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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[359]

No. 22.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Flora hatte Recht; sie nannte allerdings die Dinge beim Namen – sie sprach das aus, was der Mann da vor ihr in seinem Innern nicht leugnete, was ihn seit gestern in eine namenlose Seelenpein versetzt hatte, aber daß der fein geschnittene, zarte Frauenmund sich vor den nacktesten Ausdrücken nicht scheute, um den Scharfsinn, „der sich nicht düpiren lasse“, an den Tag zu legen – das war wohl geeignet, einen Sturm von Unwillen in einer feinfühlenden Menschenseele hervorzurufen.

„Ach, wie ich sehe, habe ich heute das Unglück, Dir in Allem, was ich sage, zu mißfallen,“ hob sie nach einem secundenlangen Verstummen halb sarkastisch, halb schmollend wieder an und ging ihm um einige Schritte nach – er hatte sich mit unverhohlener Entrüstung abgewendet und war schweigend in die Fensterecke getreten. „Möglich, daß mein gerechtes Urtheil ein wenig zu drastisch ausgesprochen war; vielleicht hätte ich auch, dankbar für manche kleine Annehmlichkeit, die mir Römer hier und da verschafft hat, weniger wahr und aufrichtig sein sollen“ – sie zog die Schultern und die Brauen empor – „aber ich bin nun einmal eine geschworene Feindin aller schwächlichen Bemäntelung und habe dabei auch alle Ursache, empört zu sein. Meine Schwester Henriette, mit deren Erbtheil Römer speculirt hat, wird mit dem Zusammensturze bettelarm, und Käthe? – Sei versichert, daß ihr von ihrem ganzen immensen Vermögen nicht ein Papierschnitzel bleibt!“

„Desto besser!“ kam es wie ein Hauch von den Männerlippen, die so jünglingshaft roth und keusch unter dem vollen Barte schimmerten und in diesem Momente sanft zu lächeln schienen.

So schwach die zwei Worte auch geklungen, Flora’s Ohr hatte sie doch aufgefangen. „Desto besser?“ fragte sie erstaunt und schlug, halb und halb lachend, die Hände zusammen. „Sehr sympathisch ist mir unsere Jüngste allerdings auch nicht, aber was hat sie denn verbrochen, daß Du ihr Unglück in so befremdlicher Weise aufnimmst?“

Er biß sich wie in innerem Kampfe heftig auf die Unterlippe und preßte die Stirn an das Fensterkreuz; sie sah nachsinnend neben ihm weg, hinaus in den Garten, wo eben der goldene Morgenstrahl das weiße Haupt der steinernen Brunnennymphe erreichte.

„So schlimm, wie Henriette, ergeht es Käthe allerdings nicht – die Schloßmühle bleibt ihr, und die mag schon ein hübsches Stück Geldes werth sein,“ setzte sie nach einer Pause hinzu. „Dorthin kann sie sich retten, wenn hier Alles zusammenbricht, und auch für unsere arme Brustkranke wüßte ich kein besseres Asyl; beide Schwestern lieben sich ja und würden sich gewiß vertragen. Es wird uns auch kein anderes Arrangement übrig bleiben; die Großmama mit ihrem schmalen Einkommen kann unmöglich für Henriette sorgen, und Dir werde ich selbstverständlich nie zumuthen, die kranke Schwester in unsere junge Häuslichkeit mitzunehmen.“ Sie schlang plötzlich ihren Arm in den seinigen und sah verführerisch zärtlich zu ihm auf. „Ach Leo, wie will ich Gott danken, wenn wir morgen im Wagen sitzen werden, all’ das Schreckliche, was nun hier erfolgen muß, im Rücken –“

Mit einer leidenschaftlichen Geberde, mit einem Ingrimm, wie sie ihn noch nie in diesem stillen, ernsten Männerantlitze gesehen, riß er sich von ihr los. „Möchtest Du wirklich Alle im Stiche lassen, die Armen, die in den nächsten Tagen rath- und hülflos inmitten der schrecklichen Schicksalsschläge dastehen werden?“ rief er wie außer sich. „Gehe, wohin Du willst – ich bleibe.“

„Leo!“ schrie sie auf – dann stand sie momentan sprachlos und rang mit einer unbeschreiblichen Erbitterung. Sie legte die geballte Hand auf das Herz, als habe sie einen Dolchstoß erhalten. „Du hast sicher die Tragweite Deiner allzu raschen Worte selbst nicht ermessen,“ sagte sie endlich klanglos und gepreßt; „ich will sie deshalb nur insoweit gehört haben, als sie eine Bemerkung meinerseits nöthig machen: Wenn wir nicht morgen, bevor der Ausbruch erfolgt, unsere Reise antreten – und Niemand wird es uns verargen, daß wir das nun einmal Vorbereitete in aller Stille ausführen –, dann muß unsere Verbindung überhaupt hinausgeschoben werden.“

Er schwieg und verharrte, wie zu Stein geworden, in seiner abgewendeten Stellung, und diese wortlose Unbeweglichkeit reizte sie sichtlich; ihr ganzes leidenschaftliches Naturell funkelte in den großen, grauen Augen.

„Ich habe Dir vorhin erklärt, daß ich zeitlebens gutwillig Deiner Praxis, der Liebe zu Deinem Berufe nachstehen will,“ setzte sie dringender hinzu. „Nie aber werde ich mit meinen Interessen anderen Frauen weichen – das merke Dir, Leo! Ich kann nun und nimmer einsehen, weshalb ich der Großmama und meiner Schwester wegen den furchtbaren Zusammensturz hier mit durchkämpfen soll, da mir doch das Recht zusteht, mich in die ruhige, schützende Häuslichkeit zu flüchten, die Du mir zu [360] geben gelobt hast; ein solches Opfer solltest Du mir gar nicht zumuthen. Liegt es in meiner Macht, etwas an der Sachlage zu ändern? Ganz und gar nicht – wozu dann die nutzlose Aufregung, in die Du mich geflissentlich stürzest? Soll ich durchaus das Vergnügen haben, auch ein Gegenstand des öffentlichen Mitleids zu sein? Eher[WS 1] gehe ich stehenden Fußes von hier fort – ich will nicht, daß man mit den Fingern auf mich zeige.“

Sie durchmaß aufgeregt das Zimmer. „Du hast mir gegenüber für Dein Bleiben hier nicht die leiseste Entschuldigung,“ hob sie, fern von ihm stehen bleibend, mit finster zusammengezogenen Brauen wieder an, nachdem sie vergeblich auf einen Laut von seinen Lippen gewartet hatte. „Nicht einmal auf die Kranken in der Beletage kannst Du Dich berufen. Henriette hättest Du so wie so ihrem Schicksale überlassen müssen, und was Käthe betrifft, so wirst Du mich nicht überzeugen, daß die Stirnschramme, die Du selbst für vollkommen ungefährlich erklärt hast, Deine ganze Ärztliche Kunst und Hülfe erheische. Ehrlich gestanden, ich habe in dieser Nacht das Lachen verbeißen müssen über Dein und der Tante Gebahren. Wenn Henriette über die paar vergossenen Blutstropfen kindische Thränen weint, so mag das hingehen –, sie ist krank und nervengereizt –, aber daß Du Dich geberdetest, als sei unsere Jüngste, dieser derbe, urgesunde Holzhackersproß, aus Duft und Schnee zusammengesetzt –“ unwillkürlich verstummte sie vor Leo’s Aussehen. Er hatte sich ihr zugewendet mit drohend gehobenem Finger, mit einer nicht mehr zu bezwingenden Aufregung in den Zügen.

Sie lachte zornig auf. „Glaubst Du, ich fürchte mich? Ich habe Deiner sehr unpassenden Handbewegung eine ganz andere Drohung entgegenzusetzen: Hüte Dich – noch ist das ‚Ja‘ am Altare nicht gesprochen; noch liegt es in meiner Hand, eine Wendung herbeizuführen, die Dir schwerlich gefallen dürfte. Und nun gerade wiederhole ich, daß mich Dein gestriges ärztliches Thun und Treiben um Käthe schließlich angewidert hat. Soll ich nicht spöttisch werden, wenn Du sie pflegst und verziehst, wie eine Prinzessin –“

„Nein, nicht wie eine Prinzessin – wie eine Geliebte des Herzens, wie eine erste und einzige Liebe, Flora,“ fiel er mit seiner tiefen, klangvollen Stimme in sichtlicher Bewegung ein.

Ein Schrecken durchfuhr sie, als habe ein Blitzschlag die Erde vor ihren Füßen gespalten; unwillkürlich hoben sich ihre Arme gen Himmel, und so stürzte sie auf den Sprechenden zu.

Er streckte ihr abwehrend die Hände entgegen; sonst stand er in unerschütterter Haltung. „Was ich bisher, unter unbeschreiblichen Kämpfen mit mir selbst, in meiner Brust verschlossen habe – aus Scham und von einem Grundsatze ausgehend, der sich als falsch, ja, als unmoralisch erwiesen hat –, ich muß es Dir jetzt bekennen. Ich sehe ab von jeder Vertheidigung, von jedem beschönigenden Worte“ – die Stimme sank ihm – „ich bin treulos gewesen von dem Augenblicke an, wo ich Käthe zum ersten Male gesehen habe.“

Flora ließ langsam ihre Hände sinken. So unumwunden und zweifellos auch das Geständniß lautete, es war dennoch das Unglaubwürdigste, das sie je gehört. Bah, wie hatte sie sich hinreißen lassen können, ein so kopfloses Erschrecken zu zeigen! Es war wohl oft genug geschehen, daß die gefeierte Flora Mangold Männerherzen unwiderstehlich an sich gezogen, und sie dann in Momenten, wo es am wenigsten erwartet wurde, launenhaft und unbarmherzig von sich gestoßen hatte – ach ja, das war zu ihrer innersten Genugthuung so oft geschehen, wie sie Ballsaisons mitgemacht, aber daß ein Mann ihr die Treue brechen könne – lächerlich! Das war zu absurd; das glaubte Niemand in der Residenz, und sie selbst am wenigsten. Da lag es doch weit näher, zu denken, daß Doctor Bruck endlich auch einmal den Muth finde, sich zu revanchiren. Sie hatte eben „ihre Feuerprobe“ bis an die äußerste Grenze geführt; sie hatte in ihrem wohlbegründeten Verdrusse gedreht, noch wenige Schritte vom Altar ihr „Ja“ zurückzuhalten, und das hatte ihn gereizt, hatte seine Langmuth erschöpft; er wollte sie strafen, indem er sie eifersüchtig machte. Ihre bodenlose Eitelkeit und Frivolität halfen ihr noch für wenige Augenblicke über die bitterste Täuschung ihres ganzen Lebens hinweg.

Sie verzog ironisch die Lippen und schlug die Arme unter. „Ah, also gleich beim ersten Erblicken!“ sagte sie. „War das gleich draußen im Corridor, wo sie nach Handwerksbrauch, den Reisestaub auf den Schuhen, mit dem poetischen Taschentuch-Bündelchen in der Hand, hier ankam?“

Man sah, wie ihr spielender Hohn jeden Blutstropfen in dem Manne empörte; angesichts der furchtbaren Entscheidung, die endlich nach namenlosen Leiden und Kämpfen, durch seine wahre „erste und einzige“ Liebe herbeigeführt worden, wurde er lächelnd und frivol in’s Gebet genommen, wie ein Schulknabe. Er bezwang sich mühsam; die Lösung dieser Lebensfrage mußte noch in dieser Stunde erfolgen, aber daß es nicht in würdeloser Weise geschehe, das war seine Aufgabe.

„Da war ich schon ihr Führer und Begleiter gewesen; in der Mühle habe ich Käthe zuerst gesehen,“ versetzte er nach einem momentanen Ringen mit sich selbst, ziemlich gelassen.

Eine dunkle Röthe der Ueberraschung überflog Flora’s Wangen. Es begann in ihren Augen zu glimmen; sie biß sich auf die Lippen. „Ei, davon erfährt man ja das erste Wort. Und auch die Duckmäuserin mit dem ‚reinen‘ Herzen hat Grund gehabt, diese interessante Begegnung zu verschweigen.“ Sie lachte kurz und hart auf. „Nun, und weiter, Bruck?“ Die Arme noch fester unter dem Busen kreuzend, stemmte sie den Fuß sichtlich herausfordernd auf den Teppich.

„Wenn Du in dem Tone verharrst, dann bleibt mir kein Weg zur Verständigung, als der schriftliche.“ Er wollte mit allen Zeichen der Entrüstung an ihr vorübergehen.

Sie vertrat ihm den Weg. „Mein Gott, wie Du das tragisch nimmst! Ich bemühe mich ja nur, auf Deine kleine Komödie einzugehen. Also in einen Federkrieg willst Du Dich mit mir einlassen? Lieber Leo, da ziehst Du den Kürzeren – darauf verlasse Dich! – magst Du auch noch so viel epochemachende medicinische Broschüren in die Welt geschickt haben.“

Das übermüthige Lächeln, das ihre Versicherung begleitete, erstarb ihr auf den Lippen; ein so eisig finsterer, zurückweisender Blick begegnete dem ihren. Jetzt dämmerte allmählich die Ahnung in ihr auf, es könne ihm doch wohl Ernst, bitterer Ernst sein – nicht mit seiner fingirten Liebe für „die Jüngste“; die war nun einmal nicht denkbar – wohl aber mit dem Entschlusse, bei aller Leidenschaft für sie, doch lieber in der letzten Stunde noch mit der capriciösen Braut zu brechen, als sich zeitlebens der „Feuerprobe“ zu unterwerfen. Sie bereute ihr Vorgehen, und dennoch siegte der wilde Trotz, der beispiellose Uebermuth in ihr.

„So gehe!“ sagte sie rasch zur Seite tretend. „Solche Blicke, wie Du mir eben zugeworfen hast, vertrage ich nicht. Gehe – ich rühre nicht einen Finger, Dich zu halten.“ Sie brach in ein schneidendes Hohngelächter aus. „O Männercharakter, viel berühmter und besungener! Es hat eine Zeit gegeben, wo ich fast auf den Knieen um meine Freiheit gebettelt habe; man war würdelos genug, die widerstrebende Braut um so fester in Ketten zu legen. Da sieh, und lerne von mir, was in solchen Momenten selbst für ‚die schwache, eitle Frauenseele‘ einzig und allein maßgebend ist: der Stolz –“

„Es war auch Stolz, der mich damals unerbittlich bleiben ließ, unbändiger Stolz, wenn auch ein ganz anderer, als das Gemisch von Trotz und Grimm, das Du als solchen bezeichnest,“ unterbrach er sie mit maßvoller Ruhe, obgleich die letzte Spur von Farbe aus seinen Wangen gewichen war. „Ich bekenne mich ja dazu, schwer gefehlt zu haben; ich werde Dich, wie bereits gesagt, mit keiner Vertheidigung behelligen, die Andere auch nur entfernt der Mitschuld bezichtigen könnte. … Der Impuls meiner damaligen Handlungsweise war das Pochen auf die eigene Kraft, auf den Manneswillen, der mit allen Gefühlsausschreitungen der Seele fertig werden müsse, wie ich wähnte. Ich gab Dir Dein Wort nicht zurück, weil ich gewohnt war, das meine, einmal gegeben, in allen Lebenslagen als unverbrüchlich bis in alle Ewigkeit anzusehen; von dem Standpunkte aus erschien mir unser Verlöbniß so unlösbar, wie dem Katholiken die Ehe. … Ich leugne nicht, daß auch der Rest studentischer Ehrbegriffe in mir nachwirkte. An jenem Abende habe ich Dir diesen einen Beweggrund ausgesprochen, und ich muß ihn auch jetzt noch einmal betonen: Ich wollte nicht in die Schaar Derer zurücktreten, die an Deinem Siegeswagen gezogen [361] und dann mit Eclat entlassen worden waren; ich wiederhole, daß ich diese Anschauung jetzt als jugendlich unreif verwerfe, weil in solchen Fällen nicht die Ehre des Mannes, sondern die der Frau compromittirt ist.“

Sie wandte ihm mit einem zornflammenden Blicke den Rücken und ließ ihre Finger in leisem, unregelmäßigem Getrommel auf der Tischplatte spielen. „Ich habe Dir nie verschwiegen, daß meine Hand unzählige Male begehrt und erstrebt worden ist, ehe ich mich mit Dir verlobte,“ sagte sie stolz nachlässig, ohne auch nur den Kopf in der Richtung nach ihm zu bewegen.

„Du so wenig, wie alle meine Bekannten,“ fiel er ein. „Du darfst aber nicht vergessen, daß Du das unnahbare Ideal meiner Jugend gewesen bist. Auf der Universität und noch im letzten Feldzuge hat mich der Gedanke angespornt, daß das stolze Herz der Vielumworbenen sich noch Keinem zugeneigt, daß es den hoch beglücken müsse, der es erringe –“ er unterbrach sich – er durfte und wollte sich nicht auf ihre Koketterie beziehen; er verschmähte alle, auch die begründetsten Vorwürfe als Hülfstruppen.

„Und möchtest Du dem entgegen behaupten, ich hätte auch nur Einen aus dem Troß dieser unvermeidlichen Anbeter geliebt?“ brauste sie auf.

Geliebt? Nein, Flora, Keinen von Allen – auch mich nicht,“ rief er, doch wieder fortgerissen. „Geliebt hast Du stets nur die unvergleichliche Schönheit, die gesellschaftliche Tournüre, den vielbewunderten Esprit, den künftigen Ruhm der gefeierten Flora Mangold.“

„Sieh, sieh – die Schmeichelei des Liebenden habe ich stets auf Deinen Lippen schmerzlich vermißt; selbst beim bräutlichen Kosen hast Du nie einen bezeichnenden Schmeichelnamen für mich gefunden – und jetzt, in der Erbitterung zeigst Du mir ein Spiegelbild, mit welchem ich wohl zufrieden sein kann.“

Er erröthete wie ein Mädchen. Es war lange her, daß er den schönen Mund dort nicht mehr geküßt, und doch meinte er, daß es überhaupt geschehen, sei eine Versündigung an der Anderen, die, rein und unberührt an Leib und Seele, sein Frauenideal erst jetzt verwirklichte. Er entzog unwillkürlich sein Gesicht den Augen, die ihn mit einem heimlich lachenden Ausdrucke fixirten, und sah hinaus in den Garten.

Ah, sie hatte ihn im richtigen Moment an schöne Zeiten erinnert – jetzt hatte sie gewonnenes Spiel. „Leo, bist Du wirklich zu mir gekommen, um hart mit mir zu verfahren, um mich anzuklagen?“ fragte sie, rasch zu ihm tretend – sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

„Du vergissest, daß Du mich zu Dir beschieden hast, Flora,“ entgegnete er ernst. „Ich wäre nicht aus eigenem Antriebe gekommen – ich habe oben zwei Kranke; Henriettens Zustand ist gegen Morgen bedenklich geworden; ohne Deinen ausdrücklichen Wunsch würde ich sie nicht verlassen haben, so wenig, wie ich in diesen unseligen Tagen voll Angst und namenloser Verwirrung daran gedacht hätte, eine Entscheidung herbeizuführen, wie Du sie vorhin provocirt hast.“

„Eine Entscheidung? Weil ich Dich in kindischem Trotz und Aerger gehen hieß? … Geh’, wie magst Du Mädchenzorn so bitterernst nehmen!“ Das sagte sie, die sonst jede mädchenhafte Regung, als ihres männlich gearteten Geistes unwürdig, verleugnete – mit dieser aalglatt entschlüpfenden Frauenseele war schwer zu rechten.

