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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[245]

No. 15.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Ein kleines Bild.
Von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)


„Ihr seid verdächtig!“ fuhr der Blousenmann fort, „da Ihr in solcher Gesellschaft reist. Ihr werdet mir bis zum Hause folgen und Euch dort bei unserm Hauptmanne legitimiren, wenn Ihr könnt. Diesem da hätte ich Lust, gleich hier eine Kugel vor den Kopf zu schießen – es sind wieder zwei von den Unseren eine Stunde von hier aufgeknüpft gefunden.“

„Ihr werdet nicht so ungalant gegen eine Dame sein, lieber Freund,“ wehrte Juliette ab. „Und übrigens – die Exceution kann Euch ja nicht entgehen, wenn Ihr sie verschiebt,“ setzte sie so kühl und gleichgültig hinzu, daß es Arnold durchfröstelte.

„Erschießt Ihr mich,“ rief er, die Achseln zuckend, „so könnten leicht vier von den Euren baumeln, und wer steht Euch gut dafür, daß Ihr nicht darunter seid?“

Der Blousenmann nahm heftig das Gewehr auf und schlug mit der Hand an den Kolben. „Ihr wollt’s nicht anders –!“

Blanchard faßte ihn beim Arm. „Vorsichtig, Freund!“ flüsterte er ihm zu. „Er ist kein Spion – ich stehe für ihn. Und das rothe Kreuz muß geschont werden, wenn man uns nicht als Barbaren verschreien soll – uns, die civilisirteste Nation.

Das leuchtete dem Blousenmanne ein. Er ließ das Gewehr sinken, und rief barsch: „Folgt mir! Der Hauptmann mag entscheiden. Oder vielmehr: geht voran! Ich will den Burschen vor meinem Gewehre haben.“

Herr Blanchard ergriff wieder die Zügel und setzte die müden Thiere in Bewegung. In der Nähe des Hauses brannte ein Feuer; darüber war ein großer Kessel aufgehängt. Im engen Kreise standen und lagerten bewaffnete Männer. Ein Posten schritt vor der Thür auf und ab. Arnold wußte nun, daß die Truppenkörper, die vor zwei Tagen noch die Straße besetzt hatten, zurückgezogen waren, und daß eine Bande Freischärler den Weg verlegt hatte, um Streifpatrouillen und Boten abzufangen. Weit entfernt, Blanchard und seine Tochter schützen zu können, war er nun selbst in nicht geringer Gefahr, die Freiheit, wenn nicht das Leben einzubüßen.

Sie wurden in die Wirthsstube geführt, wo am Tisch bei der Flasche einige Männer saßen, die von dem in der Blouse respectvoll angeredet wurden. Es begann ein Verhör, das bald eine freundlichere Wendung nahm, als einer der Officiere sich erinnerte, kurz vor dem Kriege mit Blanchard ein Geschäft gemacht zu haben. Juliette hatte sich’s bereits am Kamin bequem gemacht und ein Gespräch mit der Wirthin angeknüpft.

„Ich höre,“ sagte sie, „daß die Zimmer sämmtlich besetzt sind. Wer von den Herren ist so rücksichtsvoll, mir das seinige abzutreten? Ich bin sehr ermüdet von der Reise und kann unmöglich die Nacht hier am Kamine zubringen.“

Man verständigte sich untereinander und gab ihr die Versicherung, daß nach Kräften für ihre Bequemlichkeit gesorgt werden sollte. Arnold bemühte sich vergebens, einen Blick von ihr zu erhaschen; er schien für sie nicht weiter auf der Welt zu sein.

Er hatte ein sehr scharfes Verhör über allerhand militärische Verhältnisse zu bestehen, in die man ihn eingeweiht glaubte. Er gab närrische und knappe Antworten, ließ sich auch durch martialische Drohungen und gelegentliche Püffe nicht einschüchtern. Er wisse nichts, wiederholte er immer; wenn er aber etwas wüßte, so würde er gewiß auch guten Grund haben, es nicht zu verrathen, und so solle man ihn in Ruhe lassen.

Morgen werde er vielleicht willfähriger sein, hieß es nun; man mache mit so schweigsamen Prussiens kurzen Proceß. Er wurde einem Blousenmann übergeben und von diesem nach dem Stallgebäude hinter dem Hause geführt. Dort schloß man ihn in einen finsteren Raum ein, in dessen einer Ecke etwas Stroh lag. Er warf sich darauf und stützte den Kopf auf den Ellenbogen, über das Schicksal, das ihn morgen erwartete, nachdenkend.

Wenn man ihm durch eine Kugel den Garaus machen wollte – es wäre nicht der erste Fall gewesen, in dem man das rothe Kreuz nicht als Schutz gelten ließ. Die Franctireurs waren erbittert, weil sie von den Occupationstruppen als Räuber behandelt wurden, und übten Wiedervergeltung, wo sie die Macht hatten. Auf ein ordnungsmäßiges Verfahren war nicht zu rechnen; er wußte, daß er der Willkür fanatisirter Menschen preisgegeben war. Und in so schweres Ungemach hatte ihn nun doch nichts anderes, als das kleine Bild gebracht. Nicht einmal Dank erntete er für seine Großherzigkeit: Juliette behandelte ihn wie einen Lästigen, dem man sich hüten müsse Verbindlichkeiten zu schulden; sie haßte ihn in allen seinen Landsleuten. Oder hatte sich ihre Stimmung ein wenig zu seinen Gunsten geändert? Vermied sie nicht mehr so absichtlich, mit ihm zu sprechen? War der Ton ihrer Stimme milder und freundlicher, wenn sie ihm eine Antwort gab? Und daß sie ihm ihre Hand überließ – freilich, die Noth zwang sie dazu. Aber warum gab sie ihm zweimal ein Zeichen zu schweigen, wenn sie nicht einen gewissen Antheil an seinem Geschick nahm? Wenn sie ihn nur als Feind betrachtete, warum [246] suchte sie ihn zu hindern sich einer Gefahr auszusetzen? Diese Thatsachen erschienen ihm immer wichtiger, je öfter er sie sich wiederholte, und die Auslegung, die er ihnen gab, schmeichelte doch ein wenig seiner Eitelkeit.

Erst nach Stunden schlief er ein, aber beunruhigende Träume verfolgten ihn. Er träumte, daß er erschossen werden solle, und bereitete sich zum Tode vor. Wie seine Mutter sich über den Verlust ihres einzigen Sohnes grämen würde, trat ihm recht nahe vor die Seele, und er meinte, ihr gar nichts von dem kleinen Bilde schreiben zu dürfen, da sie’s ihm nimmer werde verzeihen können, einem solchen Phantom nachgegangen zu sein, Onkel Helmbach entlud eine Zahl Papierhüllen, die voll Cigarren steckten, in eine große Kiste und nickte jeder traurig nach. Dann war’s ihm, als ob er die Kugel an sein Herz schlagen fühlte – sie war mitten durch das kleine Bild in seiner Brusttasche gegangen. Er lag auf der Erde. Man öffnete seinen Rock über der Brust und fand das Bild. Juliette stand neben ihm und nahm es überrascht dem Manne in der blauen Blouse aus der Hand, dessen Gewehr noch rauchte. Ihre Augen standen plötzlich in Wasser, und sie bückte sich zu ihm herab und küßte ihn auf die Stirn. Er war aber gar nicht todt, wie er geglaubt hatte, sondern hob die Arme auf und umfaßte die holde Gestalt und …

Und da rasselte der Schlüssel im Schloß, und er erwachte. Die Wirthin stand vor ihm und sagte:

„Kommen Sie nur in die Wirthsstube! Die Herrschaften warten schon auf Sie beim Kaffee. Unsere braven Jungen sind vor einer Stunde abgezogen und haben Sie zurückgelassen. Ich durfte aber nicht sogleich öffnen, damit Sie nicht merkten, wohin sie sich gewendet hätten.“

„Und ich bin also frei?“ rief Rose überrascht, indem er sich die Augen rieb.

„Frei!“ bestätigte die Frau. „Danken Sie’s dem jungen Fräulein, das sehr eifrig für Sie gesprochen hat.“

„Juliette – ?“

„Ich weiß nicht, wie die junge Dame heißt, aber der Hauptmann hatte ordentlich Respect vor ihr, als sie ihm so dreist die Wahrheit sagte, daß es eine Schande sei, sich an einem Unschuldigen zu rächen und einen Wehrlosen wie einen Feind in Waffen zu behandeln. Ja, das sagte sie ihm.“

Ein ganz eigenes Gefühl von Wohlsein kam über sein junges Herz, das noch vor Kurzem so ängstlich bedrückt geschlagen hatte. Er war frei, und ihr dankte er seine Freiheit – ihr, das war die Hauptsache. Konnte er ihr gleichgültig sein, wenn sie so lebhaft für ihn Partei nahm? Unmöglich – sein frohgemuthes Herz antwortete: unmöglich! Er eilte an den Brunnen, wusch Gesicht und Hände mit dem kühlen Wasser und säuberte seine Kleidung von Stroh und Staub, wobei ihm die Wirthin behülflich war.

„Ich habe übrigens auch ein Wörtlein mitgeredet,“ sagte sie dabei. „Es sind schlimme Zeiten, und unser Haus ist ein Wirthshaus. Vorgestern hatten preußische Ulanen bei uns Quartier genommen, gestern unsere braven Freischärler; morgen – wer weiß? – überzieht uns wieder der Feind. Da gäb’s für uns einen hübschen Tanz, wenn es hieße, ein Preuße mit dem rothen Kreuz sei auf unserm Hof oder zehn Schritte davon erschossen. Kein Ziegel bliebe bei uns auf dem andern. Das hat der Hauptmann wohl einsehen müssen, und da er überdies dem jungen Fräulein einen Gefallen thun konnte … Sie verstehen wohl.“

Arnold, durch diese praktische Erörterung ein wenig herabgestimmt, drückte ihr ein Geldstück in die Hand und ging nach der Wirthsstube, wo seine Reisegenossen bereits gefrühstückt hatten. Es konnte also um den dritten Platz am Tisch diesmal keinen Kampf geben. Juliette stand am Fenster und schaute auf die Landstraße hinaus. Blanchard hatte eine Zeitung in der Hand, die wahrscheinlich von den Franctireurs zurückgelassen war, blickte oben über den Rand und grüßte ihn mit leichtem Kopfnicken. Er eilte auf das Mädchen zu, um seinem Dankgefühl Ausdruck zu geben, und bot ihm einen guten Morgen. Juliette wendete sich halb zurück, maß ihn mit einem kalten und stolzen Blick, verneigte sich sehr förmlich und inspicirte weiter die Landstraße, die ganz leer war. Arnold stand einen Moment ganz verblüfft; dann zog er sich langsam zurück. „So, so!“ sprach er halblaut vor sich hin, „ich soll nichts wissen; ich soll nichts merken, und vor Allem: ich soll mir nichts einbilden. Gut! wir sind also Feinde nach wie vor – ich will’s nicht vergessen.“

Er frühstückte ohne Appetit, so hungrig er auch war. Wenn sie dich erschossen hätten, dachte er, so wär’s aus gewesen mit allen diesen Faseleien des Herzens. Gleich darauf lachte er über sich selbst ganz laut und vernehmlich, so daß Blanchard von seiner Zeitung aufsah und selbst Juliette zu erschrecken schien – : so weit ist’s noch nicht mit uns und soweit kommt’s auch nicht.

Die Pferde wurden vorgeführt. Für die junge Dame war ein Sattel aufgetrieben, den ein Soldat zurückgelassen hatte. Er bot zwar einen ziemlich unsicheren Quersitz, war aber doch jedenfalls bequemer, als der knochige Rücken des Gauls, und hatte einen Steigbügel. Bis zur Eisenbahnstation hatte man nur noch einige Stunden.

Rose ging wieder vor den Pferden her; er vermied es, sich umzusehen, und sprach kein Wort, pfiff aber von Zeit zu Zeit ein lustiges Stückchen vor sich hin oder paffte eine Cigarre. Auch Juliette war schweigsam. Nach einer Weile äußerte sie den Wunsch, abzusteigen und der Abwechselung wegen eine Strecke zu Fuß zu gehen.

Du solltest einmal reiten, Papa,“ schlug sie vor, „Du siehst so ermüdet aus.“

Blanchard ließ sich nicht lange bitten.

„Gut, des Spaßes wegen,“ sagte er und stieg auf.

Juliette ging neben dem Pferde her, indem sie den Steigbügelriemen faßte und sich daran stützte. Arnold hatte den Zügel an den Reiter abgegeben und blieb mit dem anderen Pferde zurück. Er brauchte nun seinen Augen, die so gern auf der hübschen Gestalt ruhten, keinen Zwang anzuthun. Unter der Capote kräuselten sich so zierlich die Locken hervor – und die kleine Hand am Bügel – eine sehr kleine Hand!

Plötzlich wandte sie sich halb um und überraschte ihn in seinen zärtlichen Betrachtungen. „Sie sind ja heute ganz stumm,“ sagte sie mit spöttischem Tone. „Sie haben wohl die Nacht recht schlecht geschlafen?“

„Es ist nicht das,“ antwortete er so leichthin, als er’s über die Lippen bringen konnte. Das Herz schlug ihm heftig. Sie hatte sich also doch mit ihm beschäftigt, wie er mit ihr, und es schien ihr darum zu thun, ihn wieder freundlicher zu stimmen, nachdem sie ihn in der Wirthsstube so schnöde abgewiesen hatte.

Nach einigen weiteren Schritten ließ sie den Riemen los und blieb stehen, bis er vorüberkam. Dann ging sie neben ihm her, ein wenig hinkend, wie er erst jetzt bemerkte. „Wissen Sie,“ nahm sie das Gespräch wieder auf, „daß es Ihnen leicht hätte übel ergehen können?“

„So?“ fragte er. Es reizte ihn, sich von ihr selbst mittheilen zu lassen, was geschehen war. Kam es ihr darauf an, ihn zum Mitwisser zu machen? Und weshalb?

„Man hatte gute Lust, Sie zu erschießen,“ fuhr sie fort, „und Sie dürfen mir’s glauben, Ihr Leben hing an einem seidenen Faden. Sie lächeln. Es war aber eine sehr ernste Sache.“

„Und welchem glücklichen Zufall danke ich denn meine Rettung?“ fragte er weiter. Sein ganzes Gesicht lachte wirklich; es war ihm eine rechte Genugthuung, daß Juliette sich nun genöthigt sah, ihren Dank abzuholen, den sie vorhin so billig hätte in Empfang nehmen können.

„Keinem Zufall,“ entgegnete sie, den Blick senkend. „Ich habe Sie losgebeten.“

„Sie, mein Fräulein – ?“

„Ich!“

„Das ist Ihrer Feindschaft gewiß recht schwer geworden.“

„In der That: recht schwer.“

„Aber die Humanität – “

„O, nichts der Art, ich versichere Sie.“

„Eine Grille also – “

„Auch das nicht. Ich hatte meine guten Gründe. Und deshalb eben spreche ich davon. Hätte ich Ihnen etwas Liebes erweisen wollen, so würde mir das Bewußtsein einer guten That genügen, und hätte ich aus Laune gehandelt, so würde ich mich setzt wahrscheinlich meiner Voreiligkeit schämen, aber ich that mit sicherem Bedacht, was ich that, und es ist durchaus nothwendig,

[247] daß Sie’s wissen, wenn ich meinen ganz egoistischen Zweck erreichen soll.“

Arnold sah das Mädchen mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht,“ sagte er und die Betonung der Worte ließ erkennen, daß er zugleich sagen wollte: ich will’s auch nicht verstehen.

