Jahren im Voraus sich gefreut hatten.
Einen solchen alten Kaufherrn näher kennen zu lernen, wollen wir ihn nun in seinem Comptoir beobachten.
Zu dem Zwecke müssen wir früh aufstehen, denn bald nach Tagesanbruch geht er dahin, sein alter Spitzhund vornweg, die Katze hinterdrein.
Der Anzug des Kaufherrn besteht aus einem langen Kittel mit über die Schultern herabhängendem Kragen, von hausleinenem, naturfarbigem Stoffe, verblichen und schmutzig, weil der Alte seiner würdigen Ehehälfte den Gefallen nicht thut, ihn auch nur ein paar Tage zur Wäsche abzulegen. Der Kittel war ein Frankfurter und hatte früher auf den Meßreisen als Staubmantel gedient. Er ließ ihn jahrelang flicken und an den Ellenbogen beflecken aus treuer Anhänglichkeit. Mit der Zipfelmütze und den alten Filzpantoffeln verhielt es sich ähnlich.
Der erste Blick unseres Comptoirherrn ist auf seine Singvögel gerichtet, die in zahlreichen, großen und kleinen Käfigen an die Fenster und Luftlöcher gehängt, zwitschernd und hüpfend ihre Freude verkünden, daß ihr pünktlicher, sorgsamer Schutzherr sie eigenhändig füttern wird. Jeden Vogel durch Zunicken freundlich begrüßend, hat er für jeden einen Schmeichelnamen, wie: „Mätzle“, „Zirrle“, „Pfuitz“, „Dom“. Zunächst sucht er aus dem alten Mehlwürmertopf eine Portion der fettesten Würmer, drückt ihnen mit dem Nagel des Daumens die Köpfe entzwei und reicht sie der Lüdellerche und dem Rothkehlchen, die gierig ihre Mahlzeit verschlucken. Der Stieglitz und der Buchfink bekommen einen anderen Leckerbissen. Der Gimpel pfeift schon einige Strophen vom Lieblingsliede des alten Herrn: „Guter Mond, du gehst so stille“ ohne Stocken recht schön, genau so, wie dieser täglich mehrmals es ihm vorpfeift.
Solche abgerichtete Gimpel bekamen alte gute Geschäftsfreunde zum Geschenk, und der Abschied von einem solchen Vogel, wenn der Sohn ihn mit sich auf die Messe nahm, kostete dem Alten ein paar Thränen. Der Briefwechsel zwischen Vater und Sohn behandelt in erster Reihe des Vogels Befinden, und zwar angelegentlicher, als das der Familie, dann erst das Geschäftliche.
Von den Vögeln geht’s zum Wetterpropheten, dem Laubfrosche im Glase am Fenster. Er sitzt auf der obersten Sprosse der Leiter, über dem Wasserspiegel, darob der Alte sich freut, da dies schönes Wetter bedeutet. Und er fängt ihm nicht ohne Mühe drei Fliegen, die er lebend durch ein Löchlein der Papierdecke in’s Glas prakticirt. Wie sie der Frosch erschnappt und verschluckt, das sieht sich der Alte mit an, und sollte es ihm eine halbe Stunde Zeit kosten.
Unterdessen hat die Hausmagd des Herrn altgewohntes Frühstück, „Warmbier mit Ingwer“ gebracht und auf den im Winter wie im Sommer zur frühen Morgenstunde geheizten Ofen gestellt, den der Alte selbst mit Holz bedient, um sein Warmbier warm zu erhalten.
Das Nächste ist, seinen Tabak, die Pfeifen und den Schnupftabak herzurichten, Vorbereitungen zu den Tagesgenüssen, die der Alte mit gleicher Sorgfalt, aber größerer Umständlichkeit besorgt, als die Hausfrau in der Küche die Speisen. Vom Rollenkanaster wird für den Tag so viel geschnitten, daß die Blechdose und der Bocksbeutel voll werden. All’ die thönernen Pfeifen auf dem Eckgestelle und die daneben an der Wand hängenden Ulmer, deren silberbeschlagene Köpfe theilweise mit den Merkur-Emblemen und reichen Verzierungen kunstvoll beschnitzt und dem Alten beinahe das Theuerste und Liebste auf Erden sind, werden geputzt, gereinigt, die Rohre zum geöffneten Fenster hinaus durchblasen und die Köpfe durch Aufklopfen am Fensterbrette von Asche entleert, ein Geräusch, das die gegenüber wohnende Familie regelmäßig an das Aufstehen mahnt, da es nun sechs Uhr ist.
Damit ist auch die Zeit für den Kaufherrn gekommen, dem ersten, frischen Genusse seiner Tabakspfeife sich hinzugeben. Mit Stahl und Feuerstein wird der Schwamm entzündet und schmunzelnd die Pfeife damit in Brand gesetzt. Nach den ersten sechs Zügen holt er seine mit Achatsteinen besetzte dreigehäusige, dickbauchige Taschenuhr, die er an breiter Silberkette, mit Uhrschlüssel und rubingläsernem Petschaft behängt, stets bei sich trägt, aus der Hosentasche und zieht das Uhrwerk bedächtig auf. Indem er die Uhr an’s Ohr hält, mustert er seine Hausapotheke und sieht, ob Alles im Comptoir an seinem Platze steht. Auf Regalen und alten Schränken sehen wir verschiedene große und kleine Flaschen, Krüge und Gläser mit allerlei farbigen Flüssigkeiten darin. Alchymist ist der Alte just nicht, obschon er zu dieser Kunst mehrmals Anlauf genommen hat. Dagegen bereitet er selbst seine Schuhwichse und ‑Schmiere, Baumwachs, Fleckseife, Tinte in allen Farben, Lebenselixire, einen ausgezeichneten Magenbittern, Ameisenspiritus, Pflaster für alle Wunden und für Hühneraugen. Er würde, das steht fest, „gar viel mehr Mannigfaltiges zum Besten der Menschheit produciren können“, wenn er nur die Zeit dazu hätte. In der That besitzt der alte Herr einen Schrank voll alter Receptbücher, die er vor drei Jahrzehnten in Frankfurt antiquarisch gekauft hat.
Aber auch künstlerischen Beschäftigungen hat sich derselbe in seinen Mußestunden hingegeben. Denn die Schachtel- und Koffermalerkunst, die sogenannte Wismuthmalerei, wie sie sein Vater und Großvater schon betrieben, ist frühzeitig ihm eingeimpft und auf ihn vererbt worden. In der That trieb er als angehender Kaufmann das Malerhandwerk neben seinem Handel fort, wie dies fast bei allen Sonneberger Kaufleuten des achtzehnten Jahrhunderts geschah, daß sie dem Handwerke ihrer Eltern, der Wismuthmalerei oder dem Wetzsteinmachen, treu blieben. Die Kaufherren setzten natürlich einen Werth darein, mit ihrer Kunst über der des Malerhandwerks zu stehen. Bei diesem war sie am meisten ausgeprägt im Bemalen großer Schachteln und Koffer mit Blumen, Landschaften, Jagdstücken und Figuren. Einem jeden Gemälde war für Jungfrauen oder Frauen, Jünglinge, Ehemänner oder Hagestolze ein von dem Maler selbst gedichteter Knittelvers beigeschrieben, meist so naturwüchsig derber Art, daß darob manche Klage von außen einlief: „sintemal züchtige Jungfrauen und Frauen solche Schachteln nicht ansehen, geschweige gar kaufen möchten“.
Der über dem Schreibpulte des Kaufherrn prangende immerwährende Kalender, mit buntfarbiger Schrift und Goldarabesken, ist von seiner Hand. Auf den vier Seiten des Rahmens stehen die Namen der Familienmitglieder bis zurück zu den Urgroßeltern sammt ihren Geburts- und Sterbetagen verzeichnet, in jeder der vier Ecken ein Denksprüchlein in Goldschrift, unten in der Mitte sehr leserlich sein Name, die Jahreszahl und das „ipse fecit“, das deutlich auf allen den Leimfarbe-Bildern hervortritt, womit der alte Herr seine Wohnstube und Gastzimmer vollgehängt hat.
Wer sich für seine Gemälde interessirt und sie von ihm sich erklären läßt (es sind Ansichten von Städten, die er auf seinen Reisen besucht hat), der steht gut bei ihm angeschrieben und den beschenkt er obendrein mit einem Schächtelchen seiner Schuhwichse oder er giebt ihm einen Magenbittern.
Unterdessen hat der Kaufherr das Warmbier zu einer Pfeife Tabak sich gut schmecken lassen, und seine Arbeitszeit beginnt. Die mächtige Tintenbüchse wird geschüttelt, die Streusandbüchse zur Hand gerückt. Die Kielfedern werden geschnitten und die bestgelungene wird unter einem tiefen Athemzug hinter’s Ohr unter die Zipfelmütze gesteckt. Die Briefe von der letzten Coburger Mittwochs-Botenpost werden geordnet, zur Beantwortung innerhalb drei Tagen für den nächsten Sonntags-Briefboten. [147] Und in die Bücher wird Alles bis zur Stunde eingetragen, was in der Strazza steht. Dann wird das Bestellungsbuch durchgesehen. Die an die Ablieferung von Waaren zu mahnenden Arbeiter werden notirt und die neu ausgeschriebenen, auszutragenden Bestellungszettel in die Tasche gesteckt; denn da der Frosch schönes Wetter, als für den ganzen Tag beständig, angekündigt hat, so ist der Vorsatz gefaßt, Nachmittags gleich nach dem Schläfchen die Wege selbst zu thun und Alles bestens selbst zu besorgen, die Pfeifenmacher in Mengersgereuth, die Schachtelmacher in Steinach oder die Nagelschmiede in Oberlind persönlich aufzusuchen.
Gleich nach dem Mittagsschläfchen tragen die Töchter Alles zusammen, was der Vater zum Anzug und zur Toilette braucht. Sie pudern ihn und zupfen, putzen und bürsten so lange an ihm herum, bis er ungeduldig wird und die Mutter kommt, um den „Vater“ von Kopf bis zu Fuß endgültig zu mustern und alles gut zu heißen. Mit dem steifen Zöpfchen an der altmodischen Perrücke, den Dreimaster darüber, im grasgrünen, langen Tuchrock, weißen Wadenstrümpfen, Schuhen mit großen silbernen Schnallen, mit gesteiftem weißem Jabot, weit über die gestickte Schooßweste hervorstehend, – so tritt der ehrwürdige Kaufherr, Neunerherr und Schützenmeister zugleich, auf die Straße. Ihm ist’s in solchem Moment, als stünde seinetwegen in der ganzen Straße aller Handel und Wandel still, als ob alle Leute, auch die an den Fenstern, auf ihn schauten und einander fragten, wohin der alte Herr wohl gehe. – Er aber kümmert sich um Niemand. Aus der hinteren Rocktasche schaut die Tabakspfeife; in der anderen bauscht der Tabaksbeutel mit heraushängendem Pfeifenstürer; aus der rechten Schooßtasche hängt das buntgedruckte, baumwollene Schnupftuch auffällig breit entfaltet; in der anderen birgt sich, sorgsam in Papier gewickelt, der Abendimbiß, bestehend aus einem Stück Schwarzbrod und einem Kuhkäse.
So geht der Alte am hohen Spazierstocke mit großem silbernem Knopfe bedächtig seines Wegs stundenweit, – wohl wissend, daß er bei so schönem Wetter mehrere seiner Sonneberger Collegen in dem Dorfe treffen werde, daß Pfarrer und Schulmeister zeitig im Wirthshause sich einstellen, mit den Herren aus der Stadt einen Tarok zu karten, weshalb er sich mit Pfennigen und Hellern aus der Ladencasse seiner Frau sattsam versorgt hat, sowie auch mit einer frisch gefüllten Dose echten Sentemir (St. Omer), aus welcher Pfarrer und Schulmeister im Laufe des Kartenspiels sich oftmals erquicken und zum Schluß und Abschied, wenn um sechs Uhr das Abendglöcklein läutet, jedesmal noch eine Doppelprise nehmen.
Unter der Sonneberger Kaufmannschaft stand als Grundsatz fest, daß neben jeder Großhandlung ein Kleinhandel zu betreiben sei. Jener sei riskant und häufig Conjuncturen unterworfen, zumal Sonneberger Waaren Luxusartikel seien, die Niemand zu kaufen brauche; der Handel mit täglichen Gebrauchsartikeln und Lebensmitteln aber sei auch zu schlechten Zeiten beständig, denn Jedermann müsse sie kaufen, um zu leben. – So räsonnirte man. – Ferner galt das Princip: daß der Mann und die Söhne die Großhandlung betreiben, die Frau und die Töchter das Kleinhandelsgeschäft, den Laden zu führen haben, beide Geschäfte ohne wesentliche fremde Beihülfe, weniger aus Furcht vor Veruntreuung, als vor Schädigung des geschäftlichen Interesses, denn Geheimhaltung der Kundschaft, der Einkaufs- und Verkaufspreise waren Regeln, die als klug und weise galten und streng befolgt wurden. Also wurde das einer Sonneberger Großhandlungsfirma zugehörige „Specerei-, Material- und Schnittwaarengeschäft“ von der Hausfrau allein geführt, selbstständig und meist ohne irgend welche Beihülfe seitens des Gemahls oder der Söhne.