Dem Doctor stieg das Blut in das Gesicht; sie hatte ihn durch ihre unberechenbaren Einwürfe einen Kreislauf machen lassen – er stand wieder am Ausgangspunkte. „Ich messe Dir auch darin die Schuld nicht bei,“ antwortete er mit unverkennbar hervorbrechender leidenschaftlicher Ungeduld. „Ich habe mich hinreißen lassen, Dir zu gestehen –“

„Ach ja, Du sprachst von Deinem Manneswillen, der mit allen Gefühlsausschreitungen fertig werden müsse – ist er Dir dennoch untreu geworden?“

„Nein, treulos nicht; er hat sich nur einer besseren Ueberzeugung unterwerfen müssen. Flora, ich habe Dir gleich zu Anfang gesagt, daß ich bei meiner Weigerung, unser Verlöbniß zu lösen, von einem falschen Grundsatze ausgegangen sei. Ich wußte damals längst, daß nicht eine Spur wahrer, hingebender Liebe für mich in Deinem Herzen lebte, und auch ich hatte mit meinem Gefühle für Dich vollkommen abgeschlossen, das enthusiastische Bewunderung von der Ferne aus, niemals aber warme, innige Herzensneigung gewesen war – wir hatten Beide geirrt. Zwar litt ich schwer unter dem Bewußtsein, einer liebeleeren Zukunft entgegen zu gehen, ich, dem die Natur ein liebeheischendes Herz gegeben, der ich mir den eigenen Herd nicht ohne die verklärende Familienliebe denken kann, aber ich fügte mich, und Du hast Dich noch rascher mit Deiner vermeintlichen Nebenbuhlerin, meiner Praxis, abgefunden; Du hast die Entfremdung willig sanctionirt, weil sie Dir kein inneres Opfer auferlegte.“

Sie schwieg, und ihre Augen irrten unwillkürlich über den bestaubten Teppich hin – es war ihr unmöglich, dem Sprechenden in das ernste, von tiefer Erregung beseelte Gesicht hinein zu lügen.

„Und ich klammerte mich um so angstvoller an die Unverletzlichkeit meines Wortes, je treuloser meine Gedanken von Dir abirrten –“

„Ah – also doch?“

„Ja, Flora. Ich habe gerungen mit meiner Neigung, wie mit einem erbitterten Todfeinde.“ Ein schwerer, gepreßter Athemzug hob seine Brust. „Ich bin vom ersten Augenblick an hart, grausam mit mir selbst und mit dem Mädchen verfahren, das mir diese unbesiegbare Neigung einflößte. Ich habe jede, auch die unschuldigste Annäherung streng von mir gewiesen – nicht einmal die Blumen, die sie in der Hand gehalten und achtlos vergessen hatte, litt ich in meinem Zimmer. Sie war gern in meinem Hause, und ich wehrte diesem Verkehre, als ob sie mir einen Feuerbrand unter das Dach trage; ich war kalt, unhöflich ihr in das Gesicht hinein, das mich doch entzückte wie noch nie ein Menschenantlitz –“

„Mein Gott, ja – man begreift das! Entzückend für das Auge des Arztes, gesund und rund und weiß und roth, als habe die Natur den Tüncherpinsel dazu genommen.“ Mit diesen Worten wich die Erstarrung, die über die athemlos horchende Frauengestalt gekommen war – sie preßte die geballte Rechte heftig gegen die Brust. „Und ein solches Bekenntniß wagst Du mir gegenüber? Wie, Blumen wirft diese naive Jugend in das Zimmer der Männer, die sie kirren will –“

„Still!“ Er hob die Hand mit jenem gebieterisch zwingenden Blicke, der stets selbst diesen Mund verstummen machte. „Mich überschütte mit Vorwürfen – ich will sie widerstandslos über mich ergehen lassen, vor Käthe aber stehe ich in Wehr und Waffen. Sie hat meine Liebe für sich niemals wissentlich angefacht; sie ist nach Dresden zurückgekehrt und hat nicht gewußt, wie es um mich, wie es um – sie selbst steht. Weshalb sie damals gegangen, das weißt Du am besten. Während man sie von einer Seite drängte, eine Ehe ohne Liebe einzugehen, wurde ihr von der andern erschreckend deutlich nahegelegt, daß sie ihr Zimmer zu räumen und einem hochgeborenen Besuche Platz zu machen habe. Ich war Zeuge dieser unverblümten Ausweisung; um ein Haar hätte ich mich damals vergessen und, der Frau Präsidentin Worte der Erbitterung gesagt, und doch, als die indirekte Aufforderung an mich erging, die Ueberzählige in mein Heim aufzunehmen, da hatte auch ich keinen Raum für sie; ja, sie mußte eine Stunde später vor meinem Hause, wenn auch ohne mein Wissen, mit anhören, wie ich meine Tante ersuchte, den Verkehr mit ihr abzubrechen, so lange ich noch aus- und eingehe. Und da ist sie gegangen, tiefverletzt in ihrem stolzen, festen, und doch so weichen Gemüthe, und ich war barbarisch, nein, unmoralisch genug, um eines falschen Princips, um eines thönernen Götzen willen, der gewisse Ehrbegriffe repräsentirt, in der großen Lüge zu beharren, die ich ihr, mir selbst und der ganzen Welt glaubwürdig zu machen suchte.“

Wie überwältigt von seiner eigenen Schilderung schwieg er sekundenlang; Flora warf sich über das Ruhebett hin und preßte den Kopf zwischen ihre schmalen Hände, als wolle sie nichts mehr hören, aber er fuhr fort: „Ich ließ sie erbarmungslos gehen; ich athmete – nun sollte es besser werden mit mir und meiner inneren Qual – thöricht, thöricht! Ich sah nicht, wie in demselben Augenblicke, wo sie hinter dem Ufergebüsche verschwand, ein Dämon an mich herankroch, der sich festklammerte – es war nicht die Ueberbürdung meiner Praxis, was mich hohlwangig und der Geselligkeit gegenüber finster und [362] feindselig machte – in der angestrengten Arbeit und Thätigkeit bin ich stets freudig und thatkräftig geblieben – es war die Sehnsucht, die sich von Tag zu Tag steigerte.“

Er hatte den Fensterbogen verlassen und durchmaß das Zimmer in sichtlichem innerem Aufruhre, und jetzt erhob sich Flora wieder wie mit einem gewaltsamen Rucke und schüttelte das nach vorn gefallene Lockengeringel wild aus der Stirn.

„Um Käthe’s willen?“ rief sie bitter auflachend. „Möchte doch der Papa jetzt sehen, welch richtiger Instinkt seine Erstgeborene geleitet hat, als sie sich weigerte, die Schloßmüllerstochter Mama zu nennen, als sie seiner neugeborenen Jüngsten den Rücken wandte, weil sie ja schon zwei richtige Schwestern habe, und kein Stiefschwesterchen wolle! Und es ist kein falscher Grundsatz gewesen, der Dir bisher zur Richtschnur gedient hat – nein. Wie viel tausend ‚große Lügen‘ um dieses Principes willen beseelen und regieren das Menschengetriebe, und die sie siegreich durchführen, wird man bis in alle Ewigkeit respectabel und ehrenhaft nennen –“

„Ich habe mir gelobt, das Vergangene bei dieser Entscheidung nicht zu berühren,“ unterbrach er sie, stehenbleibend, mit bebender Stimme, aber offenbar entschlossen, der Sache ein Ende zu machen, „und doch zwingst Du mich, auf jenen Auftritt zwischen Dir und mir zurückzukommen, der nach dem Attentate im Walde erfolgte. Ich habe mir damals von meiner Braut in das Gesicht sagen lassen, daß sie mich hasst, oder vielmehr verachte, weil mich ein Mißgeschick zu verhindern schien, die Berühmtheit zu werden, mit der sie sich zu verloben geglaubt hatte. Ich habe Tags darauf die beispiellose Thatsache erlebt, daß sich dieser Haß mittelst meiner Ernennung zum fürstlichen Hofrathe sofort in die innigste Zuneigung verwandelte, und habe schweigend, mit verbissener Verachtung mein Joch weiter geschleppt, weil ich eben ‚respectabel und ehrenhaft‘ bleiben wollte. Und ich hätte auch diese abscheuliche Lüge zu Ende geführt, wären wir Zwei allein die Betreffenden geblieben, wäre nur mir die Marter eines verödeten Lebens aufgebürdet gewesen. Ich möchte die drei Menschenherzen um die es sich handelt, vor die große Schiedsrichterin, die Moral, hinstellen: das eine, das sich zu dem ‚Ja‘ am Altare nur herbeiläßt, weil es ihm zu einer lebhaft gewünschten äußeren Lebensstellung verhilft, und die beiden anderen, die sich der heiligen Mission plötzlich bewußt werden, in wahrer, inniger Liebe sich zu ergänzen, die in gleichem Schlage zu einander gehören, ob sie auch bis nach den entgegengesetzten Polen auseinander gedrängt würden –“

Ein halberstickter Schrei unterbrach ihn. „Hat sie es wirklich gewagt, das heuchlerische Geschöpf, ihre Augen zu dem Verlobten ihrer Schwester zu erheben? Sie hat Dir ihre verbrecherische Liebe eingestanden?“

Er maß sie einen Moment mit flammenden Augen, in sprachlosem Zorne. „Und wenn Du auch vor den schlimmsten Bezeichnungen nicht zurückschrickst, Du kannst diesen fleckenlosen Mädchencharakter doch nicht verunglimpfen,“ sagte er gepreßt. „Ich habe seit jenem Abschied kein Wort wieder von ihren Lippen gehört; auch in dieser Nacht nicht, wo sie endlich die Augen mit zurückkehrendem Bewußtsein wieder aufschlug. Sie ist gestern zurückgekommen, und ich habe es nicht gewußt. Ich war vor dem Polterabend-Lärm, der selbst an jedem Krankenbett erwähnt und erörtert wurde, in meinen einsamen Garten geflüchtet – und da sah ich sie plötzlich an der Brücke stehen, eine Verbannte, die sich nicht über den Holzbogen wagte, weil mein hartes Wort sie hinausgestoßen hatte.“ Er verstummte, und eine dunkle Gluth überströmte sein Gesicht; nun und nimmer sprach er es vor diesen Ohren aus, wie ihm mit jenem Anblick die „himmelhochjauchzende“ Ueberzeugung gekommen sei, daß das weinende Mädchen dort ihn liebe.

„Ich habe sie dann, nach dem furchtbaren Ereigniß im Parke gesucht,“ fuhr er fort, sich gewaltsam in eine ruhigere Redeweise zwingend; „und als ich sie vom Boden aufnahm, da sagte ich mir, daß der Tod an diesem schwachathmenden Leben nur vorübergegangen sei, damit ich doch noch glücklich werden solle. Da riß ich mich los von allen Banden des Herkommens und einer zweifelhaften Ehrverpflichtung; ich stellte mich über das Basengeschwätz der medisirenden Welt und verzichtete auf den Ehrentitel eines ‚respectabeln‘ Heuchlers.“

Schon während seiner ganzen letzten Schilderung hatte sich Flora’s Haltung verändert; sie hatte verspielt– es war Alles aus, und sie wäre nicht das intriguante Weib mit dem scharfen Blick und dem kalt berechnenden Geist gewesen, wenn sie sich nichts auch sofort dieser Situation zu bemächtigen gewußt hätte! Das trotzig Gespannte in ihrer Gestalt wandelte sich unter den Augen des sprechenden Mannes in die weiche Gliedergeschmeidigkeit der Katze. Mit fliegenden Händen zog sie das verschobene Morgenhäubchen über die Locken, und während sie die Spitzenbarben unter dem Kinn ineinanderschlang, sah sie mit einem wahrhaft satanischen Lächeln unter den tiefgesenkten Brauen empor und fügte, alle ihre scharfen, blitzenden Zähne zeigend, mit Bezug auf seine letzten Worte: „Wie, ohne mich zu fragen, mein Herr Doctor? Nun, immerhin! Im Hinblick auf die eben gehörten naiven Geständnisse frage ich mich, nicht ohne ein befreites Aufathmen: ‚Was hätte aus Dir werden sollen an der Seite eines solchen Gefühlsschwärmers!‘ Und d’rum ist’s gut so, ganz gut so für uns Beide, wie es gekommen. Ich gebe Dir Dein Wort zurück, allerdings nur ungefähr so, wie man einen Vogel am Faden fliegen läßt, dessen eines Ende man fest um den Finger wickelt.“ Sie tippte, abermals scharflächelnd mit der feinen Fingerspitze auf den Verlobungsring an ihrer Hand. „Freie um die erste, beste junge Dame der Residenz – und sei es eine meiner glühendsten Neiderinnen, wie ich ja deren genug habe – und ich will den Reifen in ihre Hand legen; nur Käthe nicht, absolut nicht! Hörst Du? Und wenn Du mit ihr über das Meer flüchten, oder an den entlegensten Dorfkirchenaltar treten wolltest: ich würde im richtigen Moment da sein, um Einspruch zu thun.“

„Gott sei Dank, dazu hast Du nicht die Macht,“ sagte er todtenbleich und tiefathmend.

„Meinst Du? Daß Du niemals nach Deinem Wunsch und Sinn glücklich wirst, dafür lasse mich sorgen, Treuloser Erbärmlicher, der ein stolzes Blumenbeet zertritt, um – eine Gänseblume zu pflücken! Du wirst von mir hören.“

Unter leisem Hohngelächter schritt sie rasch ihrem Schlafzimmer zu, dessen Thür sie hinter sich verriegelte, und fast gleichzeitig klopfte ein Lakai draußen und berief den Doctor in die Beletage, weil „Fräulein Henriette“ eben wieder von einem sehr schlimmen Brustkrampf befallen worden sei.

(Fortsetzung folgt.)


Wer wird siegen?

Von Karl Müller.

Beim Schauspiele eines Kampfes wirken in uns nicht blos individuelle Sympathien und Antipathien für die Kämpfenden mit, sondern auch eigenthümliche Situationen der Gegner, begleitende Umstände und Verhältnisse, welche selbst den schlimmen Ruf des Bedrängten zu mildern und den Bann der Vernichtung zu lockern vermögen, in welchen die richtende Welt den Uebelthäter gethan hat. Und diesen Zug der Besänftigung, welcher unser Herz beherrscht, nenne ich einen echt menschlichen. Handelt es sich nun aber nicht um die Selbstvertheidigung, sondern um den todesverachtenden Schutz hülfloser Opfer, dann gehen all’ unsere Empfindungen in Bewunderung über, und unser Herzschlag folgt mit der bangen Besorgniß um die Bedrohten jedem Schritte der sich entwickelnden Handlung!

Freund Deiker hat es verstanden, in einem lebensvollen Bilde uns das erste Entbrennen eines Kampfes aus dem Thierleben vorzuführen, das wir oft mit dem Künstler besprochen haben und das in der wahrheitsgetreuen Darstellung jeden Beschauer unwillkürlich zum Mitbetheiligten der Scene machen wird. Welchen Ausgang wird sie nehmen?

Noch stehen wir vor einem großen Fragezeichen, welches ich je nach den Standpunkten einzelner Beschauer hier beantworten möchte.

[363]

Edelmarder und Habicht. Originalzeichnung von C. F. Deiker in Düsseldorf

[364] „Werde ich endlich die verhaßte Brut vernichtet sehen?“ – So würde der Gutsbesitzer auf dem einsam liegenden Gehöfte denken, wenn er die Hühnerhabichtfamilie von dem Räuber Edelmarder bedroht fände. „Welche Aergernisse hat mir das alte Paar nicht schon bereitet! Erst vor Kurzem rekrutirte ich meinen Taubenschlag durch auserlesene Exemplare werthvoller Taubenarten, und heute ist die anmuthige Stätte verwaist. Auf die listigste Weise wußten die befiederten Feinde sich der Tauben zu bemächtigen. Bald sauste wie ein Pfeil aus der Höhe der Habicht nieder und schlug mit seinen furchtbaren Fängen das wehrlose Opfer, bald saß er stundenlang auf der Lauer, sich den Anschein des Harmlosen gebend, bis eine arglose Taube ihm die ersehnte Gelegenheit zum erfolgreichen Stoß bot.

Aehnliche schlimme Erfahrungen habe ich an meinen Hühnern gemacht. Nicht nur auf den Wiesen abseits des Gehöftes hat mir das starke Habichtweibchen das eine und andere Huhn geraubt, sondern sogar im Hofe selbst, trotz des bewegten Verkehrslebens der Arbeiter, griff der verwegene Räuber friedenstörend ein, schlug hier einem Huhn tödtliche Wunden und trug dort ein anderes mit Aufbietung aller seiner Kräfte davon, um es an einem nahegelegenen, verborgenen Plätzchen bei lebendigem Leibe in Stücke zu zerreißen. Der Sieg, welchen der tapfere Hahn zum Schutze und zur Rettung einer von ihm angegriffenen Henne über ihn errang, indem Flügelschläge und Sporenhiebe ihre Wirkung nicht verfehlten, hat ihn wohl zur Vorsicht gemahnt, aber seine Mordgier nicht gedämpft. Und stets waren die Eingriffe der Habichte unverhoffte, plötzlich tauchten sie auf, und im nächsten Augenblick waren sie nach vollbrachter That verschwunden. Ihr scharfer Sinn unterschied jede gefährliche Erscheinung, jeden verdächtigen Auftritt von dem erfahrungsmäßig gefahrlosen Thun und Treiben um sie her.“

Aus voller Seele stimmen dem verdammenden Urtheile gewiß alle Freunde unserer nützlichen Vögel und der edlen Sänger bei, mögen sie an die Züge der Lerchen im Herbste und Frühling denken, die durch die Fänge der Unholde stark gelichtet werden, oder an die Schaaren der Finkenarten, die neben dem bitteren Kampfe mit den rauhen Elementen auch noch den mit diesem Schrecken aus den Lüften zu bestehen haben, oder endlich an die friedlichen Brutstätten, in welche diese heißblütige Mörder oft Tod und Verderben tragen.

Aber nun kommt der Besitzer eines anderen Gehöftes, mit Groll im Herzen gegen den diebischen Marder, und beschaut sich die Lage der Gegner auf dem Bilde. Der denkt: „O löschte der Habicht dir mit dem ersten Schlage seiner Fänge das Leben aus! Vom Walde bist du zur Nachtzeit gekommen und fandest den Hühnerstall offen und mordetest alle Hennen sammt dem stolzen Spanierhahn. Der Schrei der Verzweiflung und der Todesangst hemmte nicht dein blutdürstiges Rasen: er schürte nur noch mehr die wilde Gluth in dir. Draußen an der Hecke lag das letzte Huhn, und in der Hecke selbst trafen dich andern Morgens vorübergehende Leute in schlafsüchtigem Zustande, in einer Art Berauschtheit in Folge des Genusses von Blut an und ließen dich langsam der schutzbietenden Fichtendickung im Walde zustreben.