Aber sie nahm nicht Rücksicht darauf. „Meine Eltern behaupten,“ fuhr sie fort, „daß sie Ihnen Dank schuldig seien, mein Herr, Ihnen – unserem Feinde, und ich fühle, daß auch ich Ihnen in gewissem Sinne verpflichtet bin, da Sie sich ja, ohne mich zu kennen und nur um meiner Mutter eine Gefälligkeit zu erweisen, zu dieser Reise entschlossen haben, und da ich ohne diesen Ihren Beistand wahrscheinlich von Denen, die ich liebe und die mich lieben, für lange Zeit weit getrennt worden wäre. Eine solche Verpflichtung fühlt sich aber wie eine Last jener anderen patriotischen Verpflichtung gegenüber, den Landesfeind zu hassen, jede Gemeinschaft mit ihm, wenn nicht aufzuheben, so doch zu beschränken und ihm so viel Schaden zuzufügen, wie irgend möglich. Da freute ich mich denn, ganz unerwartet eine Gelegenheit zu finden, unseren schuldigen Dank quitt zu machen, so gründlich quitt zu machen, daß auf unserer Seite vielleicht noch ein kleiner Ueberschuß von Wohlthat blieb, auf den wir uns berufen können, wenn Sie uns nöthigen, auch ferner Ihre mancherlei freundlichen Anerbietungen zu acceptiren. Ich rechne, daß Ihnen das Leben großen Werth hat, das Gegentheil wäre unnatürlich. Nun denn! gewissermaßen habe ich ein Recht zu sagen, daß es Ihnen von mir geschenkt sei. Ich erwarte dafür keinen Dank – nicht den mindesten, mein Herr, aber ich will, daß Sie wissen sollen, auf welche Weise wir Ihnen unseren Dank abtragen. Nochmals: wir sind quitt, und es hindert mich nun Nichts mehr, Sie mit aller Freiheit die Feindschaft empfinden zu lassen, die mir ein Herzensbedürfniß ist.“

Sie warf ihm einen triumphirenden Blick zu und schritt kräftiger aus. Arnold war betroffen von dieser Auslegung ihrer Handlungsweise. Alle seine kühnen und so schmeichelhaften Voraussetzungen brachen zusammen. Ihres Dankes wollte sie gegen ihn ledig sein – nichts weiter. Und das sagte sie ihm mit so raffinirter Aufrichtigkeit in’s Gesicht, so ohne Bewegung, als habe sie ein Exempel ausgerechnet und richtig befunden. Es war darin etwas, was ihn tief empörte; er hätte ihr zurufen mögen: ich will ein Geschenk nicht, das Du mir so verletzend bietest –! wenn es nicht lächerlich gewesen wäre, es jetzt auszuschlagen, wo es gar nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Und gleich darauf mußte er wirklich lachen, über Juliette lachen, die so doctrinär, wie ein kleiner Professor, ihre menschlichen und patriotischen Pflichten abwog, mit Gründen experimentirte, über sein Leben verfügte und an ihren eigenen Heroismus ganz ernsthaft glaubte. Es kam ihm vor, als ob sie auf hohen Stelzen neben ihm herginge und versicherte: so groß bin ich, Du darfst aber nicht daran zweifeln, sonst bin ich sehr böse. Sie hatte sich mit ihren siebenzehn Jahren in der Pension eine Welt zurecht gemacht, so regelrecht französisch, daß sie ihre Position für ganz unangreifbar halten konnte, und nun kam das Leben und stellte eine Figur auf das Schachbrett, die dreist gegen die Königin selbst vorschritt und sich von ihren Trabanten durchaus nicht aus dem Felde schlagen lassen wollte. Es war wirklich spaßhaft, wie sie sich abmühte, den Eindringling zu ignoriren, während sie doch schon mit allen ihren Gedanken an ihm hing. „Mit allen ihren Gedanken,“ versicherte Arnold sich selbst, „wie sie sich auch dagegen wehren mag.“

„Sie antworten mir gar nicht?“ fragte Juliette nach einer Weile, ein wenig gereizt.

„Welche Antwort befehlen Sie, Herrin?“ fragte er zurück, nicht ganz ernst, aber auch nur mit halbem Scherze.

Sie stutzte. „Befehlen?“

„Nun – Sie haben sich ja wohl eine Rolle ausgearbeitet und brauchen doch jedenfalls dazu ein Stichwort.“

„Spiele ich mit Ihnen Komödie, mein Herr?“

„Ich denke, ein wenig – und wenn nicht mit mir, so mit sich selbst.“

„Das ist eine starke Behauptung. Sie glauben nicht, daß ich genau meiner Ueberzeugung gemäß handele?“

„Aber nicht Ihrer Empfindung gemäß. Ihr warmes Herz und Ihr freundlicher Sinn wissen nichts von der Todfeindschaft, die Ihr oppositioneller Kopf sich ausklügelt.“

„Sie irren, mein Herr, Sie irren,“ rief sie eifrig. „Eine gute Patriotin –“

„Ah!“ unterbrach er mit einer abweisenden Handbewegung. „Man muß allemal über dem Patrioten nicht den Menschen vergessen, und eine Frau besonders …“

„Was wollen Sie sagen?“

„Wir werden uns darüber nicht vereinigen können.“

Juliette bedachte sich einen Augenblick. „Aber wir können doch darüber disputiren,“ sagte sie dann schnell. „Oder wollen Sie nicht?“ Ein Blick begleitete diese Frage, der wie ein Zündfunke einschlug. Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern fuhr fort. „Mein Fuß ist noch recht schmerzhaft – sehen Sie nur, wie ich ihn mühsam nachschleppen muß. Wenn Sie ein Franzose wären und ich ein deutsches Mädchen – Sie hätten mir längst artig Ihren Arm angeboten.“

Arnold durchzuckte es freudig. „Auch der Deutsche ist gern so galant,“ erwiderte er, „wenn er nicht fürchten darf, einen Korb zu erhalten.“ Er reichte ihr den Arm.

„Was thut man nicht in der Noth!“ sagte sie lachend, indem sie sich darauf stützte, „und wir sind ja quitt.“

So gingen sie nun wie gute Freunde neben einander her, er mit großen, festen Schritten, sie trotz ihres kranken Fußes leicht tänzelnd, jedem Steine und jeder Wasserfurche auf der Landstraße peinlich ausweichend. Juliette meinte es ganz ernst mit dem Disputiren und hatte es bei seiner Zerstreutheit nicht schwer, immer das letzte Wort, und damit, wie sie behauptete, Recht zu behalten. Es kam ihm auch so wenig darauf an, ihrem Eigensinne irgend ein Geständniß abzustreiten; daß sie nun so freundlich und gesprächig war, und ihre Schulter an die seine lehnte und ihn mit ihren blitzenden Augen ansah und mit dem warmen Hauche ihres Mundes berührte, wenn sie lebhaft sprach – das entzückte ihn, das bedeutete ihm einen Sieg, auf den er nicht mehr gehofft hatte. Sie schien alle ihre Trümpfe gegen ihn ausgespielt zu haben und nun ganz beruhigt zu sein. „Wir sind ja quitt – “ das hatte ihr offenbar den Sinn: ich habe nicht mehr nöthig, meine Feindseligkeit zur Schau zu stellen. Und er verstand sie nun auch so und hütete sich, sie wieder auf andere Gedanken zu bringen: er sagte das Wenigste von Dem, was er hätte sagen können.

Es hatte doch seine Gefahr für eine junge Dame, einem Feinde das Leben zu retten. Dieses Leben, noch kurz vorher so gleichgültig, wird plötzlich interessant; es fordert Theilnahme, behauptet einen Werth, stellt sich unabweislich in die eigene Lebensrechnung als eine Zahl ein, die sich immer vergrößert und ohne Einbuße nicht mehr streichen läßt. Juliette begriff diese Gefahr noch nicht; aber wenn sie sie begreifen wird, ist es vielleicht schon zu spät, sich ihr zu entziehen. –

Die Eisenbahnstation wurde ohne Hinderniß erreicht. Dort gab es freilich langen Aufenthalt; gegen Abend aber gelang es Rose doch, mit Hülfe eines hohen Officiers für seine müden Reisegefährten Plätze zu erlangen, und nach einem kurzen Nachtmarsche konnten sie dann die Glocke an der Thür der Villa ziehen. Madame Blanchard eilte die Treppe hinab ihrer Tochter entgegen und erstickte sie fast mit Küssen. Kruttke, mit einem Lichte in der Hand, stand in einer Ecke der Flur und beobachtete still. Sein ganzes Gesicht lachte, und eine Thräne der Rührung, die ihm über die rothe Backe floß, wischte er mit dem Rockärmel fort. „Ich muß immer an meine alte Mutter denken, wenn ich so was sehe,“ sagte er heimlich zu Rose; „wie die sich aber freuen wird, wenn ich einmal … na! wie Gott will!“ Blanchard stellte allerhand gewagte Vermuthungen über den baldigen Entsatz von Paris auf, worauf seine Frau kaum achtete. Dann zogen sie sich in ihre Gemächer zurück, ohne dem deutschen Freunde auch nur eine gute Nacht zu bieten. Nur Juliette wandte noch einmal auf halber Treppenhöhe das Köpfchen zurück und nickte flüchtig. Das that ihm sehr wohl. – –

Als er sich am anderen Tage zur bestimmten Zeit oben beim Mittagstische einfand, empfing ihn nur Madame Blanchard. Sie dankte ihm nun in überschwenglicher Weise für seine Mühewaltung und bedauerte, daß er einer nicht geringen Gefahr ausgesetzt gewesen; sie bat ihn aber zugleich, etwas verlegen, mit ihrer Gesellschaft vorlieb zu nehmen; ihr Mann fühle sich sehr unwohl und Juliette … sie wollte lange mit der Sprache nicht recht heraus: Juliette könne sich noch nicht so schnell an den Gedanken [248] gewöhnen, mit dem Feinde in ihrem Vaterhause den Tisch zu theilen. Das ferne Dröhnen der Kanonen, an das sie selbst sich längst gewöhnt hätte, habe das arme Mädchen ganz nervös aufgeregt; ein ruhiges Wort lasse sich jetzt gar nicht sprechen.

Arnold war verstimmt: also ein Rückfall, und anscheinend kein leichter. Er überlegte, was weiter zu thun sei, und überließ seiner Wirthin das Wort fast allein. Als er schon aufstehen wollte und eben eine Entschuldigung einleitete, daß er wahrscheinlich morgen verhindert sein werde, mit ihr zu tafeln – er meinte einen Druck üben zu müssen – trat Juliette vom Cabinete her in das Zimmer ihrer Mutter und setzte sich an deren Schreibtisch auf denselben Lehnstuhl, auf dem Arnold gesessen hatte, als er zuerst ihre bildliche Bekanntschaft machte. Es schien ihr ganz entfallen zu sein, daß sich im Salon ein Gast befand, oder es war ihre Absicht, ihn ganz unbeachtet zu lassen, jedenfalls beschäftigte sie sich, als ob sie allein wäre, mit den Nippessächelchen, öffnete die Schreibmappe, tauchte eine Feder ein und legte sie wieder fort. Madame Blanchard hüstelte wiederholt verlegen in ihr Tuch, um ihr ein Zeichen zu geben, aber sie achtete nicht darauf. Endlich nahm sie das Gestell auf, das ihr Bild eingefaßt hatte, hielt den leeren Rahmen vor sich hin und guckte schelmisch hindurch nach dem Salon hin gerade auf den Platz, den Arnold einnahm. Nun mußte er lachen, denn er dachte an das Bild in seiner Tasche. Juliette bemerkte es und rief hinein:

„Sind diese Prussiens nicht ganz abscheuliche Bösewichter? Mich fortzustehlen – mich! Wenn sie uns eine Festung mehr genommen hätten, es wäre mir nicht so ärgerlich gewesen. Und nun bestreiten Sie noch, mein Herr, daß Ihre Landsleute barbarisch Krieg führen – bestreiten Sie es, wenn Sie es angesichts dieses ausgeraubten Rahmens können!“

Arnold war aufgestanden und unter die Portière getreten. „Ich denke, der größte Barbar kann’s gerade nicht gewesen sein,“ sagte er, über und über roth im Gesicht, „der sein Auge auf diesen Schatz geworfen hat. Das kleine Bild muß ihm sehr gefallen haben, und ich kann das jetzt ganz gut begreifen, nachdem ich das Original –“

„O, keine Schmeichelei!“ unterbrach sie. „Man will nicht Jedem gefallen, und es giebt Auszeichnungen, die einer Beleidigung täuschend ähnlich sehen.“

Der junge Mann sah zur Erde. „Wie können Sie die Sache so ernst nehmen?“ fragte er etwas befangen.

„Wie, mein Herr,“ rief sie, „fühlen Sie nicht, daß ich das beste Recht dazu habe? Kann es mir gleichgültig sein, wer mein Bild mit sich herumträgt? Einer unserer Feinde ist’s. Und welche Absicht konnte diesen Langfinger geleitet haben, als er es nahm? Recht empfindlich verletzen wollte er die junge Dame, die es doch einmal vermissen mußte –“

„O, wie können Sie denken, mein Fräulein –“

„Renommiren wollte er mit dem Bilde bei seinen rohen Cameraden und später in der Heimath: das sei ein Geschenk von dem leichtsinnigen Dinge da, das so lustig lache, während ganz Frankreich weine. Welche Lüge darf er sich nicht erlauben? Wer stiehlt eine Photographie, keinen halben Franken werth – die Photographie eines Menschen, der ihm ganz fremd, ganz gleichgültig ist? Nein, nein, er kann mich ungestraft verleumden. Und wer weiß, wie der Zufall spielt, wer das Bild bei ihm sieht? welchen Mißbrauch er mit dem Namen, den er ist unten an der Hausthür lesen konnte –“

Arnold schüttelte sehr energisch und unwillig den Kopf. „Sie kennen uns Deutsche nicht,“ rief er in ihre erregten Fragen hinein. „Ich weiß nicht, ob ein deutsches Mädchen, dem etwas der Art begegnet wäre, von einem Ihrer Landsleute zu befürchten hätte, was Sie befürchten; aber ich glaube mein Wort verpfänden zu können, daß Sie ganz ruhig sein dürfen. Denken Sie sich doch nur in die Situation hinein! Während Ihre Keller ausgeräumt werden und eine lustige Gesellschaft sich den Rothwein Ihres Herrn Papa gutschmecken läßt, durchwandelt ein stiller Mensch diese verlassenen Räume, stellt allerhand philosophische Betrachtungen an über die Wandelbarkeit menschlicher Geschicke und über die Vergänglichkeit irdischen Glanzes, sieht auf dem Schreibtische das Bild eines schönen jungen Mädchens –“

„O, mein Herr –“

„Gut! Das Bild eines jungen Mädchens, das ahnungslos heiter in die Welt hinausgeschaut – Sie sagen selbst, das Bild habe gelacht – der Gegensatz zieht ihn an, bestärkt ihn in seinen melancholischen Betrachtungen; es entsteht in seinem Leben das, was man einen Moment nennt, und – er nimmt ein Andenken an diese Stunde. Erklärt sich’s so nicht ganz ungezwungen?“

Juliette hatte den Kopf gesenkt und die Augenbrauen finster zusammengezogen. „Sie legen’s eben in Ihrer Weise aus,“ sagte sie, „aber nicht viel tröstlicher für mich. Es ist sehr peinlich, sich in solchen mystischen Beziehungen zu einem Unbekannten zu wissen. Wenn er wenigstens noch sein Bild dafür zurückgelassen hätte! Unverschämt wär’s gewesen, aber man könnte seinen Haß doch gegen eine vorstellbare Person richten.“

„Sie hassen ihn?“

„Aus tiefster Seele!“

„Und wenn er nun mit ganz anderen Empfindungen an Sie denken sollte? Wenn dieses kleine Bild in seinem Gemüthe die größte Unruhe und Sehnsucht … Es soll doch schon vorgekommen sein, daß ein Bild so wunderbare Wirkungen äußerte.“

Sie sah überrascht zu ihm auf, und dann leuchteten ihre Augen plötzlich von jenem blitzartigen Feuer, das er auch sonst schon bei leidenschaftlicher Betheiligung daraus hatte sprühen gesehen. „Das wollte ich wünschen,“ sagte sie, nur die Lippen, nicht die weißen Zahnreihen öffnend. „Es wäre eine gerechte Strafe. Ja, wenn ich zaubern könnte – so wollte ich’s ihm anzaubern, daß er sich sehnte, wie nach einer Märchenfee, die er im Traum gesehen, und nicht Ruhe fände, bis er das Bild zu Asche verbrannt und sie in alle vier Winde gestreut hätte. Wie schade, daß ich keine Hexe bin!“

„Wenn Du wüßtest, wie zauberkräftig Du bist!“ dachte Arnold bei sich und ein halb verlegenes, halb wehmüthiges Lächeln spielte um seinen Mund. Hätte er beichten wollen – nun wär’s ihm unmöglich geworden. Noch war er ihr zu wenig, das mußte er fühlen; verrieth er jetzt sein Geheimniß, so wandte sie ihm den Rücken und er sah sie nie wieder. Er mußte schweigen und ihren Zorn verrauchen lassen. Warum hatte er auch nicht das Bild in den Kamin geworfen!