Ueberhaupt waren die Sonneberger Kaufmannsfrauen des vorigen Jahrhunderts innig mit dem Händel verknüpft; ihr Antheil an der geschäftlichen Prosperität des Hauses war ein wesentlicher. Wie viele Fälle weist die Sonneberger Handelsgeschichte auf, da nur zu frühzeitig des Kaufherrn Großgeschäft eingegangen war, während das Ladengeschäft seiner Frau blühte und lange noch reichlich lohnte, zum Glücke der Familie. Wie viele Handlungshäuser unserer Zeit verdanken ihre Wohlhabenheit, oder doch ihren Aufschwung dem Kleingeschäfte der Großmutter, ihr auch zugleich den günstigen Einfluß, daß die Enkel sparsam blieben bis auf den heutigen Tag. So manche Anekdote und Geschichte von der geistigen Ueberlegenheit der Frauen, von ihrer Energie und Thatkraft, die sie ihren Männern gegenüber im Geschäfte entwickelten, leben durch Tradition als „Lieder vom braven Weibe“ in Sonneberg fort.
Die Wirksamkeit jeder tüchtigen Kaufmannsfrau erstreckte sich im wohlgeordneten Haushalte nicht blos auf das Erhalten dessen, was der Mann verdiente, vielmehr zugleich auf Selbsthandeln und Selbstverdienen, wenigstens dessen, was der Haushalt kostete. Und was zu einem wohlgeordneten Haushalte damals und noch bis in’s erste Drittel unseres Jahrhunderts gehörte und wie außerordentlich verzweigt und daher anstrengend ein solcher für die Frauen und die erwachsenen Töchter war, davon wissen heutzutage aus Erfahrung nur noch Wenige zu erzählen.
Die Erziehung der Töchter leitete die Mutter. Aus der Schule entlassen, hatten die Töchter alle häuslichen Arbeiten zu erlernen und später theilweise allein zu verrichten. So in der kleinen Feldwirthschaft, die bei keinem Hausbesitzer und Familienvater fehlen durfte, wenn er für wirklich haushälterisch gelten wollte. Ein Acker mußte den Hausbedarf an Kartoffeln liefern, ein zweiter das Korn, das der Mahlmühle zugemessen wurde, zu Mehl für’s hausbackene Brod, das bessere für den Sonntagskuchen, den „Striezel“. Eine Kuh, oft zwei, wollte weder der Hausherr noch die Hausfrau missen. Jener hielt etwas auf einen guten Kuhkäse, den Niemand so gut zu machen verstehe, wie seine „Alte“, diese auf ein gutes Tröpfchen Rahm zu ihrem Kaffee und auf ein frisches Stückchen Butter, der übrigen Annehmlichkeiten einer Milchkammer gar nicht zu gedenken. Der Hausgarten, so klein und unvortheilhaft er hinter’m Hof zwischen Häusern lag, lieferte die vegetabilischen Zuthaten zu allen Gerichten; dazu noch Johannis- und Stachelbeeren, Aepfel, Birnen und Zwetschen. Der alte Herr verstand das Oculiren und Veredeln der Obstbäume, wozu er sich die Fechser von Bamberg mitgebracht hatte.
Hauptsache war noch, daß alljährlich ein selbstgemästetes, fettes Schwein „in’s Haus“ geschlachtet wurde, denn der Alte war an seine Majoran-, Zwiebel- und Knoblauchswürste gewöhnt und mochte keine anderen. Hatte er doch vor Jahren, als er die Messen noch bezog, seinen Bedarf an Wurst auf einen Monat mit nach Frankfurt genommen und kaufte sich dort täglich einen Teller Suppe oder Gemüse dazu. Die Würste waren geräuchert und wurden eher steinhart, als daß sie verdarben.
Höher als solche Genüsse schätzte die Hausfrau das nützlichste vom Schwein, den Speck. Ihr war es ein Gräuel, solchen beim Metzger kaufen zu müssen, denn der war unverschämt theuer damit. Ihr war schon die Ausgabe für den Rindertalg zu viel, den sie zum Lichterziehen brauchte; daher machte sie alle Knochen dem alten Spitzhund streitig und verwerthete sie zur Fabrikation ihrer vorzüglich bewährten Hausseife. Fleisch und Speck vom Schwein wurden eingesalzen und geräuchert, daß Alles bis zum Spätherbst reichte. Mehr als ein halbes Pfund wurde an den Wochentagen nicht consumirt; trotzdem kam immer ein fingergroßes Stück Fleisch auf jedes Kind und auf die Magd, nur Sonntags und Mittwochs etwas mehr, wenn es rohe Kartoffelklöße gab, dem alten Herrn zu Liebe und auf seinen Befehl. Dann legte er vom Braten etwas reichlicher vor. Der Hühnerhof und der Taubenschlag versorgten die einfache Küche auch so ziemlich. Ueberdies erlangte die Hausfrau auf dem Markt stets ein Ei mehr für den Batzen, als andere Frauen, und kaufte überhaupt billiger und vortheilhafter ein, denn sie verstand das Handeln.
Während der langen Winterabende wurde von der Hausfrau, den Töchtern und der Magd Flachs gesponnen und zu Strähnen geweift, die der Leinweber vorgezählt erhielt. Daraus wurde für die Familie Tisch-, Bett- und Hemdenzeug auf ein Jahr hinaus angefertigt, denn der Inhalt des Wäscheschrankes, wie der des Zinnzeug-Glasschrankes einer jeden Familie war im ganzen Städtchen bekannt. Er war der Gradmesser häuslicher Ordnung und des Wohlstandes eines Hauses, den zu erhalten und zu vermehren respectable Hausfrauen sich über Alles angelegen sein ließen. Außerdem strickten Frau und Töchter emsig Strümpfe oder stopften die schadhaften; am Tage aber wurde die vom Haushalt und Laden übrige Zeit zu Näharbeit verwandt, denn das selbstgesponnene hausleinene Kleiderzeug verstanden sie auch selbst zuzuschneiden, und so war der solide [148] Hausstaat ausnahmslos „selbst gemacht“. Abends wurden dann wohl auch wieder die gesammelten Gänsefedern geschlissen, neue Betten damit zu füllen, aus dem ordinären Kaffee im Laden die besten Bohnen ausgesucht, zum Verkauf als Prima-Qualität, und die Linsen „gelesen“’ (gesäubert) zum Mittagsbrod des nächsten Tages. Im Spätsommer gab es wieder andere Beschäftigung. Obst wurde geschält, geschnitzt und gedörrt; auch Runkeln als Zusatz zum Kaffee wurden gedörrt, Sauerkraut und Gurken in Fässern, Preißelbeeren, Heidelbeeren und Weichseln in Töpfen eingemacht, denn davon wurde jährlich sehr viel verbraucht zur Labung armer Kranker, von denen man natürlich kein Geld nahm. Alles das hatten die Töchter zu machen gelernt und waren auch im Kochen perfect, d. h. sie konnten außer den gewöhnlichen Speisen auch Gastmähler bereiten, Serviettenklöße mit Rosinensauce, Pudding mit Hiftensauce tadellos herstellen, ohne Hülfe der Mutter. Nur den Schwarzenbeerwein, meinte diese, brächten ihre Kinder nicht so heraus, wie sie. Die alte Dame bildete sich auf ihren Wein eben so viel ein, wie der alte Herr auf seinen Magenbittern, „den kein Hofapotheker auch nicht so herausbrächte“, wie er versicherte.
Werfen wir noch einen Blick in das Comptoir, so sehen wir den alten Diener an seinem Pult, auf hohem Schraubstuhl sitzend, in alten Hausschuhen, abgetragenem, vergilbtem Tuchrock mit über die Aermel gezogenen grünleinenen „Schreibärmeln“. Auch er hat im Comptoir allerlei zur Kurzweil um sich herum. Ein Paar Eichhörnchen mit Hütte aus Rinde und Moos gebaut auf dem Fensterbret, zwei drollige Finkmeisen in großem Haus mit Tretmühle darin und einen fettgefütterten alten Kreuzschnabel (Krienitz), der „vor’s Rothlauf“ schützt. – Der alte Herr findet selbst Spaß an solcher Liebhaberei seines Michel’s und gönnt sie ihm.
Michel, so heißt der treue buckelige Diener, hält, genau wie sein Herr, auf zuverlässige Arbeit und ist deshalb wie jener sehr langsam. Ihm liegt ob: das Schreiben der Preiscorrente, der Facturen, der Avis- und Frachtbriefe, die Führung der Weißmacher- und Malerlieferbücher und des Packbuches. Auch überschreibt er die Waarenpaquete mit den Nummern und der Benennung des Inhaltes in der Einbindstube. – Am glücklichsten fühlt er sich, wenn die Töchter in der Einbindstube zur Aushülfe Spielsachen in Papier wickeln helfen, mit ihm scherzen oder ihm gar ein Liedlein singen, wenn der Vater nicht zu Hause ist.
Wir sehen also den Michel im Comptoir, zwar wie immer in seine Arbeit vertieft, aber diesmal, da der alte Herr „über Land“ gegangen ist, über einer Lieblingsbeschäftigung. Holzspähnchen und Handwerkszeug liegen um ihn herum, und treten wir näher, so sehen wir, daß er Vogelkäfige reparirt und eine Mausfalle schnitzt. Denn ihm, dem Michel, war der Mausefang im ganzen Hause anvertraut, von der Speisekammer bis hinauf unter’s Dach, wo die Spielwaaren lagerten. Und er besorgt ihn gewissenhaft und mit viel List, deren er sich unter seinen Collegen gern rühmte, denn die Mäuse waren die ärgsten Feinde eines jeden Sonneberger Spielwaarenhändlers. Sie strebten den Teigmassespielwaaren als Leckerfraß nach, weil die Teigmasse aus Brodmehl und Leim bestand, und so kam es nur zu häufig vor, daß Mäuse unter dem Schutze der Papierhüllen allen Reiterlein die Köpfe, Arme und Beine abgefressen hatten, wenn man diese für’s Ausland in Kisten verpacken wollte.
Wie oft exportirte Sonneberg zahlreiche Mäusefamilien lebendig in den Paqueten, worin sie „ihre Wohnung nebst Schlaf- und Speisekammer“ aufgeschlagen hatten und sich urgemüthlich befanden. Und wie ärgerten sich die Sonneberger Kaufherren, wenn der Besteller schrieb, daß man statt Reiterlein lebende Mäuse mit den Jungen geschickt habe, die während der Reise den Inhalt aufgezehrt hätten! – Nicht genug – die Teigmassespielwaaren hatten noch eine den Handel nicht minder gefährdende Eigenschaft. Auf dem Transporte zu Wasser verschimmelten sie leicht, und Milben erzeugten sich in der Teigmasse selbst. Solch Mäuse-Aergerniß war die einzige Veranlassung, daß dem alten Kaufherrn von Zeit zu Zeit ein derber Fluch über die Lippen fuhr, der den armen Michel jedesmal wie ein Blitzstrahl streifte. Darauf hin verspürte er nicht eher wieder frischen Lebensmuth, als bis er die Missethäter gefangen und dem alten Herrn lebendig ausgeliefert hatte.
Dieser beeilte sich alsdann seine alte Katze zu wecken, die zumeist auf dem Lehnsessel beim Ofen schlafend lag. Er hielt ihr die geöffnete Mausfalle vor Nase und Augen, auf daß sie die Maus erhasche. Die alte Katze aber war zu unbehend und zu faul geworden: – die Mäuse entwischten ihr regelmäßig. – Nun waren sie im Comptoir dem alten Herrn erst recht zum Aergerniß, denn jetzt war auch sein Frühstück, Schwarzbrod mit Speck, im Schubfache seines Pultes nicht mehr sicher vor ihnen, und er schwor Rache den vermaledeiten Mäusen, die erst seine Reiterlein und zum Dessert auch seinen Speck verzehrten. Das ganze Geschäftspersonal wurde zur Mäusejagd in das Comptoir gerufen; jedes Löchlein wurde verstopft und jede Person erhielt einen Besen zum Zuschlagen, wenn die Maus ihr nahe käme.
Der Leser wolle über unsere Mäusegeschichte nicht voreilig urtheilen und sie belächeln, denn: waren die capitolinischen Gänse für Rom ein Sporn zur Wachsamkeit, so waren die die Teigspielwaaren fressenden Mäuse für Sonneberg eine Ursache der Strebsamkeit und des Nachdenkens und dadurch mittelbar ein Hebel seines Fortschritts.
Motto: | Gott bekehre dich zu der heiteren Religion eines Herder, Jakobi, Kant! |
(Jean Paul in einem Briefe an seinen Sohn.) |
Näher und näher rückten wir unserem Ziele, der Theologie. Nach der allgemeinen philosophischen Grundlegung kam die Religion an die Reihe. Ein eigenes Semester war den Untersuchungen über ihren Ursprung und ihr Wesen gewidmet. Schon in die bisherigen Studien hatte ihre geheimnißvolle Gestalt auf alle Weise hineingespielt. Alle die großen Denker, Spinoza, Leibnitz, Kant, Fichte, Hegel, Schleiermacher, Feuerbach, hatten sich irgendwie mit ihr auseinandergesetzt; jedes philosophische System hatte eine bedeutsame Stelle für sie offen gelassen.