Doch damit ist der Fluch, den ich auf dich schleudere, noch nicht vollends begründet. Gar manches Rehkälbchen hast du an der Seite der zärtlich besorgten Mutter angefallen nicht wie der Fuchs auf dem Boden, welchen die entsetzte Ricke mit den Vorderläufen todesmuthig abschlägt, nein, auf den Bäumen bist du der Rehfamilie gefolgt bis zu der Stelle, wo die Aeßung unter dem herabhängenden Geäste der Eiche oder Buche zur Rast einlud. Schattenhaft schleichend bist du herniedergekommen und hast den Satz, den verhängnißvollen Sprung von dem untersten Ast in den Nacken des zusammenbrechenden, laut fiependen Kälbchens gethan, dein schneidendes Gebiß ihm in die Schlagader hauend. Die alte Ricke konnte dir keine Prügel geben, weil das Muttergefühl naturgemäß das Kälbchen schonte. Aber nicht blos Kälbchen im Frühling, auch Schmalrehe und alte Rehe, denen du im schneereichen Winter als wuthverbissener Reiter im Nacken der verzweiflungsvoll Dahinrennenden wenigstens einen Fetzen der ‚Decke‘ (Haut) als Trophäe abgerissen, zeugen von deinen Frevelthaten in meinem Jagdrevier, und wenn die Vögel des Waldes reden könnten, sie würden dich mit Vorwürfen überhäufen und es käme an die Sonnen, was alles du in dunkler Nacht oder im Schatten düstrer Tannenhorste fein gesponnen.

Die Turteltäubchen hatten sich am Abend auf dem Neste neben einander gedrückt und waren eben in Frieden eingeschlummert. Da regte sich’s leise über ihnen, und wie eben der Kopf eines Turteltäubchens sich zur Sicherung ausreckte, fuhr jäh der Marder aus dem Versteck des Fichtengezweiges nieder und packte das eine Täubchen, während das andere erschreckt davonflatterte. Nicht anders ist es manchem eingeschwungenen Waldhuhn ergangen. Amsel und Drossel harrten des Tags, wo ihre Eier gesprengt und die Jungen unter der treu gespendeten Brutwärme auskriechen würden. Da trug ein Zug der Morgen- und Abendluft dem vorbeischleichenden Marder die ‚Witterung‘ des Brutvogels unter die Nase, und aus war es mit aller Sorge, Pflege und Seligkeit der lieben Sängerfamilie. Meisen und Spechte, Staare und Wiedehöpfe, Höhlenbrüter aller Art in unseren Wäldern, wo der Edelmarder haust, könnten von Nachstellungen und mancherlei Ueberlistungen, von Eingriffen der Vernichtung in ihr Familienglück erzählen.

Dennoch würde der Edelmarder vor meinen Augen Gnade finden, weil er nicht nur die zarten kleinen Vögel, sondern auch die verderbenbringenden Mäuse und das der Forstcultur schädliche Eichhörnchen mordet. Wie sehr er dessen Fleisch und Blut liebt, wird offenbar, wenn wir ihn mit bewundernswerther Ausdauer und heißer Leidenschaft das flinke Thierchen verfolgen sehen. Die Jagd geht stammauf, stammab, von den obersten Zweigen der Buchen und Eichen, Fichten und Kiefern bis hinab auf den Laub- oder Moosboden in Bogensätzen, die kaum unterbrochen werden, von der Krone eines Baumes zu der des andern. Abgehetzt und gefoltert von andauernder Todesangst, ermüdet allmählich das Eichhörnchen vor dem muskelstarken Verfolger und muß sich ihm schließlich ergeben. Noch öfter aber erschleicht er es beim Schmauß der jungen Lärchenblüthentriebe oder der mannigfachen Waldsämereien, oder wenn es zur Zeit des Mangels an letzteren im Vorsommer, die Stämmchen der jungen Fichten- und Föhrenschonungen und der Lärchen spiralisch oder in Rechtecksform abringelt. Auch in seinem Winterneste oder in seiner Familienwohnung überfällt er es sammt den niedlichen Jungen. Grausam quälend erscheint aber das Edelmarderpaar dem Eichhörnchen gegenüber, wenn die Alten mit den Jungen die Jagd zur Ausbildung dieser letzteren im Rauben unternehmen. Im Nadelhochwalde war die Marderfamilie am Tage aus ihrem Schlupfwinkel hervorgekommen, vielleicht nur zu behaglichem Spiele im Freien, und wohl war die Begegnung zweier jungen, schon recht rüstigen Eichhörnchen rein zufällig. Die Marder verfolgten die Thierchen mit regem Eifer. Voran kletterten und sprangen von Ast zu Ast, von Baum zu Baum auf und nieder die erfahrenen alten Jäger. Dabei sprang der Plan unverkennbar in die Augen, den Jungen die ängstlich fliehenden Hörnchen zuzutreiben. Plötzlich rückte der eine alte Marder einem der Hörnchen so dicht auf den Pelz, daß dieses einen wahren salto mortale in die Tiefe zu Boden unternahm. Der Marder, hinter ihm drein, packte das quiekende Thierchen, tödtete es jedoch nicht, sondern lockte mit eigenthümlich murksendem Tone die mordlustigen Jungen herbei, dann ließ er das mattgedrückte Hörnchen los, und die verständigen Schüler hatten nun leichte Mühe, es zu fangen. Durch störendes Dazwischentreten des Beobachters erschreckt und ernüchtert, stiebte die ganze Mörderbande auseinander.“

Lassen wir nun noch einen Dritten in das Proscenium treten, einen alten Förster, der schon manchen Edelmarder aus dem hohlen Aste „ausgepocht“ oder herausgehauen und in der Brechfalle oder im Schwanenhals gefangen hat, um ihm den kostbaren Pelz abzustreifen und diesen zu fünfzehn bis achtzehn Mark zu verwerten.

Sein Herz ist auf der Seite des Marders, dessen Leben nach seinem Urtheile im Sommer unter allen Umständen geschont werden muß, weil vom März bis zum November sein Kleid werthlos ist. Versunken in Erinnerungen, die der Poesie des Waldlebens angehören, und in Gedanken, welche an Plänen der Zukunft arbeiten, betrachtet der ergraute Jäger die Scene, welche den Leser so lange in Spannung und Ungewißheit erhielt. Ich sehe schon, daß der Alte über den Ausgang der Scene nicht im Zweifel ist und bei der Frage über den erwarteten Kampf zwischen dem Marder und Habicht im [365] Bewußtsein seiner Erfahrung völlig beruhigt dreinschaut. Wie? und der Habicht, welcher sein Leben für seine bedrohten Jungen mit der innigsten, treuesten Anhänglichkeit preisgiebt, sollte unterliegen?

Ob es früh am Tage, ob es zur späteren Stunde ist, wir wissen es nicht – ob der Marder zufällig in den Horst der flaumbedeckten jungen Habichte schaut oder als Kundiger der Begebenheiten im Reviere die Zeit der Abwesenheit der alten Vögel zu seiner Raubthat sich ausersehen hat, – wir wissen auch das nicht. Aber Eines wissen wir zuverlässig: im Augenblicke, wo er das alte Habichtweibchen mit entscheidender Haltung, bereit, den Kampf auf Leben und Tod aufzunehmen, sich gegenüber sieht, beschleicht ihn das Gefühl des Unbehagens, und man sieht es an dem zurückgezogenen „Gehör“, daß es ihm unheimlich geworden und die Situation ihm peinlich ist. Für seine eigene Sicherheit besorgt und ein Feind aufsehenerregender Scenen am hellen Tage, so lange er noch nicht, von hinreißender Mordwuth befallen, in Scene getreten ist, zieht er klug und weise den Kopf hinter den Ast zurück und denkt sich salvirend: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“.




Die deutsche Loango-Expedition im Kriege.
Von Dr. Pechuel-Loesche.
(Schluß.)


Die Mission und die Factoreien von Landana liegen am Nordabhange des etwa dreihundert Fuß hohen gleichnamigen Vorlandes, welches nach Westen schroff in das Meer hinaustritt. Dicht an dem jenseitigen Steilabsturze desselben, eine halbe Stunde entfernt, hinter einem dichten Gürtel von Buschwald, zehn bis fünfzehn Fuß hohem schilfartigem Grase, und unterbrochen von Streifen üppigen Mandioc und Mais, liegt wie hinter einem vortrefflich schützenden Wall, durch den ein einziger Pfad führt, das Dorf Levula. Dasselbe hat einen sehr bösen Ruf; seine Bewohner aber erhielten für alle an den Weißen ausgeübten Schlechtigkeiten noch niemals eine erhebliche Züchtigung, nur die von den Flüchtigen geräumten Hütten wurden vor Jahren schon mehrmals verbrannt.

In langer Reihe, Einer hinter dem Andern, zogen wir auf dem schmalen Negersteige, zwischen hohem, nassem Grase und krausem Gebüsche hügelan, unser schöner pommerscher Schäferhund, der unverwüstliche „Tyras“, immer mit voran. Auf dem Plateau dehnte sich eine freiere, mit kürzeren Gräsern bestandene Hügelcampine aus, von Wäldern umrahmt, von einzelnen Baum- und Buschgruppen unterbrochen, das Ganze wie verjüngt vom Regen und duftig schimmernd in den ersten Strahlen der Sonne. Einzelne Nebelstreifen hingen noch in geschützten Waldwinkeln, oder zogen leise mit der Landbrise zum Meere hin, dessen dunkle Fläche nach Westen sich ausbreitete. Hinter uns lag das Thal Chiloango mit seinen Lagunen und noch nebelverhüllten Mangrove-Wäldern; von jenseit derselben grüßten die sanft gerundeten bräunlichen Hügel von Chinchoxo herüber. Vor uns lagen die Dickungen von Levula. Es war ein köstlicher, erfrischender afrikanischer Morgen; die Vögel sangen und zwitscherten rings umher; fern, aus der Tiefe herauf, drang das dumpfe Grollen der Brandung.

Sobald wir die Höhe, das feindliche Gebiet, erreichten, entwickelten unsere Leute ihre taktischen Fähigkeiten, die so recht zeigten, wie geübt sie im Buschkriege waren. Anstatt ruhig hinter uns in der Reihe zu bleiben, brach die größere Hälfte derselben nach beiden Seiten aus und zog in breiter Front über die Campine, mit schußfertigem Gewehre hier- und dorthin huschend, jeden Busch, jede Baumgruppe, jeden dichten Grasfleck untersuchend, an den Waldrändern hinschleichend, verschwindend, wiedererscheinend, lautlos sich mit einander verständigend; es konnten ja überall Feinde verborgen sein, da man vor Kurzem dort Bewaffnete gesehen haben wollte. Die auf dem Fußsteig gebliebenen Krieger rückten enger an uns auf; dadurch aber, und durch das frühere Ausbrechen der Plänkler, wurde in der langen Reihe die Lücke, welche unsere Truppe von den Nachfolgenden trennte, immer weiter, und je näher wir dem gefährlichen ausgedehnten Pflanzenwall kamen, um so größer wurde der Zwischenraum.

Zum Warten hatten wir keine Zeit; unsere Spürer waren bereits bis an die Dickungen hinan; einzelne tauchten schon in diese hinein, und wir mußten schneller marschiren, um nur in Front zu bleiben. Nun führte auch uns der schmale, vielgewundene Pfad in die hohen verfilzten Gras- und Buschmassen mit ihrer dunstigen, erdrückenden Atmosphäre; von rechts und links kam zuweilen ein leises Rauschen und Knacken, wo die Plänkler sich entlang wandten. Ein schmales Mandiocfeld ließ uns hier und dort eine der dunkeln Gestalten erkennen; dann folgten wieder hohe Grasbestände und dichtes Gebüsch. Der Feind konnte dicht vor uns, sogar neben uns verborgen sein; es war nicht möglich weiter zu sehen, als man das Gewehr strecken konnte. Unsere Leute schienen jedoch die Nähe des Dorfes mit dem Instinct der Wilden zu fühlen; die hinter uns befindlichen huschten seitwärts an uns vorbei – die Rangordnung wurde nicht mehr beachtet; wie die Katzen glitten sie auf dem Pfade vor uns, neben uns, zwischen den Gewächsen entlang; gebückt, schußfertig, immer schneller drängte Jeder nach vorn. Endlich ging es in vollem Anlaufe gegen den noch unsichtbaren Feind.

Plötzlich ein Schuß, dann mehrere rechts und links. Hell klingt dazwischen das scharfe Gebell des braven Tyras, dann eine rollende Salve – Pulverrauch umgiebt uns; wir sind im Dorfe. Herr Dr. Falkenstein und Herr Lindner laufen nach rechts, die streitbaren Missionäre nach der Mitte, ich nach links. Gellen, Jauchzen, Brüllen ringsum. Es herrscht ein entsetzlicher Tumult, ein verwirrender Lärm. Schüsse krachen zwischen den Hütten, vom Walde herüber; einer unserer Besten, der immer freundliche Tona, bricht wenige Schritte vor mir zusammen, dicht über dem Herzen tödtlich getroffen. Mit der Machete in der Faust, rasen unsere Leute zwischen den Schilfhütten umher, an Wänden und Dächern zerrend, das Innere durchsuchend. Wo Andere noch die Fliehenden verfolgen, im Dickicht drüben, am anderen Ende des Dorfes, knattert und knallt es noch; deutlich unterscheidet das Ohr den dumpfen Krach der Steinschloßflinten von dem scharfen Schlag unserer Gewehre. Aus einer Hütte flieht ein schlankes hübsches Mädchen hervor; ein paar Sprünge, ein rascher Griff sichert mir die Zitternde als Gefangene; mit seltener Geistesgegenwart hat sie ihren kostbaren Schmuck von Edelkorallen und blanken Münzen vom Halse gerissen und sucht ihn vor den Plünderern im geballten Händchen zu verbergen. In furchtbarer Angst vor den wilden Kriegern schmiegt sie sich weinend und klagend an den weißen Mann.

Unterdessen waren noch einige Weiße mit ein paar Crumanos bis zum Dorfeingang gekommen; die Uebrigen warteten draußen auf der Campine. Das Feuern hatte aufgehört; die Unseren suchten nach Beute. Noch eine Frau und ein Knabe wurden als Gefangene gebracht; zwei Andere zeigten stolz die todten Feinden abgenommenen Gewehre. Zwischen den nächsten Hütten lag einer derselben, weiterhin ein zweiter, am jenseitigen Waldrand ein dritter. Im Dickicht drüben sollten noch mehrere liegen. Unsere Leute umtanzten die Gefallenen im Dorfe mit wilden Geberden – der Kriegsgesang hallte weithin durch die Morgenluft; sie streiften mit den Fingern das Blut von den todten Feinden und aßen es; Andere beugten sich nieder und sogen es sogar direct von den Wunden; dies ist ihr Landesgebrauch, doch gehorchten sie sofort dem Verbote.

Die später gekommenen Weißen riefen nun, es wäre Zeit abzuziehen, der Feind käme zurück, wir würden im Dickicht erschossen werden. Sie marschirten auch, bis auf Einen, fort, und begannen zugleich rechts und links ziellos in die Büsche zu knallen; ihre Crumanos auf dem Pferde thaten desgleichen mit ihren Rückladern, und auch die Helden in der Campine nahmen das Feuern auf. Da der Pfad so vielfach gewunden war und die Abziehenden einfach seitwärts feuerten, verirrten viele Kugeln sich in das Dorf und wurden besonders meinen Cameraden am anderen Ende gefährlich. Von der Campine draußen wurde [366] auch meistens nach uns zu geschossen. Nun kamen die Genossen herbei. Die Leute sammelten sich; Herr Lindner blies und blies auf seiner Trompete, aber das Schießen dauerte fort. Die Kugeln pfiffen über uns hinweg, klatschten durch die Hütten, schnitten durch das hohe Gras, splitterten die spröden Stangen des Mandioc; ein glücklicher Zufall beschützte uns alle vor den bleiernen Feindesgrüßen, nur ein Gewehr wurde durch eine anschlagende Kugel untauglich gemacht. Nun wurde es uns doch zu warm im Dorfe; die Leute wurden unruhig, wüthend über diese Art der Kriegführung, die den Freunden viel gefährlicher war als den Feinden. An ein Verwüsten der Plantagen konnten wir nicht mehr denken, nur die Hütten wurden noch angezündet und unser Todter in die erbeutete Tipoja des Dorfherrn gelegt, dann zogen wir ab. Draußen auf der freien Campine aber fanden wir unsere Verbündeten in einem großen Haufen beisammen stehend, ladend und ziel- und zwecklos nach allen Richtungen schießend, – einzelne Kugeln waren bis nach Landana geflogen – die Gewehre einfach von der Hütte abfeuernd. Das ist die gebräuchliche Art des Negerkrieges.

Levula hatte eine schwere Züchtigung erhalten. Obgleich die Schwarzen ihre Verluste gut zu verheimlichen wissen, wurde doch später bekannt, daß sie außer den drei Todten noch mehrere schwer und eine Anzahl leicht Verwundeter hatten. Dem berüchtigten Dorfherrn selbst sollte der Arm zerschossen sein. Unsere Leute hatten nicht nur seine Tipoja erbeutet, sondern auch den Kriegsschmuck des „Mankaka“ (Anführer), zwei Gewehre, mancherlei Fetisch- und Zauberkram. Auf dem Kopfe, in die Kleidung eingebunden, am Gürtel baumelnd, schleppten sie den ganzen Reichthum des Dorfes mit sich: Zeuge, Matten, Schüsseln, Teller, Töpfe, Säbel, Messer, Hühner, Enten, Spiegel, Fackeln etc.; sie hatten gründlich aufgeräumt.

Wir gingen nun den alten Pfad ein Stück zurück, sandten unseren Gefallenen und die Gefangenen nach den Factoreien hinunter und bogen dann rechts ab, nach dem nächsten Dorfe. Die Crumanos von Landana verweigerten aber auf diesem Wege zu folgen; er sei zu gefährlich, es solle ein anderer benutzt werden. Unser Todter hatte ihnen Grauen eingeflößt; auch waren sie demoralisirt durch die Haltung eines Weißen, welcher, sobald das Schießen begann, Krankheit vorschützend, nach Hause zurückgekehrt war, sich fünf der Seinen zur Deckung des Rückzuges mitnehmend. Wir schlugen nun den anderen Weg ein, der wieder nach der Mission und dann hügelan führte; langsam folgten die Uebrigen. Jenseits eines kleinen Thales lag das Dorf Dschimbumbu; die Bewohner waren schon auf ihrer Hut; wir hörten sie sprechen, rufen. Eine allgemeine Salve wurde gegeben; die Unseren stimmten den Kriegsgesang an und liefen den Hang hinab. Unsere Verbündeten blieben oben auf dem Hügel und lagerten sich sogar, wahrscheinlich um recht behaglich zuzuschauen, wie wir mit ihren Feinden anbinden würden. Wir winkten, riefen, sandten Boten hinauf; vergeblich: sie weigerten sich ganz einfach, weiter zu gehen. Wir hatten trotzdem gute Lust, das ziemlich freiliegende Dorf zu nehmen, doch wollten wir nicht allein zu Gunsten jener uns und die Unseren in Gefahr bringen; sicherlich hätten die Freunde auch wieder zwischen uns geschossen, sobald das Feuern begann; so kehrten wir denn klug um, rückten in die Mission ein und begnügten uns damit, diese zu schützen.

Gegen Abend, nachdem wir unsern Todten mit allen Ehren begraben hatten, kam uns die Nachricht von Landana, die Neger hätten ihre Macht, einige Hundert Bewaffnete, aufgeboten und würden in der Dunkelheit einen Ueberfall ausführen. Obgleich es nun hier ihre Art nicht ist, Nachts zu kämpfen, war ein Angriff doch denkbar, und wir trafen unsere Maßregeln.