Er brach das Gespräch ab und leitete es auf eine Frage, die ihn jetzt sehr nahe anging. „Es war kein Unwohlsein,“ sagte er, „was Sie hinderte, an unserm Mahl Theil zu nehmen. Leugnen Sie’s nicht! Sie wollten mir zu verstehen geben, daß sich Ihnen ein unlieber Tischgenosse sei …“

„Mein Herr –“

„Ich rechte darüber mit Ihnen nicht. Aber wissen muß ich, ob es Ihre Absicht ist, auch ferner auszubleiben.“

„Und wenn …?“

„Ich würde es dann für meine Pflicht halten, die Wohnung Ihrer Eltern nicht mehr zu betreten.“

Juliette war auf eine solche Erörterung nicht vorbereitet. Sie biß die Lippe und ließ einen Blick in den Salon schweifen, in dem sie ihre Mutter anwesend wußte. Madame Blanchard hatte sich bei der Conversation gar nicht betheiligt, aber daß ihr kein Wort davon entgehen werde, konnte ihre Tochter sich sagen.

„Ist das Ihr Ernst?“ fragte sie nach einer Weile.

„Mein ernsthaftester Ernst,“ antwortete er schnell und mit so festem Ton, daß sie nicht daran zweifeln durfte.

Sie besann sich wieder. Ein sehr lebhaftes Mienenspiel verrieth ihm ungefähr ihre mit einander streitenden Empfindungen. Dann flog wieder das schalkhafte Lächeln über ihr reizendes Gesichtchen, das mit allen ihren Unarten aussöhnen konnte, und es klang ihm wie Musik, als sie, aufstehend und sich halb zum Fenster wendend, schmollend sagte:

„Kommen Sie nur wieder! Es war nicht so böse gemeint. Ich werde mich in’s Unvermeidliche schicken.“

Er wollte ihre Hand fassen und seinen Dank bestätigen, aber Juliette schlüpfte fort, ohne noch einmal umzuschauen, und schloß die Thür das Cabinets hinter sich. „Der Eigensinn ist doch gebrochen,“ beruhigte Arnold sich, küßte Madame Blanchard die Hand, indem er dabei an ihre Tochter dachte, und klopfte unten vergnügt seinem Kruttke auf die Schulter, der mit richtigem Instinct auf diese Liebkosung mit einem ebenso vergnügten: „Na – dann ist’s schon gut“ antwortete.

(Fortsetzung folgt.)
[249]

Der Untersberg von der Salzburger Seite aus gesehen.
Originalzeichnung von J. Heilmair in München.

[250]
Die Hofburg des ersten deutschen Kaisers.

Unter allen Gebieten der Alpen, welche Sommer um Sommer wachsende Schaaren von Naturfreunden an sich ziehen, ist wohl keines, das den Vergleich mit irgend einer landschaftlichen Weltberühmtheit weniger zu scheuen hätte, als das herrliche Salzkammergut, und wenn Ludwig Steub, der gemüth- und humorvolle Schilderer der Berge, sagt, im ganzen deutschen Reiche lägen wohl nicht drei so schöne und großartige Landstriche neben einander wie die von Reichenhall, Salzburg und Berchtesgaden, so kann man ihm das nicht nur unbedingt zugeben, sondern darf den Satz wohl dahin erweitern, daß auch über das deutsche Reich hinaus es schwer fallen dürfte, die ebenbürtigen Rivalen für diese drei Gebiete zu finden. Um das anmuthige Salzburg mit seiner reizenden Hügelbildung, mit den prachtvollen Wäldern und Gebäuden darauf ist alle Herrlichkeit der Landschaft in reichster Abwechslung ausgebreitet, der Salzach entlang in die bairische Ebene hinaus, hinein in die schauerlichen Fels- und Wasserklüfte von Hallein, seitwärts zu dem anmuthigen Reichenhall, das sich wie eine freundliche Pforte in den Beginn des Gebirges eingebettet hat, oder in das einsamere Berchtesgaden mit dem unvergleichlichen St. Bartlmä und der weltverlorenen Einsamkeit des Obersees. Man könnte nicht mit Unrecht das Bild eines kolossalen prachtvoll durchwirkten Königsmantels zur Bezeichnung dieses Landstriches gebrauchen, eines Königsmantels, der sich nach allen Seiten hin aus einander faltet; wenn aber dann Salzburg als die kostbarste Schließspange bezeichnet werden muß, welche das Riesenpallium zusammenfaßt, so kann man über das Juwel nicht im Zweifel sein, welches den Schmuck und das Kleinod dieses Geschmeides bildet.

Das Juwel ist der Untersberg, eigenthümlich, ausgezeichnet durch Gestaltung und Lage, vielbekannt durch den Sagenreichthum, der sich an ihn knüpft und auf seinem mächtigen Rücken, dessen höchster Punkt der Hochthron heißt, wirklich seinen Sitz wie auf einem hohem Throne bis zur Stunde aufgeschlagen hat.

Der Untersberg, ein ungeheurer Block aus Marmor oder Alpenkalk von sechstausend Fuß Höhe, liegt inselartig vorgeschoben vor der Bergkette und dem hohen Göll, daß man ihn sowohl von Salzburg wie von Reichenhall, namentlich aber von der Schönau aus übersieht, einem flachen Weidegelände, das sich längs des Gangsteiges hinzieht, auf dem man von der Ramsau her durch die „Engedein“ seitwärts auf die von Berchtesgaden zum Königssee führende Straße abbeugt. Es ist, als habe er sich von seinen Berggenossen absichtlich losgemacht und entfernt, um gleich einer kolossalen Sphinx über dunklen Geheimnissen zu sinnen. Der Anblick ist von hoher Schönheit, denn obwohl der Berg mit reichen Wäldern bedeckt ist, bleibt doch überall Raum genug, um die Spalten und Risse gewahren zu lassen, von denen er durchklüftet ist und in welchen hie und da der rothe Marmor zu Tage tritt, der zumal bei Abendbeleuchtung einen feenhaften Anblick gewährt. Es ist leicht begreiflich, daß die lebhafte Phantasie des Volks ähnliche Eindrücke empfing, daß ihm die Absonderung und Gestalt des Untersbergs geheimnißvoll dünkte und daß es daher keine bessere Oertlichkeit fand, seine zu Sagen gewordenen Erinnerungen räumlich unterzubringen. Welche Erinnerungen das waren, ist ziemlich bekannt, und die Forscher der alten Sagenwelt haben längst nachgewiesen, daß es die Gestalten der altgermanischen Helden- und Götterwelt waren, welche nach der Einführung des Christenthums zu Dämonen und Märchenfiguren geworden waren.

Wie im Kyffhäuser der Kaiser Barbarossa schlafend sitzt, so haust im Untersberge Kaiser Karl der Große und wird sich, wenn sein Bart dreimal um den Tisch gewachsen sein wird, erheben, um auf dem Walserfelde eine große Schlacht zu schlagen, welche Deutschland die Einheit und die Freiheit bringt. Der Kaiser ist von einem großen Gefolge und einem Heere umgeben, und wie anderwärts Wuotan mit der „wilden Jagd“ auszieht, wenn Krieg in’s Land kommt, so zieht „Kaiser Karl mit seiner Armee“ aus dem Untersberg, wenn irgend ein großes Ereigniß zu erwarten ist. Die ganze Armee und das Gefolge bestehen aber ausschließend aus Zwergen, den sogenannten „Untersberger Maul’n“, mit welchen die geschichtliche Sage direct an den Volksmythus von den Nörgeln und Wichteln anknüpft, dessen eigentliche Heimath die Alpen sind. Dieser ist dort, namentlich in Tirol, noch vollkommen zu Hause, die Nörgeln oder Zwerge sind gutartige Geschöpfe, die den Menschen wohl necken, ihn aber nicht schädigen, sondern ihm wohl hie und da sogar behülflich sind; sie sind Christen, und dadurch erklärt es sich, daß, wenn der Kaiser mit ihnen „ausfährt“, der Zug immer nach irgend einer großen berühmten Kirche geht. In dieser wird dann solennes Hochamt gehalten. Vorübergehende sehen dann die Fenster erleuchtet, sie hören Orgelspiel und Gesang, und wer muthig genug ist, zu einem Fenster emporzuklettern, der sieht die ganze Kirche mit zierlichen schwarzgekleideten Zwerglein angefüllt, welche höchst ernsthaft und feierlich alle Ceremonieen verrichten.

Noch sind es nicht Viele gewesen, welche sich dessen vermessen, denn die Zwerge sollen dabei keinen Spaß verstehen. Fragt man darnach und giebt sich die Mühe, der endlosen Kette des „Hörensagens“ nachzugehen, so wird man schließlich den Faden in unverfolgbare Fasern sich verlieren sehen. Nachdem die guten Zwerge sich lange nicht mehr heraus bemühten, glaubten ultramontane Wühler auch in ihnen einen brauchbaren Hebel zu erkennen, um gläubige Bauerngemüther zu alarmiren; nach ihren Blättern sollen demnach die Maul’n in der letzten Sylvesternacht wieder ausgezogen sein; leider aber haben sich die Erfinder nicht einmal die Mühe genommen, vorher die nöthigen Materialstudien zu machen oder die Komödie fest einzustudiren, sonst würde der Bauer, der den Zug gesehen haben will, nicht eine Menge „weißgekleideter Menschen“ erblickt haben, während doch die echten Untersberger sonst immer schwarz und zwerghaft erscheinen.

Die Thätigkeit der kleinen Kobolde beschränkt sich aber meistens auf den Berg selbst: dort lassen sie ihrer Neckerei freien Spielraum, und wer sich auf denselben begiebt, wird von ihnen nur zu häufig irre geführt. Die Wege sind nämlich sehr schwierig und mitunter sogar bedenklich, so daß solche Erscheinungen sehr leicht erklärlich werden. Hie und da haben sie Manchem schon Sand und Steine gegeben die sich in Gold verwandelten, manchmal wurde auch schon ein Menschenkind in das Innere des Berges geführt, wie ein Hirtenknabe, der die Kegel aufsetzen mußte, oder ein Fuhrmann, dem man seine Weinladung abnahm und mit guten, aber uralten, unbekannten Goldmünzen bezahlte. Lazarus Aigner, ein Gehülfe des damaligen Stadtschreibers zu Reichenhall wurde 1529 von einem Mönche hinangeführt und hat diesen Besuch in einem noch vorhandenen Büchlein beschrieben. Er schildert darin die ganze unterirdische Herrlichkeit des Kaisers und diesen selbst; es ist ein großer alter Mann mit großem weißem Bart, der auf einer Wiese spazieren geht. Die Sage hat sich also in diesem Zuge selbst vergessen; sie erinnerte sich nicht, daß ja der Kaiser am Tische sitzen und schlafen mußte.

Derlei Vergeßlichkeiten kommen übrigens hierbei öfter vor. Ein Beispiel bietet der weltbekannte dürre Birnbaum auf dem Walserfelde, der grünen und blühen soll, sobald der Kaiser im Berge auferstehe. Wenn man von Salzburg aus dem Untersberge zugeht, kommt man an dem Schlosse Leopoldskron vorüber auf die Moosstraße, welche durch das Walserfeld führt und von Erzbischof Firmian mit schweren Kosten durch diese unwirthliche Bodenstrecke gebaut wurde, um sie durch Ansiedler cultiviren zu lassen. In diesem Walserfelde stand ein ziemlich unansehnlicher Birnbaum, welcher den neugierigen Reisenden als der mythische Pyrophor gezeigt wurde. Man übersah dabei in der Eile beiderseits die Kleinigkeit, daß der Baum, sollte er der echte sein, dürr sein mußte, während der vorgezeigte grünte. Auf die Frage eines Vorwitzigen, wie dieser Widerspruch wohl befriedigend zu lösen sei, war der besitzende oder benachbarte Landmann keineswegs verlegen und meinte, wenn das große Ereigniß, das der Birnbaum zu verkünden habe, heran nahe, werde er zuvor eiligst verdorren, um dann so recht demonstrativ neu blühen zu können.

[251] Auch dieser Birnbaum ist nunmehr gefallen. Die Hand eines boshaften Bauers, der 1870 mit der Wendung der deutschen Geschicke nicht einverstanden war und den das ewige Gefrage verdroß, soll ihn nächtlicher Weile gefällt haben. Nach anderer Lesart hätten es Sturm und Alter gethan. Da er (obwohl jetzt durch Neupflanzung ersetzt) nicht mehr herzustellen war, wurde mindestens das Holz von deutschfreundlichen Männern erworben, um es als Andenken und Reliquien zu allerlei kleinem Geräthe zu verarbeiten. Der deutsche Kaiser erhielt ein schönes Kästchen daraus; von allen Prophezeiungen, die der Reichenhaller Stadtschreibergehülfe seiner Skriptur beizufügen für gut fand, ist mindestens die Eine eingetroffen, daß der Kaiser, auf dessen Wiedererscheinen wir gewartet, „ein großer alter Mann ist mit großem weißem Barte“.

Aber damit ist die Reihe der Naturmerkwürdigkeiten des Untersberges nicht erschöpft. Zu ihnen gehören noch die Marmorbrüche, welche, König Ludwig dem Ersten gehörend, das meiste Material zu seinen Bauten, insbesondere zur Walhalla und Befreiungshalle, lieferten, sowie die Kolowratshöhle, ein am Hochthrone über der Rosittenalm tief in den Berg eindringendes Eisgewölbe von mehr als hundert Fuß Höhe und bedeutendem Umfange, mit Säulen von den wunderbarsten Gestaltungen und einem Wasserfalle von zwanzig Fuß Höhe, der im Augenblicke des Sturzes zu Eis erstarrt zu sein scheint. Der baierische Finanzminister und Parlamentsabgeordnete Freiherr von Lerchenfeld fand hier vor einigen Jahren durch einen Sturz in die Tiefe seinen Tod.