Freilich, die Religion, die man aus diesen Händen empfing, war nicht die Religion der Kirchen. In den stillen Werkstätten des deutschen Geistes wurde an einer Reformation gearbeitet, welche nicht weniger eingreifend war, als diejenige des sechszehnten Jahrhunderts, ja geradezu als die zeitgemäße Fortsetzung des damals Begonnenen erscheinen mußte.
Ich will versuchen, in der Kürze die Veränderungen anzugeben, welche in diesen Arbeitsstätten der Wissenschaft mit der Religion vorgenommen wurden.
Wenn man zuvörderst fragte: woher stammt die Religion? so antwortete die Kirche: vom Himmel, aus einer übernatürlichen Offenbarung Gottes, welche in Thaten, wie in Worten für alle Zeiten niedergelegt ist in einem auf wunderbarem Wege entstandenen, unfehlbaren Buche, der einzigen Quelle, wie der unverrückbaren Norm der wahren Religion. Die Wissenschaft sagte: nein, die Religion ist ein Erzeugniß des menschlichen Geistes, wie der Staat, wie die Kunst, wie die Wissenschaft, daher rein menschlichen Ursprungs und göttlichen nur soweit, als alles wahrhaft Menschliche zugleich göttlich ist, sofern sich im Menschengemüthe das Göttliche offenbart. Im Menschen liegt ein Verlangen nach einer festen Ordnung für sein getheiltes und zerfahrenes Wollen und nach einem unbedingten Maßstabe für den Werth seiner Handlungen, eine unabweisbare innere Forderung, sein Dasein und Schicksal, sein Wohl und Wehe, sein Dulden und Arbeiten in einen lebendigen Zusammenhang mit dem Weltganzen und den darin waltenden Mächten zu stellen, ein Streben, wie Goethe sich ausdrückt, sich einem Höheren, Reinen, Unbekannten freiwillig hinzugeben. Aus diesem Verlangen, aus dieser Nöthigung entspringt Alles, was unter den Menschen irgendwo als Religion erscheint, alle Bilder, welche [149] die Einbildungskraft sich schafft, um jenes geahnte Ewige zur Anschauung zu bringen, alle Vorstellungen, welche der Verstand bildet, um jenen Weltzusammenhang sich zu deuten, alle Handlungen, durch welche der Mensch in Berührung mit jenem Höheren und Reinen zu treten sucht. Aus dieser gemeinsamen Quelle haben alle Religionsstifter geschöpft, die einen reichlicher, die anderen karger, die einen reiner, die anderen mit trüberen Gefäßen, aber Alle nur aus ihr: Buddha und Mohamed, wie Jesus und Paulus, Sophokles so gut wie Jesaias.
Es giebt daher keine übernatürliche Offenbarung Gottes im Sinne der Kirchen; jede ursprüngliche und neue Anschauung des Universums nannte Schleiermacher eine Offenbarung, und selbst der Philosoph des Glaubens, Jakobi, ließ keine andere Offenbarung Gottes gelten, als die allgemeine und fortwährende in der Vernunft und im Gewissen des Menschen. Es giebt daher keine alleinseligmachende Religion: alle Religionen sind Versuche, dem religiösen Triebe der menschlichen Seele nach Ort und Zeit einen Ausdruck zu geben, keine so falsch, daß nicht das Wesen der Religion irgendwie in ihr sich ausgeprägt hätte, keine so wahr, daß das ganze Wesen der Religion rein und ungetrübt in derselben zum Ausdruck käme. Es giebt daher kein unfehlbares, göttliches Buch der Religion. Was die Kirchen dafür ausgeben, ist nur ein unter den Bedingungen und Bildungszuständen einer bestimmten Zeit abgelegtes menschliches Zeugniß von der Religion, werthvoll nur so weit, als es verstanden hat, dem in der Menschenbrust ruhenden Verlangen nach Licht und Heil einen allgemeingültigen classischen Ausdruck zu geben. So standen sich Wissenschaft und Kirche in der Frage nach der Quelle der Religion schroff gegenüber.
Fragte man zweitens: Was gehört zur Religion? so sagte die Kirche: sehr Vieles, die Wissenschaft: nur ganz Weniges, aber dieses Wenige trägt eine Ewigkeit in sich.
Sehr Vieles! sagte die Kirche, nämlich eine heilige Geschichte, eine untrügliche Lehre, ein auf göttlicher Einsetzung beruhender Cultus. Eine heilige Geschichte, die in den heiligen Büchern erzählten Wunder und Heilsthatsachen, welche von Gott selbst unter den Menschen gewirkt worden sind zu ihrer Erlösung aus Schuld und Verdammniß. Eine untrügliche Lehre als Gotteswort, sei dieselbe nun von Concilien auf Grundlage der Ueberlieferung oder von Theologen auf Grundlage der Bibel als Norm für alle Gläubigen entworfen worden. Endlich der gottgemäße Cultus, das Gebet, die Predigt, Taufe und Abendmahl und wie diese statutarischen Uebungen heißen mochten. Wer jene heilige Geschichte nicht glaubt, wer diese Glaubenssätze der Kirche nicht für wahr annimmt, wer an jenen zur Ehre Gottes und zum Heil der Seele eingesetzten kirchlichen Handlungen nicht Theil nimmt, der wird nicht selig – so urtheilten einstimmig die Kirchen.
Die Wissenschaft sprach zu diesen Forderungen der Kirchen ein ganz entschiedenes und einstimmiges Nein: All das Viele, das ihr mir nennt, mag in seiner Art und an seinem Platze gut und werthvoll sein, aber zum Wesen der Frömmigkeit gehört es nicht; es ist für die Religion etwas Abgeleitetes, mehr oder weniger Zufälliges, Unwesentliches, Untergeordnetes. Die Frömmigkeit verlangt nur Weniges, aber dieses trägt eine Ewigkeit in sich, nenne man dieses Eine und Wenige, wie man wolle, denn unter hundert Namen und Formeln kehrt es immer wieder; nenne man es mit dem vierten Evangelium die Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit, bezeichne man es durch jene Gottes- und Nächstenliebe, in welcher Jesus die Summe von Gesetz und Propheten gefunden hat, nenne man es mit dem Apostel Paulus das neue Geschöpf oder den in der Liebe thätigen Glauben oder mit Schleiermacher das innere Schauen und Erfassen des Unendlichen in allem Endlichen. Wer’s hat, versteht’s unter allen Namen und Hüllen. Gegen dieses Eine, was Noth thut, ist Alles, was die Kirchen drüber hinaus fordern, Nebensache, zum Wesen der Religion nicht erforderlich.
Was die heilige Geschichte betrifft, so sprach Lessing ein- für allemal das maßgebende Wort: „Zufällige Geschichtswahrheiten können nie der Grund für ewige Geisteswahrheiten werden.“ Alles geschichtlich Ueberlieferte ist der Untersuchung, der Kritik, dem Zweifel ausgesetzt, die Religion aber hat ihren bleibenden Grund in den ewigen Thatsachen der Welt und des Menschengemüthes. Ein geschichtlich Ueberliefertes werde ich für wahr halten, wenn es innerlich möglich und äußerlich genügend bezeugt ist. Annahme oder Verwerfung hängt also von Verstandesoperationen ab, die ich vornehme, hat also mit der Wärme und Innigkeit meines religiösen Lebens nicht das Geringste zu schaffen. Für die Frömmigkeit kommt es nicht an auf dasjenige, was vor so und so vielen Jahrtausenden einmal vorgefallen sein soll, sondern auf das, was heute geschieht, was in jedem Augenblicke, von jedem frommen Menschen sich wiederholen läßt. „Der Glaube hat es nicht mit Vergangenem, sondern mit Zukünftigem zu thun“, hatte schon Luther erkannt und gesagt, aber leider nicht angewendet.
Diese Dinge schienen mir so klar, so einleuchtend, so selbstverständlich, daß ich recht böse wurde auf die Kirche, in der ich lebte, und auf das Theologengeschlecht von Jungen und Alten um mich her, welche den Mund immer so voll hatten von „Unglauben“, „ungläubiger Wissenschaft“ etc., wenn diese letztere nur ihre einfache Schuldigkeit that, die Ueberlieferung der Vergangenheit nach ihren Gesetzen und mit ihren Mitteln zu erforschen. Ich meinte, eine Kirche, die etwas taugte, müßte sich über jede ernste Forschung freuen.
Wie mit der Historie, so verhielt es sich auch mit der Dogmatik, mit der sogenannten reinen Lehre. Luther hatte hierin genau gedacht, wie der Papst. „Alles gegläubt oder Nichts gegläubt; ist die Glocke an Einer Stelle geborsten, so täugt sie gar Nichts mehr,“ das war das Losungswort, welches er für seine neue Kirche ausgegeben hatte, und die Folge war zwei Jahrhunderte hindurch gewesen: ein herrschsüchtiges Pfaffenthum, Zank und Verfolgungssucht ohne Ende, Ertödtung des wissenschaftlichen Sinnes und des intellectuellen Fortschritts, Austrocknung des religiösen Lebens.[2]
Lessing hatte gerufen: „Luther, großer Mann, Du hast uns vom Joche der Tradition befreit – wer befreit uns von dem viel schwereren des Buchstabens?“ Die Wissenschaft half diesem Seufzer gründlich ab. Sie machte die Erkenntniß, daß es für den Werth des Menschen nicht ankomme auf das, was er glaube, sondern was er sei, wie er fühle und handle, zu einem Gemeingute der Bildung. Die Religion, sagte sie wie aus einem Munde, ist nicht Lehre, nicht Glaubenssatz, nicht Verstandeserkenntniß, nicht eine Summe metaphysischer, physikalischer, historischer Wahrheiten, die stets dem Streite unterliegen; sie ist Leben, das innere Leben der Menschenseele in und mit Gott; sie ist Gefühl, Geist, Gesinnung. Was sind alle Dogmen, alle gelehrten Systeme der Theologen? Geschicktere oder ungeschicktere, aber stets ungenügende Versuche, von den Erfahrungen des Herzens Rechenschaft zu geben, Forderungen eines innern Bedürfnisses, Aussagen über ein Gefühl, Bilder, Symbole, um das, was im Innersten lebt, sich selbst und Anderen verständlich zu machen. Diese Aussagen wechseln nicht blos mit den Zeitaltern und entlehnen ihre Farbe von den jeweilen herrschenden Denkbegriffen und allgemeinen Vorstellungen, sie wechseln im Grunde mit jedem Menschen. Keine zwei Menschen verbinden mit demselben Worte denselben Sinn. Die Religion erträgt daher keine todte, für alle Menschen und alle Zeiten feststehende Formel; sie ist Sache der persönlichen Ueberzeugung. Was war denn Luther mit seinem „Es sei denn, man widerlege mich aus der Schrift oder mit klaren Gründen der Vernunft, so werde ich nicht widerrufen; hier steh’ ich – ich kann nicht anders –“ was war er anders als das verkörperte Recht der persönlichen Ueberzeugung gegenüber jeder Kirchensatzung? Und was bedeutete jenes große Wort, das er unmittelbar nach der Leipziger Disputation niedergeschrieben hat, werth, über alle protestantischen Kirchthüren gesetzt zu werden: „Ich glaube, ein christlicher Theologe zu sein und im Reiche der Wahrheit zu leben. Darum will ich frei sein und mich keiner Autorität weder eines Concils, noch eines Kaisers, noch einer Universität, noch eines Priesters gefangen geben, um frei zu bekennen Alles, was ich als wahr eingesehen habe. Warum sollte ich’s nicht wagen, wenn ich, der Eine Mann, eine bessere Auctorität zeigen kann, als ein Concil?“
Was Luther in kühner, instinctiver Mannesthat vollzog, das begründete die Philosophie durch eine genaue Grenzscheidung zwischen dem religiösen und dem wissenschaftlichen Gebiete. Das [150] hatte schon Spinoza im Auge, als er erklärte, daß die Religion nicht wahre, sondern fromme Dogmen verlange; hier lag der Nerv in dem weltgeschichtlichen Kampfe Lessing’s mit Götze, und diesen Unterschied stellt der „Nathan“ in einem für alle Welt verständlichen Bilde vor Augen; hier wurzelte die tiefgreifende Unterscheidung, welche der scharfe Kritiker machte zwischen der Religion Jesu und der Religion über Jesus. Soweit es galt, die Religion von aller Dogmatik zu befreien, hatten Kant und Fichte Recht, das Wesen der Religion auf die Sittlichkeit zurückzuführen, wie seinerseits Schleiermacher, es weder in einem Wissen noch im Handeln, sondern nur im Gefühle wiederzufinden, wie sehr sonst alle diese Erklärungen über die Religion der Verbesserung bedürftig sein mochten.