Die Mission, eine große schöne Besitzung, liegt in einer flachen Thalmulde; Plantagen von vielartigen Feldfrüchten wechseln ab mit schönen Blumengruppen, Ziersträuchern, vortrefflichen Fruchtbäumen, zum Theil aus verschiedenen Welttheilen importirt, so daß das Ganze parkähnlich, wie ein botanischer Garten erscheint. Zum kleinsten Theil von freien Campinen umgeben, im Uebrigen von Buschwald allzudicht umschlossen, scheint sie unter Voraussetzung dauernd friedlicher Zustände geplant zu sein. In den Anlagen vertheilt liegen verschiedene schmucke Holzhäuser, die Einzelwohnungen der frommen Herren.

Alle diese exponirten Häuser wurden nun für die Nacht verlassen und die Weißen an zwei Punkten zusammengezogen: die Missionäre nebst Herrn Lindner quartierten sich in dem großen Holzgebäude ein, in welchem der Kirchensaal, das Eßzimmer und die Wohnung des Oberen sich befand, Herr Dr. Falkenstein und ich in einem circa hundert Schritt davonliegenden Gebäude, welches ein oberes Stockwerk nebst Veranda besaß, von welcher aus wir die ganze Ansiedlung, sogar die ganze Thalmulde bis zu den Hügelkronen mit unseren Rückladern beherrschen; unter uns, in einem sonst als Magazin benutzten Raume, befanden sich unsere Leute. Wir verzehrten, mit den Gewehren neben uns, unser Abendbrod und aßen tüchtig, trotz der Möglichkeit, daß jeden Augenblick Kugeln durch das Gitterwerk des luftigen Raumes hereinfahren konnten, da die brennenden Lampen uns trefflich für einen vielleicht im nahen Gebüsch heranschleichenden Feind beleuchteten. Wir mußten uns auf die Tüchtigkeit unserer Leute verlassen, welche größtentheils schon seit Einbrechen der Dunkelheit zu Zweien und Dreien an umsichtig gewählten Punkten verborgen lagen.

Nach Tisch, beim Thee besprachen wir die Ereignisse des Tages und planten weitere Operationen – da fiel plötzlich ein Schuß drüben in den Plantagen, dann mehrere; während wir hinauseilten, begann das Feuern auch auf der andern Seite, dann ringsum und wurde außerordentlich lebhaft. In der Finsterniß, noch geblendet vom Licht, sahen wir nur das Aufblitzen der Schüsse, konnten aber nicht unterscheiden, wo Freund, wo Feind sich hielt, und mußten uns begnügen, eine Anzahl Kugeln in die nächsten Buschmassen und nach den Hügelhängen zu senden, um durch möglichst großen Lärm die Angreifer von unserer Bereitschaft zu überzeugen. Das Schießen hörte sehr bald wieder auf; die Gefahr war vorüber. Von Landana kamen Hülfstruppen in vollem Laufe heran, wir aber ersuchten sie, fernerhin ruhig dort zu bleiben, so lange nicht die große Glocke der Mission sie riefe, wir würden vorläufig uns halten können; in Wahrheit fürchteten wir bei einem Nachtgefecht die Kugeln unserer Freunde am allermeisten.

Da eine Wiederkehr des Feindes kaum zu erwarten war, wir aber alle große Müdigkeit fühlten, suchte, nachdem die nöthigen Wachen ausgestellt worden waren, bald Jeder sein Lager auf. Nach Mitternacht entstand plötzlich unter uns, wo unsere Leute schliefen, ein außerordentlicher Tumult, ein Stampfen und Poltern, als ob ein Kampf, Mann gegen Mann, begonnen hätte. Im Nu waren wir aus den Betten. Mein Gefährte sprang, fast unbekleidet, mit einem Revolver hinaus auf die Veranda in die feuchte Nachtluft; voller Mondschein lag über der schönen Landschaft; unter uns war alles verhüllt – dicke schwere Nebelschwaden brüteten über dem Boden. Wir hörten nun die Leute nach dem Kirchenhause hinüber laufen, wo einige Schüsse fielen; ein paar unregelmäßige Salven folgten, dann wurde es wieder still. Hinter einem Erdabstich und sonstigen Deckungen verborgen, fanden wir die Unseren den nahen Waldrand beobachtend, von welchem aus nochmals einige Schüsse gefallen waren. Unter solchen Umständen fanden wir für den Rest der Nacht nur wenig Ruhe und wurden von den Moskiten bös zerstochen.

Am nächsten Tage richteten wir die Mission zur bequemeren Vertheidigung ein. Fässer wurden von Landana heraufgerollt und zu Verschanzungen verwandt, auch drei Kanonen holten wir herbei und brachten sie in Position. Die allzunahen Dickungen wurden abgeräumt, die Campinen niedergebrannt und geschnitten, einzelne hinderliche Bäume ihrer Kronen beraubt, Distanzen abgeschritten und endlich unseren Leuten eingeschärft, bei einem nächtlichen Kampf den freien Platz in unserer nächsten Umgebung nie zu überschreiten, damit wir, von unserer alles beherrschenden Veranda aus, die jenseits aufblitzenden Schüsse zu Zielpunkten nehmen konnten.

Kriegsberichte gingen nach Chinchoxo; Friedensberichte kamen zurück nebst weiteren Patronen und einer Anzahl Rücklader zur bessern Bewaffnung der streitbaren Herren Missionäre. Unsere Kriegsthaten waren sofort bekannt geworden; die Neger der Umgegend waren darauf zur Station gekommen und hatten sich erboten, einen Cordon von Wachen ringsum aufzustellen; als Herr Soyaux das für unnöthig hielt, hatten sie noch versichert, daß bei der geringsten Gefahr die ganze Streitmacht der Umgegend zum Schutze da sein werde. Wie anders hätten die Schwarzen früher gehandelt! Jetzt aber fürchteten sie uns und [367] wußten, daß sie für jede auf ihrem Gebiete verübte That verantwortlich gemacht werden würden.

Die Energie von Landana war erschöpft; man dachte dort gar nicht mehr an die Offensive und war ja außerdem frei von jeder Gefahr, so lange wir die Mission hielten. In der zweiten Nacht wiederholten sich die Vorgänge der ersten in noch stärkerm Maße; das Gewehrfeuer stieg mehrere Male zu außerordentlicher Heftigkeit und rollte wie ferner Donner über das Chiloangothal hin, blieb aber, wie gewöhnlich beim nächtlichen Buschkriege, nur ein abschreckender Lärm. Tags darauf rückten wir mit den Unseren aus, brannten jenseits der Hügel unbequeme Campinen nieder und bedrohten die Dörfer. Da wir die allerdings sehr großen Entfernungen ziemlich genau kannten, schossen wir mit unseren Rückladern hinüber und erfüllten die Bewohner mit neuem Entsetzen vor unseren weitfliegenden Kugeln. Um den Schrecken vor uns zu steigern, beabsichtigten wir auch ein Geschütz mit uns über die Hügel zu schleppen, mit Vollgeschossen und Kartätschen die Ortschaften zu bedrängen, Raketen hineinzuwerfen und den Feind Tag und Nacht in beständiger Angst zu erhalten. Wir brauchten jedoch diese Mittel gar nicht mehr anzuwenden. Um unsere Nachtruhe zu sichern, hatten wir verkünden lassen, sobald die Mission noch einmal belästigt würde, würden wir allein die Dörfer attaquiren und sie wie Levula behandeln. Das wirkte vortrefflich; wir schliefen wenigstens fortan ungestört.

Von Landana hatte man unterdessen an die großen Etablissements am Congo berichtet und Hülfsmannschaften erbeten, um den Krieg energischer weiter zu führen. Da wir aber die Sache schnell beendet sehen wollten und um ganz sicher zu gehen, erbot sich der Obere der Mission, mit dem Dampfer „Fanny“ hinzureisen, persönlich für uns zu wirken und namentlich ein Kriegsschiff zu rufen. Ein von allen Weißen unterzeichnetes Schreiben an die Befehlshaber englischer Kreuzer wurde abgefaßt und die „Fanny“ requirirt. Da der Ingenieur derselben am Fieber niederlag, führte unser Herr Lindner an seiner Stelle das Fahrzeug nach Banana. Unterdessen durchstreiften unsere Leute weithin die Umgegend; sie hatten großes Vergnügen daran, die Feinde zu ängstigen und hier und dort einige einzufangen; sie führten ihre Streiche mit großer Gewandtheit durch. Sehr zu statten kam ihnen dabei die wahrhaft lächerliche Furcht vor ihrem Cannibalismus, über welchen die haarsträubendsten Geschichten erzählt und geglaubt wurden. Einige der tollsten Burschen, namentlich unser bester Jäger, im Busche erfahren wie kein Anderer und ein Riese von Gestalt, wußte durch mancherlei im Feindesgebiete ausgeübte Streiche das Entsetzen zu erhöhen. In der letzten Zeit brachte er fast täglich Gefangene ein.

Die Feinde konnten natürlich am Strande von Landana nicht mehr fischen, die Weiber nichts mehr dorthin zu Markte bringen; der Rum war längst zu Ende, die Furcht vor uns im stetem Wachsen; kein Wunder, daß in Folge dessen große Unzufriedenheit über Mataenda unter den Seinen herrschte. Noch aber konnten diese drüben am Strande unterhalb Levula fischen. Unser Vorschlag, mit Booten das Vorland zu umfahren, alle Netze und Canoes zu nehmen und zu zerstören, um den Negern noch fühlbarer zu machen, ein wie böses Ding der Krieg sei, fand nur theilweise die lebhafteste Unterstützung. Verschiedene Stimmen waren dagegen; das Friedenspalaner würde nur um so länger verzögert, es müßte dann nur noch mehr bezahlt werden. Man dachte also schon gar nicht mehr an ein nachdrückliches Vorgehen.

Unsere Anwesenheit in Chinchoxo war sehr nöthig, da ein Theil unserer Felder abgeerntet und neu besäet werden mußte. Zum Schutze der Mission genügte auch die Hälfte unserer Leute. Gänzlich konnten wir sie nicht verlassen, da sie sonst sofort der Rache der Neger anheim gefallen wäre. So zog denn Herr Dr. Falkenstein nach der Station; ich blieb mit zwanzig Mann zurück.

Endlich kamen auch der Herr Obere und Herr Lindner vom Congo zurück. Das englische Kriegsschiff konnte erst nach einer Woche erscheinen, da es zunächst wieder zum Schutze der Factoreien von Ambriselle, wo auch Negerunruhen ausgebrochen waren, zurückzukehren hatte; von den großen Centralfactoreien, für deren Eigenthum wir so bereitwillig eingetreten waren, brachten sie uns nichts als einen höflichen Dank, ein hübsches zweipfündiges Feldgeschütz und glänzende Versprechungen. Augenblickliche Handelsinteressen behielten die Oberhand; Jeder gedachte seinen Concurrenten auszumanövriren. Die ganze Angelegenheit endete in der schon Eingangs geschilderten Weise.

Herr Dr. Falkenstein löste mich unterdessen von meinem Posten ab, da er seinen Aufenthalt durch Photographiren vieler und neuer Pflanzentypen und Landschaften vortrefflich ausnutzen konnte, und ich kehrte mit einem weiteren Theile der Krieger nach Chinchoxo zurück. Die Neger zeigten sich geneigt, zu unterhandeln, sie verlangten aber, die Weißen sollten zu diesem Zwecke in einem zu wählenden Dorfe erscheinen, sie selbst könnten nicht nach Landana kommen. Da sie späterhin als Grund hierfür die Furcht vor dem noch anwesenden Rest der „Cannibalen-Armee“ angaben, benutzte Herr Dr. Falkenstein diese willkommene Gelegenheit, um unter Zustimmung sämmtlicher Weißen am 1. Februar nach der Station zurückzukehren, nachdem durch Botschaft an Mataenda die Mission fernerhin für unverletzlich und unter unserem besonderen Schutze stehend erklärt worden war.

Die Mission ist vorläufig sicher, um so mehr, da jede Stunde ein französisches Kriegsschiff vom Gabun eintreffen muß, welches zu ihrem Schutze hier ankern wird. Wie es den Handelshäusern in Landana und am Fluß noch ergehen wird, ist nicht abzusehen. Die Neger sind wieder so drohend wie je vorher; vorläufig haben die Unterhandlungen noch nicht begonnen, um aber ihren Vortheil nach Kräften zu wahren, haben sie einstweilen wieder den Chiloango gesperrt.




Kurhessische Hofgeschichten aus dem vorigen Jahrhundert.


Die hessische Geschichte des vorigen Jahrhunderts bietet zur Charakteristik der deutschen Kleinstaaterei und des damaligen Hoflebens manche interessante Einzelheiten. Aber bei der Abneigung der letzten hessischen Kurfürsten, den Geschichtschreibern ihre Archive und Bibliotheken zu öffnen, sind die Quellen, welche hier in Frage kommen, bisher so spärlich geflossen, daß über den Casseler Hof in der letzten Hälfte des vorigen und den ersten Decennien dieses Jahrhunderts so gut wie gar nichts an die Oeffentlichkeit gelangt ist. – Um so freudiger begrüßen wir ein Werk[1], welches, von Karl Fulda und Jakob Hoffmeister herausgegeben, im Monate Juli d. J. die Presse verlassen wird. Dasselbe beruht auf den eigenhändigen treuen Aufzeichnungen des Vaters und des Großvaters des erstgenannten Herausgebers, d. h. auf Mittheilungen zweier Zeugen der hessischen Hofgeschichte, deren Wirkungskreis sie in die nächste Nähe der damaligen Landesherren brachte.

Bei der Authenticität und Neuheit der Berichte glaubten wir die uns durch das gütige Entgegenkommen der Herausgeber gebotene Gelegenheit ergreifen zu sollen, indem wir im Nachstehenden aus den ersten uns zur Verfügung gestellten Druckbogen des Werkes einige Episoden herausgreifen und mit unwesentlichen Weglassungen wiedergeben.

Von allgemeinem Interesse dürfte zunächst die Erwähnung eines noch heute in der Literatur hochangesehenen Namens sein.

„Freiherr Adolf von Knigge, der Verfasser der noch nicht vergessenen Schrift: ‚Ueber den Umgang mit Menschen‘,“ heißt es im dem Buche, „war in den 1770er Jahren Kammerassessor und Hofjunker an dem glänzenden Hofe in Kassel. Er war aus innerster Neigung Sarkast und liebte es besonders, die Hofdamen in den Cercles und Soiréen aufzuziehen und durch seine Unterhaltung in Verlegenheit zu setzen, was ihn verhaßt machte. Unendlich sind die Verwirrungen und Entzweiungen, welche Knigge bei den verschiedenen Persönlichkeiten des brillanten Hofstaates in Kassel damals hervorbrachte, aber Niemand vermochte dies zu hindern und den Urheber zur Strafe zu bringen oder zu entfernen. Der Landgraf liebte den geistreichen jungen Mann zu sehr und mochte den Witz und die Unterhaltung desselben nicht entbehren.

[368] Ein traditionell verbürgter Streich von Knigge ist folgender. Eine junge Dame am Hofe zu Kassel hatte die Gewohnheit, während der Tafel einen ihrer Schuhe unvermerkt auszuziehen. Knigge hatte dies beobachtet und beauftragte daher einen der aufwartenden Pagen, den ausgezogenen Schuh unter dem Stuhle jener Dame heimlich wegzunehmen. Dies geschieht. Als nun die Tafel durch das Aufstehen der höchsten Herrschaften aufgehoben wird und alle Tafelgäste sich erheben müssen, sucht die beraubte junge Dame mit ihrem Fuße vergeblich nach dem ausgezogenen Schuh und muß, da sie ihn nicht findet, ohne denselben von der Tafel wegtreten und durch den großen Saal in das anstoßende Gemach schleichen, wo der Kaffee servirt wird. Erst jetzt, nachdem sich Knigge an der sichtlichen Verlegenheit der armen jungen Dame hinlänglich geweidet hat, läßt er auf einen gegebenen Wink durch den abgerichteten Pagen den geraubten Schuh mit hohem Absatze auf einem silbernen Teller in Gegenwart des ganzen Hofes der unglücklichen Dame demüthig überreichen.“

Wie unser Gewährsmann ferner erzählt, hatte Knigge als Hofjunker die Verpflichtung übernommen, der lebenslustigen Landgräfin Philippine stets Mittheilung darüber zu machen, wenn der Landgraf beschlossen hatte, den Abend auswärts zuzubringen, damit sie alsdann in ihren Gemächern ihre kleinen phantastischen Gesellschaften ungenirt abhalten konnte. „Da Knigge nun nicht immer Gelegenheit hatte, die Landgräfin ohne Zeugen zu sprechen,“ heißt es weiter, „so sang er der Fürstin eines Sonntags während des Gottesdienstes nach der gerade gesungenen Melodie ‚Ein’ feste Burg ist unser Gott‘ die Worte zu: ‚Heut Abend geht der Landgraf aus.‘

Die Nemesis für all’ diese Streiche blieb aber nicht aus. Die Gemahlin des regierenden Herrn, eine geborene Prinzessin von Brandenburg-Schwedt, die schöne Landgräfin Philippine, hatte längst bemerkt, daß ihre Lieblingshofdame, Fräulein Henriette von Baumbach, eine Neigung für Knigge fühle, und dieser hatte sie, eine überaus gutherzige, aber etwas beschränkte und unschöne Dame, öfters geneckt und zu der Zielscheibe seines Witzes gemacht. Als Knigge nun bei dem nächsten Lever sich wieder so auffallend ihrer lieben von Baumbach nähert und diese auf das Lebhafteste und so ausschließlich unterhält, daß sie bald roth und bald bleich wird, tritt die Landgräfin rasch zu dem jungen Pärchen und sagt ganz laut: ‚Herr von Knigge, Sie ziehen meine gute Baumbach so auffallend vor und ich sehe Sie mit derselben so oft und ausschließend vereint, daß ich doch wohl voraussetzen darf, Ihre Absichten werden ernstlich und redlich gemeint sein.‘

Der gewandte, sonst so dreiste Hofmann ist ganz perplex ob dieser Rede; er erwidert keine Sylbe und macht nur eine Verbeugung über die andere. Aber die kluge Landesmutter durchschaut ihn; sie wendet sich um und sagt zu der glänzenden Versammlung: ‚Meine Damen und Herren! ich freue mich, Ihnen hier ein glückliches Brautpaar vorzustellen.‘ Sie nimmt Herrn von Knigge und ihre Hofdame an der Hand und führt sie vor mit den Worten: ‚Herr von Knigge und meine liebe Baumbach haben sich verlobt.‘ Kein Wort, kein Laut von beiden Seiten; acht Tage darauf war die Trauung.“

Eine amusante Geschichte berichtet unser Autor sodann in Folgendem:

„Der kunstsinnige Landgraf Friedrich der Zweite von Hessen hatte eine ganz besondere Vorliebe für die Bewohner Frankreichs und schätzte die französische Sprache vor allen andern.

