Die Gartenlaube (1875)/Heft 11
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No. 11. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
So waren einige Monate ins Land gegangen. Der Sommer neigte sich zu seinem Ende; die einsame Braut dachte wohl mit stillem Seufzen daran, was im rauhen Winter aus dem gejagten Wild in den Bergen werden würde, und ihre Zuversicht auf Maino’s Stern fing an wankend zu werden. Da saß eines Abends, als der Mond eben über dem Dache des Kirchleins heraufglänzte, der Pfarrer von Spinetta in der Küche, wo er seine Mahlzeiten an einem Tischchen nahe beim Herde einzunehmen pflegte; die alte Magd hatte ihm das Schüsselchen mit Polenta aufgetragen, dazu den Teller mit Brod und Oliven und wollte nur noch in den Keller, um unten die Flasche mit rothem Landwein zu füllen, als die Thüre sacht aufgemacht wurde und mit einem „Guten Abend, Herr Pfarrer!“ ein Mann in wunderlichem Aufzuge über die Schwelle trat. Er glich in der That den phantastisch aufgeputzten Räuberfiguren, wie sie in Italien sonst nicht zu finden sind, außer auf Opernbühnen, wenn „Fra Diavolo“ in Scene geht. Ueber der Schulter hing eine treffliche englische Doppelbüchse; in dem großen rothseidenen Shawl, der die Hüften umgürtete, steckten zwei silberbeschlagene Pistolen. Gesicht und Hände zeigten sich wohlgewaschen, und das krause Lockenhaar war glänzend von wohlriechendem Oel. Der Pfarrer, der sofort den berühmten Helden von Spinetta erkannt hatte, erschrak trotz alledem und starrte die Erscheinung stumm mit großen Augen an, während die alte Magd sich schreiend hinter den Herd flüchtete. Maino aber trat mit einem zutraulichen Kopfnicken näher, nahm den breiten Hut mit der wallenden Feder ab, daß die lange goldene Kette daran klirrend die Steinfliesen streifte, und bat den hochwürdigen Herrn, ganz unbesorgt zu sein, er habe nichts Böses gegen ihn im Sinne, wolle ihn auch nicht länger incommodiren, als bis er den Zweck seines Besuchs erreicht habe, der kein anderer sei, als daß die Trauung, die neulich so unliebsam gestört worden, nunmehr in aller Form zu Ende gebracht werde.
Hiermit winkte er nach der Thür zurück, und Pia trat schüchtern herein, im Brautstaate, wie damals, nur daß man ihr ansah, wie wenige Minuten sie auf ihren Putz hatte verwenden dürfen. Hinter ihr sah man im Hausflur allerlei dunkle Gestalten mit blitzenden Gewehrläufen, und vor dem Hause schien die ganze Bevölkerung von Spinetta in athemloser Aufregung der Dinge zu harren, die da kommen sollten.
Der Pfarrer, der um Vieles beherzter war als sein berühmter College Don Abbondio, sah dennoch ein, daß hier von Widerspruch keine Rede sein konnte, und da alle üblichen Präliminarien schon vor dem ersten Hochzeitstage ins Reine gebracht waren, konnte auch sein geistliches Gewissen nichts gegen die Einsegnung dieser Ehe einwenden. Nur erlaubte er sich die Frage, ob Maino auch ganz sicher sei, daß die Hochzeit nicht abermals durch einen Protest der weltlichen Macht unterbrochen werden würde, worauf der Bräutigam, der seit seiner Hauptmannswürde um ein paar Zoll gewachsen zu sein schien, mit einem überlegenen Schmunzeln erklärte: Bis an den andern Tag würden sie ganz traulich unter sich bleiben, da er Sorge getragen, die neidischen Störenfriede in einen sichern Gewahrsam zu bringen. Die beiden gottverdammten Hallunken, Barbone und sein schuftiger Kamerad, lägen mit neuen Stricken gebunden im Spritzenhäuschen, das zum Ueberfluß verschlossen sei und wohl bewacht werde. Diese Nacht gedenke er mit seiner jungen Frau in ihrem Hause zuzubringen, morgen aber seiner Heimath für lange, wo nicht für immer den Rücken zu kehren. „Ein Galantuomo, Herr Pfarrer,“ schloß er seine Rede und lachte dabei so freudig, daß all’ seine weißen Zähne im Herdfeuer blinkten, „ein Galantuomo findet sein Vaterland überall, wo es Galantuomini giebt, und in unserm benedeiten Piemont sind diese Früchte so selten, wie Feigen auf dem Kirchendach. Ich gedenke mit meiner Frau mich in Frankreich niederzulassen, oder auch in Spanien, da gilt Jeder nur was er ist. Das beste Gericht, Herr Pfarrer, ist nicht mehr schmackhaft, wenn es angebrannt ist, und meine Feinde hier im Lande haben einen Rauch und eine Stänkerei angestiftet, daß es einem in die Augen beißt. Uebrigens verlang’ ich nichts umsonst, Hochwürden, und hier sind die Traugebühren.“
Er trat an das Tischchen und zählte ein Dutzend blanker Goldstücke neben das Lämpchen hin. Dabei konnte der Pfarrer sehen, daß sein Gang schwankend war und seine Hände ein wenig unsicher. Er hatte offenbar stark gezecht, und das geringste Hinderniß, das seinen Willen kreuzte, konnte den treuherzigen Uebermuth seiner Weinlaune in wildesten Jähzorn verwandeln.