Hier, konnte man meinen, sei endlich einmal der Weg entdeckt, auf welchem Wissenschaft und Religion friedlich neben einander gehen könnten, das Mittel für immer gefunden, der Wissenschaft ihre Wege frei zu erhalten und unverlegt durch die anmaßenden Einsprachen der Priester, aber ebenso die Religion in ihrem heiligen Rechte unabhängig zu stellen von den wechselnden Meinungen und Streitfragen des Tages. Hier schien für immer und gründlich von der Religion abgestreift, was ihren bisherigen Gang am meisten geschändet hatte: die Intoleranz. Nie mehr, sollte man erwarten, würde die Verwerfung irgend einer Formel über Gott und göttliche Dinge dem Unglauben an das Göttliche, der Irreligiosität gleichgesetzt werden, und nie mehr würde ein Mensch den andern um seines Glaubens willen lästern oder verdummen. Von dieser hohen Warte aus hatte Schleiermacher das schöne Wort zu seinen Zeitgenossen gesprochen: „Die Anhänger des todten Buchstabens, den die Religion auswirft, haben die Welt mit Geschrei und Getümmel erfüllt; die wahren Beschauer des Ewigen waren immer ruhige Seelen entweder allein für sich und dem Unendlichen oder, wenn sie sich umsahen, Jedem, der das große Wort nur verstand, seine eigene Art gern vergönnend. Nur die freie Lust des Schauens und Lebens, wenn sie in’s Unendliche geht, setzt das Gemüth in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es aus den drückenden Fesseln der Meinung und der Begierde.“ Es war ein ebenso wohlthuendes wie erhabenes Bild, zu sehen, wie zwei unter sich sehr verschieden Denker dem Dritten, den alle Welt vorher um seiner religiösen Meinungen willen als einen Atheisten verabscheut hatte, gemeinsam die Palme der Religion um die Schläfe legten. Jakobi hatte den um jene Zeit neu entdeckten Spinoza mit den Worten begrüßt: „Sei mir gesegnet, großer, ja heiliger Benedictus! Wie Du auch über die Natur des höchsten Wesens philosophiren und in Worten Dich verirren mochtest, seine Wahrheit war in Deiner Seele und seine Liebe war Dein Leben.“ Und Schleiermacher forderte seine Zeitgenossen auf, den Manen des großen Spinoza eine Locke zu weihen; denn die Welt des Glaubens, wie die des Wissens werde eine Auferstehung feiern, wenn die Theologen werden so frei und die Philosophen so fromm sein wie Spinoza. Ich gedachte bei diesem Bilde des großen Galiläers, der seinen Schülern, als sie Feuer und Schwefel über Ungläubige verlangten, das Wort entgegenhielt: „Ihr wißt nicht, weß Geistes Kinder Ihr seid. Ich bin nicht gekommen, zu verderben, sondern zu retten,“ und ich vernahm das Gericht über die Kirche meiner Zeit, wie über diejenige der Vergangenheit, gemeinsam aus dem Munde der Denker wie der Frommen.
Dieselbe Reinigung, wie mit der Historie und der Dogmatik, nahm die Philosophie mit dem Cultus der Kirchen vor. Sie sagte: Der einzig nothwendige Cultus, auf den Alles ankommt, ist die Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit. Der vernünftige Gottesdienst, der von Allen verlangt werden kann, ist das gesammte, nach Gottes Ordnung geführte Leben; der wahre Tempel für die Anbetung Gottes ist die Welt mit ihren Versuchungen, Aufgaben und Pflichten; das rechte, allein nothwendige Gebet ist das Leben in der beständigen Nähe Gottes. Jede Meinung, Gottes Wohlgefallen durch etwas anderes zu erlangen als durch eine gottgemäße Gesinnung und einen pflichtgetreuen Wandel, ist nicht Gottesdienst, sondern Afterdienst, wie Kant in seiner „Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“ so kräftig ausführte. Die Kennzeichen der Frömmigkeit sind nicht das Beten, das Kirchengehen, das Bibellesen, nicht das andächtige Schwärmen, sondern ausschließlich das rechtschaffene Handeln, die gewissenhafte und freudige Pflichterfüllung vor den Augen Gottes. Darum kann der Unterschied, welchen die Kirchen aufgestellt haben zwischen geistlichen und weltlichen Geschäften, zwischen heiligen und profanen Dingen, vor der Wahrheit nicht bestehen. Alles, was der göttlichen Ordnung gemäß ist, ist heilig. Was man geistig nennt, Beten, Kirchengehen, Predigen etc., kann sehr unheilig und geistlos geschehen; was man weltlich und profan nennt, bauen und pflanzen, kaufen und verkaufen etc., kann ein sehr geistiges und heiliges Geschäft sein. Die Anbetung Gottes, welche in der heiligen Gesinnung und in rechtschaffenem Wandel besteht, kann von Allen gefordert werden, dagegen, was man außerdem Gottesdienst nennt, was man gewöhnlich allein so nennt, gehört zu den freien Stücken, mit denen es Jeder halten kann nach Bedürfniß, die wechseln und sich ändern nach Land und Zeit und Bildung, die ihren Werth nicht in sich selbst, sondern nur in dem Dienste haben, den sie jener allein nothwendigen Gottesverehrung leisten.
Diese Grundsätze, die doch eigentlich nur erneuerten, was alle Vorkämpfer einer reineren Religiosität von den Propheten Israels an bis auf Luther angestrebt, in classischen Worten ausgesprochen, durch den Kampf ihres Lebens besiegelt hatten, schienen nichts Geringeres zu enthalten, als die Befreiung der Religion von der Kirche. Die Religion ist nicht Historie, nicht Dogmatik, nicht Kirche. Das hieß natürlich nicht: weg mit der Historie, weg mit der religiösen Lehre, weg mit der Kirche! Das hieß nur: Jedes an seinen bescheidenen Ort! Die Geschichte als ein wichtiges Bildungsmittel der Religion, die Dogmatik als der stets erneuerte Versuch, auch den religiösen Factor der menschlichen Natur in den Zusammenhang der gesammten Welterkenntniß denkend einzureihen, die Kirche als die Pflegerin des religiösen Idealismus unter den Völkern, Jedes an seinen bescheidenen Platz! Aber die Religion ist etwas ganz anderes, als diese Dinge.
Die Religion rein menschlichen Ursprungs! Die Religion frei von der Geschichte, von der Glaubenslehre, von der Kirche! Das waren tiefeingreifende, durchschlagende Einsichten. Aber die Wissenschaft ging noch einen Schritt weiter; sie setzte ihr Reinigungsgeschäft bis in den innersten Kern der frommen Gesinnung fort. Daß ich es kurz sage: sie befreite die Religion von der Selbstsucht, die bisher immer mit ihr gelaufen war und ihr reines Wesen getrübt und geschändet hatte.
Alle Kirchen beruhten auf dem Glauben an eine menschenähnliche, willkürlich handelnde Gottheit, welche äußerlich in den Lauf der Dinge einzugreifen die Macht und den Willen habe, daher sich unter Umständen durch Gebete und andere kirchliche Handlungen der Menschen in ihrem Handeln bestimmen lasse. Nicht eine nothwendige, aber eine sehr natürliche Folge dieser Gottesanschauung war die selbstsüchtige Frömmigkeit, welche die Gottheit als Werkzeug für die Erfüllung der Wünsche des Herzens gebrauchte, die lohnsüchtige Religion, welche für ihre Leistungen an Gott die Glückseligkeit in diesem und dem jenseitigen Leben als den verdienten Lohn forderte. Ueberdies: wie kurz ist der Weg von dieser Gottesanschauung zur Gottesleugnung! Man denke sich Luther’s Gebet am Krankenbette von Freunden, oder bei anhaltender Trockenheit („das bitt’ ich mit Ernst, will’s auch gewährt haben“, „erhörst Du uns nicht, so werden die Gottlosen Dich und Deinen Sohn Lügen strafen“ etc.), man denke sich dieses Gebet in einem weniger heroischen und glaubenskräftigen Munde, man denke es unerhört – wie nahe liegt da die Rede: es ist Nichts mit Gott; es regiert keine Weisheit und Liebe im Weltall; Stoff und blinde Nothwendigkeit ist Alles. Zeigt nicht gerade unsere gegenwärtige Zeit in großen Zügen diesen Uebergang vom Gottesglauben der Kirche zur entschiedenen und bewußten Gottesleugnung?
Die Wissenschaft, zu deren Füßen wir damals saßen, ging darauf aus, vom Gewande der Gottheit alles Menschenähnliche, alles Wandelbare und Veränderliche, alles Willkürliche abzustreifen. Sie betrachtete in allen ihren selbstständigen Trägern die Welt unter dem Gesichtspunkte einer festgefügten Ordnung, welche einen Einbruch durch eine außer ihr stehende Gewalt weder irgendwo zeige noch überhaupt gestatte, als einen ununterbrochenen Zusammenhang von natürlichen Ursachen und Wirkungen, in welchen von außen Nichts hineinkomme, und konnte daher das Göttliche nur als den in diesen Ordnungen [151] waltenden, in diesem Zusammenhange der natürlichen Dinge schaffenden und sich auswirkenden Geist festhalten, wie verschieden und mannigfaltig sie das auch in Worten und Formeln auszudrücken versuchte. Daß die Religion bei dieser sogenannten immanenten Weltanschauung dahinfallen müsse, wie man mir sagte, wollte mir nicht einleuchten. Ich sah, wie alle die Denker und Forscher, welche jene Weltanschauung pflegten und herausarbeiteten, der Religion ihren Platz in dem System ihrer Gedanken anzuweisen wußten; Schleiermacher besonders, dessen Organ für die Religion so fein und scharf ausgebildet war, führte den Gedanken auf allen Punkten, welche die Religion berührten, durch, daß der Naturzusammenhang und die Wirksamkeit Gottes sich decken, daß die Religion auf keinem Punkte Ursache habe, Wunder oder überhaupt ein äußerliches Eingreifen Gottes in den Weltzusammenhang anzunehmen.
Ohne Zweifel erlitt die Religion unter dieser Weltanschauung eine tiefgreifende Veränderung; das war ein schmerzlicher Schnitt mitten in’s Herz aller bisherigen Religionen. Aber jene Veränderung schien der Religion nur zum Nutzen zu gereichen und dieser Schnitt in’s Herz versprach Heilung von vielen Krankheiten und volle Genesung. Nicht einen wunderthätigen, in die Weltordnung um der Wünsche und Bedürfnisse des Menschen willen eingreifenden Gott verlangt das wirklich fromme Herz, sondern nur den wahren, gegenwärtigen, fühlbaren Gott, bei dem es in der Angst des Zeitlichen ausruhen, aus dem es Kraft und Licht, Trost und Stärke schöpfen kann. Jetzt erst schien die Religion unter den Menschen werden zu können, was sie ihrem Wesen nach ist: selbstlose, uneigennützige Hingebung.
Für eine solche vertiefte, vergeistigte, geläuterte Religion einst wirken zu dürfen – welch’ eine erhebende und begeisternde Aussicht!
Vor wenigen Jahren noch ein unansehnliches Dorf, hat sich das in der Nähe von Berlin gelegene, kaum genannte Lichterfelde in kurzer Zeit zu einer nie geahnten Bedeutung emporgeschwungen. Aus der wüsten Sandfläche sind eine Reihe der schönsten Villen emporgestiegen und traurige Kartoffelfelder haben sich in die reizendsten Anlagen verwandelt. Diesen Aufschwung verdankt der Ort zunächst der Eisenbahn, der Speculation verschiedener Baugesellschaften, vor Allem aber dem Baue des neuen deutschen Cadettenhauses, das seiner baldigen Vollendung entgegensieht. Nachdem die damit beauftragten Architekten einen Complex palastähnlicher Gebäude hergestellt haben, ist eine Anzahl der hervorragendsten Künstler damit beschäftigt, die inneren Räume mit Bildern, Statuen und Reliefs in würdiger Weise zu schmücken. Den größten Wurf hat dabei ein junger Bildhauer mit einem Fries für den großen Saal von zweihundertsechszehn Fuß Länge gethan – der Schöpfer des „Stein-Denkmals“ in Nassau, Johannes Pfuhl, dessen Freundlichkeit wir die beiliegende Zeichnung, eine Episode aus seinem großartigen Werke, zu danken haben.
Selten hat wohl ein Künstler in so kurzer Frist eine so bedeutende Laufbahn durchgemacht. Johannes Pfuhl wurde im Jahre 1846 zu Löwenberg in Schlesien geboren, wo sein Vater noch jetzt als Rector der dortigen Stadtschule lebt. Frühzeitig schon verrieth der aufgeweckte Knabe Talent und Liebe für die bildende Kunst. Vor Allem zog ihn schon damals die Schönheit der menschlichen Gestalt an, weshalb er auch Bildhauer werden wollte, womit sein Vater, wenn auch mehr aus praktischen Gründen, einverstanden war. Mit fünfzehn Jahren kam Johannes nach Berlin, wo er in dem Atelier des bekannten Professors Schievelbein längere Zeit arbeitete. Da sich aber der väterliche Zuschuß kaum auf hundert Thaler jährlich belief, so mußte sich der hoffnungsvolle Eleve auf das Aeußerste einschränken und sich die größten Entbehrungen auferlegen. Mit zwei Brüdern, von denen der eine gegenwärtig Stabsarzt, der andere Beamter ist, bewohnte er zusammen eine einfensterige Stube. Durch gegenseitige Unterstützung und ihren unverwüstlichen Humor suchten sich die Geschwister redlich durchzuhelfen und einander den Kampf um das Dasein zu erleichtern, wobei sie allerdings nach dem Studentenausdrucke zuweilen „krumm liegen“ mußten.