Im Jahre 1784 kam ein feiner und artiger Franzose aus Paris nach Kassel, der zwar keine Effecten bei sich führte, aber sehr anständig gekleidet war und sehr gut französisch sprach. Er gab vor, Adressen und Aufträge an des regierenden Landgrafen hochfürstliche Durchlaucht zu haben. Der Landgraf nimmt den Fremdling huldreich auf, und da er bescheiden und sehr gut sich ausdrückt, fragt er ihn auch gleich nach seinem Begehr. Der Pariser überreicht alle seine Legitimationspapiere und erklärt, er sei ein Porcellanfabrikant, habe in seinem Vaterlande viel Erfreuliches von der Vorliebe Seiner hochfürstlichen Durchlaucht für Künste und Wissenschaften hier im Lande gehört und wolle daher um die Erlaubnis bitten, sich in Kassel niederlassen und eine Porcellanfabrik gründen zu dürfen, die hier noch nicht bestehe. Er glaube, daß diese Residenz ganz der Platz zu einem solchen Unternehmen sei, und bitte, ihm ein Local anweisen zu lassen, wo er den Ofen bauen und alles weiter Erforderliche zu der Fabrik anlegen könne. Das Ansprechende des jungen Mannes, seine feine, gute pariser Aussprache und das anständige Wesen und Benehmen desselben überhaupt nehmen den Landesherrn dergestalt für ihn ein, daß er ihm nicht allein sogleich die Bewilligung ertheilt, sondern auch den damaligen Bergrath Fulda in Kassel, einen sehr erfahrenen Techniker, der das ganze Wohlwollen des regierenden Landgrafen besaß und schon mehrere Male in solchen Angelegenheiten beauftragt worden war, alsbald rufen läßt, um ihm das Weitere in dieser Sache aufzugeben.

Bergrath Fulda äußert gleich, daß er den Pariser kenne, daß derselbe schon bei ihm gewesen sei und sein Anliegen vorgestellt habe, daß er aber nicht glaube, daß derselbe die Kenntnisse und Erfahrung besitze, die zur Gründung und Anlegung einer Porcellanfabrik erforderlich seien; auch dürften demselben die nöthigen Mittel fehlen und er daher dem Lande zur Last fallen. Als Local für eine solche Fabrikanlage schlägt übrigens Fulda ein der Stadt zugehöriges Haus in der Weißensteiner Allee vor, welches passend gelegen war und Raum genug zu der Ofen-Erbauung und zu allen weiteren Bedürfnissen darbot. Der gütige Landesherr genehmigte den Vorschlag nicht allein, sondern bewilligte dem Nachsuchenden auch die Concession zur Anlage und zum ausschließlichen Betriebe einer größeren Porcellanfabrik, woran es in der Residenzstadt Kassel und in Hessen überhaupt bisher gefehlt hatte.

Die Wünsche des Parisers sind nun erfüllt und am andern Morgen eilt er in das Schloß, um dem Herrn seinen unterthänigsten Dank abzustatten. Die Beredsamkeit des Beglückten ist so groß und sein Benehmen so einnehmend, daß der Landgraf im Uebermaß seiner Gnade jede mögliche Hülfe und Unterstützung im Voraus zusagt, obwohl auch nicht der geringste Beweis der Tüchtigkeit des Porcellanfabrikanten vorliegt und gar kein Zeugniß von ihm producirt worden war, daß er im Stande und befähigt sei, eine solche umfassende Anstalt gründen zu können. Dies Alles macht den Concessionär – Perrissot ist sein Name – so dreist, daß er schon jetzt um einen gnädigen Geldvorschuß von dreitausend Thalern bittet, indem er vorgiebt, daß seine Fonds aus Paris noch nicht angekommen und theilweise auch noch nicht flüssig seien; später wolle er Alles gern wiedererstatten. Der Landgraf stutzt zwar anfänglich bei der Kunde von der Mittellosigkeit des Bittstellers, doch kann er das Gesuch nicht abschlagen, läßt Fulda wiederum rufen und trägt ihn auf, für die Auszahlung der erbetenen dreitausend Thaler als Vorschuß zu sorgen und dem Perrissot außerdem alle thunliche Unterstützung angedeihen zu lassen, die Thätigkeit desselben aber von jetzt an in sorgsame Aufsicht und Controle zu nehmen und über den Erfolg von Zeit zu Zeit mündlichen Vortrag zu erstatten. Jetzt fing Fulda’s Arbeit und Verantwortlichkeit erst recht an. Er hielt denn Perrissot seine Zweifel gegen die Ausführbarkeit und redliche Durchführung des Zugesagten wiederholt vor und warnte ihn recht eindringlich, den nachsichtsvollen Herrn nicht zu täuschen. Perrissot benutzte die ihm verstattete Stunde nach der Tafel täglich, um dem Landesherrn aufzuwarten, und durfte dann unbehindert seiner Redegabe freien Lauf lassen. Der Fürst mochte seine Gegenwart und seine Sprache zu gern leiden. Und so betrachtete Fulda die Sache als ein Opfer, welches ein Fürst seiner Neigung und seinem Vergnügen bringen dürfe, und hörte auf, mit seinen immerwährenden Zweifeln und Verdachtsgründen beschwerlich zu fallen. Der landesherrlichen Weisung gemäß unterließ Fulda nicht, jeden Tag die Unternehmung Perrissot’s zu beaufsichtigen und sich auch von der Verwendung des empfangenen Vorschusses Ueberzeugung zu verschaffen. Aber der schlaue Franzose fand diese Controle zu lästig und störend und wirkte bei dem milden und nachsichtigen Landesherrn die Erlaubniß aus, ohne alle unmittelbare Aufsicht und Inspection arbeiten, bauen und sein Werk ausführen zu dürfen. Er wußte in günstigen Stunden die Güte und Freigebigkeit desselben nach und nach so weit für sich zu steigern, daß er bald das Doppelte des erhaltenen Vorschusses ausgezahlt erhielt. Der Landgraf äußerte dies dem Bergrath Fulda bei dessen Vortrage mit den Worten: ‚Der Mensch wird uns nicht betrügen; er versichert mir so treu seine [369] Arbeitsamkeit, daß ich ihm gern weiter helfen will. Thun Sie auch das Ihrige!‘ Ein großer Ofen war allerdings erbaut, auch manche Materialien zu der Fabrik waren vorhanden, doch das Innere seiner Thätigkeit hielt der Mensch ja stets verschlossen.

Mehr als ein Jahr war vergangen, und die Unterstützungen hatten in sehr auffallender Weise zugenommen, ohne sichtbare Zeichen von günstigen Erfolgen zu liefern; da erscheint eines Morgens der Aufseher, welchen man ganz in der Nähe des Fabriklocals zur Wahrnehmung jedes verdächtigen Vorganges bestellt hatte, bei Fulda und macht die überraschende Anzeige, Perrissot sei über Nacht plötzlich auf und davon gelaufen und habe alle Thüren fest verschlossen. Die Schlüssel müsse er mitgenommen haben, denn die wenigen Arbeiter hätten heute früh keinen Einlaß gefunden. Fulda erstattet augenblicklich Anzeige von dem Vorgange und wiederholt denselben später mündlich bei dem Landesherrn.

Dieser aber äußert in seiner Milde: ‚Der Mann wird schon wiederkommen; lassen Sie ihm nur Zeit!‘ Aber Fulda ersucht auch das Gericht um Versiegelung der Localitäten, weil er die feste Ueberzeugung hegt, daß der Schwindler nicht wiederkommen werde und er die Verantwortlichkeit eines betrüglichen Resultates nicht tragen will. Die Versiegelung erfolgt und wird höchsten Orts berichtet, aber der gütige regierende Herr erklärt: ‚Perrissot ist kein Betrüger; er wird schon zurückkommen.‘ Aber er kam nicht, und als acht Tage und mehr verflossen waren und Niemand ahnte, wohin der Mensch geflohen sei, da die polizeilichen Verbindungen und Controlen damals noch nicht so ausgebildet waren, nun einen entwichenen Betrüger im Auslande treffen und festnehmen zu können, erhielt Fulda den Auftrag, das Fabriklocal öffnen zu lassen und nachzusehen, was für die dem Entflohenen gespendeten bedeutenden Summen angeschafft, fabricirt und geschehen sei und vom Befunde höchsten Ortes Anzeige zu machen.

Die Gerichtssiegel wurden gelöst und Alles genau nachgesehen und inventarisirt; da war aber nichts als schön tapezirte Zimmer und Schlafcabinets, gute und elegante Möbel und ein immenser Brennofen. Dieser war verschlossen, wurde geöffnet und enthielt in seinem großen Raume nichts als eine Tasse, die offenbar nicht darin fabricirt, sondern in irgend einem Porcellanladen erkauft worden war. Diese Tasse nimmt Bergrath Fulda und bringt sie dem regierenden Landgrafen als einziges Ergebniß der kostbaren Anlage. Der gütige Fürst lächelt, indem er die Tasse in die Hand nimmt. Ohne Zorn übergiebt er sie Fulda mit den Worten: ‚Nehmen Sie das Resultat, Herr Bergrath, als ein Geschenk und Andenken von mir an! Sie haben viel Last und Mühe mit dem leichtsinnigen Menschen gehabt. Es ist eine theure Mundtasse; sie kostet mich mehr als zwölftausend Thaler.‘ Und so war der Vorgang beendigt.“

Scherzhaft ist auch ein Passus aus unserem Buche, den wir im Nachstehenden mittheilen:

„Ein genialer Bruder von mir, der bei einem ausgezeichneten Chemiker damaliger Zeit, dem bekannten Professor Johs. Sch. in Kassel, die Vorlesungen der Chemie mit Eifer und Fleiß hörte, hatte soeben von diesem ein Pulver mitgetheilt erhalten, dessen chemische Kraft, wenn es auf glühende Kohlen zum wohlriechenden Dufte und Dampfe gebracht wurde, sofort jede nicht echte Carminschminke in eine grünliche schwarze, wenigstens dunkle Farbe verwandelte. Dieses interessante Pulver brachte mein liebes Brüderchen, der seiner Behendigkeit und seines angenehmen Wesens wegen allein die Erlaubniß genoß, in der Gesellschaft an der Mutter Seite bleiben zu dürfen, nach Hause und schüttete das Pülverchen auf die glühenden Kohlen der Theemaschine vor der Mutter Platz. Augenblicklich verbreitete sich ein überaus lieblicher Duft um den Damenkreis, aber zugleich auch die böse Einwirkung auf die Wangen. Die eine der Damen zieht ihr feines Taschentuch und bittet nun die Erlaubniß, ihrer lieben Nachbarin vis-à-vis einen dunkeln Flecken wegbringen zu dürfen, der sich soeben auf ihrer schönen Wange etablirt hat, und gerade dasselbe thut diese Dame derselben Nachbarin, und bald muß die ganze Gesellschaft sich mit schwarzfleckigem Gesichte ansehen. An das gefährliche Pülverchen und dessen chemische Wirkung denkt Niemand und am wenigsten meine gute Mutter, die es gar nicht bemerkt hat, wie solches in die Maschine gekommen. Die ganze Gesellschaft geht entrüstet auseinander – auch kein einziges Schminkdöschen war echt gewesen.“

Wir schließen unsere Excerpte aus den erwähnten Erinnerungen mit einer Schilderung, welche die Entdeckung einer unterirdischen Richtstätte der Vehme zum Gegenstande hat.

„Die Jugend,“ heißt es daselbst, „hat stets Gefallen an Abenteuern, und die Zeit des Mittelalters begeistert sie noch jetzt zu Theilnahme und lebhaftem Interesse. Als unser Lehrer uns vortrug, daß die Vehmgerichte zwar vorzugsweise in Westphalen bestanden hätten, daß aber auch in unserm hessischen Vaterlande und namentlich in der Stadt Kassel Spuren derselben vorhanden seien, da brannten wir alle vor Begierde, von diesen unterirdischen Localen in unserer Nähe Kenntniß zu erlangen, und die Folge davon war, daß zehn von uns Mittags nach der Unterrichtsstunde sich vereinigten, die nähere Bekanntschaft dieser unheimlichen Stätten zu machen. Der Lehrer hatte uns gesagt, daß außerhalb des Aue-Thores vor Kassel ein großer Quaderstein mit einer darauf ausgehauenen Rittergestalt den Eingang zu einem solchen unterirdischen Gerichtslocale bildete, daß aber dieser Eingang im Laufe der Jahrhunderte ohne Zweifel ganz verschüttet und unzugänglich geworden sei. Kaum waren die Unterrichtsstunden beendigt, so fanden wir Knaben uns, ohne Jemandem etwas davon zu sagen, am Aue-Thore ein. Den großen Stein fanden wir allerdings nach langem Suchen, aber wie sollten wir ihn hinwegräumen, um den Eingang zu finden? Der Aelteste von uns wußte Rath; er holte zwei in der Nähe arbeitende starke Tagelöhner und versprach ihnen Geld; diese schafften mit Brecheisen und Hebebäumen den mächtigen Stein von der Stelle, wenngleich mit großer Kraftanstrengung und nach Verlauf einer Stunde. Wir hüteten uns wohl, den Arbeitern von unsern Absichten etwas merken zu lassen, lohnten sie ab und entließen sie, ohne irgend etwas zu verrathen.

Wir beriethen nun unter uns, wie wir den Schutt unter dem Eingangsstein wegräumen und den Zugang zu dem unterirdischen Gewölbe, das wir voraussetzten, für uns möglich machen sollten. Alle Geräthschaften, die zu dem Geschäft erforderlich, suchten wir unter der Hand, wo wir solche nur zu finden vermochten, an uns zu bringen, ohne jedoch Jemandem von unserem Vorhaben irgend etwas merken zu lassen, und als wir nun hinreichend mit Allem versehen waren, auch Fackeln und Lichter mit Feuerzeug beisammen hatten, bestimmten wir einen Sonntag früh zum Anfang unseres Vorhabens, weil an solchem Tage kein Mensch außerhalb des Thores zu sehen und wir daher durch nichts an unserer Arbeit gehindert waren. Schon vor vier Uhr Morgens fanden wir uns am Platze ein, und da wir unser zehn starke Buben mit kräftigen Armen waren, so hatten wir den ganzen Schutt bald weggeräumt. Wir fanden wirklich einen Eingang und eine geräumige Oeffnung, deren Tiefe wir durch Leitern mit unseren Hacken und Schaufeln verfolgten und immer weiter verfolgten, bis wir, zu einiger Tiefe gelangt, einen großen Raum fanden. Nun stiegen wir wieder mit Hülfe der Leitern hinauf und versparten die Untersuchung der Localität auf einen der nächsten Abende.

Mit Lebensmitteln und Trinkwasser reichlich versehen, schlugen wir, zehn Knaben von zwölf bis fünfzehn Jahren, den bedenklichen Weg ein, nachdem wir unsere Fackeln und Laternen angesteckt hatten. Der Gang war anfangs so schmal, daß nur Einer mit Mühe Platz fand, bald gelangten wir aber in einen größeren, ausgemauerten Raum und darin vor ein großes eisernes Thor, das zwar nicht verschlossen, aber doch auch nicht offen und daher für uns nicht zugänglich war. Mit unsäglicher Mühe und Kraftanstrengung gelang es uns endlich mit Hülfe der Brecheisen, Hebel und Hacken, die gewaltige Pforte so weit zu öffnen, daß wir einzeln uns durchzwängen konnten. Das war nun, wie wir erkannten, der Sitzungssaal des heimlichen Gerichts, der sogenannte freie Stuhl. In der Mitte ein großer steinerner Tisch und um denselben gegen dreißig bis vierzig eherne Sitze, die im Laufe der Jahrhunderte ganz mit Moos bewachsen waren. In der Mitte und an den beiden oberen Seiten bemerkte man erhöhte Sitze, einen mit einer Art von Rückwand und Verzierung, wahrscheinlich der Sitz des Stuhlherrn, welcher in der Regel ein Fürst oder Graf war, die beiden anderen Sitze der sogenannten Freigrafen und die übrigen der Freischöffen, wie die Besitzer genannt wurden. Rund herum [370] in dem großen hochgewölbten Saale sahen wir Steinbänke und zwischen diesen und der Tafel zwei einzelne Sitze, vielleicht die der Angeklagten und unglücklichen Opfer. Aber ein Grausen erfüllte uns Alle, als wir in einem Nebengemach die Marterwerkzeuge sahen. Alle Torturmaschinen damaliger Zeit, zwar grausam verwittert, erkannten wir noch, die Bank, den Stuhl, die Schraubenwerkzeuge, alles fast colossal und der damaligen Kraft der menschlichen Körper angemessen; dann befanden sich auch noch viele alte Waffen, Speere und Schwerter, auch eisernes Rüstzeug an der Wand aufgehängt, vielleicht den Verurtheilten abgenommen. In dem Sitzungssaale erkannten wir aber bei unserer Rückkehr noch eine Maschine, die in einer dunkeln Ecke einen nicht unbedeutenden Raum einnahm; es war die bekannte Jungfrau, eine mit eisernen Gelenken und Gewinden versehene eherne Frau von colossaler Größe, deren Arme mit hundert scharfen – jetzt aber ganz verwitterten und verrosteten – Schwertern und Dolchen versehen waren und die bekanntlich die zum Martertode verurtheilten Unglücklichen zärtlich in ihren Arm nehmen, und so durch die Zusammenziehung der schrecklichen Maschine mit unzähligen Wunden, Stichen und Schnitten im Augenblick tödten mußte. An der Wand zur Seite dieser Jungfrau stand mit großen lateinischen Buchstaben, noch lesbar, geschrieben: „Hans Reitesel“. Vielleicht der Name des letzten zur Umarmung der Jungfrau Verurtheilten, der möglichenfalls ein Ahne des alten Geschlechts der Riedesel war. Gottlob, daß die Zeit der Vehme für immer entschwunden ist!“




Das rothe Quartal.
(März–Mai 1871.)
Von Johannes Scherr.
Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.
11. Blut und Feuer – Feuer und Blut.

„Wann ich todt, mag die Welt im Feuer aufgehen!“ sagte Tiberius.

„Nach uns die Sündflut!“ sagte Madame de Pompadour.

„Wann unsere Zeit gekommen, wird Paris uns gehören oder Paris wird nicht mehr sein! Wir oder das Nichts!“ sagte schon vor der Katastrophe von Sedan, also vor dem Sturze des Kaiserreichs, ein Häuptling der rothen Mongolen von 1871.

Ja, der rothen „Mongolen“. Denn genau so, wie es im Mittelalter die gelben Mongolen getrieben hatten, so trieben es im Mai von 1871 die Kommunarden. Was sie nicht zu besitzen und zu behaupten vermochten, sollte vernichtet werden, damit es wenigstens auch andere nicht besäßen.

Ganz dieselbe wilde Selbstsucht, wie sie aus dem finsteren Despoten Tiber gegrollt und aus dem leichtsinnigen Buhlweib Jeanne Antoinette Poisson gelacht hatte.

Es war etwas, nein, viel, alles von der Entmenschung, welche die Bürgerkriege der Römer zur Zeit des Unterganges der Republik kennzeichnete, in diesem französischen Bürgerkriege des rothen Quartals. Aus der mörderischen Maiwoche heraus schaudert uns auf Schritt und Tritt das Zähnefletschen und das Wuthgebrüll wilder Thiere an. Da ist nichts Menschliches mehr, weder hüben noch drüben. Auf der einen Seite nur noch die Raserei der Verzweiflung, auf der andern nur noch der Rausch der Rache.

Wenn der Wohlfahrtsausschuß der Kommune in einem seiner letzten Aufrufe zeterte: „Zu den Waffen! Auf die Barrikaden! Kein Erbarmen! Schießt alle nieder, welche den Versaillern die Hand reichen könnten. Feuer! Feuer!“ so gab es unter den Blauen Offiziere genug, welche die Soldaten zu massenhaftem Niederschießen ihrer Gefangenen unaufhörlich anstachelten. Vor allen aber hat sich ein Bonapartist, der Marquis und Oberst de Gallifet, durch sein blutgieriges Wüthen berufen gemacht.