Also besann sich der Pfarrer keinen Augenblick, diese fürstliche Vorausbezahlung einzustreichen, und erklärte sich bereit, dem Paare in die Kirche voranzugehen.
Es war inzwischen aus Dämmerung Nacht geworden, aber die Straße zwischen dem Pfarrhause und der Kirche gleichwohl hell erleuchtet, von einer Menge Fackeln, die Maino’s zahlreiches Gefolge mitgebracht hatte, und überdies von den Lämpchen und [174] Kerzen, mit denen „auf höheren Befehl“ alle Einwohner des Dorfes ihre kleinen Fenster illuminirt hatten. Die Leute von Spinetta mochten gleichfalls schon auf Kosten ihres berühmten Mitbürgers mehr als ein Glas geleert haben. Wenigstens waren sie Alle in hochzeitlichster Stimmung und empfingen den Pfarrer und das Brautpaar beim Heraustreten aus dem Hause mit schallenden Hochrufen, in welche sich Freudenschüsse mischten, die jetzt ordentlich schadenfroh klangen, da die Feinde dieser harmlosen Festmusik sie von fern in ihrem finstern Kerker vernehmen mußten. An anderen Tonwerkzeugen fehlte es auch nicht. Zwei Guitarren und eine Clarinette waren im Dorfe vorhanden, die ihre Künste jedoch für das Hochzeitsbankett in der Schenke aufsparten.
Als nun der Pfarrer und die Brautleute vor den Altar traten, gab es noch eine kleine Zögerung. Der Bräutigam bestand darauf, daß außer den beiden schon angezündeten Kerzen sämmtliche Candelaber mit Wachslichtern besteckt und die Kirche wie bei den allerhöchsten Festen rundum erleuchtet werden sollte. Das Geld für diesen Aufwand legte er, ohne lange zu zählen, mit der vollen Faust auf das Taufbecken und befahl, inzwischen die Orgel zu spielen, und zwar seine Leibstücke, die damals in Schwang gehenden kriegerischen Volkshymnen und eine Tenorarie aus einer beliebten Oper. Inzwischen war die armselige Kirche in einen märchenhaften Glanz getaucht worden, und wie nun Alles bereit war und der schlanke, stattliche Bursch im vollen Waffenschmuck seine schöne Braut vor den Altar führte, ging ein „Ah!“ der Bewunderung durch die Kopf an Kopf gedrängte Menge, und Jeder von den Burschen hätte trotz Bann und Acht gern mit dem Bräutigam getauscht, so wie jedes Mädchen mit der glücklichen Braut.
Der Pfarrer aber, dem es allein von Allen bei der Sache nicht geheuer war, sputete sich, mit seinem Spruch und Segen zu Ende zu kommen, und wollte, da nun das Paar seinen Willen erreicht und sich untrennbar verbunden hatte, mit einem eilfertigen Lebewohl sich in die Sacristei zurückziehen. Maino indessen trat ihm höflich in den Weg und sagte, immer mit einem seltsamen Ton der Stimme, wie ein Mensch, aus dem der Wein redet:
„Hochwürdigster Herr Pfarrer, getraut wären wir nun, dem Herrn Barbone und dem hochlöblichen Governo in den Bart; aber nun müßt Ihr noch ein Uebriges thun.“
„Ich verstehe dich nicht, mein Sohn,“ versetzte der Pfarrer, der seine Bestürzung über die neue Zumuthung nur mühsam verhehlte.