Nachdem Pfuhl den Unterricht seines Meisters mehrere Jahre genossen, fühlte er den Wunsch und die Kraft zu selbstständigem Arbeiten. Er miethete sich zu diesem Zwecke eine Stube in einem einsamen, abgelegenen Häuschen, wo er wie ein Verschollener lebte und in strengster Zurückgezogenheit von der Welt sich ausschließlich nur mit Zukunftsplänen trug. Hier beschäftigte er sich zunächst mit Entwürfen zu verschiedenen Concurrenz-Skizzen für das Uhland-, Goethe- und Stein-Denkmal, die er an die betreffenden Comités sandte, freilich ohne jede Aussicht auf Erfolg, da er gänzlich unbekannt war. Mit banger Spannung harrte er von Tag zu Tag auf einen günstigen Bescheid, an den er selbst nicht mehr glaubte. Eines Tages aber, als er bereits jede Hoffnung aufgegeben hatte, klopfte es an seine Thür; auf seinen Ruf trat der Briefträger mit einem Schreiben aus Heidelberg ein, das er mit zitternden Händen öffnete. Es war die Anzeige des dortigen Stein-Comités, daß Pfuhl den Preis gewonnen. Die frohe und für ihn so bedeutungsvolle Nachricht wurde ihm bald darauf von dem bekannten Landtags-Abgeordneten Braun aus Wiesbaden bestätigt, der als Mitglied des Comités mit Pfuhl wegen der Ausführung des Denkmals verhandelte. Braun war sichtlich von der Jugendlichkeit des damals erst einundzwanzigjährigen Künstlers überrascht, sodaß er, als er ihn vor sich sah, kaum seinen eigenen Augen trauen wollte.
„Sie haben wohl,“ sagte Braun, „in dem Heidelberger Comité einige Gönner gehabt, die sich für Sie interessirten?“
„Nicht daß ich wüßte!“
„Aber wenigstens einen guten Freund, der sich Ihrer angenommen und Sie so warm empfohlen hat?“
„Allerdings!“ versetzte Pfuhl lächelnd. „Ich hatte in Heidelberg den besten Freund –“
„Und der ist?“
„Meine Skizze zu dem Denkmale,“ entgegnete der junge Künstler.
Von diesem Augenblicke an verbreitete sich schnell der Ruf des bisher unbekannten Bildhauers. Mit der ihm eigenen Energie und rastlosem Fleiße ging er sogleich an die Ausführung der ihm übertragenen Arbeit, welche die davon gehegten Erwartungen noch bei Weitem übertraf. Nicht nur das Comité und die gesammte Berliner Kritik sprach ihre höchste Zufriedenheit über das vollendete Werk aus, sondern auch der Kaiser Wilhelm fällte bei dem Anblicke der Statue das schmeichelhafte Urtheil: „Ja, das ist der alte Stein, wie er leibte und lebte.“
Bei der feierlichen Enthüllung des Denkmals in Nassau wurden auch dem Künstler wohlverdiente Ehren und Auszeichnungen zu Theil; wichtiger noch für ihn war der Umstand, daß in Folge der gelungenen Arbeit sich der Kaiser bewogen fand, ihm die Ausschmückung des großen Saals in dem neuen deutschen Cadettenhause zu Lichterfelde anzuvertrauen. Vier Wochen genügten ihm, die Skizze, welche zweiundfünfzig Fuß lang ist, zu entwerfen und vorzulegen. Nach der ihm vorschwebenden Idee soll das Ganze die in Folge der letzten Ereignisse stattgefundene Umwandlung der preußischen Militärbildung in eine allgemeine deutsche darstellen. Der vollendete Fries, in einer Länge von zweihundertsechszig und einer Höhe von vier bis fünf Fuß, zerfällt in dreizehn Theile, welche im innigsten Zusammenhange mit einander stehen. Zunächst dem Eingange des Saales erblickt man das Relief, welches die Einführung, die Ausbildung und den Abgang der Zöglinge zeigt; den Hintergrund des Reliefs bildet das alte Berliner Cadettenhaus in der Neuen Friedrichsstraße. Dem entsprechend sieht man auf der anderen Seite die Uebergabe des deutschen Reichscadettenhauses in Lichterfelde durch den Kaiser an den Corpscommandanten mit den sprechend ähnlichen Gestalten eines Bismarck, Moltke etc.
Es liegt in der Natur der dargestellten Gegenstände, daß der Künstler sich dabei streng an seine Aufgabe halten mußte. Um so kühner und freier durfte sich sein Genius in den übrigen Reliefs entwickeln, welche den letzten französischen Krieg in den verschiedensten Phasen künstlerisch wiedergeben. In einer Reihe [152] lebenswahrer, oft tiefergreifender Scenen und Gestalten wird zunächst der Beginn des Kampfes uns vorgeführt: der Auszug der Truppen, der Abschied des Freundes von dem Freunde, des Sohnes von den Eltern, des Familienvaters von Weib und Kindern, des Geliebten von der Braut. Alle Stände und Lebensalter sind hier vertreten, der patriotische Schusterjunge, der fidele Bursche, welcher mit dem ausziehenden Landwehrmanne den Abschiedstrunk leert, der würdige Greis, der den tapferen Sohn segnet, die Matrone, welche die zurückbleibenden Kinder tröstet, die weinende Gattin, die noch einmal, vielleicht zum letzten Male, den geliebten Mann umschlingt und die treue „Rieke“, welche ihrem „Aujust“ die Hand zum Lebewohl reicht.
Die folgenden Reliefs zeigen uns den Krieger im Felde, das Abkochen des bescheidenen Mahles, wobei ein Soldat seinen Cameraden die Zeitung vorliest, die Fahnenwache, die originelle Lagertoilette und den Rapport an einen Officier. Hieran schließen sich die äußerst wirksame Feldschlächterei, belebt von dem sich sträubenden Ochsen, der von kräftigen Männern festgehalten wird,
ferner die Feldpost mit ihren frohen und traurigen Nachrichten aus der Heimath und den willkommenen Liebesgaben. – Die Lage wird immer ernster; ein Posten bringt auf dem nächsten Bilde Nachricht von dem Anrücken des Feindes. Der Commandoruf erschallt; das Signal zum Sammeln und zum Aufbruche wird gegeben. Darauf eröffnet die Artillerie den blutigen Reigen; eine platzende Granate verbreitet Tod und Schrecken. An der Erde wälzt sich ein verwundetes Pferd, und getroffen sinkt ein tapferer Soldat nieder. Bald greift auch die Infanterie in’s Gefecht; der Künstler stellt mit größter Treue den Sturm auf den Geißberg dar; die elfte Compagnie der Königsgrenadiere unter Anführung des Majors von Kaiserberg, der in seiner Hand die Fahne hoch erhebt, wirft sich mit unwiderstehlichem Ungestüme auf die vor ihnen fliehenden Zuaven. Ulanen eilen herbei und erobern die feindlichen Geschütze; die französischen Gefangenen werden abgeführt. Das nächste Bild bringt ein Gefecht zwischen preußischen Husaren und den Rückzug deckenden Kaiserkürassieren. Rosse und Reiter zeigen sich in bewundernswürdiger, lebendiger Action des wilden Kampfgewühls.
Auf dem nächsten Relief erblicken wir die schmerzlichen Opfer des Krieges, das Begräbniß der Gefallenen, welchen die trauernden Cameraden die letzte Ehre erweisen, den Verbandplatz der Verwundeten, mit Aerzten, Trägern, freiwilligen Krankenpflegern und liebevollen, barmherzigen Frauen unter dem Banner des rothen Kreuzes, endlich die erschütternde Gruppe des todten Dragoners mit dem treuen Pferde, das sich schnuppernd zu der Leiche des gefallenen Herrn herniederbeugt. Das Gegenstück zu diesen ergreifenden Scenen bildet der Sieg bei Sedan mit dem Kaiser auf dem Schlachtfelde, umringt von seinen tapferen Kriegern, der Jubel der Truppen bei dem Anblicke des geliebten Kriegsherrn, die Freude über den glücklichen Erfolg. Zum Schlusse kehrt das siegreiche Heer in die Heimath zurück, empfangen von dem begeisterten Volke. Der Freund ruht in den Armen des Freundes; der Gatte an dem Herzen der glücklichen Gattin, umgeben von den jauchzenden, Blumen und Kränze darbringenden Kindern. Zu den Füßen der seligen Braut knieet der Geliebte, während an der Bahre des von tödtlicher Krankheit ergriffenen Sohnes die gebeugten Eltern weinend stehen, an die für das Vaterland Gestorbenen mahnend.
Schon diese flüchtige Aufzählung der verschiedenen Situationen und Gruppen dürfte einen wenn auch nur schwachen Begriff von der Größe eines solchen Werkes und den Schwierigkeiten der dem Künstler gestellten Aufgabe geben. Mit seltenem Talente und Geschick hat er es verstanden, dieselbe zu lösen und die naheliegende Gefahr einer allzugroßen Einförmigkeit, eines nüchternen Realismus und einer im eigentlichen Sinne monotonen und starren Uniformität zu vermeiden. Vor Allem ist es ihm gelungen, die poetischen und rein menschlichen Seiten des Soldatenlebens, die Momente der höchsten Begeisterung und des tiefsten Gefühls, der männlichen Thatkraft und der keineswegs ausgeschlossenen Rührung hervorzuheben, die rauhe Wirklichkeit zu verklären, die strenge Wahrheit zu idealisiren, ohne sie darum abzuschwächen. – Wir haben es hier mit keinen blos akademischen Acten und Modellen, sondern mit dem wahren Leben und mit echten Menschen zu thun, nicht mit schönen Typen und hergebrachten Schablonen, sondern mit charakteristischen Individuen, welche bis in die kleinsten Einzelheiten, in ihren Zügen und Bewegungen, in ihrer Haltung und ihrem ganzen Wesen treu nach der Natur gebildet sind, ohne die Gesetze der Schönheit zu verletzen.
Auf den ersten Blick erkennt man den jungen Rekruten, den pommerschen Landwehrmann, den strammen Unterofficier, den intelligenten Führer; ja selbst die verschiedenen Stände und Berufsarten, selbst die provinziellen Stammes- und Landeseigenthümlichkeiten. Ebenso klar tritt die zu Grunde liegende Idee des Ganzen in den einzelnen Reliefs hervor. Einen ganz besonderen Reiz verleiht den Bildern auch die sorgfältige Behandlung des Hintergrundes und die eigenthümliche, stets der Situation angepaßte locale Farbe der Landschaft. Die Reliefs [153] bedürfen keines gelehrten Commentars; sie sprechen für sich selbst, sind allgemein verständlich und daher auch im besten Sinne – volksthümlich.
Trotz dieser großen Arbeit hat Pfuhl noch die Zeit zu verschiedenen, mehr oder minder bedeutenden Arbeiten behalten. In seinem in der Fasanenstraße bei Charlottenburg gelegenen Atelier finden wir die Büsten des Fürsten von Hohenzollern-Hechingen, des Generals Hiller von Gaertringen[WS 2], des Generalmajors von Döring, des Obersten von Auerswald, der Frau Krug von Nidda und seiner Braut, des Fräulein Clara Meyer. Vor Allem aber dürften die nach der Todtenmaske gearbeitete Goethe-Büste durch ihre würdige Auffassung und die von einem Engländer bestellte Büste des berühmten Chemikers Hofmann durch ihre sprechende Aehnlichkeit und geistreiche Behandlung die Aufmerksamkeit des Beschauers erregen und den Kenner befriedigen. Aber auch die reinen Idealgestalten des Künstlers verdienen unsere Anerkennung und Bewunderung, besonders das Modell eines „Neugierigen
WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
Mädchens“, welches gleich einer Pandora die verschlossene Büchse öffnet; ein Bild weiblicher Grazie, das sich durch Weichheit der Formen, Feinheit der Linien und Eigenthümlichkeit auszeichnet, ebenso wie das anmuthige „Mädchen mit den Tauben“. Augenblicklich hat der junge Meister die reizende Figur eines lieblichen Kindes vollendet, das gleich einer modernen Flora in dem aufgeschürzten Kleidchen eine Fülle der schönsten Blumen trägt und sich ganz besonders zum Schmucke eines fürstlichen Gartens eignen dürfte. Zur Erholung von seinen Anstrengungen hat Pfuhl vor Kurzem mit der Familie seiner Braut einen Ausflug nach Ober-Italien unternommen – die erste größere Reise, welche er sich gegönnt hat. Kaum zurückgekehrt, arbeitet er von Neuem mit rastlosem Fleiße an seinem großen Fries, welcher noch mehrere Jahre seine Thätigkeit beansprucht.