Freilich, es mußte biegen oder brechen. Vom 23. Mai an handelte es sich für die beiden kämpfenden Parteien schlechterdings um nichts anderes mehr, als welche von ihnen die Kraft hätte, die Gegnerin unter die Füße zu treten.

Nachdem der düstere Jakobiner Delescluze die Einbußen des Tages erfahren und damit die Ueberzeugung erlangt hatte, daß der Anfang vom Ende gekommen sei, sagte er: „Paris soll in die Luft. Eher soll es bis auf den Grund niedergebrannt als den Royalisten überliefert werden.“

Dieses Wort kann füglich als das Signal genommen werden, welches den Zündern und Zünderinnen – (eine hübsche Sorte von „flamines“ und „flaminicae“ fürwahr!) – an ihr schreckliches Werk zu gehen und dem Pulver das Petrol zu gesellen gebot.

In der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch (23. bis 24. Mai) wurde das Namenlose vorbereitet: die Feuerbestattung der „Weltmetropolis“.

Wer dann im Morgengrauen von den Höhen von Meudon oder Montretout auf Paris hinabgeschaut hätte, würde gesehen haben, wie der rothe Hahn seine ersten Flüge that, um, eine Feuerfurche hinter sich herziehend, von den Tuilerien zum Louvre, zum Palais Royal, zum Finanzministerium und weiter, immer weiter zu fliegen.

Aber wer nach allen den vorhergegangenen Schrecken noch leichtherzig genug gewesen war, die Nacht zu verschlafen, den machte der Entsetzensschrei: „Paris steht in Flammen“ aus dem Bette springen. Und ein Tag brach an, nein, eine ganze Reihe von Tagen, von denen jeder glauben konnte, das alte Weltgerichtslied wäre für ihn gesungen: –

„Dies irae, dies illa
Solvet urbem in favilla“
[2]

Derweil war das wilde Ringen zwischen Rothen und Blauen um den Besitz von Paris noch lange nicht zu Ende. Hier und dort schlug man sich mit steigender Erbitterung. Angriff und Vertheidigung waren gleich heldisch. Als föchten sie für die beste Sache, für welche jemals ein Gewehr geladen und ein Schwert gezogen worden, gaben die Kämpfer der Kommune ingrimmig ihr Leben dahin. Auch mitunter mit jenem lachenden Gleichmuth, womit die alten Nordlandsrecken in den Tod gingen. Bei der Porte Saint-Martin hielt mitten im Kugelregen ein Blusenmann die rothe Fahne, deren Träger er war, hoch empor und lehnte sich dabei mit dem Rücken an ein hinter ihm stehendes Faß. „Bist Du müde oder faul?“ fragt ihn ein Mitstreiter. „Weder dies noch jenes – gibt er zur Antwort – ich lehne mich an, um nicht umzufallen, wenn ich getroffen werde, und auch dann noch die Fahne festhalten zu können.“

Noch am Dienstag hatten die Blauen, abgesehen von der Wegnahme des Montmartre, von dessen Höhe sie ihre Bomben nach Belleville und zum Père Lachaise hinüberwarfen, beträchtliche Eroberungen gemacht. Der General Ladmirault schob seine Truppen die äußeren Boulevards entlang ostwärts vor, der General Clinchant verfolgte in den Quartieren zwischen den beiden Boulevardslinien die gleiche Richtung. Ebenso im Centrum die Generale Douay und Vinoy. Alle diese Bewegungen, welchen der General Cissey auf dem linken Ufer die seinigen anpaßt, richten sich koncentrisch auf das Hôtel de Ville. Cissey ist noch am Dienstag bis gegen die Rue du Bac hin vorgedrungen, während auf dem rechten Stromufer die Terrasse der Tuilerien, die Madeleine und der Vendômeplatz von den Truppen genommen werden, welche auch in der Chaussée d’Antin und in der Rue Lafayette festen Fuß fassen.

Fürder bereitet die Nacht dem Kampfe keine Unterbrechung mehr. Für Beleuchtung sorgen ja die Petroleurs und die Petroleusen. Es hat den Anschein, als müßte sich die ganze Riesenstadt zu einem ungeheuren Feuerherde gestalten, und inmitten von Glut und Rauch geht das Gewürge weiter.

Am Morgen vom 24. Mai nehmen die Blauen die Börse und den Börsenplatz. Douay geht gegen die hochbarrikadirte und zähvertheidigte Pointe de Saint-Eustache vor und bewältigt sie nach herben Verlusten. Dann bedroht er von der Rue Rambuteau her das Stadthaus, gegen welches von der

[371]

Hemdenmatz.
Mit Benutzung einer Photographie von R. Max in München gezeichnet von Adolf Neumann.



Uferseite her Vinoy auf der Rue Rivoli vorgeht, während Cissey nach Bemeisterung der Barrikaden auf dem Pont Neuf seinen Waffengefährten von der Seine-Insel her die Hand reicht. Der jetzt anhebende Kampf um das Hôtel de Ville währt mit wachsender Wuth die ganze Nacht hindurch bis zum folgenden Tag. Dann räumen die Rothen ihr Hauptquartier, das Hauptquartier so mancher Revolution. Aber die Blauen sollen es nicht haben. Ein furchtbarer Knall, welcher ringsumher die Erde beben macht, eine ungeheure tiefschwarze Dampfmasse, die sich langsam aufwärts wälzt, dann ein greller Feuerschein, der an allen vier Ecken des Stadthauskolosses emporspringt. Der Bürger Pindy hat sein Wort gehalten: das Hôtel de Ville steht in Flammen und brennt um die Wette mit den Tuilerien, der Louvrebibliothek, dem Palais Royal und dem Finanzministerium,[WS 2] dem Ehrenlegionspalast, dem Palais d’Orsay, dem Justizpalast und der Polizeipräfektur, die brennenden Theater, Markthallen, Fabriken und Privathäuser nicht gerechnet. Nur das rasche Vordringen Cissey’s auf dem linken Ufer hatte den Petroleurs die Anzündung des Pantheon verwehrt, oder waren die Zünder und Brenner selbst davor zurückgeschreckt? Sie wußten ja, daß in den Kellern des Tempels 16 Millionen Patronen, 20 Tonnen Pulver und mehrere Kisten Dynamit lagerten – ein schlafender Vulkan. Wäre er mittels der Brandfackel geweckt worden und ausgeborsten, so müßte die Verwüstung eine geradezu unerhörte gewesen sein.

Um die dritte Hauptstellung der Kommune im Centrum, um das Chateau d’Eau, mußte noch lange gerungen werden, vom Donnerstagsmorgen bis zum Freitagsmorgen. Das Vorschreiten der vier vereinigten Truppenkorps, welche auf dem rechten Ufer kämpfen, zum Kanal Saint Martin und zum Bastilleplatz ist mit


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ehe
  2. Vorlage: Fianzministerium

[372] den größten Schwierigkeiten verbunden. Unaufhörlich regnen auf die zwischen der Gürteleisenbahn und der inneren Boulevardslinie gelegenen Stadtquartiere die Granaten und Petrolbomben, welche die Batterien der Rothen von der Butte Chaumont in Belleville und vom Père Lachaise herab- und hereinschleudern. Diese Punkte, sowie der Faubourg du Temple und die Rue d’Angoulême sind die letzten Halte der Insurrektion, welche ihr gehärtetster Führer, Delescluze, schon am Tage vor dem Verluste des Stadthauses als eine Sache bezeichnet hatte, für die kein Sieg mehr zu hoffen, sondern nur noch der Tod zu suchen sei. …

Es dürfte ein eitles Mühen sein, von dem Paris, wie es vom Mittwoch den 24. bis zum Sonntag den 28. Mai sich darstellte, eine auch nur annähernd deutliche Vorstellung sich zu machen. War es doch wie das Hereinbrechen des Chaos. Nur etwa die giganteske Phantasie eines Dante vermöchte von dieser „città dolente“ der Wirklichkeit ein Bild zu geben. Was uns Augen- und Ohrenzeugen berichten, ist bloßes Stückwerk und kann nicht mehr sein. Sie vermochten nicht, alle die Schrecknisse, die sie mit allen Poren einathmeten, zu unterscheiden und festzuhalten, geschweige zu einem Gesammtgemälde zu gruppiren. Ein französischer Zeuge sagt aus: „Man muß vom 23. bis zum 28. Mai in Paris gewesen sein, um sich eine Vorstellung von dem entsetzlichen Anblick bilden zu können, welchen die große Stadt während der Feuersbrünste darbot, die nach der Meinung ihrer Urheber sie in Asche legen sollten. Die mörderischen Kämpfe, welche die Armee der Ordnung und die der Demagogie einander lieferten, die Hohlgeschosse, welche nach allen Richtungen platzten, die Gefahren jeder Art, von denen das Leben der Bewohnerschaft in jedem Augenblick bedroht war, – das alles war gewiß angethan, hochgradigen Schrecken zu erregen. Aber dennoch war nichts so erschütternd, so erstarrend, so verzweifelnd wie der Anblick von allen diesen den Flammen überlieferten Monumentalbauten, in welchen seit Jahrhunderten mit religiöser Sorgfalt so viele Schätze der Kunst und Wissenschaft angesammelt worden waren. Beobachter, welche von der Höhe von La Roquette“ – (wo unser Zeuge als Geisel gefangen saß) – „oder von der Hochebene von Chatillon diese Feuersbrünste betrachteten, sagten sich mit Entsetzen, daß die prächtige Hauptstadt der modernen Civilisation zu einem Trümmerhaufen werden müßte; denn sie glich ja einem ungeheuren Glühofen, einem kolossalen Feuerherd, von welchem Flammenströme aufschossen und riesige Rauchwolken emporwirbelten.“ Ein Augenzeuge von jenseits des Kanals brach beim Anblick der brennenden Tuilerien, des brennenden Louvre, des brennenden Palais Royal, der brennenden Rue Royale in die Worte aus: „Sie brennt wahrhaft königlich, die ganze Seite der Straße von dem Madeleineplatz bis zur Rue des Faubourg Saint-Honoré. In dieser letztgenannten Straße sind alle Gossen voll Blut. An jeder Straßenecke steigt eine Barrikade auf. Kanonendonner, Musketengeknatter, Mitrailleusengehuste bilden zusammen ein Orchester, das zu diesem Drama der Zerstörung die Musik macht. Angesichts dieser Schrecknisse faßt unbeschreibliche Wuth die Menge. Bislang hatte sie im Gefühl ihrer Befreiung nur Hoch und Hurrah geschrieen, jetzt aber wandelt sich ihre Freude in bestialischen Rachegrimm. Zitternd und keuchend vor Zorn erzählt man sich, daß das Petrolfeuer auch das Finanzministerium und alle öffentlichen Gebäude am Quai d’Orsay sowie in der Rue du Bac verzehre. Die das Sonnenlicht auslöschenden Flammengarben und Rauchmassen fachen in den Herzen der Pariser einen Brand an, nicht weniger wild, teuflisch und vernichtend. ‚Schießt alle Gefangenen nieder! Kein Erbarmen! Nieder mit den Petrolmännern und Petrolweibern!‘ schreien die Leute wie wahnwitzig den Soldaten zu. Und alsbald hebt eine wüthende, schauderhafte, haarsträubende Jagd auf die Verdächtigen an. Man sucht, faßt und füsilirt Männer und Weiber auf der Stelle. Und dieses Höllengeschäft treiben am eifrigsten die Frauen.“

Man hat es ein Wunder genannt, daß nicht die äußersten Befürchtungen sich verwirklicht, daß nicht die Flammen ganz Paris eingeäschert hätten. Das Wunder erklärt sich aber wie alle die sogenannten Wunder aus natürlichen Umständen. Zunächst aus der schon früher betonten Hauptursache, daß der unerwartet frühzeitige Einbruch der Blauen in die Stadt die Vernichtungspläne der Rothen nur theilweise zur Reife und zur Ausführung kommen ließ. Nebenursachen kamen hinzu: das energische Vorschreiten der Truppen warf Unordnung in die Reihen der Kommunestreiter, und diese störte dann auch vielfach die Arbeit der Zünder; Hauseigenthümer fanden in der äußersten Gefahr so viel Muth, den Brandlegungen mit Gewalt sich zu widersetzen; pfiffige Portiers führten die anlangenden Brandmänner in die Keller und füllten sie mit Wein bis zur Besinnungslosigkeit; endlich darf als sicher angenommen werden, daß vielen Brennern im letzten Augenblicke Herz und Hand versagten, ihre höllischen Aufträge zu vollziehen. …

Und immer noch flatterte die rothe Fahne und fuhren die Batterien der Butte Chaumont und des Père Lachaise auf die Stadt zu feuern fort. Nur kurze Pausen des Aufathmens gönnte sich der Verzweiflungskampf. In der Nacht vom Freitag auf den Sonnabend ras’te er mit unsäglicher Wuth um Belleville her, dessen gehügelte Quartiere und winkelige Gassen von Barrikaden starrten. Das ganze Nest schwimmt in einem grellen Roth, denn die ungeheuren Speicher („Docks“) brennen lichterloh. Die „strategische“ Brandfackel hat auch hier ihr Werk gethan. Wie zwei riesige Ausrufungszeichen ragen die spitzen Thürme der Kirche von Belleville aus dem Feuerschein empor. Vom Montmartre herüber schlagen die Bomben der Blauen fort und fort in das Häusergewirre. Immer neue Brände springen auf. Doch mit unbeugsamem Fanatismus halten die Belleviller an der verlorenen Sache.

Noch einen ganzen Tag, den 27. Mai. Denn nachdem das schreckliche Getöse gegen Tagesanbruch eine Weile verstummt gewesen, hebt es von neuem an, und wieder beginnt das Streiten und Morden. Die Sonne, müde der Gräuel, die sie seit drei Tagen gesehen, hatte einen dichten Wolkenschleier vor ihr Antlitz gezogen, aber der Widerschein der Feuersbrünste färbte das Grau dieses Schleiers kupferroth. Mithandelnde in dem furchtbaren Trauerspiel haben nachmals ausgesagt, daß der Anblick von Paris an jenem trüben Maimorgen von einer wahrhaft gespenstigen Unheimlichkeit gewesen sei.

Man mußte ein Ende machen. Die Blauen holten aus zum letzten Schlag. Sie waren zur Stunde damit fertig geworden, die Insurrektion einzukreisen, sie in einen Cirkel von Eisen, Blut und Feuer einschließen, welcher von Belleville und vom Pére Lachaise bis ungefähr zum Boulevard Beaumarchais, zum Bastilleplatz, zur Rue de Charonne und zur Rue du Temple reichte. Aber auch aus diesem Kreise heraus setzten die Rothen den blauen Angreifern einen so energischen Widerstand entgegen, daß gegen Mittag zu unter den Generalen der Regierung die Rede ging, es werde nichts übrig bleiben, als Geschütze allerschwersten Kalibers herbeizuschaffen, um damit die zur Zeit noch hartnäckig behaupteten Quartiere in einen ungeheuren Trümmerhaufen zu verwandeln. Erst der Abend brachte, ohne daß zu diesem Aeußersten geschritten werden mußte, die Entscheidung. Die Generale Ladmirault und Vinoy führten sie herbei. Jener faßt, nachdem er sich der Vorstadt Villette bemächtigt hat, die Butte Chaumont von hinten und erstürmt sie; diesem gelingt der Sturmlauf auf den Père Lachaise, von wo aus er noch am späten Abend bis zur La Roquette hereindringt. So war Belleville gebändigt, und die Rachefurie ging in seinen halbzerstörten Gassen bis weit in die Nacht hinein würgend um. Scharen von rothen Flüchtlingen suchten in der Richtung von Vincennes, welches Fort bis zum 29. Mai sich hielt, Rettung und Zuflucht, wurden aber auf diesem Fluchtweg scharenweise von ihren blauen Verfolgern niedergemacht.

Nun ist, was noch von der Kommune und den Kommunarden übrig, im Faubourg du Temple und in der Rue d’Angoulême eingekeilt. Noch halten sie aus, die Nacht über und den Morgen vom Pfingstsonntag, obzwar das Stummbleiben der Kanonen auf der Butte Chaumont und dem Père Lachaise ihnen verkündigt, daß alles aus und vorbei und die Todesstunde gekommen. Gegen Mittag sind sie in die Rue d’Angoulême eingeschnürt. Sie haben keine Geschütze mehr und nur noch eine Barrikade. Diese behaupten sie, bis die vom Faubourg du Temple her die Straße heraufsausenden Kanonenkugeln die letzte Schutzwehr niederwerfen und die letzten Vertheidiger den Chassepotschüssen und Bajonnettstößen der heranstürmenden Soldaten erliegen.

Auf den Trümmern dieser letzten Barrikade lag barhaupt, [373] waffenlos, fünf Todeswunden in Brust und Haupt, ein hagerer Greis. Der letzte Häuptling der Kommune, Delescluze, hatte hier um 12 Uhr Mittags den Tod gesucht und gefunden. Nicht gesucht, aber doch mit leidlicher Fassung hingenommen hatte den Tod der Prokurator der Kommune, Rigault, welcher im Bürgerwehranzug ergriffen, erkannt und an der Ecke der Rue Gay-Lussac von Chasseurs des 19. Regiments füsilirt worden war. Verschiedenen anderen Mitgliedern der Kommune war dasselbe widerfahren. So dem Bürger Millière, welchen Soldaten auf den Stufen des Pantheon niedergeschossen hatten. Vielen Kommunarden jedoch gelang die Flucht, theils noch während der Agonie der Kommune, indem sie sich durch die von den Deutschen besetzte Fortslinie zu schmuggeln wußten, theils später. So dem pfiffigen Pyat, der allzu zärtlich für seine sorgfältig gepflegte Haut besorgt war, als daß er sie hätte riskiren mögen. Manche Helden der Kommune wurden unter nicht eben heldischen Masken und Verkleidungen entdeckt und gefangen genommen. So der Bürger Rossel als schneehaariger Greis, in welchen er sich mittels der Chemie verwandelt hatte. Andere hatten die Kleider ihrer Maitressen angethan und sich mit den Chignons derselben aufgeputzt. Uebrigens ist ja auch der Ex-Premier Louis Philipps, der Jesuit Guizot, am 24. Februar 1848 in Weiberkleidern davongeschlichen. Noth kennt keinen Unterschied zwischen Pantalon und Jupon.

Um 2 Uhr Nachmittags vom 28. Mai verkündigte eine Proklamation des Marschalls den Parisern: „Die Armee Frankreichs hat euch gerettet. Paris ist befreit, der Kampf zu Ende, die Ordnung wieder hergestellt.“ Draußen in Versailles trug Monsieur Thiers die traurige Siegesbotschaft in die Nationalversammlung mit den Worten: „Paris ist seinem wirklichen und wahrhaften Souverän zurückgegeben, das heißt Frankreich.“




Böhmische Glasindustrie.
Von A. B.


Nur wenige Gegenden bieten auf einer verhältnißmäßig kurzen Strecke so viele landschaftliche Reize und eine so interessante Gewerbthätigkeit, wie die Thäler der Neisse und Iser, die sich von Reichenberg in Böhmen östlich bis zur schlesischen Grenze hinziehen. Einer der bedeutendsten Zweige von Böhmens altberühmter Glasindustrie hat in jenen Thälern seinen Sitz und von hier aus werden unglaubliche Massen von Perlen, imitirten Edelsteinen in allerhand Fassungen, Milliarden von Glasknöpfen sowie Krystallglasartikel jeder Art nach allen Welttheilen gesandt, und man kann dreist behaupten, daß es kein Land der Erde giebt, welches nicht von hier aus wenigstens mit irgend einem dieser glänzenden und dabei doch so billigen Artikel versorgt wird.