Manches mag es noch vom Untersberg zu erzählen geben. Als ich einmal auf dem oben erwähnten Wege durch die Schönau in eine weidende Heerde gerieth, welche keinen Durchgang gestatten zu wollen schien, kam mir der Hirt zu Hülfe, ein uraltes, weißbärtiges, eingeschrumpftes Menschenbild, das man ohne großen Aufwand von Phantasie für ein Unterbergszwerglein halten konnte, wäre es nur schwarz gekleidet gewesen. Wir kamen in’s Gespräch und in diesem auf den Untersberg, der breit und majestätisch vor uns lag. Es schien ihm zu gefallen, daß mich der Berg und seine geheimnißvollen Bewohner interessirten. Er ward redselig und vertraute mir, was der Reichenhaller Stadtschreiber zu erzählen wisse, das sei gar nicht zu beachten. Sein Großvater sei selbst im Untersberge gewesen und habe Alles, was er dort gesehen, dem Schullehrer in die Feder gesagt. „Die Geschrift hab’ ich noch, wenn’s nicht etwa die Kinder verrissen haben,“ fuhr er fort, „sie liegt daheim, in Reichenhall, wo’s gegen Non hinaufgeht, denn da bin ich nur als Hüter in der Kost. Ich will sie Dir geben, Herr, wenn Du wieder des Weges kommst, darfst nur da drunten in dem Bauernhaus nach dem Noner Kaspar fragen. …“

Ein Jahr verging, bis ich wieder des Weges kam; ich erinnerte mich des Gesprächs und schlug den Pfad zu dem kleinen Hause ein, an dessen offenem Fenster die Bäuerin mich mit einer Miene voll Erwartung empfing, was mich wohl so abseits zu ihr führen möge.

Ein Lächeln gutmüthigen Spotts zuckte über ihr Gesicht, als meine Frage ihr den Grund bekannt gegeben.

„Den Noner Kaspar wollt’s aufsuchen, Herr?“ sagte sie. „Der ist nimmer da – der hat’s schon im letzten Herbst gar gemacht, wie das Laub gefallen ist. …“

Ich fragte nach der verheißenen Handschrift, und das Lächeln der Bäuerin verstärkte sich.

„Ha, das sind sched (nur) so Narretheien,“ sagte sie, „der alte Mensch hat lauter solche Mucken im Kopf gehabt: es ist diem’ (diemalen, manchmal) nicht recht richtig gewesen bei ihm. …“

Sie deutete nach der Stirn und sah bedenklich nach der meinigen; ich sagte guten Abend und ging. Durch das Waldgrün des Untersbergs leuchtete der Marmor im Abendroth wie ein Freudenfeuer, daß es ihm noch einmal gelungen, seine Geheimnisse verborgen zu halten vor der Neugier der Menschen.

Herman Schmid.




Epische Briefe.
Von Wilhelm Jordan.
VII. Die Kunstgeheimnisse Homer’s.


Die Vorgeschichte der homerischen Epen haben wir schon früher betrachtet als bestes Beispiel zur Erkenntniß der Bedingungen und des Wesens des Epos überhaupt. Hier will ich nur Eines noch aufschließen: wie Homer hingelangt ist zur Erfindung seiner Kunst und was in ihr die Neuerung ist, mit welcher dieser Genius aller darstellenden Poesie für alle Zeit das Grundgesetz vorgeschrieben hat.

Ich darf aber nicht reden von Homer’s Erfindung, ohne zuvor Einspruch zu erheben gegen die Vorstellung, welche man mit diesem Worte gewöhnlich verbindet.

Unser Jahrhundert liebt man vorzugsweise das der Erfindungen zu nennen. Oft genug hören wir Proben von einem gewissen Uebermuth des auf seine Erfindungen stolzen Menschengeistes. Aber bei richtiger Betrachtung können wir kaum klein genug denken von der Erfindungsgabe des Individuums. Streng genommen, hat ein einzelner Mensch noch niemals etwas erfunden. Die sogenannten Erfinder sind stets in die Lage gekommen, eine winzig kleine Zuthat beifügen zu müssen zur uralten Erbschaft vieler Generationen.

Aus Luft und Erdenstoffen baut sich die Pflanze empor, gemäß der Urform ihres Keimes im Samen. Wann das Wachsthum seine Höhe, die Zufuhr der Säfte und Baustoffe ihre Fülle erreicht hat, dann verwandelt sich, durch Zusammenschiebung der um den Stengel emporgewundenen Wendeltreppe von Achsenaustritten in Eine Ebene, die gewöhnliche Blätterbildung in die Bildung der Knospen und Blüthen, deren sich meistens mehrere zugleich entwickeln. Gerade so summiren sich die Erzeugnisse der Thätigkeit Vieler und langer Zeiträume in der Arbeit Einzelner und gewinnen durch mehrfache Verbindung alten Besitzes eine scheinbar neue Gestalt. Rückwärts blickend sind wir mehr geneigt, darüber zu staunen, daß eine Erfindung nicht schon weit früher gemacht wurde.

Schon Seneca kannte die vergrößernde Wirkung eines wassergefüllten Glascylinders, der kleine Buchstaben groß erscheinen lasse. Schon in den „Wolken“ des Aristophanes wird des Brennglases Erwähnung gethan. Die Feinheit des Schnitts antiker Gemmen ist erst begreiflich geworden, seit man in Pompeji Lupen von klarem Bernstein gefunden hat. Aber weit über ein Jahrtausend verging, ehe man durch dieses bekannte Mittel den gewöhnlichen Schwächen des Auges abzuhelfen lernte. Dann hatte man lange Jahre hohle und erhabene Brillengläser geschliffen. Erst als diese Kunst sich handwerksmäßig ausgebreitet hatte und der Versuch, auch einmal durch ein concaves und ein convexes zugleich durchzusehen, gar nicht ausbleiben konnte, wurde, gleichzeitig und unabhängig von mehreren, das Fernrohr erfunden. Jeder vornehme Römer trug einen Siegelring und druckte damit, nicht nur Bilder, sondern auch Schriftzüge in Siegelwachs, wie es die Aegypter schon anderthalb Jahrtausende früher gethan. Ja, die römischen Kaiser besaßen Stempel, mit denen sie ihre Namen unter Decrete druckten. Cicero spricht ahnungslos die ganze Theorie der Lettern aus, indem er vom Redner sagt, daß er, im Besitze aller Regeln, doch ebenso wenig schon die ganze Redekunst innehabe, wie Jemand den Homer besitzen würde, wenn er sämmtliche Buchstaben, die in Homer’s Dichtungen vorkommen, etwa von Metall verfertigt, in einem Haufen vor sich liegen hätte. Zwischen Cicero und Guttenberg sind aber fünfundvierzig Generationen über die Erde gegangen. Bücher zu drucken verstand man schon vor Guttenberg. Man schnitt eine ganze Seite in Holz. Wie dicht also war man daran, eine solche Seite in ihre Buchstaben zu zerschneiden, um jeden mehrmals gebrauchen zu können! Aber Jahrzehnte mindestens hat man vor dieser Thür gestanden, ohne sie zu sehen. Als endlich der Schlüssel gefunden ward, da hatten wieder mehrere gleichzeitig denselben Fund gethan. Die Erfindung war eben reif. Ungezählte Jahrtausende weit ist der Weg vom runden Baumstamm, den man einer Last als Walze unterlegte, bis zum [252] Rade, zum Wagen, von diesem bis zur Locomotive. Wer hat letztere erfunden? Niemand und Alle, vom ersten Wagner bis zu Stephenson, dem Homer der Locomotionsmittel.

Ebenso verhält es sich mit den Entdeckungen der Wissenschaft. Ihre Jünger bewegen sich vorwärts wie ein geordnetes Heer. Der Fortschritt der ganzen Armee, nicht die Tapferkeit des Einzelnen, bewirkt es, daß ein Mann der Vorhut als Erster eine Stadt betritt. Ich entsinne mich sehr deutlich, schon im Jahre 1840 als Student in Königsberg in einer Vorlesung des großen Astronomen Bessel die Erklärung gehört zu haben, daß die Abweichung des Uranus von der berechneten Bahn geböten, einen weiter entfernten unbekannten Planeten anzunehmen. Als nach Leverrier's Angabe der Neptun von Gall gefunden wurde, da lagen in Cambridge die zu gleichem Resultat führenden Rechnungen von Adams seit Jahresfrist geschrieben vor.

Nirgend aber kann von Erfindung im strengen Wortsinn weniger die Rede sein als in der Poesie. Sie ist recht eigentlich die Kunst der Tradition, Altererbtes ihr höchster Gegenstand. Groß geworden sind nur solche Dichter, welche die lebendige Poesie ihres Volkes künstlerisch gestalteten, und ihre größesten Werke sind solche, deren Stoffe sie nicht erfanden, sondern vorfanden, wie Goethe den Faust, Schiller den Wallenstein und Tell. Was die Eintagslebigkeit der neueren Poesie verschuldet, ist besonders ihre Erfindungssucht. Fälschlich klagt sie die Nation an, den idealen Sinn verloren zu haben. Wenn der Poet nur die vorhandenen Schätze zu heben weiß, dann zeigt ihm auch die Nation, daß die Empfänglichkeit sich nicht im Geringsten vermindert hat.

Es ist sehr fraglich, ob es jemals einen Dichter gegeben hätte, wenn die Menschen von Anbeginn im Besitz der Schreibkunst gewesen wären. Denn die poetische Form, der Vers, ist entstanden durch den Mangel der Schrift, als Gedächtnißmittel, das ihre Stelle vertrat. Das Gesetz des Inhalts der Poesie und seiner Anordnung endlich ist sehr allmählich zur Erkenntniß gekommen durch die mündliche Ueberlieferung.

Die Geschichte und ihre erste Vertreterin, die Sage, wird in der mündlichen Ueberlieferung von selbst allmählich zu Poesie durch die Natur des menschlichen Gedächtnisses. Was durch Schönheit oder Auffälligkeit, sei es des Klanges, sei es der Bedeutung der Worte, reizt; was das Selbstgefühl anregt, die Theilnahme spannt, das Gemüth erschüttert: das haftet in der Erinnerung. Das Gedächtniß wird zum Siebe, in welchem von der hineingelegten Erzählung nur das zurückbleibt, was jene Eigenschaften des Poetischen besitzt. Dieselben Kunstgriffe, welche die Mnemotechnik anwendet, um das zum Behalten Aufgegebene mit Zierrathen zu versehen, die der Erinnerung als Henkel und Haken dienen, kommen beim wiederholten Weitererzählen von Mund zu Mund in unbewußter Weise in Anwendung durch die Schwäche des Gedächtnisses für alles Unscheinbare, Trockene und Reizlose. In solcher Durchsiebung gewinnt die Erzählung eine Anordnung, in der sie sich den Geist unwillkürlich einprägt. Die Grundbegebenheit wird gemodelt, ausgeschmückt. Was ein zweiter Erzähler Unwirksames eingeschaltet hatte, das vergißt oder vermeidet absichtlich ein dritter; aber jeder treffende Zug, der sinnreich verbindet und Beifall weckt, wird beibehalten. Das Ziel dieses Weges ist eine Gestalt der Sage, welche die ganze Seele füllt, eine Vollendung, an der nichts mehr zu rühren und rücken ist.

Dieser anfangs unbewußt verlaufende Proceß wird aber auch beobachtet und zur Methode ausgebildet. Wo, wie in Griechenland, in der günstigsten Natur ein hochbegabtes Volk Theil nahm, indem dies geschah, und zwar geschah durch Erzähler von Beruf, durch ganze Sängerschulen, die sich stets beschränkten auf die Söhne einer Familie und ihre aus demselben Gewerbe gewählten Eidame: da bedurfte es zur Geburt der vollendeten Kunst nur noch eines zwar sehr großen und sehr seltenen, aber unter solchen Umständen hochwahrscheinlichen Glückes: daß in einem dieser Sängergeschlechter die lange in gleicher Richtung erfolgende Gattenwahl und die Vererbung der beständigen Uebung als schon angeborenes Talent endlich die vollste Gipfelblüthe trieb und ein außerordentliches Genie erzeugte.

Ein solches Riesengenie ist der Mann gewesen, der nach seiner Leistung Homeros genannt wurde, weil er die Technik seiner Schule zu vollendeter Meisterschaft erhoben, die ganze poetische Kraft seiner Nation gleichsam zu einem Sammelmenschen vereinigt hatte und nun selbst Poesie geworden war, um die Einzelschöpfungen Vieler während einer Reihe von Geschlechtern neu zu gebären als einiges, uraltes und dennoch neues, von keinem Einzelnen jemals erreichbares Wunderwerk ewiger Dichtung.

Er folgte dem Berufe seiner Väter und ward Rhapsode, zunächst ererbter, dann von ihm gemodelter, schließlich auch eigener Lieder. Nichts aber wirkt so günstig auf die allmählige Vervollkommnung der Dichtung, als oft wiederholter Vortrag. Von jedem Worte beobachtet der Vortragende die Wirkung. Trüber sofort blicken die Augen der Hörer, wo die Schilderung zu breit wird, wo die Spannung nachläßt. Die Stirnen krausen sich von Gedankenanstrengung, wo ein schwerfällig gebauter Satz die schlichte Verständlichkeit des Stils unterbricht. Die hohlen Hände fahren verstärkend hinter die Ohrmuscheln auch bei kräftigster und deutlichster Articulation, wo die Darstellung noch nicht scharf und anschaulich genug ist, wo der Hörer eine Vorbereitung vermißt und ein wichtiger Hauptzug ihm zu plötzlich über den Hals kommt. Aber im Nu heben sich alle Köpfe, glätten sich alle Stirnen, funkeln alle Augen von Erwartung, wo das Wort die Herzensnerven in Bewegung setzt. Nach solchen Wahrnehmungen ändert dann der Rhapsode das Lied beim nächsten Male, indem er hier verkürzt, dort lebendiger ausführt, hier einen Schatten der Leidenschaft dunkler malt, dort einen helleren Lichtpunkt des Bewundernswerthen aufsetzt. Aus solchen Wahrnehmungen setzt sich ihm endlich ein sicheres Vorgefühl zusammen, wie das wirksame Lied beschaffen sein müsse. Die erkannten Regeln werden in ihm Fleisch und Blut und mit untrüglicher Empfindung kann er sie endlich dichtend erfüllen auch ohne die Vorprobe der Recitation.

Auf diese Weise hat Homer bei seinen Vorträgen zunächst das Geheimniß der Anschaulichkeit entdeckt. Er fand das einzige Mittel, das der Poesie zu Gebote steht zur Bildwirkung. Ueber drittehalb Jahrtausende sollten vergehen, bevor sein Mittel durchschaut wurde. Aber auch jetzt, nachdem das vor mehr als hundert Jahren geschehen ist durch Lessing und das betreffende Kunstgesetz in klarster Schärfe in seinem Laokoon formulirt steht, wird es noch immer vernachlässigt wie nicht vorhanden. Schlagen Sie den ersten besten französischen, deutschen oder englischen Roman auf: fast unfehlbar finden Sie nach jedem Scenenwechsel den Versuch, den Schauplatz, die Landschaft für sich allein zu malen, und nach dem Auftreten jeder neuen Person von einiger Erheblichkeit, namentlich der ersten Liebhaberin, den Versuch, ihre Züge vom Stirnrande zur Haarwurzel, ihre Gestalt und Kleidung vom Scheitel bis zur Schuhspitze mit Worten zu portraitiren.[1] Es ist das ein Unternehmen, gerade so unsinnig, als wollte ein Bildhauer durch die Lippenstellung seiner Statue einen gesprochenen Satz augenverständlich machen, ein Maler eine Spitzkugel auf ihrer ganzen Flugbahn von der Mündung des Laufes bis an’s Ziel sichtbar darstellen, oder ein Geiger durch die Violine mittheilen, daß das Rhinoceros zu den Dickhäutern gehöre. Denn die Poesie kann schlechterdings nicht portraitiren. Zum Zeichnen stehen ihr keine anderen Formen, zum Coloriren keine anderen Farben zu Gebote, als diejenigen in der Erinnerung ihrer Leser oder Hörer. Nur indem sie diese mit dem Materiale ihrer Kunst, mit zweckdienlich geordneten Lauten oder Lautzeichen in Bewegung setzt, kann sie die Phantasie des Zuhörers zwingen, aus ihrem kaleidoskopischen Vorrathe Bilder zusammensetzen, ähnlich denen, welche sich der Poet aus seinen eigenen anschaulichen Erinnerungen zusammengesetzt hat. Jedes wirkliche Gemälde ist aber ein Momentanbild: alles Einzelne, wie es in einem Moment gewesen, ist darauf gleichzeitig neben einander vorhanden. Was auf dem angegebenen Wege die Sprache annähernd momentan, das heißt durch ein oder zwei Worte, wecken kann, ist auch im besten Falle niemals schon ein Bild. Damit z. B. „schwarze Katze“ Bild werde, muß noch eine Menge Anderes hinzukommen, Stellung, Boden, Hintergrund etc. Nur durch eine Reihe nach einander folgender Worte kann das geschehen.