Eine wohlthuende Frische, eine gesunde Natürlichkeit, ein kräftiger Realismus, dem jedoch keineswegs Poesie und Idealität mangelt, sind die charakteristischen Eigenschaften des erst neunundzwanzigjährigen Künstlers, von dem wir noch eine Reihe neuer und bedeutender Schöpfungen erwarten dürfen, da er mit seinem Talente jenen Fleiß verbindet, den Goethe „die Hälfte des Genies“ nennt.
Die Fortschritte, welche die Wissenschaft in den letzten Decennien auf dem Gebiete der Ernährungslehre des Menschen und der Lehre von den Nahrungsmitteln desselben gemacht hat, sind so erheblicher Art, daß wir erst seit dieser Zeit von einer Rationalität unserer diätetischen Maßnahmen sprechen können. Dank den Arbeiten der Chemiker und Physiologen ist eine Reihe von Lehrsätzen mit einer so großen Sicherheit und Klarheit festgestellt worden, daß dieselben als unumstößlich bezeichnet werden können. Diese Sätze sollen und müssen selbstverständlich nicht nur jedem Arzte vertraut sein, sie sind vermöge ihrer Klarheit auch jedem gebildeten Laien verständlich, und wenn man verlangen darf, daß keinem Arzte die wissenschaftliche Reife zugesprochen wird, welcher sich nicht in vollem Besitze der Kenntnisse von der Ernährungslehre befindet, so bildet es andererseits eine Aufgabe der öffentlichen Gesundheitspflege, das Publicum mehr und mehr mit den leicht faßlichen Grundsätzen der Ernährungslehre vertraut zu machen. Es wird dasselbe dann mehr und mehr zu der Einsicht gelangen, daß es sich auf diesem Gebiete nicht um wechselnde und individuelle Anschauungen oder um räthselhafte Erscheinungen und Wirkungen oder gar um Geheimnisse oder Wundermittel handelt, sondern daß, wie überall auf dem Gebiete der Natur, so auch hier Alles nach strengen Gesetzen geregelt ist.
Jeder Mensch bedarf zu seiner Existenz einer gewissen Menge bestimmter, verschiedener Stoffe, wie dies in früheren Jahren Professor Bock in diesen Blättern klar und anschaulich dargelegt hat. Die einen dieser Stoffe dienen vorzugsweise dazu, die Kraft zu körperlicher und geistiger Arbeit und bei dem Wachsthum des Individuums das Material zur Anbildung der Gewebe zu liefern. Die anderen sind besonders dazu bestimmt, eine ständige Quelle der Wärmebildung im Organismus abzugeben. Eine dritte Reihe hat wesentlich die Aufgabe, die zur Anbildung, Umsetzung und Wärmeproduction erforderlichen Umsetzungen jener erstgenannten Stoffe zu vermitteln, und eine vierte Reihe führt dem Leben des Menschen gewisse Erregungen zu, die allenfalls [154] entbehrlich, jedoch um so bedeutsamer sind, je mehr Leistungen körperlicher oder geistiger Art von dem Einzelnen gefordert werden.
Diese vier Gruppen von Stoffen bezeichnet man in der wissenschaftlichen Sprache mit dem Ausdruck der stickstoffhaltigen, der stickstofffreien, der unorganischen Verbindungen und der Genußmittel, d. h. die ersten bestehen aus den Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff, die zweiten aus den Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, die dritten aus den sogenannten Salzen (Kochsalz, Knochenerde, phosphorsaures Kali, phosphorsaures Eisenoxyd etc.), die vierten aus den sogenannten Gewürzen und eigenthümlichen Stoffen, welche unsere Nahrungsmittel und Getränke einschließen, wie das Kreatin im Muskelfleisch, das Theïn im Thee, der Alkohol in den spirituosen Getränken etc. Um der Vorstellung von den hier wesentlich in Frage stehenden stickstoffhaltigen Verbindungen behülflich zu sein, nenne ich als Hauptvertreter derselben das Eiweiß des Hühnereies, das Eiweiß des Muskelfleisches, das Eiweiß und den Kleber des Weizens und Roggens, das Legumin der Hülsenfrüchte, während als Hauptvertreter der stickstofffreien Verbindungen der Zucker, das Stärkemehl und die Fette zu bezeichnen sind.
Eine große Anzahl unserer gewöhnlichen Nahrungsmittel enthält alle diese Stoffe in sich eingeschlossen. So enthält das Fleisch des gemästeten Ochsen Eiweiß und demselben sehr nahe verwandte eiweißartige Stoffe, Fette, phosphorsaures Kali, phosphorsauren Kalk und einige andere Salze, und als Repräsentant der Genußmittel das Kreatin. Im Weizenmehl finden wir in gleicher Weise vereinigt das Pflanzeneiweiß und den Kleber, das Stärkemehl, sehr geringe Mengen Fett und phosphorsaure Salze, während ein Repräsentant der Genußmittel hier nicht vorhanden ist. Andere Nahrungsmittel bestehen dagegen auch nur aus einem einzigen der obengenannten Stoffe; so der Zucker, das Stärkemehl, das reine Fett. Sie enthalten weder stickstoffhaltige Bestandtheile, noch unorganische, noch sogenannte Genuß- oder Erregungsmittel.
Dasjenige, was der Mensch zu seiner Existenz bedarf, sowie die wesentlichen einzelnen Bestandtheile der Nahrungsmittel sind hiermit in klarer Weise bezeichnet, und wir wollen noch ausdrücklich hinzufügen, daß keine der genannten Substanzen, weder die stickstoffhaltige, noch die stickstofffreie, noch die unorganische fehlen darf, wenn anders die Ernährung eine normale sein soll. Lediglich die sogenannten Genußmittel kann der Mensch für seine einfache Existenz allenfalls, aber immer nur schwer entbehren; denn sie sind es eben, welche ihm die Nahrung schmackhaft machen.
Es bedarf aber sofort der weiteren Hinzufügung, daß die normale Ernährung nicht nur die Zufuhr der genannten Substanzen überhaupt, sondern auch ein bestimmtes relatives Mengenverhältniß derselben erfordert. Durch die Berechnungen der durchschnittlich von einem gesunden Menschen in der gemäßigten Zone täglich verzehrten einzelnen Substanzen sowohl, wie auf theoretischem Wege hat man ermittelt, daß die stickstoffhaltigen und die stickstofffreien Substanzen in einem Verhältniß von 1 : 5 stehen müssen, wenn die Nahrung allen Anforderungen genügen soll. Nur im frühesten Kindesalter macht das Wachsthum des Körpers eine relativ etwas höhere Zufuhr von stickstoffhaltigen Stoffen erforderlich, so daß sich das fragliche Verhältniß hier etwa wie 1 : 4 gestaltet. In Worte übertragen heißt dies, daß der gesunde erwachsene Mensch auf 1 Theil Eiweiß jedesmal 5 Theile Stärkemehl oder Zucker oder ein entsprechendes Aequivalent Fett (1 Theil Fett hat den Nährwerth von 2,4 Theilen Stärkemehl), das Kind dagegen auf 1 Theil Eiweiß 4 Theile Stärkemehl oder Zucker oder entsprechende Mengen Fett genießen muß, wenn die Gesammternährung eine normale sein soll, und, wunderbar genug, der Instinct hat überall die Menschen dahin getrieben, ihre Nahrungsmittel der Art zu mischen, daß diese Proportionen damit erreicht werden.
Wenn nun aber die chemische Analyse nachgewiesen hat, daß das Eiweiß der Nahrungsmittel aus dem Thierreich durchaus gleichwerthig ist dem Eiweiß der pflanzlichen Nahrungsmittel, daß das Fett des Thierleibes nahezu gleichwertig ist den Fetten (Oelen) des Pflanzenkörpers, daß ferner in dem Roggen-, Weizen-, Linsen- und Erbsenmehl nahezu dieselben unorganischen Bestandtheile enthalten sind, wie in dem Fleische des Thieres, welches wir genießen, so ist es klar, daß wir die Fleischnahrung fast vollständig durch eine bestimmte vegetabilische Nahrung ersetzen können. – Nur Eins fehlt dieser vegetabilischen Nahrung: die für die Erregung unseres Nervensystems so bedeutsamen Erregungs- oder „Genußmittel“, welche, wie das Kreatin, in dem Fleische enthalten sind. Und auch darauf wollen wir mit besonderem Nachdruck aufmerksam machen, daß fast alle vegetabilischen Nahrungsmittel relativ bei Weitem zu wenig Fett gegenüber den animalischen Nahrungsmitteln enthalten. Allein beide lassen sich sehr leicht künstlich ersetzen, und fügen wir z. B. dem Linsenmehl oder dem Erbsenmehl eine kleine Menge Fleischextract und etwas Fett in der Form von Butter oder einem anderen thierischen Fett hinzu, so wird das Linsenmehl und Erbsenmehl damit in Bezug auf die Ernährung dem Ochsenfleisch äußerst gleichwerthig. Für gewisse Dienstleistungen im Organismus (Wärmebildung) wird das Fett der animalischen Nahrungsmittel durch das Stärkemehl des Linsen- und Erbsenmehls ersetzt. Beide sind stickstofffreie Substanzen und liefern Material für die Verbrennungsprocesse in unserem Körper. Aber in weiteren physiologischen Beziehungen, auf welche ich hier nicht näher eingehen kann, kann das Fett niemals durch Stärkemehl oder Zucker ganz ersetzt werden, und hierauf wird bei jeder Verwendung der vegetabilischen Nahrungsmittel des Menschen sorgfältig Rücksicht zu nehmen sein.
Wir gelangen hiermit zu dem für die Ernährungslehre im Allgemeinen wichtigen Satz, daß sich die Fleischnahrung annähernd durch bestimmte vegetabilische Nahrungsmittel ersetzen läßt und daß wir diese bestimmten vegetabilischen Nahrungsmittel (es sind die sogenannten Leguminosen oder Hülsenfrüchte) durch geringe Zusätze von Fleischextract und Fett dem Fleische geradezu gleichwerthig zu machen vermögen. Für die Ernährung ganzer Volksclassen, marschirender Truppen, der Bevölkerung der Seeschiffe etc., so wie in nationalökonomischer Beziehung ist diese Erkenntniß von unverkennbarem hohem Werth. Aber nicht minder nimmt ein anderer Gesichtspunkt unser Interesse in Anspruch.
Das Fleisch, welches wir genießen, erfordert unter allen Umständen eine gesunde Beschaffenheit der Verdauungsorgane, wenn es unserm Organismus als Nahrungsmittel zu Gute kommen soll. Wir genießen dasselbe niemals in einer so fein vertheilten Form, daß die zu seiner Auflösung und Umwandlung bestimmten Säfte des Magens und obern Theils des Darmcanals nicht noch erforderlich wären, um seine Verdauung und seinen Uebertritt in das Blut zu ermöglichen. Zwar besitzen wir in neuerer Zeit auch Fleischpräparate, welche dem Magen jede Arbeit zu ersparen bestimmt sind (Leube’s Fleischpräparate). Allein der unvermeidlich hohe Preis derselben wird einer Anwendung in weiteren Kreisen nur zu oft hinderlich sein. Die vegetabilischen Nahrungsmittel dagegen, welche wir als zum Ersatz der Fleischnahrung geeignet bezeichnet haben (Erbsen, Bohnen, Linsen), lassen eine so feine Vertheilung zu, daß sie, in der Form eines Mehlstaubes zur Suppenbereitung verwandt, den Verdauungsorganen jede Arbeit zu ersparen vermögen, und wiewohl eben diese Leguminosen in gröberer Zubereitung sich mit Recht den Namen der schwerverdaulichsten Nahrungsmittel erworben haben, so gehören sie in ihrer denkbar feinsten Vertheilung zu den leichtverdaulichsten, ohne deshalb im Geringsten an ihrem beträchtlichen Nährwerth zu verlieren. Damit erhalten wir in diesen vegetabilischen Nahrungsmitteln äußerst werthvolle Nahrungsmittel für gewisse Kranke. Wir geben denselben mit ihnen unter Hinzufügung von etwas Fleischextract und Fett die Bestandtheile des Fleisches und ersparen den Verdauungsorganen jede Arbeit, welche zur Verdauung einer dem Nährwerth nach gleichen Menge von Fleisch erforderlich sein würde. Und wenn für solche Kranke die Milch oftmals selbst deshalb beschwerlich ist, weil die Gerinnung des Käsestoffs im Magen unvermeidlich und zu dessen Verdauung wieder eine Arbeitsleistung des Magens erforderlich ist, wenn wir kein anderes Substitut für das Fleisch im Hinblick auf seinen Nährwerth kennen, als eben die Leguminosen (sie allein enthalten unter allen vegetabilischen Nahrungsmitteln ein so hohes Verhältniß der stickstoffhaltigen zur stickstofffreien Substanz wie 1 : 2,3), so erhalten dieselben damit einen geradezu unschätzbaren Werth.