Sonderbar erscheint es, daß bisher gerade jene Gegenden von den Touristen fast ganz vernachlässigt wurden. Wie viele Tausende eilen auf dem Schienenwege an Reichenberg vorüber gen Süden, dabei höchstens der stattlichen Jeschkengebirgskette einige flüchtige Blicke zuwerfend und die genannten romantischen Thäler unbeachtet „links liegen“ lassend, ohne zu ahnen, welcher Schatz für Auge und Wissen ihrer hier geharrt hätte.

Reichenberg, wo wir behufs unserer Wanderung die Eisenbahn verlassen, hat sich in neuerer Zeit zum Range einer der ersten Fabrikstädte Oesterreichs aufgeschwungen, eine Stufe, die jene Stadt schon im Mittelalter einmal behauptete, wo die Reichenberger Tuchweberei sich eines Weltrufes erfreute.

Abgesehen von ihrer industriellen Bedeutung setzt die Stadt Reichenberg ihren Stolz darein, die Vertreterin und Beschützerin deutscher Interessen gegenüber den czechischen Bestrebungen zu sein. Während nur wenige Stunden weiter nach Süden die Bevölkerung eine überwiegend czechische ist und dort, besonders in kleinen Dörfern, der Sprachunkundige oft in Verlegenheit kommt, ist in Reichenberg und Umgebung die deutsche Sprache die herrschende. Der lebhafte Verkehr mit den Bewohnern czechischer Ortschaften macht jedoch auch für die Deutschböhmen die Kenntniß der czechischen Sprache nothwendig, während umgekehrt die gebildeteren Classen czechischer Städte ihre Kinder gern schon in der Jugend die deutsche Sprache erlernen lassen. Um diesen Sprachunterricht zu erleichtern, ist man auf ein sehr praktisches Auskunftsmittel verfallen. Deutsche Familien schicken nämlich eines oder mehrere ihrer Kinder zu Familien in böhmischen Städten wie Gitschin, Semil, Pardubitz etc. und nehmen dagegen eine gleiche Anzahl Kinder jener böhmischen Familien während dieser Zeit zu sich in das Haus, so lange, bis die erforderliche Sprachfertigkeit auf beiden Seiten erlangt ist. Anerbietungen und Gesuche in Betreff dieses sogenannten „Kindertausches“ kann man fast täglich in der „Reichenberger Zeitung“ finden.

Von Reichenberg führt, man kann wohl sagen: unbegreiflicher Weise, bis jetzt noch keine Eisenbahn durch die oben erwähnten industriereichen Thäler, und wir sind genöthigt, wenn wir nicht eine Fußwanderung vorziehen, uns der Post- und Stellwagen zu bedienen, welche täglich fünf bis sechs Mal den Verkehr vermitteln. Für sein leibliches Wohl braucht der Reisende oder der Wanderer unterwegs nicht besorgt zu sein, denn Wirthshäuser giebt es überall mehr als genug. Auch des köstlichen, goldklaren Bieres ist nirgends und zu keiner Zeit Mangel, und mit besonderer Befriedigung werden die zahllosen Freunde eines vortrefflichen Trankes der an der Landstraße unweit Reichenberg gelegenen Maffersdorfer Brauerei einen wahrscheinlich nicht eben kurzen Besuch abstatten.

Unser Weg führt anfangs aufwärts im Thale der Neiße, welche trotz ihres kurzen Laufes schon eine ansehnliche Kraft erlangt hat. Aus allen Nebenthälern stürzen muntere Bäche, die ihre Gewässer mit denen der Neiße vereinigen. Die Industrie hat die mächtige Wasserkraft wohl zu benutzen verstanden, denn häufig begegnen wir großartigen Spinnereien und Tuchfabriken, deren weiße Gebäude freundlich aus der dunkelgrünen Umgebung der Nadelwälder hervortreten. Diese Großindustrie bleibt jedoch dem romantischen Thale nur so lange zugethan, wie die Fluthen der Neiße Kraft genug besitzen, um mit einem Male zwanzig- bis dreißigtausend Spindeln oder ganze lange Reihen Webstühle in Bewegung zu setzen. Weiter hinauf in den Thälern überlassen aber Spinner und Weber die schwächere Kraft der Bergwässer der kleinen Industrie, und wir werden später sehen, in welcher speculativen Weise die Glas- und Perlenschleifereien sich jedes noch so schmale Bächlein dienstbar zu machen verstehen.

Nach anderthalbstündiger Fahrt erreicht man Gablonz, eine mächtig aufblühende, überaus freundliche Stadt von siebentausend Einwohnern. Vor wenigen Jahrzehnten war Gablonz nur ein unansehnliches, ärmliches Dorf und jetzt bildet es den Hauptstapelplatz für die Producte der thalaufwärts sich ausbreitenden Glaskurzwaarenfabrikation.

Trotz der geringen Fruchtbarkeit des gebirgigen Bodens, der nicht für den zehnten Theil der Bevölkerung hinreichende Nahrungsmittel produciren könnte, kommen auf die noch nicht vier Quadratmeilen umfassenden Bezirke Gablonz und Tannwald etwa 50,000 Bewohner, worunter über 10,000 Glasarbeiter. Im Ganzen aber finden auf diesem verhältnißmäßig kleinen Gebiete ungefähr 30,000 Menschen ihren Lebensunterhalt durch die Glasindustrie und ihre Nebenzweige. Schon aus diesem Zahlenverhältniß ersieht man, daß hier Jung und Alt, Groß und Klein thätig mit eingreifen muß, um den oft karg genug bemessenen Lohn zu erringen.

Die Landstraße führt stundenlang durch Ortschaften, die sich bis hoch zu den Gipfeln der Berge hinaufziehen und deren Einwohner ebenfalls nach Tausenden zu zählen sind; nur wenig Häuser dürfte man auf dieser ganzen Strecke finden, wo nicht Glas gepreßt, geschliffen, gefaßt oder irgendwie verarbeitet würde.

Wie verschiedenartig alle diese Beschäftigungen sind, zeigt sich am übersichtlichsten aus einer uns zu Gebote stehenden statistischen Tabelle. Nach derselben kommen auf das erwähnte kleine Gebiet außer einer Anzahl großer Glashütten 67 Glascompositionshütten, 250 Druckhütten, 400 Schleifmühlen, ungerechnet die Tausende von Drehbänken, die mit den Füßen getrieben

[374] werden, Schleiferzeuge für kleine Gegenstände, wie Perlen, Knöpfe etc., 160 Glasspinnereien, etwa 100 Perlenbläsereien und 250 größere Gürtlerwerkstätten, letztere mit über tausend Arbeitern.

Nun darf man sich freilich unter diesen Hütten und Arbeitsstätten keine großen Fabrikgebäude vorstellen. Im Gegentheil verdienen namentlich die Glasdruckhütten ihren Namen im wahrsten Sinne des Wortes, da in solch einem vom Rauch vollständig geschwärzten Holzbaue oft nur ein Arbeiter mit seinem Gehülfen Platz hat. Die Fabrikation der Glaskurzwaaren ist eben fast ausschließlich Hausindustrie. Zwar ist es von einzelnen Unternehmern versucht worden, die verschiedenen Arbeitszweige fabrikmäßig in größeren Gebäuden zu vereinigen, allein man fand sehr bald, daß die Einrichtungs- und Betriebskosten solcher Fabriken in keinem Verhältnisse zu den meist überaus geringen Hausarbeitslöhnen standen, und deshalb wurden diese Versuche immer wieder aufgegeben. Wir werden noch Gelegenheit haben, verschiedene der oben angeführten Arbeitsstätten zu besuchen. Den besten Eindruck von der Bedeutung des hiesigen Gewerbfleißes erhalten wir jedoch, wenn wir uns Eintritt zu einem der großen Handelshäuser verschaffen, welche den Vertrieb dieser Waaren nach allen Welttheilen vermitteln. Man rechnet, daß auf den genannten Bezirk etwa einhundertachtzig Glasexporthäuser kommen, unter denen wir höchst bedeutende Firmen finden.

Große Lagervorräte darf man in jenen Handelshäusern nicht erwarten, weil fast alle hier gefertigten Waaren dem schnellen Wechsel der Mode wie wenig andere unterworfen sind. Die verschiedenen Artikel werden meist nur auf Bestellung gearbeitet, und eine solche kann, wenn sie auch noch so groß ist, von den Tausenden fleißiger, geschickter Hände immer bald bewältigt werden. Erstaunlich ist dagegen die fabelhafte Menge der glänzenden Modelle und Muster, welche jene Kaufleute zur Uebernahme von Aufträgen in langen Reihen von Kasten sorgfältig geordnet aufbewahren. Wir haben bei einigen der bedeutenderen Exporteure vierzig- bis fünfzigtausend solcher verschiedener Probeartikel gesehen, welche trotz der fabelhaften Billigkeit einzelner Gegenstände immerhin im Ganzen einen sehr ansehnlichen Werth vertreten. Haben nun aber solche Handelshäuser, wie dies bei den meisten der Fall ist, auswärts noch ihre Agenten, so ist es nothwendig, daß letztere dieselbe reichhaltige, kostspielige Mustersammlung führen.

Außer den zahllosen Sorten Perlen aller Farben und aller Größen bilden Brochen, Ohrringe, Knöpfe, Tuchnadeln, imitirte Edelsteine, Krystallsachen und dergleichen eine vollständige Ausstellung, welche nicht allein die Wilden Afrikas und die transatlantischen Völker, sondern auch unsere eurapäischen Damen und Stutzer in Entzücken versetzen müssen. Der Bereich des Absatzes für alle diese glänzenden Gegenstände umfaßt aber im wahrsten Sinne die ganze Welt. Die Handlungsbücher der böhmischen Firmen weisen Kunden in den sämmtlichen größeren Hafenplätzen aller fünf Welttheile auf. Nach England und selbst nach Frankreich gehen Massen dieser billigen Schmuckgegenstände, um als fremde Erzeugnisse, drei- oder vierfach vertheuert, bald darauf wieder nach Deutschland zurück zu kommen. Noch weit mehr aber dürfte sich der Werth der aus Glasperlen gefertigten Schmucksachen von deren Anfertigung bis zur Zeit ihres Verbrauches steigern. Es sind dies die Halsbänder, Nasen- und Ohrbehänge für afrikanische, australische oder südamerikanische Damen, die freilich für ihre übrige Toilette mit einigen Quadratfuß schlichten Baumwollengewebes reichen, während unsere Europäerinnen für ihre faltenreichen Kleiderbedürfnisse schon nach Quadratruthen rechnen müssen.

Ein ganzes Dutzend allerliebster bunter Perlenhalsbänder kostet hier kaum einen Gulden, ganz besonders reiche Gattungen nicht mehr als zwei bis drei Gulden. Wie gern aber giebt wohl mancher heißblütige schwarze Liebhaber an der Goldküste den schönsten Elephantenzahn für ein solches Kleinod, durch welches er die Gunst seiner dunklen Angebeteten sicher zu erwerben weiß! Ueberhaupt sind die großen bunten Glasperlen ein gesuchter Artikel für die wilden Stämme Afrikas, welche dafür die kostbaren Erzeugnisse ihres Landes mit Freuden vertauschen. Weiß man doch, daß die Sclavenhändler um einige Schnuren Perlen, die ihnen kaum auf einem Thaler zu stehen kamen, von den kriegerischen Fürsten an der afrikanischen Westküste leicht einen gefangenen Neger erhalten konnten, den man in Amerika dann gern mit dreihundert Dollars und höher bezahlte.

Noch jetzt werden Massen solcher Perlen nach jenen Ländern ausgeführt, die dort als Tausch- und Zahlmittel Verwendung finden. Wir sahen eine Sendung von nicht weniger als hundert großer Kisten, welche lediglich kirschkerngroße, ultramarinblaue, an Schnuren gereihte Glasperlen enthielten, die als Zahlungsmittel für Zanzibar bestimmt waren. Vielleicht bessert mit diesem Transporte der von seiner europäischen Reise zurückkehrende Sultan von Zanzibar den allzu stark angegriffenen Staatsschatz wieder auf. Ein schlechtes Geschäft wird er dabei keinesfalls machen, denn jene Perlen sind trotz ihres schönen, glänzenden Aussehens spottbillig. Fünfzig Stück derselben werden immer je an eine Schnur gereiht, und vierundzwanzig solcher Schnuren oder eintausendzweihundert Perlen kosten nicht mehr als – zwölf Kreuzer.

Die Mehrzahl der armen Arbeiter, welche diese Perlen in Böhmen fertigen, sind kaum viel besser daran, als die beklagenswerthen Sclaven im heißen Afrika. Die schwächeren oder stärkeren Glasröhren, deren Erzeugung in den Glashütten wir auf unseren späteren Wanderungen begegnen, werden dadurch in Perlen umgewandelt, daß sie der Arbeiter an eine vertical sich rasch drehende, scharfkantige Metallscheibe bringt, wodurch von der Röhre die einzelnen kleinen Perlen abgesprengt werden. Der Lohn für diese Arbeit ist so niedrig, daß man ihn immer nur nach tausend Dutzend oder zwölftausend Perlen berechnet, für deren Absprengen im Durchschnitte etwa zwölf bis fünfzehn Kreuzer bezahlt werden. Nur ein fleißiger Arbeiter kann es täglich auf zweitausend Dutzend bringen, womit er dann etwa dreißig Kreuzer (kaum sechszig Pfennige) verdient hat.

Lohnender, aber auch weit gefährlicher für die Gesundheit ist die Herstellung der über der Lampe geblasenen und dann metallisirten Perlen. Eine weiße oder farbige Glasröhre wird zuerst an dem unteren Ende zugeschmolzen und das in der Lampenflamme wieder zum Schmelzen gebrachte Glas durch Blasen zu ganz dünnwandigen Kugeln aufgetrieben. In unglaublich kurzer Zeit entstehen vor unseren Augen ganze Reihen zusammenhängender großer oder kleiner Kugeln, und um diesen oder auch denjenigen Glasröhren, welche zu größeren Perlen verarbeitet werden, die erforderliche Silberfarbe zu geben, benutzt man eine Auflösung von salpetersaurem Silberoxyd (Höllenstein). In diese Flüssigkeit werden die Glasröhren oder Kugelreihen eingetaucht und durch Einsaugen mit dem Munde füllt sie der Arbeiter bis oben herauf mit jener Auflösung, hält dann das obere Ende mit dem Finger verschlossen, damit die Flüssigkeit nicht wieder ausläuft, und drückt nun das untere Ende in weichen Thon, wodurch sich die untere Oeffnung schließt. Nachdem man jene Perlen oder Kugelröhren einige Zeit stehen gelassen, hat sich das in der Auflösung enthaltene Silber in einer ganz dünnen, aber vollkommen hinreichenden Schicht an den inneren Wänden des Glases festgesetzt, und die zurückgebliebene Flüssigkeit wird zu immer wiederholter Benutzung entfernt. Die uns im schönsten Goldglanze erscheinenden Kugeln und Perlen sind aus gelbem Glase gefertigt, und haben ebenfalls nur jene Silberfolie. Viele unserer Leser aber kennen diese strahlenden Kugeln gewiß als Schmuck ihrer Weihnachtsbäume, zu deren Glanze sie nicht wenig beitragen.

Glänzender jedoch als diese Kugeln und Perlen sind die imitirten Edelsteine, welche hier geschliffen und zu allerhand Schmucksachen verarbeitet werden. Es giebt überhaupt keine Art der Ganz- oder Halbedelsteine, die hier nicht jede beliebige Nachahmung erfahren könnten, sei dies nun Diamant, Opal, Rubin, Türkis, Malachit oder was irgend verlangt wird. Auch Korallen, Marmor und Lava werdet täuschend nachgeahmt und später im Handel mit hohem Nutzen als echte Producte verkauft. Die hier gefertigten Schmuckgegenstände sind zum Theil so fabelhaft billig, daß man nicht begreift, wie dieselben herzustellen sind. Fingerringe findet man schon zum Preise von dreißig Kreuzer für das Gros (144 Stück), Ohrringe für achtzig Kreuzer. Dabei ist aber wohl zu bedenken, daß jeder dieser Ringe mindestens mit einem, oft auch mit mehreren geschliffenen Glassteinen versehen ist und daß auch das flüchtig vergoldete Messing, wenigstens so lange es noch neu ist, dem edlen Metalle an Glanz nicht nachsteht.

Einen großen Aufschwung hat seit einigen Jahren die Glasspinnerei genommen, und wenn uns schon die Anfertigung der [375] Schmucksachen in Erstaunen setzte, so müssen die Erzeugnisse der Glasspinnerei fürwahr unsere größte Bewunderung erregen. Man denke sich das Glas, dieses spröde, zerbrechliche, keines irgend kräftigen Widerstandes fähige Product, hier ausgesponnen zu Fäden von einer Feinheit, gegen welche selbst das Spinnengewebe noch grob genannt werden dürfte, und dann diese Fäden in jeder beliebigen Farbe zu den künstlichsten Arbeiten verwendet. Wir sahen prachtvolle Schmuckfedern, täuschende Nachahmungen der Straußenfedern und sogar falsche Locken aus Glasfäden, blonde und braune, schwarze und röthliche so überaus natürlich, daß man sie nur bei eingehender Prüfung von Haararbeiten unterscheiden konnte. Auch zu den feinsten Spitzengeweben lassen sich diese Glasfäden leicht verarbeiten, und von prachtvollem Farbenglanze bei vollkommener Biegsamkeit sind die damastartigen Gewebe aus Glasgespinnst und Seide.

Das Spinnen des Glases geschieht vermittelst eines großen Schwungrades, über welches der Faden des an der Stichflamme schmelzenden Glasstäbchens gelegt wird. Während ein Arbeiter das Rad in fortwährender Bewegung erhält, bringt der andere das Stäbchen feinsten Glases in der Flamme zum andauernden, gleichmäßigen Schmelzen. Reißt der über das Rad gelegte, kaum sichtbare Faden, was oft genug geschieht, so ist im Augenblick mit einem feinen Metallstab wieder ein Faden von dem schmelzenden Glase aufgenommen und auf’s Neue über das Rad gelegt. Ein Loth Glas ist hinreichend, um eine Faden von etwa hunderttausend Ellen Länge zu spinnen.

(Schluß folgt.)




Marbach und die Enthüllung des Schiller-Denkmals.
II.


Keine Frühlingslüfte, sondern kalte, schneidende Winde wehten über Feld und Wiesen, schüttelten die Blüthen von den Bäumen und jagten graue Staubwolken auf den Wegen hin, als am Morgen des Enthüllungstages die Festtheilnehmer sich auf der Reise nach Marbach befanden. Extrazüge waren aus allen Richtungen in Ludwigsburg, der nächsten Eisenbahnstation, eingetroffen, und von dort aus rollten alle möglichen Gefährte, elegante und primitive, auf der Landstraße dem Festorte zu und pilgerten endlose Züge von Fußgängern dahin.

Echte, rechte Festlaune war trotz des kalten Wetters wohl bei jedem Einzelnen da, angefacht durch den Gedanken an – Schiller. Und wie freundlich Marbach seine Gäste empfing, welch hübsches Kleid es angelegt hatte und welch sinniger Glanz von den Gesichtern seiner Bewohner leuchtete! Endlich, endlich hatte Schiller’s Heimathsort erreicht, was redlichstem Wünschen, Streben und Mühen viele Jahre hindurch nicht hatte gelingen sollen. Das kleinste Haus war mit Kränzen und Flaggen verziert; man schritt durch Triumphbogen und grüne Alleen von Fichtenbäumen – die Werktagsarbeit ruhte gänzlich.