[253] Die Voraussetzung jener Wortmaler nun, daß diese nach einander gehörten oder gelesenen Worte die geweckten Vorstellungen in genügender Deutlichkeit vorhanden bleiben lassen, ist sehr unrichtig; die Annahme vollends, daß die mitgetheilte Reihe von Zügen in ihm sich zu einem Gesammtbilde vereinigen werden, gänzlich falsch. Man mache nur selbst den Versuch. Je ausführlicher die Schilderung, welche die Romanheldin portraitiren soll, desto sicherer haben wir am Schlusse, ja in der Mitte schon, den Anfang vergessen. Je karger aber die Zeichnung sich beschränkt auf ein paar Striche, desto besser gelingt es uns noch, sie zu ergänzen und eine Gestalt zu schauen. Das ist das Geheimniß der Phantasie, daß sie desto mehr leistet, je mehr man ihrer eigenen Thätigkeit überläßt, aber desto vollständiger lahm gelegt wird, je mehr man sie mit Gängelbändern umstrickt, um sie zu führen.

Um eine mäßige Anzahl durch Worte nach einander mitgetheilter Züge sogleich deutlich eingeprägt neben einander im Gedächtnisse haften zu lassen, daß sie sich in der Phantasie zu einem Gemälde zusammensetzen, dazu giebt es nur ein Mittel. Ein Beispiel der falschen und ein praktisch oft bewährtes der richtigen Wortmalerei wird es am besten einleuchtend machen:

König Gunther war ein großer Mann und hatte kräftige Hände, hellgraue Augen, ein längliches Gesicht, eine glatte Stirn, flachsiges dünnes Haar, eine große Glatze und einen röthlichen Schnurrbart mit langen Zwickeln.

Das wäre der falsche Portraitversuch. Man mag den Satz drei, vier Mal überlesen, ein lebendiges Bild setzt sich der Einbildungskraft aus ihm nimmer zusammen.

Nun habe ich aber zuvor erzählt: als Horand die Mär vorgetragen hatte vom Fluchschicksale Nibelung’s, des Ahnherrn der Mutter Gunther’s, da suchten die Höflinge im Gesichte des Königs ein Zeichen zu lesen, ob ihm das Lied gefallen oder mißfallen habe, um dann, je nach seinem Vorgange, Beifall oder Hohn zu äußern. Dann fahre ich fort:

Wie ziellos schien in der Zeitenferne
Zu haften das Abseh’n der hellgrauen Augen.
Des riesigen Mannes nervige Rechte,
Auf den Armgriff des Stuhls den Ellbogen stützend,
Spreizte kammgleich die Finger durch’s Kopfhaar,
Das ihm flachsig und dünn nur den Scheitel noch deckte,
Und stützte selber die sinnende Stirne,
Die, faltenlos glänzend, erhöht von der Glatze,
Sein langes Gesicht noch länger machte.
So schien er gefesselt der Mär zu folgen;
Nur die Finger der Linken des lauschenden Fürste
Zwirnten dabei die mächtigen Zwickel
Des röthlichen Schnurrbarts ein wenig schneller,
Als in wartender Spannung er sonst dies Spiel trieb.

Hier sind ganz dieselben Züge mitgetheilt. Aber lassen Sie sich die Stelle laut vorlesen, und Sie werden bestätigen was schon Hunderte mir versichert haben: daß König Gunther nun handgreiflich und athmend vor Ihnen sitze.

Der Unterschied zeigt das von mir beobachtete homerische Gesetz: um ein Bild zu wirken, müssen die mitgetheilten Züge ein fortschreitendes Geschehen darstellen und durch dieses Geschehen eine steigende Erwartung wecken.

(Schluß folgt.)




Die gefürchtetste Waffe aller Zeiten.


Das alte Wortspiel calamo ludimus“ (wir spielen mit der Feder; wir spielen mit der Gefahr) bezeugt deutlich, welch hoher Werth von jeher dem Schreibgeräthe beigelegt wurde, mochte dasselbe auch nur wie bei den Chinesen aus Pinsel und Tuschnäpfchen oder wie bei den alten Culturnationen aus gespitztem Rohre und Tintenfaß, welches Beides im Gürtel getragen wurde, bestehen. Wann man darauf gekommen, das Schreibrohr zuerst zu spalten, ist sehr unsicher; urtheilt man dem Namen nach, so kannten die Griechen und Römer nur gespaltene Schilfrohre, während bei den Arabern erst um’s zehnte Jahrhundert nach Christo die Kunst, das Rohr zu spalten, bekannt wurde. Man erzielte dadurch ein besseres Aufsaugen und Wiedervonsichgeben der Schreibflüssigkeit, sowie die leichtere Herstellung und Unterscheidung der Haar- und Grundstriche.

Schon im Mittelalter hatte man außer der handschriftlich im siebenten Jahrhundert nach Christo zuerst erwähnten Kielfeder, welche den Gebrauch des Schreibrohrs nach und nach verdrängt hatte, „Federn aus eysern, silbern und erzen Blechlein“, welche in Nürnberg gefertigt wurden, ihres hohen Preises wegen aber (das Stück kostete bis zu einem halben Gulden) nur selten in Gebrauch kamen.

Die Kielfedern der Gänse, Schwäne, Raben wurden ihrer Billigkeit und leichten Beschaffbarkeit wegen nur schwer von der in unserer Zeit fabrikmäßig hergestellten Stahlfeder verdrängt; für letztere sprach hauptsächlich die große Zeitersparniß, indem das zeitraubende Schneiden der Kiele wegfiel. Das Härten und Abziehen der Federposen, um denselben ein glasartiges Aussehen zu geben, wurde an vielen Orten fabrikmäßig betrieben und man färbte wohl auch zur größeren Schönheit die Federfahnen bunt. Man hatte auch mit der Maschine geschnittene Federn aus Horn und Kiel (in neuester Zeit sogar aus Kautschuk) zum Einstecken in Federhalter, und dieselben entsprachen auch bei manchen Anhängern des Alten ihrem Zwecke, wenn man nämlich eine geringere Dauerhaftigkeit und einen höhern Preis gegenüber der Stahlfeder nicht in Betracht zieht; allein diese Producte können sich auf die Dauer neben der Stahlfeder nicht halten, weil die letztere die subtilste Unterscheidung in den Spitzen, dem Schliffe und den Formen gestattet und dabei an sich gleichbleibender Elasticität diesem Producte Nichts sich an die Seite setzen läßt.

Die Verdrängung der Galläpfel- und Eisenoxydtinten durch anilinhaltige Tinten wird wesentlich zur längeren Dauer der Stahlfedern beitragen, wenn man von dem Uebelstande des jetzt häufiger nothwendig werdenden Reinigens der Feder absieht, der eine Folge der Anwendung von Anilintinten ist.

Versetzen wir uns in eine deutsche Volksschulclasse vor etwa fünfundzwanzig Jahren, so sehen wir den Classenersten beim Beginn des Schreibunterrichts den Classenschrank aufschließen, um denselben das umfangreiche, mit den Nummern der Schüler versehene Federgestelle zu entnehmen. Der Lehrer setzt sich inzwischen, mit scharfem Federmesser bewaffnet, zurecht und ein großer Theil der Schüler strömt herbei, um ihre in Empfang genommenen Federn schneiden zu lassen. Die hierbei abfallenden Schnitzel werden eifrig von der hoffnungsvollen Jugend aufgenommen, um als leichtbeschwingtes Geschoß zum Fortschnellen mit Daumen und Zeigefinger zu dienen. Verirrt sich einmal ein solches Federschnitzel, um statt eines Mitschülers das Lehrerantlitz zu berühren, so erfolgt eine kurze Züchtigung auf die ausgestreckte Hand des muthmaßlichen Thäters, und nach dieser Unterbrechung wird im Geschäft fortgefahren. Besonders schwierig ist es dabei, einen richtigen Spalt herzustellen. Mancher arme Schüler sah mit Entsetzen den Spalter die Feder über den ganzen Kiel hinunter aufsprengen, ja wohl gar den Spalt zahnartig auseinanderklaffen, Umstände, die den Kiel meist für die fernere Verwendung untauglich machten. Der Federschnabel durfte nur einen ganz kurzen Spalt haben und alles, was darüber hinausragte, fiel dem Messer zur Beute. Abgesehen von der nicht geringen Geschicklichkeit, welche das Federschneiden seitens des Lehrers erforderte, kommt der geschilderte Zeitaufwand, seit Einführung der Stahlfedern, dem Unterricht selbst zu Gute. Die gemachte Beobachtung, daß die Handschriften von jener Zeit ab viel leserlicher geworden sind, ist gewiß nicht unbegründet. Obgleich man zu Ende der zwanziger Jahre schon vollständig eingerichtete Stahlfederfabriken in England hatte und die erste und einzige deutsche Stahlfederfabrik seit dem Anfang der fünfziger Jahre existirt, fand doch die Stahlfeder erst Ende der fünfziger Jahre Eingang in den Volksschulen. Wenn noch heutzutage, zumal von älteren Beamten, am Gebrauch der Kielfeder festgehalten wird, so ist dies eine Folge der Anwendung einer eigenthümlich verschnörkelten, wenn auch (gleichmäßige Durchführung vorausgesetzt) nicht unschönen Schrift, des sogenannten Roßberg’schen Ductus, einer Abart der deutschen Currentschrift, welche auch in manchen deutschen Volksschulen vor nicht zu langer Zeit heimisch war.

Betrachten wir unsere gewöhnliche Schulfeder in Stahl, so [254] sehen wir, daß dieselbe ziemlich genau der früheren Kielfeder nachgebildet wurde, indem der Schnabel nur kurz ist und die Spitze eher stumpf als spitz genannt werden kann. Die Stärke des Stahls nimmt nach der Schnabelspitze zu etwas ab, um die Elasticität zu erhöhen, ein Ergebniß des doppelten Schliffs, dem die Feder vor der Spaltung unterliegt. Die Festigkeit der Feder wird durch die Rinnenform des Federkörpers (im Querdurchschnitt ein etwas verflachter Halbkreis) gewährleistet. Sie hat den Zweck, die Elasticität nicht über das Ende des Schnabelspaltes auszudehnen und eine feste Verbindung des Federkörpers mit dem Halter zu ermöglichen. Denn die Feder muß fest stecken wenn die Handschrift sicher sein soll. Der Halter selbst darf nur in so weit Federkraft besitzen, als dies zur etwa nöthigen Wiederentfernung der Feder nothwendig ist. Der Spalt der Feder endet mit einem kleinen oder größeren Loche in den verschiedensten Formen, welches hauptsächlich dem Zwecke dient, das Tintehalten der Feder zu unterstützen. Die Notenfeder, eine Abart der Schulfeder, hat einen noch kürzeren Schnabel und eine ganz breite, von rechts nach links ablaufende Spitze.

Eines längeren Federschnabels bedarf die Correspondenzfeder, dafür ist dieselbe aber vorn weniger stark abgeschliffen und der

Correspondenzfeder.

ganze Federkörper im Querdurchschnitt noch mehr gewölbt, um Tinte leichter aufzunehmen. Da es bei der Correspondenz weniger auf strenge Unterscheidung zwischen Haar- und Grundstrichen, als auf leichtes Abfließen der Tinte beim Schreiben ankommt, so entstand die Form, welche dem Bedürfniß auch in so weit sehr entgegenkommt, als diese Federn von der feinsten

Kräuselfeder.

bis zu der stumpfsten Spitze zu haben sind, zumal die Einbildungskraft, mit Geschmackssinn verbunden, eine Unzahl von verschiedenen Façons dieser Gattung geschaffen hat, wie z. B. Gesichtsfeder, Handfeder, Kräuselfeder, Schellfischfeder, St. Georg-Feder, Dreilochfeder, Herzsprungfeder etc.

Eine Zusammenstellung aus Correspondenz- und Schulfeder ergab die Beamtenfeder (Ministry). Diese Feder hat eine besonders

Beamtenfeder.

starke Rinne in der Mitte, um mehr Tinte fassen zu können. Damit die Feder in Folge dieser Vorrichtung an Elasticität nicht verliere, ließ der Engländer Perry um 1830 an beiden Seiten, da, wo die Rinnenverbreiterung anhebt, einen Längenspalt in die Feder schlagen, wodurch der Schnabel, unbehindert von der breiten Rinne federn kann. Hierher gehören auch die beliebten Damenfedern, als Rosenfeder, Kreuzfeder etc. Später kam man darauf, die beiden Längenspalten gleich neben dem Mittelloche parallel demselben einzuschneiden. Besondere Querspalten bewirkten dann die Verbindung nach außen, und der Schnabel federte nun innerhalb der bezeichneten beiden Längsspalten. Dieses System ist heutzutage

Alfred-Feder.

allgemein beliebt geworden, und es gehört hierher die G-feder, die Alfred-Feder, die Classical (Gelehrten-)Feder, die Rasner-Feder (nach einem Wiener Schreiblehrer so genannt), die Aluminiumfeder, die Humboldt-Feder (mit dem Facsimile des berühmten Forschers in der Verpackung) und andere

Humboldt-Feder.

mehr. Eine wesentlich andere Form haben die Franzosen als „national“ adoptirt; es sind dies die sogenannten Henry-Federn und Emanuel-Federn, auch Diamantfedern genannt. Der Schnabel derselben ist in Form einer Lanze gebaut, und die Henry-Feder hält sogar einen Theil der Tinte auf der Oberseite der Feder, während der Schnabel beider Federn dachförmig nach beiden Seiten hin abfällt. Die höchste Vollendung erlangten sie in den leider sehr theuren Federn Nr. 12 und 13 von Mallat in Paris und ähneln solchergestalt sehr obengenannter Alfred-Feder, haben jedoch, der Lanzenform entsprechend, einen größeren Tintenbehälter und zeigen für die fehlenden Längeneinschnitte mehrere Quereinschnitte längs des Schnabels, wodurch eine vortreffliche Federung bewirkt wird.

Mit der Lanzenform, welche nach beiden Schnabelseiten abgedacht ist, wurde in den letzten Jahren eine großartige Reclame in’s Werk gesetzt. Unter dem Namen Universalfeder, Eulenfeder (Owl pen), „Endlich eine Feder für Jedermann“, wurde diese Feder in den größten Zeitschriften zu hohem Preise angekündigt. Das spitze Schnabelende ist bei der Eulenschnabelfeder nach unten eingeknickt; der Schnabel selbst hat eine schiefe Lage der Richtung der Federrinne gegenüber, und es soll hierdurch eine längere Schreibfähigkeit der Feder und ein reinerer Haarstrich hervorgebracht werden. Im Gegensatze hierzu hat die Wettrennenfeder (Steeple chase pen) die Schnabelspitze nach aufwärts gekehrt, was sie besonders befähigt machen soll, freilich auf Kosten der Reinheit der Schriftzüge, ohne Einstechen und Spritzeln über alle Unreinigkeiten und Knötchen des ordinärsten Papiers hinwegzugleiten.

Federn mit zu großer Elasticität nutzen sich bald ab und spritzen leicht; ein solches Beispiel bietet die Kalligraphenfeder, welche zwischen Federrinne und Schnabel einen breiten, mit länglichem Einschnitte versehenen platten Stahlstreifen zeigt, der einen hohen Grad von Federung zuläßt; diese Feder ist allerdings für feine Arbeiten sehr geeignet, jedoch aus zu dünnem Stahle, um sich für eine Verwendung in Schule und Haus zu empfehlen.