Es steht also fest, daß die stickstoffhaltigen Substanzen zu den stickstofffreien in den Leguminosen in dem Verhältniß von 1 : 2,1–2,3 stehen, und daß der gesunde erwachsene Mensch in der gemäßigten Zone diese Bestandtheile in dem [155] Verhältniß von 1 : 5 genießt. Ein solches Verhältniß findet sich, von der Natur geboten, annähernd in dem Weizenmehl oder noch besser in einer Mischung von Weizen- und Roggenmehl zu gleichen Theilen. Allein für Kranke stellen sich die Bedürfnisse oftmals anders, als für Gesunde. Sie bedürfen mitunter, um einigermaßen bei Kräften erhalten zu werden, eine an stickstoffhaltigen Substanzen sehr reiche Nahrung, und in gewissen Fällen wird für sie deshalb gerade ein Verhältniß der genannten Substanzen von 1 : 2,3, wie es in den Leguminosen vertreten ist, erforderlich sein.
Bei anderen Kranken gestaltet sich das Bedürfniß wieder anders. Sie verlangen vielleicht ein Verhältniß jener Substanzen von 1 : 3, oder 1 : 4, oder 1 : 5. Wie soll diesen Anforderungen entsprochen werden? Die Aufgabe ist sehr leicht zu lösen. Durch Vermischung der Leguminosenmehle mit einem gleich fein herzustellenden stickstoffärmeren Mehle wird man jede beliebige Proportion der fraglichen Substanzen erzielen können, und wenn das Verhältniß derselben in dem Roggenmehle durchschnittlich wie 1 : 5,7–6 ist, so werden wir von demselben zu jenem Zwecke den passendsten Gebrauch machen.
Noch einen Punkt darf ich schließlich nicht unerwähnt lassen. Die wesentlichen Substanzen, welche für eine gesunde Ernährung erforderlich sind, haben wir kennen gelernt. Der Mensch kann aber erfahrungsmäßig für längere Zeit noch eine andere Substanz nicht entbehren, ohne Schaden an seiner Gesundheit zu leiden. Dies sind aus noch nicht hinlänglich erklärten Gründen die Pflanzensäuren und die pflanzensauren Salze, wie sie in allen frischen Pflanzen und Pflanzensäften, die wir genießen, enthalten sind. Will man deshalb einen Menschen längere Zeit mit den Mehlen der Leguminosen und Cerealien ernähren, so ist eine Zugabe auch dieser Pflanzensäuren erforderlich, und eine geringe Menge Citronensäure in Form einer Limonade, ein leichter Wein, ein frisches Obstcompot etc. werden das in dieser Beziehung Erforderliche leicht ersetzen.
Nach diesen Vorbemerkungen ist es nicht schwer zu begreifen, daß es lange schon einen Wunsch der Aerzte bilden mußte, das Mehl der Hülsenfrüchte in einem so fein vertheilten Zustande zu besitzen, um jede Schwierigkeit der Verdauung derselben auszuschließen und damit Suppen bereiten zu können, welche auch von den schwächsten Digestionswerkzeugen mit Leichtigkeit aufgenommen werden und dabei doch eine bedeutende Nährkraft besitzen. Die Anstrengungen, welche in dieser Beziehung gemacht wurden, sind endlich fruchtbar geworden. Nach langen Versuchen ist es Herrn Hermann Hartenstein, früher in Niederwiesa, jetzt in Chemnitz, gelungen, die Leguminosen in den feinsten Mehlstaub zu verwandeln, und in der nunmehr von ihm in den Handel gebrachten, jetzt von der Firma Hartenstein u. Comp. fabricirten und verkauften „Leguminose“ ist vielen Kranken ein wahrhaft unschätzbares Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt. –
Nach unserer oben gegebenen Auseinandersetzung ist es jetzt nicht mehr schwer verständlich, weshalb diese Leguminosenmehle entweder rein, oder in Vermischung mit verschiedenen Mengen von gleichfalls feinst vertheiltem Weizenmehle dem Publicum dargeboten werden. Es soll dadurch jedes in verschiedenen Fällen zweckdienliche Verhältniß zwischen den stickstoffhaltigen und stickstofffreien Verbindungen unmittelbar zur Verwendung bereit gestellt werden, und die Aerzte werden in jedem Falle zu entscheiden haben, welche von den vier verschiedenen Mischungen, die Herr Hartenstein hergestellt hat, am zweckdienlichsten zu erachten ist. Die Mischung I hat ein Verhältniß der genannten Substanzen von 1 : 2,3, die Mischung II von 1 : 3,3, die Mischung III von 1 : 3,9 und die Mischung IV von 1 : 4,8.
Die aus diesem Mehlstaube bereiteten Suppen sind keine Delicatessen. Aber nach Vorschrift mit einem etwas weichen Wasser und unter Zusetzung von Kochsalz gekocht, liefern sie doch eine durchaus schmackhafte Speise, und durch Zusatz von Küchenkräutern, welche nach Vollendung der Kochung abzufiltriren sind, können sie selbst angenehm schmackhaft werden. Für Kranke ist der mangelnde pikante Geschmack gar kein Nachtheil. Die Hauptsache ist, daß denselben ein ähnliches werthvolles Nahrungsmittel, gleich an Ernährungswerth und gleich an Leichtverdaulichkeit, gar nicht an die Seite gestellt werden kann, daß sie mit anderen Worten in manchen Fällen geradezu unentbehrlich sind.
Es sind jetzt bereits zwei Jahre verflossen, seit Herrn Hartenstein die Darstellung der fraglichen Mehlsorten gelang. Zahlreiche Aerzte haben bereits Gebrauch davon gemacht, und die darüber ausgestellten Atteste legen die besten Beweise für die segensreichen Wirkungen derselben ab. Typhuskranken, an Diarrhöen leidenden Kindern, Magenleidenden und abzehrenden Kranken waren diese Mehlsuppen in sehr vielen Fällen in hohem Grade nützlich, und die Erklärung dieses Nutzens liegt nach unseren vorstehenden Mittheilungen so klar auf der Hand, daß sie auch jedem gebildeten Laien einleuchten wird.
Wir schließen mit dem Wunsche, daß die „Leguminose“ des Herrn Hartenstein in immer weiteren Kreisen zur Anerkennung kommen und als ein durchaus einfaches, unverfälschtes, in seiner Zusammensetzung genau bekanntes, rationelles Nahrungsmittel sowohl in Privatkreisen, wie in öffentlichen Krankenanstalten zum Wohle der Kranken Anwendung finden möge!
Gefälschte Sehenswürdigkeiten. (Ein Aufruf an die deutsche Localpresse.) Ganz im Einklange mit dem übrigen Schwindelwesen der Gegenwart, ist der Humbug, der mit den sogenannten wandernden Sehenswürdigkeiten getrieben wird, zu einer solchen Höhe gediehen, daß vom Standpunkte der Ehrenhaftigkeit aus, der ja vorläufig doch wohl noch eine wenn auch sehr geschmälerte Geltung hat, ein Vorgehen dagegen zur Nothwendigkeit wird. Es ist uns daher sehr angenehm, daß sich die Redaction der Gartenlaube zur Aufnahme dieses Aufrufs bereit erklärt hat. In der That, dieselbe Schamlosigkeit, die dem Gründerwesen das Kainszeichen aufgedrückt hat, die den Börsenschwindel bereits bis zu gemeinen Prügeleien führte, sie hat neben vielen anderen Auswüchsen auch das Schaubudenwesen nach einer Seite hin entwickelt, die nicht mehr Humor, sondern Ekel erweckt. Ja, und wenn nur dieser Ekel überall erweckt würde, denn in ihm liegt ja ein Wink der gesunden geistigen oder körperlichen Natur, aber leider fehlt einem großen Theile des Publicums der Grad von Kenntnissen, um auf dem oder jenem Felde des Wissens den Schwindel, wenn auch nur in seinen gemeinsten Aeußerungen, zu durchschauen, ja selbst Gebildete müssen sich manchmal anführen lassen.
Vor einer Reihe von Jahren wurde in Leipzig eine Gorilla-Familie ausgestellt, gewiß etwas Sehenswerthes. Es wurde nicht angekündigt, daß sie lebendig sei, aber auch nicht, daß sie ausgestopft, so daß sehr Viele, wie ich selbst hörte, beim Eintreten ausriefen: Ach Gott, ausgestopft! Sie bedachten nicht, daß diese größte Affenart selbst ausgestopft noch eine sehr werthvolle Seltenheit und nur ganz zufällig einmal käuflich ist. Diese Familie nun bestand aus einem Männchen, einem Weibchen und einem Jungen. Es lag eine Art Album aus, in welchem sich eine Menge Personen, auch namhafte Gelehrte mit großer Anerkennung der von ihnen zum ersten Mal gesehenen Sehenswürdigkeit ausgesprochen hatten, und dies machte mich, der ich wegen der falschen Haarrichtung der Vorderarme einen leisen Zweifel fühlte, ganz sicher. Und doch war Alles eine geschickte, aber schmähliche Täuschung. Nichts als Bärenfelle waren es, geschickt zusammengenäht und ausgestopft und die nackten Hautstellen, Gesicht und Hände wahrscheinlich aus passendem Stoff modellirt und angestrichen. Denn – nah durfte man nicht hinantreten; eine Schranke hielt die unberufenen Prüfer mehrere Schritte von den angeblichen Gorillas fern. Der Besitzer dieser künstlich construirten Thiere hat damals mit denselben viel Geld verdient, denn er hatte starken Zulauf und wenig Spesen. Aber das weckte den Neid seiner Collegen, und da diese Leute fast stets unter sich über den Ursprung ihrer Schaustücke unterrichtet sind, so erfuhr ich denn bald die ganze Geschichte. Später ist der Mann mit mechanischen Schaustücken wieder nach Leipzig gekommen, aber die arme Gorilla-Familie stand jetzt in einem finsteren Winkel der Bude und wurde kaum noch eines Blickes gewürdigt. Wenn ich nicht irre, sind diese Gorillas in Hamburg gefertigt worden; Hamburg ist überhaupt der Ort, wo viele naturhistorische Seltenheiten fabricirt werden, so z. B. soll sich dort ein Mann befinden, der mit großer Geschicklichkeit ausländische Vogelnester anfertigt und an Sammler verkauft. Selbstverständlich ist diese Stadt als größter deutscher Hafen für diese fälschende Industrie der passendste Ort.
Ein anderer derartiger Geschäftszweig ist die Anfertigung von Marterwerkzeugen. Manche werden schon erstaunt gewesen sein, wie oft sie Schaubuden mit diesen herzerhebenden Schaustücken getroffen haben. Diese Industrie ist noch nicht sehr alt und hat ihren Sitz in einer süddeutschen Stadt, irre ich nicht, in Nürnberg. Der erste Unternehmer in diesem Fache hat große Geschäfte gemacht, und darum ist jetzt die Zahl der Nachtreter eine große. Denn ein bischen Gruseln will der Mensch nun einmal haben, und um so stärker, je stärker seine Nerven sind. Also wer sich diese Marterwerkzeuge ansieht, sieht wahrscheinlich lauter erst jetzt fabricirtes, wohl gar erst erfundenes Zeug.
Von dem Wilden-Schwindel noch zu reden, ist jedenfalls unnöthig; er ist bereits mehrmals in der Gartenlaube von derselben Feder erwähnt worden. Er nimmt aber kein Ende. So war zum Beispiel in der
[156] letzten Michaelismesse zu Leipzig eine Art gemischtes Museum aufgestellt. Man sah daselbst eine Menge naturhistorischer Gegenstände, dann eine Reihe von Wachsfiguren, in Gruppen zusammengestellt, und zum Schluß auch zwei Negerinnen, eine Mulattin und eine Albinodame. Die Negerinnen, wahrscheinlich ausgediente Ammen oder dergleichen, wurden als von berühmten Reisenden, zum Beispiel Schweinfurth, aus dem Innern von Afrika mitgebracht vorgestellt; die Mulattin wurde als Indianerin von den Südsee-Inseln gezeigt, und das Albinomädchen mußte sich natürlich auch eine erdichtete Herkunft gefallen lassen. Phantasiecostüme, die dümmsten, die man sich denken kann, waren natürlich selbstverständlich. Und doch nahm das anwesende Publicum den Blödsinn des Erklärers mit Mienen hin, die deutlich sagten: es muß wohl wahr sein, denn sonst konnte man’s ja doch nicht sagen.
Daß übrigens das Publicum in solchen Sachen einen sehr gesunden Sinn für Recht und Unrecht hat, das bewies in Leipzig die früher in der Gartenlaube erzählte Thatsache, daß das Volk eine solche Wilden-Bude stürmte, als der Wilde als früherer Bedienter entlarvt worden war.
Am grellsten trat dieses Treiben bei den Leuten auf, welche die als Eskimos gekleideten Lappländer zeigten und wohl noch zeigen. Weil diese immerhin wirkliche Lappländer sind, glaubten sich die Personen, welche sie zeigten, in vollem Rechte, dieselben in Kleidung, Bewaffnung, ja selbst im Benehmen vollständig zu fälschen und mit dieser Fälschung die Gruppe noch als wissenschaftliche Sehenswürdigkeit zu zeigen und dies ganz besonders zu betonen. Wenn das erlaubt sein soll, dann hören überhaupt die Begriffe von Recht und Unrecht, von Schwindel und Ehrlichkeit auf.