Hornsignale riefen die Sänger schon um acht Uhr zur Musikprobe; eine von J. G. Fischer, dem beliebten schwäbischen Poeten, für das Fest gedichtete Cantate, componirt von Professor Faißt aus Stuttgart, sollte den Act der Enthüllung einleiten. Noch zwei Stunden, die den anderen Gästen unter Wanderungen nach dem Schiller-Hause und der Alexander-Kirche, Begrüßen und Plaudern schnell dahingingen, und dann hieß es, dem Rufe der Trommel folgen und sich zum Festzuge versammeln. Die Marbacher Schuljugend schritt dem Zuge voran; es folgten vierundzwanzig Festjungfrauen, weiß gekleidet und mit den deutschen Farben geschmückt. Umgeben von den Künstlern und anderen Ehrengästen, schloß sich als Vertreter von Schiller’s Familie der Enkel, Herr von Gleichen-Rußwurm aus Weimar, der Sohn von des Dichters jüngster Tochter Emilie, an. Den letzten Träger von Schiller’s Namen, Major Friedrich von Schiller hielt leider Krankheit in Stuttgart zurück. Den Ehrengästen folgte das hochverdiente Schiller-Comité, dem sich die Beamten und bürgerlichen Collegien Marbachs und endlich sämmtliche Gesangvereine anschlossen.

Der Zug bewegte sich langsam durch die Straßen und machte dann vor dem Schiller-Hause Halt. Man hatte dem Hause mit richtigem Tacte außer einer Flagge keinen Schmuck verliehen; so stand es klein und bescheiden da – und doch eine Weihestatt, wie wenige auf Erden. „Stumm schläft der Sänger“ ertönte es durch die tiefe Stille hinüber zu dem niedrigen Fenster zu ebener Erde, durch welches einst der erste Lichtstrahl das Kind gegrüßt, das Kind, aus welchem ein Riese erwuchs, dessen schallender Schritt über die Erde klang, der, obwohl man ihn seit einundsiebenzig Jahren zur Ruhe gebettet, in unwandelbarer Frische durch die Mitwelt geht.

Eine kurze Rede folgte dem Liede – und dann ging’s hinüber von der Stätte, wo Schiller’s Wiege gestanden, zu dem Bilde, das seine Unsterblichkeit auf’s Neue documentirt.

Ohne jede Störung gruppirten sich die Festtheilnehmer um das verhüllte Denkmal; ebenso füllten sich die Tribünen, und hierauf begann das Vorspiel der wirkungsvollen Festcantate. Von der luftigen Höhe wurden die vollen Klänge der Männerchöre hinabgetragen zu Thale, wo der silberne Neckar fließt, über die Rebenhügel, über Wege und Stege, die der Knabe Schiller an Mutterhand gewandelt.

„Aber heut’ an Deiner Wiege
Schreite selbst durch uns’re Zeit!
Komm’, Du Meister hoher Siege,
Ganz in Deiner Herrlichkeit!“ –

hieß die letzte bittende Strophe der Cantate, und es ließ sich nicht vergebens rufen, das große Marbacher Kind – ein Ruck! und von Meister Pelargus Hand gezogen, fiel die graue Hülle: da stand er, der Unsterbliche. Böllerschüsse und das Läuten der Schiller-Glocke auf dem Alexander-Thurme begleiteten den Moment, in welchem tiefes, ehrfurchtsvolles Schweigen über der Menge ruhte.

Professor J. G. Fischer, der um alles Schiller-Bestreben in Stuttgart wie in Marbach hochverdiente Mann, bestieg die Rednertribüne, um – seine vierundzwanzigste Schiller-Rede zu halten. Die vierundzwanzigste! gewiß keine leichte Aufgabe – und doch, mit welcher Begeisterung das hier zu den Füßen des Dichters geschah!

Freilich, die Einleitung war eine tief-wehmüthige – sie galt dem Andenken desjenigen, welcher nicht mit Augen vollendet sah, was sein Geist und seine Hand geschaffen, des so früh verstorbenen talentvollen Bildhauers Ernst Rau.

„In das erhebende Gefühl, das uns beim Anblicke des Dichterbildes erfüllt, von welchem soeben die Hülle gefallen, mischt sich ein Schatten tiefer Wehmuth, denn der Mann, der zu dem Rufe: ‚Freude hat mir Gott gegeben‘, heute das erste Recht hätte, weil seiner kunstreichen Hand diese kraftvolle jüngste Schiller-Statue entsprang, hat sich niedergelegt, um nie mehr zu schauen, was er ersann und bildete. Wir können ihm nur eine Thräne des Dankes nachweinen, aber beglänzt von dem Ruhme, den er sich selbst geschaffen hat.“

Schön und würdig legte der Redner dann in herzbewegenden Worten Schiller’s Bedeutung auf’s Neue dar, dankte den drei gekrönten Häuptern, dem deutschen Kaiser, dem Könige von Württemberg und dem Könige von Baiern, und all’ den vielen Spendern aus Nähe und Weite, welche zum Gelingen des Werkes beigetragen, und endlich der Stadt Marbach.

Rauschender Beifall folgte den warmen Worten; dann wurde, nach Absingung eines Schillerliedes, das Denkmal der Obhut der Stadt übergeben, und nachdem Mendelssohn’s „Festgesang an die Künstler“ verklungen war, traten die Festjungfrauen an das Denkmal, um ihre Kränze niederzulegen, wobei eine von ihnen ein kurzes Gedicht sprach.

Einer sinnigen, stillen That darf nicht vergessen werden. Oberamtsrichter Ganzhorn aus Neckarsulm hatte einen Strauß Blumen vom Grabe von Schiller’s Mutter an den Stufen des Standbildes niedergelegt. Erst bei dem Festessen wurde diese „That“ durch die hübschen Verse des „Dichterfreundes“ bekannt:

„Was da von des Frühlings Zier
Grabentsprossen ward gefunden,
Strauch und Blumen – sei gewunden,
Und gelegt zu Füßen Dir!

An der Wiege Stätte heut,
Da des Volkes Dank Dich ehret,
Sei auch ihr, die Dich genähret,
Ein Gedächtniß still geweiht!

An dem Mal im Frühlingsglanz
Strahlend, zum Gedenken Deiner,
Herrlicher, Erhabner, Reiner,
Sieh’ der Mutter Blumenkranz!“

Die Schillerstatue zu Marbach, deren Abbildung die „Gartenlaube“ bereits in Nr. 19 gebracht, ist eine in jeder Beziehung gelungene, was Entwurf wie Ausführung anbelangt. Berichtigend muß hier noch hinzugefügt werden, daß nicht Professor Dollinger, wie dieses Blatt fälschlich in der Unterschrift zum Denkmal angegeben, sondern Pelargus die Statue nach Rau’s Entwurf ausgeführt hat. Der Bildhauer hat Dannecker’s Kolossalbüste seinem Schillerkopf zu Grund gelegt. Die Auffassung ist eine schlichte, aber würdige; hier ist der Mensch Schiller mit dem Dichter auf’s Wohlthuendste vereint.

Der „erzene“ Schiller dankt seine Entstehung dem eben erwähnten kunstreichen Meister Pelargus zu Stuttgart. Als der jetzt im besten Mannesalter stehende Meister kaum dem Knabenalter entwachsen war, wohnte er der Enthüllung des Stuttgarter Schiller-Denkmals bei, und als die Hülle desselben fiel und die Glockenklänge über die Stadt hinbrausten, da fiel auch ein zündender Gedanke in den jungen Kopf. „O, daß Du auch einmal so etwas schaffen dürftest – einen Schiller!“ Sprach’s und ging, um Kunstgießerlehrling zu werden, und ward ein Meister. Welch einer, sagt sein Werk zu Marbach, die Erfüllung seines glühendsten Wunsches.

Die Statue erhebt sich auf einem Piedestal, dem Werk des Professors Dollinger. Zum Steinsockel, der äußerst styl- und geschmackvoll ist, führen mehrere Stufen, welche unten von einem eisernen Gitter, dessen vier Ecken Steinvasen schmücken, abgeschlossen werden.

Die scharfen Kanten des Postaments tragen vier tragische Masken; die flachen Seiten zeigen vier Felder mit Städtenamen, die für Schiller bedeutungsvoll waren, und entsprechende Inschriften von denen zwei des Dichters eigenen Werken, eine denjenigen Goethe’s entnommen.

[376] Auf der Vorderseite:       „Marbach – Stuttgart“.

 Friedrich Schiller.
     geb. 11. Nov. 1759. gest. 9. Mai 1805.

Auf der Rückseite:   „Mannheim“.

„Wie mit dem Stab des Götterboten
Beherrscht er das bewegte Herz;
Er taucht es in das Reich der Todten.
Und hebt es staunend himmelwärts.“

Auf der einen Seite:   „Weimar“.

„Er glänzt uns vor, wie ein Komet entschwindend,
Unendlich Licht mit seinem Licht verbindend.“

Auf der entgegengesetzten Wand: „Jena“.

„Hier ist ewige Jugend bei nimmer versiechender Fülle,
0 Und mit der Blume zugleich brichst Du die goldene Frucht.“


Bei dem Festessen, an welchem nebst einer großen Anzahl von Ehrengästen Herr von Gleichen, der Onkel des Verherrlichten, wie die Schwiegertochter Schiller’s, die Frau des Oberförsters Karl Schiller und deren Schwiegertochter, die Gattin des Majors von Schiller, Theil nahmen, fehlte es nicht an schwungvollen Trinksprüchen, Telegrammen aus Nah und Ferne und fröhlicher Laune. Am Nachmittage hatte sich auf der Schillerhöhe ein buntes Volkstreiben entwickelt; die Sonne kam sogar für kurze Zeit hinter der grauen Wolkenschicht hervor, und als der Tag sank, übergoß das Abendroth den Himmel, die Flur und das Bild auf der Höhe mit Purpurlicht.

E. Vely. 


Blätter und Blüthen.


Mutter und KindFrau von Estorff und ihre Tochter Agnes (vergl. Gartenl. 1875. S 472.) haben sich endlich, nach vierzehn Jahren, wiedergesehen. An dem Tage, an welchem die junge Mutter die Feier des ersten Geburtsfestes ihres Kindes stillselig vorbereitete, wurde es ihr und sie ihm entrissen, und als der Reife entgegenblühende Jungfrau lag dieses Kind beim Wiedersehen in ihren Armen. Der Aufenthalt des Herrn von Estorff mit seiner Tochter war längst durch die „Gartenlaube“ erforscht, dem edlen Eifer unseres kaiserlich deutschen Gesandten in der Schweiz, des Herrn Generallieutenants von Roeder, gelang es aber erst mit Anwendung der ihn auszeichnenden Energie, der Mutter den Weg zur Tochter zu öffnen. Es läßt sich denken von welcher Sehnsucht vor dieser Aussicht die so lange unglückliche und noch immer nicht glückliche Mutter von Mergentheim nach Basel und von Basel nach Vevey am Genfer See getrieben wurde, wo Herr von Estorff krank darnieder liegt.

„Das Wiedersehen selbst,“ so schreibt uns Frau von Estorff, „dieses Wiedersehen zwischen mir und Agnes war selbstverständlich besonders für mich so erschütternd, wie es sich nur empfinden, nie beschreiben läßt.“ Es war durch die Cantonsbehörde in die Macht des Herrn Gesandten gelegt, der Mutter die Tochter ohne Weiteres zu übergeben, da man aber das Kind, auf dessen Bitte, bei dem kranken Vater vor der Hand noch lassen wollte, um für die Zukunft allen bitteren Gefühlen, die der Zwang verursachen könnte, bei der Tochter vorzubeugen, so wurde durch die deutsche Gesandtschaft ein Vertrag zwischen den geschiedenen Eltern des Kindes festgesetzt, kraft dessen der Vater sich verpflichtete, der Tochter in keiner Weise hinderlich zu sein, den Verhältnissen nach mit der Mutter in steter Verbindung zu bleiben und ihr allmonatlich von ihrem Aufenthalte und Ergehen Kenntniß zu geben; ebenso verpflichtete Herr von Estorff sich, der Tochter eine standesgemäße Erziehung auf seine Kosten geben zu lassen. Frau von Estorff verpflichtete sich dagegen, dem Vater die Tochter, so lange er ihrer Hülfe bedürfe, zu lassen und sie ihm nicht zu entfremden.

Wir dürfen nicht verschweigen, daß der deutsche Gesandte zu den amtlichen Schritten gegen Herrn von E. mehr durch einen Gefälligkeitsbeweis der Cantons-Regierung von Waadtland, als durch einen Rechtsact autorisirt wurde, weil die deutschen Behörden keine Abschrift von den angeblich in Oesterreich verloren gegangenen Original-Urtheilen der deutschen Gerichte gegen Herrn von E. erlangen konnten; ebendeshalb sah sich die kaiserl. Gesandtschaft auf Das beschränkt, was sie diplomatisch zu erreichen vermochte. Am schwersten empfindet Frau von E. den Verlust der Originale der entscheidenden richterlichen Urtheile gegen Herrn von E. in Bezug auf ihr von Herrn von E. ihr vorenthaltenes Vermögen; gerichtlicher Zwang ist aber unter solchen Umständen gegen ihn ausgeschlossen. Der Verlauf dieses Processes vor den österreichischen Gerichten verdient eine strenge Prüfung, welcher wohl ein deutscher Jurist ihn unterzieht; hier haben wir nur bekannt zu machen, daß die österreichischen Gerichte die ihnen von 1862 bis 1869 eingesandten Original-Urtheile, Dokumente, Briefe, Photographien u. dgl. an die deutschen Behörden bis jetzt noch nicht wieder haben zurückgehen lassen.

Der dadurch unwiederbringlich gewordene Vermögensverlust zwingt Frau von Estorff, noch immer die Hoffnung auf eine ihrem sprachlichen und gesellschaftlichen Wissen und Können entsprechende Stellung zu hegen; als Gesellschaftsdame würde sie ihre feine Bildung in höheren Kreisen am besten verwerthen können.



Eine Weckuhr gegen Kohlengasvergiftung im Schlafe. In der guten, alten Zeit, als die Gifte noch in der Politik eine große Rolle spielten, führten die Fürsten auf ihren Reisen und Feldzügen Trinkbecher aus Rhinoceroshorn mit sich, die in dem Rufe standen, sogleich in Stücke zu zerspringen, wenn Jemand Gift hineinthue. Im Dresdener historischen Museum befinden sich ein Paar solcher „Giftpokale“, von denen der eine ein Geschenk der Kurfürstin Magdalena Sibylla an Johann Georg den Zweiten und der andere ein solches des Leibarztes Dr. Gangland sein soll. Es war in alten Zeiten doppelt gefährlich, vergiftet zu werden, denn starb man nicht am Gifte, so konnte man leicht durch die ärztliche Behandlung um’s Leben kommen; denn diese bestand darin, daß man den Vergifteten mit den Beinen an die Zimmerdecke hing, damit das Gift aus Augen, Nase und Mund herauslaufen könnte, wenn man nicht vorzog, zur Erleichterung dieses Auslaufens dem Kranken auch noch ein Auge auszustechen, wie es dem nachmaligen deutschen Kaiser Albrecht dem Ersten geschehen war, als er sich auf dem Reichstage von Nürnberg (11. November 1295) vergiftet glaubte.

An jene giftwarnenden Becher, die natürlich ebenso wie die erwähnte barbarische Cur dem Gebiete des Aberglaubens angehören, erinnert mich eine elektrische Klingel gegen Kohlengasvergiftung, welche ein englischer Physiker, Ansel, neuerdings empfohlen hat, deren Idee aber, wenn ich mich recht erinnere, von einem deutschen Chemiker herrührt. Dieser getreue Eckhard und automatische Schutzengel der Schlafenden beruht darauf, daß das giftige Kohlengas in ein ringsgeschlossenes Gefäß mit poröser Thonwandung schneller eindringt, als die in demselben befindliche atmosphärische Luft austreten kann. Es entsteht daher in einem solchen Gefäße vorübergehend ein Ueberdruck, der das Quecksilber eines U-förmigen Glasröhrchens aus dem Gleichgewichte bringt und aus dem mit obigem Gefäße in Verbindung stehenden Schenkel in den anderen, freien treibt. Dort steigend schließt es durch Berührung eines über dem Gleichgewichtsniveau befindlichen Platindrahts einen galvanischen Strom, der sofort ein Läutewerk in Thätigkeit setzt, ganz wie bei dem im Jahrgang 1874 dieses Blattes, Seite 813. beschriebenen Alarmthermometer. Wir thun des Apparates als eines Exempels menschlicher Erfindungsgabe Erwähnung, nicht aber weil wir von seiner allgemeinen Einführung die Verminderung der Kohlengasvergiftungen erwarten. Denn hiergegen halten wir ein polizeiliches Verbot aller Ofenklappen für das einfachste und beste Mittel.

C. St.     


Eine deutsche Humanitätsbestrebung im Auslande. Wir sind immer erfreut. wenn wir über eine frische Bethätigung deutschen Lebens und Strebens im Auslande berichten können. Hierzu giebt uns diesmal das an deutschen Elementen nicht arme Antwerpen eine willkommene Veranlassung. Unsere dortigen Landsleute haben in zugleich nationaler und kosmopolitischer Humanität zum Besten der Ueberschwemmten in Deutschland und Belgien am 20. und 22. April im vlämischen Stadttheater von Antwerpen zwei echt deutsche Stücke. „Hans Lange“ von Paul Heyse und „Doktor Wespe“ von Roderich Benedix, unter der Mitwirkung von Frau Polyxena Rocke. Fräulein Toni Jenke und Fräulein Louise Hagen. Alle von der Mannheimer Hofbühne, zur Aufführung gebracht.

Es ist ein gewagtes Unternehmen für Theaterliebhaber, auf öffentlicher Bühne neben erprobten und berühmten Künstlern aufzutreten, aber die Antwerpener Dilettanten haben sich, wie uns von kompetenter Seite geschrieben wird, mit seltenem Geschicke, ja mit unbestrittenem Erfolge dieser schwierigen Aufgabe entledigt. Fast die ganze deutsche Colonie Antwerpens wohnte den Vorstellungen bei. Auch mancher Flamländer hatte sich eingefunden. Der Stadtrath sandte einen besondern Deputirten mit dem Auftrage, den Deutschen seine Sympathien für das von ihnen unternommene Werk auszusprechen.

Der Reinertrag der Vorstellungen, zusammen mit den eingesammelten Beträgen, beläuft sich auf ungefähr 2700 Franken, von denen die Hälfte nach Deutschland an die Nothleidenden in Ingelheim und die andere Hälfte für Belgien nach Lüttich an die in dortiger Umgegend durch Ueberschwemmung Heimgesuchten gesandt worden ist.


Zur Beachtung. Der Schluß des Artikels „Die Corruption des amerikanischen Beamtenthums“ erfolgt in der nächsten Nummer.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. „Hessische Zustände und Persönlichkeiten aus den Jahren 1751–1830, aus den nachgelassenen Aufzeichnungen hessischer Beamten herausgegeben von Karl Fulda und Jakob Hoffmeister.“
  2. Tag des Zornes, Tag der Rache,
    Wirfst die Stadt in Schutt und Asche.

Anmerkungen (Wikisource)