Noch bleiben die Signirfedern, die Zeichenfedern, die Federn mit unerschöpflichem Tintenfasse, welche zum Schreiben blos in Wasser getaucht werden zu erwähnen, um sodann eine kleine Skizze des Fabrikationsprocesses folgen zu lassen.

Zur Erzielung vollendeter Fabrikate ist strenge Arbeitstheilung überall durchgeführt. Die Feder erhält ihre erste Gestalt aus dünnen Stahlblechstreifen von doppelter Breite der Federlängen im Schneidesaale. Die Federn werden Spitze an Spitze so geschnitten, daß das möglichst niedrige Maß von Abfall bleibt, der sich aber dennoch bei manchen Sorten von fünfundzwanzig bis auf vierzig Procent der Blechstreifen erstreckt. Da die meisten Arbeiten einen besonderen Kraftaufwand nicht erfordern, so werden dieselben leicht von Mädchen ausgeführt. Mittelst der Durchstoßmaschine kann ein Mädchen dreihundert in der Minute (zwei und mehr Stück auf einen Schlag) ausstoßen; eine zweite ähnliche Maschine prägt die Löcher und etwaigen Seitenschlitze in die Feder. Hierauf gelangen die Federn in den Stempelsaal, wo ihnen durch eine Art Wippe etwaige Nummern sowie die Firma des Fabrikanten (häufig auch die des Bestellers) aufgeprägt wird. Es folgt hierauf nach vorherigem Rothglühen der Federn, um sie weich zu machen, das Hohlbiegen derselben durch eine halbrunde Stempelform. Um die Härte nun wieder herzustellen, wird eine größere Menge Federn in flachen Eisenblechkästen unter Abschluß der Luft bis zum Weißglühen erhitzt und plötzlich in tiefe Thran- oder Oelgefäße geschüttet. Die Federn bekommen dadurch eine solche Härte, daß sie wie Glas springen, wenn man sie schwach drückt. Die Reinigung von dem anhaftenden Fette erfolgt durch Drehen in einem Cylinder, welcher mit Sägespähnen gefüllt ist. Die Federn werden nun über langsamem Feuer angelassen, wodurch die zu große Härte wieder etwas zur weiteren Verarbeitung gemildert wird. Nach abermaliger Reinigung von dem infolge Ausglühens und Härtens anhaftenden Oxyde durch ein mehrere Stunden währendes gegenseitiges Abscheuerungsverfahren erfolgt das Schleifen. Das Schleifen der nunmehr stahlweiß erscheinenden Feder auf ihrer convexen Seite hat denselben Zweck, den das Abschaben der Kielfeder auf der Rückseite des Schnabels oberhalb der Spitze hatte, ein gewisser Theil des Metalls wird etwas dünner und biegsamer gemacht, und die Spitze, in welche der Spalt kommen soll, wird dadurch elastisch und zart. Der Längenschliff reicht von der Spitze nach aufwärts bis in die Nähe des Loches, während der Querschliff die Spitze nicht mit berühren darf.

Hierauf läßt man die Federn in gewünschter Farbe anlaufen. Es geschieht dies durch Umschütteln der Federn in einem drehbaren eisernen Cylinder über Holzkohlenfeuer. Je nach dem Hitzegrade nehmen die Federn zuerst eine hellbraune, dann dunkelbraune, zuletzt blaue Färbung an, und durch dieses Verfahren wird eine weitere Milderung der ursprünglichen Sprödigkeit erzielt. Nun erst folgt das Spalten der Feder. Dieselbe wird nun in eine Vertiefung so gelegt, daß genau der halbe Schnabel fest aufliegt. Der Oberstempel der Durchstoßmaschine drückt nun, [255] von der Federspitze anfangend, den halben freiliegenden Schnabel scheerenartig von der anderen Hälfte abwärts, und die Elasticität ist so groß, daß der niedergebogene, nunmehr abgespaltene Theil von selbst wieder in seine frühere Lage zurückspringt.

Das hierauf folgende Probiren und Sortiren erfordert die besten und geübtesten Arbeiterinnen. Jede Feder wird mit der Spitze auf ein Stückchen Elfenbein aufgedrückt und so die Güte ermittelt. Die fehlerfreien kommen nun zur Politur und zum letzten Schliff. Jenachdem die Feder nun als Goldspitz-, als Kupfer-, Silber-, Zinkcompositions- (Amalgama-), als Guttapercha- oder Cementfeder in den Handel kommen soll, wird sie galvanisch behandelt, oder mittelst Säure (Cyankali) gebeizt oder lackirt.

Für den Handel fertig werden die Federn erst durch die Verpackung in die Großschachteln, welche aus Pappe oder Metall hergestellt sind. Die Federn werden nicht hineingezählt, sondern großweise abgewogen, und selten wird sich eine Unrichtigkeit in der Zahl herausstellen, da das Cementstahlblech zu denselben vorher auf seine Stärke (0,20 bis 0,24 Millimeter) genau geprüft ist.

Die ersten und auch wohl besten, in Deutschland jedoch weniger bekannten, weil zu theuren Stahlfedern wurden von Joseph Gillott in Birmingham verfertigt. Derselbe lieferte schon in den vierziger Jahren jährlich gegen hundertfünfzig Millionen Stahlfedern, was ungefähr tausend Centner besten Stahls jährlich austragen würde. Gegenwärtig ist ihm der Rang von Josiah Mason ebenda abgelaufen worden, dessen Federn durch die Grossofirma A. Sommerville u. Comp. in Deutschland die weiteste Verbreitung gefunden haben. Mason ist durch seine menschenfreundlichen Stiftungen, welche wahrhaft fürstlich dotirt sind, auch über England hinaus berühmt geworden und hat sich von dem bescheidensten Arbeiterloose zu einem Millionär hinaufgearbeitet.

Von den vielen in Birmingham bestehenden, theilweise über fünfhundert Arbeiter beschäftigenden Fabriken ausgezeichneter Federn seien nur noch genannt die in Deutschland sehr verbreiteten Marken John Mitchell, ferner Ch. Brandauer, welche letztere unter dem Namen Kuhn u. Comp. von Wien aus in den Handel kommen, Leonhardt u. C. und Hinks Wells u. Comp. Aus Boulogne gelangen über Paris viele ganz gute französische Federn zu mäßigen Preisen in den Handel, und werden dieselben sogar in Säcken versandt, um in Deutschland und anderen Ländern eingeschachtelt und etiquettirt zu werden. Die bekannteste französische Marke ist Blanzy, Poure u. Comp.

Die einzige deutsche Stahlfederfabrik mit dreihundert Arbeitern in Berlin von Heintze und Blanckertz hat sonach gegen eine große Concurrenz zu kämpfen, welche um so gewichtiger ist, als den Engländern ein ganz besonders zur Federbereitung geeignetes, jetzt auch von der Berliner Fabrik benütztes Material, raffinirter Sheffielder Cementstahl, zur Verfügung steht, während in Berlin, früher, meist schwedisches Stahlblech zur Verarbeitung gelangte. Es ist gewiß, daß die deutsche Fabrikation in Betreff der Vollkommenheit der Maschinen und ihrer Benutzung ebenso ausgebildet ist, wie die englische, und daß deutsche Gründlichkeit größere Sorgfalt beim Probiren und Sortiren anwendet, aber ein gewisses Vorurtheil spricht, ähnlich wie bei den englischen Nähnadeln, für die englischen Federn, und es werden noch viele Jahre des angestrengtesten Fleißes vergehen müssen, um dasselbe zu besiegen.

Schließlich noch einige Winke für alle Schreibende.

Möchte doch Jedermann, sobald er eine Feder gefunden hat, die seiner Hand zusagt, nicht voreilig mit der Marke wechseln, selbst wenn er mehrere mangelhafte Federn in einer Schachtel vorfand. Muß man aber doch einmal wechseln, so hüte man sich vor den meist unreellen Fabrikaten angeblicher Fabrikanten und kaufe nie von Herumträgern, sondern nur aus einer Schreibmaterialienhandlung, wo beim Verkäufer einige Kenntniß der Originalfabrikmarken und Verpackungen vorausgesetzt werden kann. Eine Handschriftprobe wird zur passenden Auswahl einer Feder von großem Nutzen sein.

Was die Firmenstempel der Federn betrifft, so ist die Bemerkung nothwendig, daß die meisten Fabriken ihren guten Producten auch ihren eigenen Namen aufprägen und nur bei den geringeren Sorten mit gedrückten Preisen denselben weglassen. Mehrere Fabriken befassen sich überdies nicht mit der Etiquettirung und Verpackung, sondern überlassen den ausschließlichen Vertrieb bestimmten Grossohäusern, welche letztere solchergestalt, dem Publicum gegenüber, als Fabrikanten gelten können, weil sie nur diese Fabrikmarke führen, ohne die Fabrik zu besitzen. Man merke deshalb auf die stetig wiederkehrende gleiche Verpackung, welche nicht nachgeahmt werden darf, aber häufig gefälscht wird, um geringere Fabrikate für bessere Marken anzubringen. Was nun die Zeitungsankündigungen neuentdeckter Federn etc. anlangt, so giebt es bis jetzt, und wenn hunderte von Annoncen Aehnliches zusagen sollten, keine Federn, die von selbst schreiben.

Der Verfasser des „papiernen Zeitalters“.




Das Berliner Künstlerfest.


Es war am Abend des 20. Februars, als sich in Berlin eine unabsehbare Wagenreihe über die Gertraudtenbrücke und den Spittelmarkt an dem Abgeordnetenhause vorüber in langsamstem Tempo zu den „Reichshallen“ bewegte, einem jener großartigen neuen Etablissements, welche gleich der Passage die Metropole des deutschen Reichs als werdende Weltstadt erscheinen lassen. Sobald sich vorn ein Wagen von der Kette gelöst hatte, schloß sich hinten ein neues Glied wieder an. Vorüber an dem unausbleiblichen Publicum, das vor den Reichshallen zu beiden Seiten des Trottoirs Spalier bildete und die bunten Insassen der herrschaftlichen Equipagen und bescheideneren Lohnfuhrwerke nicht ohne kritische Glossen im Stil des Berliner Schusterjungenhumors Revue passiren ließ, gelangte man auf rücksichtsvollen Fußdecken zur blumengeschmückten Treppe, welche in die Garderoben mündete.

Hier fielen die Hüllen. Aus dem Ballaste der Plaids, der Mäntel, der Tücher und der Pelze sah man die vielgestaltigen Phönixe empor- oder vielmehr heraussteigen und nach ihrer in Folge des immer neuen Andrangs nicht ohne Schwierigkeit vollzogenen Metamorphose den Festsaal betreten. Welch’ überraschender Anblick! Vor den Eintretenden ein Wallen und Wogen, ein buntes Durcheinander, ein vielfarbiges Massenbild, das sich wirksam von einem colossalen, rothen, goldbefranzten Vorhang abhob, der, in pompöser Drapirung niederfallend, die Bühne bedeckte, welche im Hintergrunde des mächtigen Saals auf dem sonst für das Orchester bestimmten Platze erbaut war. Zu beiden Seiten der Bühne erhoben sich improvisirte Treppen, welche, mit dunkelrothem Stoffe bezogen und mit frischen Gewächsen geschmackvoll decorirt, die Galerien des Saals mit seinem unteren Raume verbanden. Das beständige Auf- und Niedersteigen, die zum Theil auf den Stufen sitzenden, zum Theil sich über das Geländer beugenden Gestalten gaben Anlaß zu wahrhaft malerische Gruppirungen. Die Balustraden der durch ihre Bogen und Säulen ohnehin künstlerisch schönen Galerien waren mit prächtigen Teppichen behangen, deren übereinstimmende, sanft gedämpfte Färbung einen wohlthuenden Gegensatz zu der blendenden Farbenpracht der Costüme bildete.

Das diesjährige Fest hatte die gewohnte Physiognomie verändert. Es hatte sich sonst dabei ausschließlich um ein Herrenfest gehandelt. Zum ersten Male war die Damenwelt hinzugezogen worden. Die bisherige Exclusivität war innerhalb der Künstlerkreise längst auf Opposition gestoßen; die Anwälte des schönen Geschlechts trugen endlich den Sieg davon; die alte Tradition wurde gebrochen und dem Feste die Gestalt eines Costümballes gegeben.

Die Costüme selbst in ihren Details auch nur annähernd zu beschreiben, würde das stärkste Gedächtniß zu schwach sein. Der Eindruck einer Schilderung all’ der glanzvollen Erscheinungen mag sich zu dem ihres Anblicks verhalten, wie sich eine gemalte Landschaftsdecoration zu einem Licht, Luft und Leben athmenden wirklichen Naturbilde verhält. Das Einzelne zudem, das am lebhaftesten in der Erinnerung haften geblieben ist, wird, zurückgenommen aus dem Rahmen des Ganzen, an Wirkung verlieren. Vornehmlich in der Beweglichkeit des Gesammtbildes lag für

[256]

Auf dem Costümballe der Künstler in Berlin.
Nach der Natur aufgenommen von Knut Ekwall.

[257] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [258] den Beschauer der dem Feste eigenthümliche Zauber, in der Schwierigkeit des längeren Verweilens bei der Betrachtung des Einzelnen, in dem Abgelenktwerden vom Schönen zum Schöneren, in dem kaleidoskopischen Durcheinander der Figuren, in dem beständigen Wechsel der Gruppen, deren Bestandtheile sich schnell zusammenfanden, um sich schnell wieder zu lösen.

Wer konnte sie herzählen, diese nahezu tausend Gestalten, in deren Trachten alle Länder und alle Völker, alle Zeiten und alle Sitten repräsentirt waren, und, wenn man es könnte, wer vermöchte das Werthvollste unter dem Werthvollen zu nennen, wer über das Schönste unter dem Schönen und das Echteste unter dem Echten zu entscheiden? Aus der Fülle der romanischen und der mit Vorliebe gewählten orientalischen Trachten, mit welchen letzteren, beiläufig bemerkt, in vielen Fällen die Physiognomie ihrer Träger in voller Harmonie stand, aus dem Schwarme der Cavaliere und Edeldamen, die sich hier aus allen Gauen vereinigt hatten, fielen drei Paare durch die Schönheit ihres Costüms, wie ihrer Erscheinung auf, prächtige, hoch gewachsene Gestalten: ein spanisches Paar in der reizenden Nationaltracht von dunklem Violett mit Silber, ein armenisches in bunter, golddurchwirkter Seide, angethan mit kostbarstem Schmucke, und ein Rococopaar in Grau und Rosa mit Silber. Ueberhaupt war die Rococozeit mit ihrer ungemein liebenswürdigen und kleidsamen Tracht in zahlreichen Erscheinungen theils vornehmer Frauen, theils niedlicher Kammerkätzchen vertreten. Die gebauschten und gerafften Röckchen, die blumigen Stoffe, die hochfrisirten, gepuderten Toupets, die hochhackigen Schnallenschuhe, coquetten Schönpflästerchen und reichverzierten Fächer lassen jede Trägerin, mag sie alt oder jung, klein oder groß sein, zierlich erscheinen.

Gegenstand allgemeiner Bewunderung war der prächtige, durchweg echte Anzug einer Aegypterin, und eine in idealer Schönheit strahlende weibliche Gestalt in einem Costüme, wie es die Königin Louise getragen haben mag. Das weiße Atlasgewand, mit einen Gürtel dicht unter der Brust zusammengehalten, floß in schönen Falten herab. Die vollen Puffen an den Schultern, die hochstehende, gefältelte Krämpe um den Nacken, die langen, bis über den Ellbogen reichenden Handschuhe, das Diadem im welligen Haare, das in hohem Knoten hinaufgebunden war, Alles das umgab die schöne Erscheinung mit dem Zauber der Lieblichkeit und Frauenhoheit.