Ueberhandnehmen dieses Sehenswürdigkeiten-Schwindels ist denn auch bereits die Ursache geworden, daß schon manche Behörden Front dagegen machen, aber die Thatsachen haben bereits gelehrt, daß sie theils das Kind mit dem Bade ausschütten, theils ganz fehlgreifen. Trotz dieser behördlichen Controlle durften jene Eskimo-Lappländer noch überall gezeigt werden, andere Sehenswürdigkeiten aber, die wirklich ein Recht hatten, sich so zu nennen, wurden nicht zugelassen. Der Hauptfehler bei der Sache ist der, daß alle solche Sehenswürdigkeiten-Besitzer vor der Aufstellung die Erlaubniß zur Ausstellung nachsuchen müssen und diese Aufstellung gewöhnlich blos nach der angemeldeten Benennung ertheilt oder verweigert wird, ohne daß die Behörde sich die Mühe nimmt oder nehmen kann, die Sache zu besichtigen, und selbst wo sie dies könnte, fehlen gewöhnlich die Sachverständigen zur Beurtheilung.
Daher tritt an die Presse die Aufgabe hinan, diesem Unfuge entgegenzutreten, und zwar um so mehr, da sie ihn zum großen Theil bisher selbst gefördert hat, insofern nämlich, als sich jede Redaction für moralisch verpflichtet hält, aus Erkenntlichkeit für den Empfang und Gebrauch der üblichen Freibillets die betreffende „Sehenswürdigkeit“ dem Publicum unter allen Umständen zu empfehlen. Könnten sich die Redactionen der anständigen Blätter dazu entschließen, diesen geringen Vortheil der Freibillets vorkommenden Falls zu entbehren, vor allen Dingen aber dem Publicum die Wahrheit zu sagen, so müßte es sehr bald besser werden.
Es werden hierdurch alle Redactionen, insbesondere diejenigen der Localblätter, ersucht, alle an dem Orte ihrer Herausgabe gezeigten Sehenswürdigkeiten, welche eine unterrichtende Bedeutung beanspruchen, durch sachverständige Berichterstatter besichtigen und der Wahrheit gemäß öffentlich besprechen zu lassen, selbst auf die Gefahr hin, auf die Verwendung etwaiger Freibillets verzichten zu müssen. Nur so kann dem bis zur schamlosen Gewissenlosigkeit gesteigerten Sehenswürdigkeiten-Schwindel eine Schranke gesetzt werden.
Alle Redactionen werden hiermit um Wiederabdruck des fettgedruckten Aufrufs gebeten. Das Publicum wird gewiß bald auf die Blätter achten lernen, welche danach handeln.
Für Mütter. Ein Kind zog sich eine geringfügige Verbrennung am Fuße zu. Die Mutter suchte die Heilung ihres Lieblings möglichst zu beschleunigen und klebte ein Glöckner’sches Zugpflaster auf die nur thalergroße Stelle. Das Resultat dieser Unvorsichtigkeit kam schon nach dem dritten Tage zum Vorscheine; es schloß sich eine so starke Entzündung an, daß nicht nur der Fuß, sondern der gesammte Körper des Kindes in den gefährlichsten Zustand versetzt wurde. Erst nach Entfernung des Pflasters stellte sich die verzögerte Abheilung ein. Wie verkehrt dieses Verfahren bei Brandwunden ist, das möge die folgende Auseinandersetzung klarlegen.
Die menschliche Haut besteht aus zwei Schichten. Die oberste, Epithel genannt, enthält nur aneinander gedrängte rundliche Körperchen, Zellen genannt; diese Lage ist vollständig solid. Die untere Schicht besteht aus Fasern, welche in ihren Lücken Blutgefäße, Drüsen, Nerven, Haarbälge enthalten. Die Zellen des Epithels zeigen zweierlei Beschaffenheit. Die zu unterst dicht über einem starken Blutgefäßnetze der zweiten Lage befindlichen vermehren sich durch Theilung. Es müssen deshalb, um Raum zu gewinnen, ältere Zellen nach oben rücken. Je weiter sie aber nach außen kommen, desto mehr ändert sich ihr Inhalt und ihre Gestalt; sie werden zuletzt in nicht mehr lebensfähige hornartige Schüppchen verwandelt, von denen die äußersten bei dem Menschen sich täglich abstoßen. Die weißen Massen, welche in dem warmen Badewasser nach dessen Gebrauche, vorzüglich wenn man diesen Genuß nicht zu häufig ausübt, schwimmen, sind solche abgeschuppte Zellen. Der Nutzen dieser Umwandlung der oberen Zellen in eine verhornte Masse ist leicht ersichtlich. Wenn die ganze äußere Schicht aus lebensfähigen Zellen bestände, wie es bei den Schleimhäuten der Fall ist, so würde, weil durch die Wärme und durch wässerige Theile des Blutes diese Zellen sehr leicht bis an die Körperoberfläche fortgeleitet werden, eine so erhebliche Wärmeentziehung durch die große Körperoberfläche stattfinden, daß die stärkste Bedeckung nicht das Erfrieren verhindern könnte. Die verhornten Zellen wirken, weil sie die Blutwärme äußerst schlecht leiten, als der beste natürliche Pelz.
Was geschieht nun bei einer Verbrennung? Die kleinsten ganz oben gelegenen Blutgefäße werden durch die Hitze gelähmt; in Folge dessen erweitert, enthalten sie mehr Blut. Es entsteht die Röthe der betroffenen Stelle. War die Verbrennung stärker, so tritt etwas Blutwasser zwischen die untersten lebensfähigen Zellen der oberen Schicht und hebt die höheren in den verschiedenen Stadien der Umwandlung in Horn begriffenen Zellen ab; es kommt ein mit wässeriger Flüssigkeit erfüllter Hohlraum zum Vorscheine, die Brandblase. Oeffnet man die Blase sofort nach ihrer Entstehung, so tritt das Wasser heraus, und es bleibt die unterste Epithelzellenlage ohne Bedeckung. Weil aber unter derselben sich die schon durch die Hitze gereizten Nervenendigungen befinden, erklärt sich die Schmerzhaftigkeit, wenn man die ganze Blasenhaut wegnimmt. Aus diesem Grunde handelt man nach der Volkssitte richtig, wenn nur durch eine kleine Oeffnung, z. B. einen durchgezogenen Faden, das Wasser herausgelassen wird, weil so die Blasenhaut erhalten bleibt, bis sich unter ihr neue Hornzellen gebildet haben. Erreicht die Verbrennung einen noch höheren Grad, dann tritt zu der Lähmung der kleinsten Blutgefäße eine Tödtung der untersten Epithelzellen; das in denselben enthaltene sonst flüssige Eiweiß schlägt sich, ähnlich wie in dem gekochten Eie, nieder; es entsteht eine regellose Masse, der Brandschorf.
Welchen Effect muß nun auf eine so verbrannte Hautstelle, selbst wenn es nur zu einer größeren Blase gekommen ist, ein Glöckner’sches oder überhaupt ein derartiges Pflaster ausüben? Wie eben auseinandergesetzt, sickert Blutflüssigkeit durch die erweiterten Gefäße nach der freien Oberfläche. Außer dem Blutwasser gelangen aber bald kleinste körperliche Bestandtheile, die weißen Blutkörperchen, nach oben und bilden mit dem Wasser zusammen den Eiter. Je nachdem das Wasser oder die Blutzellen überwiegen, ist der Eiter dünn- oder dickflüssig. Für eine schnelle Heilung einer Wunde ist es nun vor Allem erforderlich, daß dieser Wundausfluß so gut und schnell wie möglich abfließen kann. Klebt man aber ein Pflaster hermetisch über die Wunde, so wird dieser Abfluß gehindert, der Eiter zersetzt sich, fault und giebt den Pestheerd ab für den ganzen Organismus. Die faulenden Bestandtheile werden aufgesaugt und setzen von der Wunde aus die Entzündung nach allen Seiten hin fort. Die vollständig illusorische Wirkung dieser aus Mennige und Olivenöl zusammengesetzten Pflaster beruht bei nicht offenen Hautstellen nur in der zurückgehaltenen Wärme, bei Wunden dagegen stiften sie den offenbarsten Schaden.
Die einfache naturgemäße Heilungsmethode folgt aus unserer Betrachtung. Die Mutter verliert bei der plötzlichen Entstehung der Verbrennung durch das ahnungslose Hereinbrechen der Gefahr und das Geschrei des kleinen Patienten beinahe immer die Besonnenheit; es wird daher, bis der Arzt kommt, Nichts oder in der Mehrzahl Verkehrtes gethan. Kaltes Wasser stiftet bei einer größeren Verbrennung keinen Nutzen. Die starke Hitze erforderte einen Wechsel von Minute zu Minute, was außer der starken Wärmeentziehung eine erhebliche Reizung der Wundfläche veranlassen würde. Die Volkssitte hat seit Jahren das Verfahren angewendet, welches auch die Wissenschaft als das Beste anerkennen muß. In Leinöl oder auch gewöhnliches Olivenöl, welchem man, wenn es möglich, die Hälfte Kalkwasser zusetzen läßt, werden Leinwandstücke stark getränkt und auf die Wunde gelegt; über diesen Verband kommt eine dichte Schicht von Watte. Wenigstens zweimal täglich müssen die Leinwandstücke erneuert werden. Die Watte hindert die zu starke Wärmeausstrahlung und ersetzt die verloren gegangene Hornschicht; das Kalkwasser stumpft die gereizten Hautnerven etwas ab und desinficirt den Wundabfluß. Will man, wie es am besten ist, eine derartige Mischung vorräthig halten, so muß man sich von Zeit zu Zeit überzeugen, daß das Oel keinen ranzigen Geruch zeigt. Besitzt es diesen, so würde es ebenso schädlich wirken, wie die von den Frauen so überaus bevorzugten, hoffentlich aber nun bald in der Vergangenheit lebenden geheimen Zug- und Heilpflaster.
„Verödet!“ (Abbildung Seite 145.) Wer unsere Illustration betrachtet, dem wird das geflügelteste Wort einer großen Zeit wieder in den Ohren klingen, das Wort, das vor nur einem Lustrum so oft gesprochen wurde: „Das ist der Krieg.“ Ja, solcher Bilder hat er unzählige geschaffen; jede Truppe ließ sie noch jedem Kampf und Weitermarsch hinter sich, und tausendweise haben nach dem Friedensschluß die Heimkehrenden ihre Heimstätten so wiedergefunden. – „Das war der Krieg.“ – Wir brauchen nicht auf die Einzelheiten der der Meisterhand des königlichen Hofmalers C. Arnold in Berlin entstammten Darstellung dieser Kriegserinnerung einzugehen; das Bild spricht deutlich genug für sich, um sich Aufmerksamkeit zu erwerben. Das Original, ein sehr werthvolles Oelgemälde, hat bereits seinen Käufer gefunden und geht der Oeffentlichkeit für immer verloren; um so mehr erfreut es uns, daß der Künstler selbst für die „Gartenlaube“ eine Copie zeichnete, welche dem beigehenden Holzschnitt als Grundlage diente.
Berichtigung. In einem Theile der Auflage unserer Nr. 7 ist in dem Artikel über die Stärkefabrik bei Salzuflen der wöchentliche Reisverbrauch irrthümlich mit 400 statt mit 4000 Centnern angegeben worden.
O. v. M. in D. Was deutsche Blätter, aus ungarischen Quellen schöpfend, über Michael Klapp, den Verfasser von „Ein ungarisches Königsschloß“ (Nr. 5 unseres Blattes) colportiren, ist der Hauptsache nach heller Blödsinn. Jeglicher Begründung entbehrt namentlich die Insinuation, Klapp sei von der Redaction der „Montags-Revue“ entfernt worden. Als dem Eigenthümer jenes Blattes kann ihm die Leitung desselben von Niemandem entzogen werden, wie er dies auch in einer Entgegnung im „Pester Lloyd“ ausdrücklich erklärt. Ueber die in österreichischen Regierungskreisen geplante Nachahmung der „Gartenlaube“ sind wir längst unterrichtet.
- ↑ Mitgetheilt als Probe aus A. Fleischmann’s „Culturgeschichtlichen Bildern aus dem Meininger Oberlande“, von welchen demnächst das zweite Heft erscheinen wird.
- ↑ Vgl. „Martin Luther, ein religiöses Charakterbild, dargestellt von Heinrich Lang.“ Berlin 1870.
- ↑ Den obigen Beitrag, auf welchen wir besonders die Mütter und Hausfrauen unter unseren Lesern aufmerksam machen, verdanken wir dem als Autorität auf dem Gebiete der Medicin bekannten Professor B. in M. Ob der Preis (1 M. 50 Pf.), für welchen das hier empfohlene Kraftsuppenmehl auf den Markt gebracht wird, nicht im Interesse der allgemeinen Verbreitung dieses Nahrungsmittels noch etwas niedriger zu greifen wäre, müssen wir dem Verfertiger desselben zur Erwägung anheimgeben.D. Red.