Das humoristische und das eigentliche Charaktercostüm war nur in kleiner Minorität zu bemerken. Dem Patriotismus war durch eine wunderlich costümirte Figur gehuldigt, in welcher sich das „vereinigte Deutschland“ darstellte. Herr und Frau „Winter“ präsentirten sich in weißen, mit Schwanpelz verzierten Gewändern. Majestätischen Schrittes sah man hier Frau „Sonne“ einhergehen, die ewig junge Alte, von Kopf zu Fuß in lichtem Golde strahlend, dort ihre dunkle Schwester, die „Königin der Nacht“, mit ihrem Gefolge von flimmernden Sternen. Auch ein hinkender Bettler mit dem Stelzfuße, eine hurtige Brieftaube, ein Monsieur Langohr mit seiner Gefährtin, der stachligen Distel, hatten sich in die Gesellschaft gemischt. Selbst die Hölle entsendete ihre Boten, nicht aber den mißgestalteten Beelzebub mit dem Pferdefuße, vielmehr einige stattliche Cavaliere von feinsten Formen, mit Kneifer und parfürmirtem Taschentuche.

Die Kunst war vorwiegend in den Künstlern und ihren Damen vertreten. Da wogten Rubens’sche, van Dyk’sche, Dürer’sche, Holbein’sche Gestalten bunt durcheinander. Vielfach begegnete man denselben glanzvollen Costümen, welche zu dem kurz vorhergegangenen Kronprinzenfeste gedient hatten. In vielen der Damentoiletten war die ergänzende, ordnende, schmückende, künstlerische Hand auf den ersten Blick zu erkennen.

Die Berliner Künstler, Meister und Jünger, waren vollzählig beisammen. Richter, Menzel, Begas, Knaus, Gräf, Becker, Meyerheim, der sich in einen Assyrer mit einem aus Cigarren grotesk gebildeten Kopfputz verwandelt hatte, Gentz, Jacobsen und des Festes andere Schöpfer und Ordner walteten heiter ihres Amtes. Die Schriftstellerwelt war nur durch wenige ihrer hervorragenden Persönlichkeiten, die Tagespresse durch die meisten der bekannteren Journalisten vertreten. Die Privattheater fehlten ganz. Von den königlichen Bühnen wurden der Generalintendant von Hülsen im dunklen Domino, Director Hein, Frau Erhartt als Lurlei, Frau von Voggenhuber, Fräulein Grossi, Frau Breitbach, dann Niemann mit seiner Gemahlin, Betz, Woworsky, Krolop, Kahle, Letzterer in der Tracht eines Bürgermeisters aus dem Anfange dieses Jahrhunderts, bemerkt.

Und nun denke man sich all die Erscheinungen, die wir einzeln vor das Auge des Lesers citirten, umfluthet von Herren, Rittern und Knechten, von Prälaten, Cardinälen und Mönchen, von Nixen, Nymphen und Elfen, von Kobolden, Gnomen und Zwergen!

Die in Aller Mienen ausgeprägte Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, wurde zunächst durch ein komisches Intermezzo befriedigt. Der wirkliche Geheime Augenblicks-Photograph Sophus Lichtstoffel, das berühmte Ehrenmitglied des Vereins der Kunstpflege vaterländischer Sonnenstrahlen, war inzwischen eingetroffen, hatte sein ebenso „elegantes, wie ambulantes Atteljeh“ mit seinem riesigen Apparate aufgeschlagen und gab einige ungeheuerliche Proben seiner Kunst, die sich laut seiner Empfehlungskarte sogar auf die Anfertigung der „beliebten amerikanischen, gänzlich unsichtbaren Geisterphotographien“ erstreckt und angesichts der auch bei Landschaften geleisteten „Garantie der Aehnlichkeit auf sechs Jahre“ ihres Gleichen nicht haben dürfte.

Mittlerweile hatte die Gesellschaft „festen Fuß“ gefaßt. In der Mitte des Saales hatten die Damen Platz genommen; rings umher zu den Seiten und im Hintergrunde gruppirten sich die Herren und auf den Treppen, wie auf den Galerien drängte sich Kopf an Kopf.

Der Tactstock des Dirigenten wurde hörbar und durch den Saal rauschten die feierlichen Klänge der Ouverture, welche das von Julius Wolf auf Grund zweier Gesänge seines trefflichen Schelmenliedes „Till Eulenspiegel redivivus“ gedichteten Festspiels „Sonnwendnacht am Rhein“ einleitete.

Die Dauer von über zwei Stunden, welche die Dichtung mit ihrem Vorspiele und ihren drei Acten in Anspruch nahm, stellte die Geduld einer Zuhörerschaft, die sich zu einem „Costümball“ zusammengefunden hatte, auf eine etwas harte Probe, und so konnte das Festspiel trotz seiner hübschen, von Krigar und Böhmer componirten Musik, trotz seiner schönen, nach Skizzen von Wilberg ausgeführten Decorationen, trotz seines vom Director Hein trefflich geleiteten scenischen Arrangements und trotz seiner wohlgelungenen Darstellung, an der sich außer einer Schaar von Dilettanten unser Sängerfürst Betz als „Frauenlob“, die königliche Hofschauspielerin Frau Erhartt als böse „Lurlei“ und Frau Blume als das von dem Helden des Zauberspiels, einem Jünger des heiligen Lucas, gemalte und später lebendig werdende Conterfei dieser „Lurlei“, betheiligten, nicht diejenige Würdigung finden, welche ihm sein poetischer Gehalt, eine sinnig erdachte, für den Zweck nur zu ernst gewählte Fabel und eine schwungvolle, gedankenreiche Diction unter günstigeren Umständen gesichert haben würden.

Einen Sturm des Beifalls erweckte das nachfolgende, von Herrn Betz herrlich gesungene Minnelied, welches, in Frauenlob’s Weise gedichtet, den Lesern der Gartenlaube mitgetheilt zu werden verdient:

„Nun will ich mit dem reinsten Klang
Mein Saitenspiel wohl rühren,
Nun soll sich meines Liede Sang
Die höchste Mette küren,
Daß Aller Augen auf mich schau’n,
Wenn ich die Kunst erprobe,
Euch holden Mädchen, schönen Frau’n
Zu Liebe und zu Lobe.

Gegrüßet seid mit allem Preis,
Ihr Zarten, Süßen, Losen,
Ihr stolzen, schlanken Lilien weiß
Und Ihr, ihr rothen Rosen,
Ihr aller Schuld ein Schirm und Dach,
Ein Schild vor allem Leide,
Voll milder Güte ein klarer Bach,
Eine schimmernde Augenweide.

Ihr seid ein edler Würzewein,
Der Liebe Ingesiegel,
Voll süßer Lust ein gold’ner Schrein,
Der Treue starker Riegel.
Wenn ihr euch lieb und hold mir neigt
Mit eurem Gruß und Segen,
Mir’s wunniglich zu Herzen steigt,
Wie duftiger Maienregen.

[259]

Und lächelt mir eu’r rother Mund,
So bin ich schon eu’r eigen,
Und was mir blüht auf Herzensgrund,
Das kann ich nicht verschweigen.
Minniglich will ich sel’ger Mann
Euch in die Augen schauen;
So lang’ ich singen und sagen kann,
Will ich lieben und loben die Frauen.“

Dem Festspiele, welchem der Kronprinz und die Kronprinzessin, Ersterer in der Uniform seines schlesischen Dragonerregiments, Letztere in dunkelrother Seidenrobe, von einer improvisirten und festlich decorirten Hofloge aus zugeschaut hatten, schloß sich der Festzug an, welcher sich, eröffnet von einer Schaar Hellebardiere, zweimal durch den Saal bewegte, ein Triumphzug des von allen seinen Getreuen, von der Fee Lurlei, von den durch ihre Zaubermacht in Thiere verwandelten Künstlern, welche je gewagt hatten, die Kunst des Pinsels an ihr zu versuchen, von den Strömen, Nixen, Gnomen, Mönchen und den goldenen Schätzen des Nibelungenhorts begleiteten „Vater Rhein“.

Inzwischen hatten sich zwei Gäste in die Gesellschaft eingedrängt, deren Gegenwart, wenn man ihnen nicht Genüge leistet, sehr lästig zu werden pflegt. Sie nennen sich Hunger und Durst. Kaum waren die letzten Nachzügler der großen Parade den Blicken entschwunden, als ein wahrer Sturm auf die Tische und Stühle begann.

Wir, das heißt acht Personen, vier Männlein und vier Weiblein, hatten für diesen Theil des Festes, der dem leiblichen Wohlbehagen gewidmet war, das große Loos gezogen. Durch die Vermittelung eines galanten „Satanello“, der Bacchus’ Spenden, wenn Einer, zu würdigen weiß, hatte uns die freundliche Wirthin der im Souterrain des Hauses befindlichen Becker’schen Weinhandlung die eigene Putzstube zum Speisesalon herrichten lassen. Hurtig entschlüpften wir dem wirren Gewühle des Festsaales, eilten in wärmender Mäntel Umhüllung über den Hof und standen in wenig Minuten vor einer reich mit Blumen geschmückten Tafel, an der sich uns das Märchen vom „Tischlein deck’ dich“ erfüllte. Da saßen wir denn, die der Zufall zusammengewürfelt, genossen der unvermischten Marke der altbewährten Firma und verscherzten die flüchtige Stunde.

Bei unserer Rückkehr in den Festsaal fanden wir die letzten Spuren des Soupers, in welche sich manche Seufzer gemischt haben sollen, beseitigt und die Paare bereits in lustigem Tanze begriffen, der indessen auch jetzt noch nicht zu seinem vollen Rechte gelangen sollte.

Es war gegen zwei Uhr, als die letzte Nummer des Festprogramms zur Aufführung kam, „des Künstlers Traum“ oder „bei Lichte besehen“, eine humoristische Pantomime von dem talentvollen Jacobsen, der diese Feste schon durch so manche heitere Gabe verschönt hat. Die Klänge des Fledermauswalzers bereiteten die Situation vor. – Ein Bildhauer kehrt in hochgradiger Weinlaune von einem Balle in sein Atelier heim. Er versucht noch zu arbeiten, aber vergebens. Einer fast vollendeten Bacchus-Statue schlägt er den rechten Arm entzwei. Er sinkt in tiefen Schlaf und träumt von einem reisenden Engländer, dessen getreue Copie dem Leser auf unserem Bilde vor Augen tritt. Der Sohn Albions bietet dem Künstler enorme Summen Geldes für die Werke seines Meißels. Da verlassen die Statuen ihre Postamente und gesellen sich dem Künstler und Käufer zu einem wilden Galopp. Mit dem dämmernden Morgen verschwindet die Vision und nichts bleibt dem Künstler zurück, als die Fatalitäten jener unbeschreiblichen Stimmung, durch welche der Gott sich an dem Staubgeborenen, der seines Feuersaftes ohne Maß genossen, zu rächen liebt.

Der Vorhang fiel, und nun erst, endlich, ja, endlich war es den tanzlustigen Füßchen vergönnt, sich fortan ohne weitere „dramatische Schranke“ im Kreise zu drehen, und nun erst kam auch der rechte Frohsinn zum Durchbruch.

Die „ungeheure Heiterkeit“ des unbefangenen „Sichgehenlassens“, der sprudelnde Witz, die kleinen komischen Intriguen und Neckereien freilich, welche die rechte Carnevalsstimmung mit sich bringen soll, blieben aus. Das auf der Einlaßkarte verzeichnete Motto: „Sei harmlos, so wirst Du den Harm los!“ kam, sofern unter dem „Harmlosen“ auch das Heitere und Humoristische begriffen sein sollte, erst in späterer Stunde zur Geltung, als die feierlich gemessene Würde, mit der sich die Versammlung anfangs bewegte, einer ungebundeneren Faschingslaune gewichen war, wie sie sich auf unserer Illustration darstellt. Der Contretanz, der in dem Nebeneinander und Gegenüber der verschiedenartigsten Figuren die merkwürdigsten und erheiterndsten Gegensätze entstehen ließ, gab das Signal, daß der Geist des Carnevals erwacht war. Dieser Geist wird sich noch weit froher, frischer und freier entfalten, falls bei dem nächstjährigen Winterfest des Berliner Künstlervereins der Costümball sich zu einem Maskenball erweitert haben wird.
M. R–y.




Blätter und Blüthen.


Aus New-York geht uns nachstehende Schilderung eines entsetzlichen Unglücks zu. Der Schreiber des Briefes ist Alexander Wallner, Franz Wallner’s ältester Sohn, der nach zurückgelegten Studien an der Universität Jena eine geachtete Stellung als Journalist in New-York einnimmt. Derselbe schreibt:

„Es ist die Zeit des Jahres, in der in allen katholischen Kirchen Festlichkeiten begangen werden. Um mir in einer solchen einen persönlichen Eindruck zu verschaffen, machte ich mich letzten Sonntag auf den Weg nach der St. Andreaskirche in der Douane-Street. Trotz des schlechten Wetters hatte sich eine große Menschenmenge vor der Kirche angesammelt, so daß ich einige Minuten aufgehalten wurde. Ich sah mir mechanisch die Umgebung der Kirche an. An dieselbe grenzt ein hohes, vielleicht sechsstöckiges Gebäude, das früher als Glaswaarenniederlage gedient hat. In letzter Woche jedoch hatte es in dem Gebäude gebrannt, und zwar so stark, daß nur die nackten Wände der Seitenmauern in die Höhe ragten. Die der Kirche zunächst befindliche Mauer zeigte bedenkliche Risse und war nothdürftig durch Eisenklammern etc. gestützt. Der Wind raste um die Ruine und brachte sie hin und wieder zum Schwanken. Unwillkürlich kam mir der Gedanke: ‚Wie, wenn die Mauer umstürzte und uns Alle erschlüge?‘ Doch ich hatte nicht Zeit, den Gedanken auszudenken; die Menge schob mich vorwärts, und ehe ich mich versah, befand ich mich auf der Empore. Der Gottesdienst begann, und ich dachte nicht mehr an meinen närrischen Einfall. Zudem fesselte mich der Pfaffe, der auf der Kanzel stand und seiner Gemeinde ordentlich einheizte. Er beschrieb die Schrecken der Hölle mit einer wahrhaft teuflischen Phantasie, und das dumme Volk lauschte andächtig diesen von Pech und Schwefel triefenden Expectorationen. Eben schilderte er markvoll die Qualen der zum ewigen Flammentode verurtheilten Unglücklichen, als urplötzlich ein furchtbares Gepolter ertönte. Meine flüchtige Befürchtung von vorhin war eingetroffen. Das sechs Stock hohe Gebäude war auf das Kirchendach gestürzt und hatte dasselbe in einem Umfange von mindestens vierzig Quadratfuß durchschlagen. Gewaltige Balken und Steine regneten förmlich herab, zumeist auf uns, die wir uns unglücklicher Weise auf der Empore befanden. Unmittelbar vor mir schlug ein kolossaler Ziegel mit solcher Wucht gegen die Brüstung, daß er dieselbe wie ein Schwefelholz zerknickte und mitsammt einem Stücke des Bodens in die untere Kirche hinabriß. Ich rettete mich vor den folgenden Geschossen nur durch einen entschlossenen Sprung in die Tiefe. Glücklicher Weise kam ich ohne jedwede Verletzung davon.

Die ganze Geschichte dauerte nicht halb so lange Zeit, wie ich zum Niederschreiben brauche. Der ersten Ladung folgte keine zweite, doch war Gefahr vorhanden, daß schließlich noch das ganze baufällige Nebengebäude auf uns niederrasseln könnte. Es war also nicht angenehm, in der Kirche bleiben zu müssen. Ich versuchte deshalb, mir einen Ausweg zu bahnen. Vergeblicher Versuch! Ebenso leicht hätte ich versuchen können, direct durch die Wände zu gehen.

Ein panischer Schrecken hatte sich der ohnehin durch die Predigt schon furchtbar aufgeregten Versammlung bemächtigt. Jeder glaubte, das jüngste Gericht sei nahe. In blinder Furcht hatte sich Alles nach den Thüren gestürzt, und da dieselben unglücklicher Weise nach innen schlossen, konnte Keiner heraus. Resignirt suchte ich mir einen möglichst sichern Platz unter der Kanzel und stellte meine Betrachtungen an über den groben Egoismus und die Rohheit der menschlichen Natur, die hier wieder so classisch an den Tag trat. Keiner bekümmerte sich um die Verwundeten, die auf dem Boden lagen. Ueber sie hinweg hatte sich der wüthende, wahnsinnige Strom gewälzt und die Unseligen zerstampft und zertreten. Da lagen sie todt hingestreckt. Die offenen Augen hatten noch den Ausdruck angstvoller Starrheit, der sich ihnen bei ihrem furchtbaren Tode eingeprägt hatte. Ein kleiner Junge war gefallen. Auch über ihn hatte sich die Menge hinweggestürzt und ihn getödtet. Die kleinen Hände waren noch wie flehend über dem Gesichte zusammengefaltet. Ringsumher lagen blutbespritzte Trümmer, Gebetbücher, Schirme, Hüte, Alles mit Blutflecken. Vor dem Altare stand eine große Blutlache.

Ein furchtbarer Moment folgte. Die Frauen kreischten, die Männer fluchten. Einer derselben schleuderte einen eichenen Schemel gegen das hohe Fenster, dessen Brüstung er herausbrach, um sich so zu retten. Er wurde verhindert. Man hing sich an seine Schöße. Die Bestie wollte nicht, daß sich Einer allein rette. Diejenigen, die noch auf der Galerie waren, sprangen herab, unbekümmert, ob sie auf die Köpfe der unten Zusammengedrängten trafen, oder nicht. Jeder kämpfte nur für das eigene Bischen Leben. Von allen Seiten die entsetzlichen Verzweiflungsschreie Derer, die, erdrückt, dem wüthenden Drängen der Menge zum [260] Opfer fielen. Es war furchtbar! Noch jetzt höre ich sie träumend und wachend in meinen Ohren gellen.

Endlich – eine Ewigkeit! – kam Hülfe. Die Thüren wurden erbrochen, und die Menge wälzte sich hinaus. Die frische Luft, der Gedanke der Rettung brachten Jeden wieder zur Besinnung. Man dachte jetzt nicht mehr an sich; jetzt, wo man gerettet war, gedachte man der Angehörigen. Da sah man Jammerscenen, welche die Feder zu schwach ist zu schildern. Mütter kreischten nach ihren Kindern; eine Tochter, die selbst durch einen fallenden Balken eine schwere Wunde davon getragen, suchte weinend nach ihrem bejahrten Vater. Die Polizei hatte die größte Mühe, die Menge von einem abermaligen Eindringen in die Kirche abzuhalten. Der Jammer und die Verzweiflung wollten kein Ende nehmen. Gar rührend war es aber, wenn einzelne Familienglieder, die sich im Gedränge verloren hatten, sich wieder fanden und einander lautlos und mit hellen Freudenthränen in die Arme fielen.

Langsam wurden die Todten und Verwundeten aus der Kirche geschafft. Jetzt erst stellte sich das Schreckliche heraus, daß Niemand von der eigentlichen Katastrophe direct getödtet war, sondern alle Getödteten erst dem Wahnwitz der sinnlosen Menge zum Opfer gefallen waren. – Die Verwundeten wurden in’s Parkhospital geschafft, wenn sie nicht von Angehörigen reclamirt wurden oder der Transport in’s eigene Haus nicht ausführbar war. Die Scenen, die sich hier entwickelten, riefen in ihren Details einen herzzerreißenden Eindruck hervor. Hier wurden die Verunglückten genäht oder verbunden; dort lag ein Mensch in jener apathischen Ruhe, die dem nahenden Tode vorangeht. Andere stöhnten und wanden sich in furchtbaren Krämpfen; wieder Andere zeigten im Gesicht den unsagbaren Ausdruck des Entsetzens, der keine Worte findet und jedem theilnahmsvollen Frager ein schreckliches Schweigen entgegensetzt, das mehr Grauen erregt, als ein blutüberströmtes Antlitz. An dem Schmerzenslager eines bildhübschen, durch vielfache Wunden entstellten Jungen stand ein verzweifelnder Vater, aus dessen Brust sich nur der leise, markerschütternde Ruf löste: ‚Mein Junge, Herr.‘ Dort lag ein junges, schönes Weib von achtzehn Jahren in den qualvollsten Convulsionen, umgeben von den angsterfüllten Verwandten, die dem vom Todesschweiße perlenden Gesichte Kühlung zufächelten oder die zuckenden Glieder hielten, und die würdige, ergraute Aufseherin flüsterte mit zitternden Lippen und thränenden Augen: ‚Wenig Hoffnung, mein Herr, sehr wenig Hoffnung.‘ Wie ergreifend war das Bild der reizenden Schwester, die mit der einen Hand den um sich schlagenden Arm der gräßlich Leidenden gefaßt hielt, während sie mit der andern die eigenen aufgelösten Locken zusammenzubinden suchte, die sich über die Augen verdunkelnd ergossen! Hier riß sich ein schwer Verwundeter den Verband von der klaffenden Kopfwunde, und der schnell zur Stelle eilende Arzt hatte Mühe, den fast Wahnsinnigen zur Vernunft zu bringen, bis die eintretende Erschöpfung des unglücklichen Patienten ihn von der traurigen Pflicht erlöste, dem Armen die Hände binden zu lassen. Dort bemühte sich ein Wärter, einem Anderen den Rock mit größtmöglichster Schonung abzuziehen, und der Verletzte begleitete jeden Ruck mit dem jammervollsten Stöhnen. Dort lag ein Knabe von zehn oder zwölf Jahren, dem Anscheine nach ohne besondere äußere oder innere Verletzungen, aber die Angst hatte ihm die Zunge gelähmt, so daß er außer Stande war, seinen Namen zu nennen. Man konnte nur so viel aus ihm herausbringen, daß er Nr. 18 Oak-Street wohne, und wir begaben uns zu seinen Eltern, um ihnen über den Verbleib und die Rettung des Sohnes Auskunft zu geben.

Blutige Kleidungsstücke lagen in schauerlichem Durcheinander auf dem Boden. Blutige Lachen bezeichneten die Stelle einer eben erst vorgenommenen Operation. Blutige Umrisse an den Wänden wiesen auf den Fleck hin, wo der Kopf eines Verwundeten geruht hatte. Dazwischen sah man die entsetzten Gesichter von Angehörigen, die ihre Eltern, Kinder oder sonstige Verwandten aufsuchten.

Die plötzliche Angst, von der die Menschen bei derartigen Katastrophen erfaßt werden, macht sie vollständig kopflos, so daß bei dem durch den Schrecken eintretenden Gedränge mehr Opfer fallen, als der Einsturz selbst gefordert hat. Ebenso ist der Eindruck, welchen die wirklich Verwundeten hervorbringen, bei Weitem weniger peinlich als derjenige, den der Anblick der Qual der äußerlich nicht Verletzten, sondern innerlich Zerquetschten hervorruft. Und dann das widerliche Schauspiel, neugierige Menschen zu sehen, wie gestern im Stationshaus in Franklin Street, wohin die Leichen gebracht waren! Während der Regierungszeit Ludwig’s des Vierzehnten wurden die zahlreichen Hinrichtungen hauptsächlich von Frauen besucht, und auch gestern waren es wiederum Weiber, allerdings von der niedrigsten Sorte, die es sich nicht versagen konnten, das Bahrtuch aufzuheben, um sich die armen Verunglückten anzuschauen. Die Polizei hatte Mühe, den Pöbel von dem Eindringen in das Local abzuhalten, der sich drängte, eine Scene zu betrachten, von welcher der vernünftige Mensch nur im Nothfalle Augenzeuge wird.

Doch genug von den Schreckensscenen. Wie man stets den Sack zu macht, wenn die Katze heraus ist, so auch hier: Das baufällige Gebäude wird abgetragen und der Eigenthümer vor die Grand Jury gestellt. Das wird den Opfern etwas helfen!“




Keine Frühlingslieder! Jede Jahreszeit bringt ihre Gefahren mit sich. Angesichts der uns alljährlich im Frühlinge drohenden Ueberschüttung mit „Liedern des Lenzes“, mit „Bächlein“, „Bäumlein“ und „Blümlein“ richten wir an den gesammten deutschen Dichterwald die Bitte: Edle Sänger und Sängerinnen, schont unseres Lebens! Dämmt die „Bächlein“ hübsch ab, damit sie rauschend und rinnend, unser Heim mit ihren Wellen nicht unbarmherzig überschwemmen! Zieht die „Bäumlein“ fein säuberlich an’s Spalier, die „Blümlein“ an den Stock, damit sie, wuchernd und wachsend, unsere Laube mit ihren Ranken nicht schier erdrücken! Wir bitten recht schön: Keine Frühlingslieder an

die Redaction der Gartenlaube!




Kleiner Briefkasten.

In Sachen der Artikel „Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin“ sind, außer vielen Zustimmungen und Anerkennungen auch einige Anfragen, Reclamationen etc. eingegangen und von der Redaction dem Verfasser zur Beantwortung überwiesen.

Derselbe erklärt zunächst im Allgemeinen, daß er sich vollkommen bewußt ist, welch außerordentliche Tragweite diese Artikel haben, und daß er deswegen mit der größten Vorsicht zu Werke geht – besonders da, wo er Namen nennt und bestimmte Fälle anführt. Er berichtet – Thatsachen, und ist jederzeit im Stande, dieselben in authentischer Weise zu belegen.

Von den eingelaufenen Briefen beantwortet er hier folgende:

F. L. in Manchester. Da Sie sich mit Selbstbewußtsein einen Manchestermann nennen, ist es ganz in der Ordnung, daß Sie für den Nachdruck schwärmen, und daß Ihnen das Verbot an der Spitze dieser Artikel ein Gräuel ist. Echt manchesterlich ist auch Ihre Logik – und Sie scheinen sich auf Logik (!) etwas zu Gute zu thun – daß solch Verbot gewissermaßen eine Aufforderung des Redacteurs an die Mitarbeiter ist: „Gebt Euch nur nicht zuviel Mühe! Außer den paar Hunderttausenden Leser der ‚Gartenlaube‘ sieht Eure Artikel kein Mensch.“ – – Im Uebrigen ist der Verfasser allerdings nicht nur der Ansicht, sondern der festen Ueberzeugung, daß Herr Strousberg und die Strousbergerei das nothwendige Product der Manchesterdoctrin sind, daß die Manchesterschule den jüngsten Börsen- und Gründungsschwindel entschieden mitverschuldet und unterstützt hat und daß sie ihn selbst heute noch zu beschönigen sucht, weshalb sie auch bei uns in Deutschland so ziemlich Bankerutt gemacht hat.

Abonnent seit 1858. Nummer 5 der Artikel wird Ihnen bewiesen haben, daß weder in Betreff des Namens noch des Wohnorts des bewußten Herrn ein Irrthum obwaltet.

Herrn S. G. in Leipzig. Es ist dem Verfasser nicht ganz klar, weshalb Sie reclamiren und ihm Unwahrheit vorwerfen. Hoffentlich sind Sie nicht Mitgründer der famosen „Altenburger Zuckerfabrik“, und zu den unglücklichen Actionären scheinen Sie auch nicht zu gehören. Ihr Brief bestätigt nur, was der betreffende Artikel sagt, daß nämlich in dem Subhastationstermin das Meistgebot (circa 200,000 Thaler, wie es dort heißt, während Sie genau 212,000 Thaler angeben) von einem Gläubiger ausging. Daß auch Nicht-Gläubiger geboten, aber, wie Sie einräumen – weniger, thut doch nichts zur Sache, und ist nach der Fassung des Artikels auch gar nicht ausgeschlossen. Mag nun im nächsten, endgültigen Termin wirklich ein höheres Gebot erzielt werden – für den armen Actionär ist es gleichgültig, da, wie Sie anführen, an 400,000 Thaler Buchschulden vorhanden sind. Der Artikel hat nur die betrogenen Actionäre im Auge; die Herren „Gläubiger“ werden sich schon zu salviren wissen.

Herren Ernst und Hermann W. in Rheine und Ilsenburg. Auch Sie sind, „als die nächsten männlichen Anverwandten“ des inzwischen Verstorbenen, zu einer Reclamation kaum legitimirt. Dennoch mögen Sie erfahren, daß der Betreffende u. A. nach Ausweis des Handelsregisters des Berliner Stadtgerichts unter den Gründern der wenig erbaulichen „Schloßbrauerei Schöneberg“ figurirt.

Postsecretär B. R. M. in Berlin. Sie sind entrüstet, daß „die ärgste aller Schwindeleien“, die „Berlin Charlottenburger Chemische Fabrik“, noch nicht zur Sprache kam. Es ist nun aber nicht gut möglich, Alles auf einmal zu behandeln; selbstverständlich wird auch gar nicht beabsichtigt, alle Gründungen vorzuführen – die Artikel würden dann kein Ende nehmen. Jedoch kommt die Gruppe der Chemischen Fabriken, die sämmtlich mehr oder weniger faul sind, allerdings an die Reihe, und da soll dann auch die Ihrige ein Plätzchen finden. Inzwischen lassen Sie sich’s zum Troste gesagt sein, daß solcher Gesellschaften, wo die Actionäre „nie einen Pfennig Zinsen erhielten und auch keinen Groschen vom Capitale wiedersehen werden“, noch Dutzende existiren und daß die Zahl Ihrer Leidensgefährten Legion ist.

Im Uebrigen bemerkt der Verfasser, daß er künftighin nur solche Anfragen beantworten kann, die ein allgemeines Interesse bieten, und daß er anonyme Zuschriften unberücksichtigt lassen wird.

     Berlin, im März 1875.
Otto Glagau.




Zum Ehrengeschenk für Arnold Ruge

gingen in Markbeträgen ferner ein: F. A. Brockhaus in Leipzig 100. –; Dr. L. Hermann in Aschaffenburg 21. –; B. Winkler in Breslau 10. –; Dr. Heimann in Wiegschütz 100. –; G. L. Gaiser in Hamburg 150. –; G. Rd. in Freiburg a. U. 3. –; F. G. in Windsheim 10. –; Primaner der Realschule in Eschwege 4. –; C. Dzondi in Auerbach (Voigtl.): In dankbarer Erinnerung seines liebevollen Lehrers auf dem Pädagogium zu Halle 30. –; Walther Wigand in Leipzig 300. –; O. L. in Fr. 15. –; Wilhelm Meyer in Gera 100. –; Edm. Schlesinger in Pforzheim 5.–; August Kuby, Weinhändler in Edenkoben 50. –; J. Schmitt, Billeteur in Gunzenhausen 3. –; Reinhold Wünschmann in Leipzig 30. –; Gerichts-Assessor Schirmer in Kinsheim 5. –; Director Pfähler in Dr. 75. –; Adolf Samter in Königsberg 100. –; Dr. W. in Uslar: Einer der selbst mitgekämpft und mitgelitten hat, 3. –; J. Löwengard in Frankfurt a. M. 30. –; H. Meinck in Stralsund 20. –; Gustav Mayer in Leipzig 50. –; Kreisrichter a. D. Dr. Lehmann in Berlin 75. –; Wilhelm Jentges in Crefeld 100. –.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Eine rühmliche Ausnahme machen unsere wohlgeschulten Novellisten Gustav Freytag und Paul Heyse; aber selbst Walter Scott, dessen sonst so kunstvoll durchgebildete Romane dem Epos oft nahe kommen, bringt neben der richtigen weit öfter die falsche Malweise in Anwendung.