„Ich habe nämlich einen heiligen Eid geschworen, bei den sieben Wunden unseres Erlösers, daß ich diese Kirche nicht verlassen will, bis ich und meine geliebte Gattin, Signora Pia Maino, zum Kaiser und zur Kaiserin von Spinetta gekrönt worden sind. Ihr müßt nämlich wissen, Hochwürden, dieses mein Weib ist die Krone und Perle unter allen Weibern, als solche schon in ihrer Kindheit anerkannt durch den größten Mann des Jahrhunderts und aller Zeiten, der sie auf die Stirn geküßt hat, weil er sie für ebenbürtig und ihre Stirn für würdig erklären wollte, auch dermaleinst eine Krone zu tragen. Und darum bitte und ersuche ich Euch, Herr Pfarrer, da Ihr noch zugegen seid, die Krönung und Salbung an uns zu vollziehen. Es geht in Einem hin, und was die Gebühren betrifft –“
Er griff wieder in seine Tasche, um die Börse hervorzuholen.
„Du scherzest, mein Sohn,“ sagte der Geistliche, indem er zu lächeln versuchte. „Wer bin ich, daß ich weltliche Ehren zu verleihen hätte, auch wenn du und deine junge Frau ihrer noch so würdig wäret? und überdies, womit sollte ich euch krönen und salben? In unserem armen Gotteshause –“
„Das sind Possen und Winkelzüge – mit gütiger Erlaubniß, Hochwürden. Ihr habt keine Lust zu dieser heiligen Handlung und haltet uns der Krönung nicht würdig. Ich aber weiß, was ich sage, und will nicht mehr werth sein als ein Haar im Bart des Barbone, wenn ich ungekrönt aus dieser Kirche weggehe. Macht also keine Umstände! Salböl findet sich genug dort in der ewigen Lampe vor dem Bild der Madonna. Und was die Kronen betrifft –“
Er ließ seinen Blick an den Wänden neben dem Altar herumschweifen, dann schritt er ganz gelassen auf ein Paar lebensgroße Heiligenfiguren zu, die auf kleinen Säulen standen und uralte, verstäubte Kronen von Goldblech trugen. Zwei von diesen nahm er ab, blies den Staub aus dem durchbrochenen Zierath und polirte die Vergoldung mit dem Aermel seiner sammtenen Jacke blank; dann trug er die beiden Kronen sorgsam nach dem Altar zurück und legte sie auf die Decke vor dem Tabernakel nieder.
„Da!“ sagte er. „Die mögen's für diesmal thun. Und nun ans Werk!“
„Maino!“ rief seine junge Frau mit dem Ausdrucke des höchsten Grauens und Entsetzens. „Was hast du gethan? Die Heiligen im Himmel –“
Sie vollendete nicht. Ein Blick ihres Gatten hatte sie verstummen gemacht.
Aber der Pfarrer ließ sich von diesen gebieterischen Augen nicht einschüchtern. „Ich verwahre mich feierlich gegen solchen Frevel,“ rief er mit so lauter Stimme, daß selbst Maino's wilde Gefährten zusammenfuhren. „Weißt du, Verblendeter, daß du den Zorn Gottes herausforderst, wenn du dich am Kirchenschmucke, an den Kronen der Heiligen, vergreifst, um deiner weltlichen Hoffahrt damit zu dienen? Hebe dich von hinnen und bete zur allerseligsten Jungfrau, daß sie dir diese tempelschänderische That vergebe und Fürbitte einlege bei dem Herrn des Himmels! Ich aber wasche meine Hände in Unschuld; ich habe keinen Theil an dieser Entweihung des Heiligsten.“
Mit diesen Worten wandte er sich hastig ab und war sammt dem Knaben, der ihm bei der Trauung ministrirt hatte, ehe ihn Jemand aufzuhalten dachte, in der Sacristei verschwunden.
Einen Augenblick schien es, als ob dieser muthige Protest auch auf Maino's verwilderte Seele Eindruck gemacht hätte. Dann aber loderte der alte phantastische Uebermuth wieder in ihm auf, und er rief mit lachendem Munde: „Gehe hin, kleinmüthiger Knecht des Herkommens, armseliger Bauernpfaff, der du nicht weißt, wie man mit hohen Herren umzugehen hat. Was ich geschworen, will ich trotz deiner und ohne dich halten. Hat nicht der große Kaiser die eiserne Krone in Mailand sich selbst aufs Haupt gesetzt, da er wohl wußte, daß die Hände eines messesingenden Hasenfußes zittern würden, wenn er dies Geschäft ihnen anvertraute? Nun denn, meine Freunde, so will auch ich thun und mich und mein geliebtes Weib mit eigenen Händen krönen und dazu sprechen, wie Jener in Mailand sprach: ‚Gott hat mir diese Krone gegeben; wehe Dem, der daran rührt!‘“
Indem er dies sagte, ergriff er mit beiden Händen zugleich die beiden Kronen und setzte sie sich selbst und seiner Neuvermählten auf, ohne die abwehrende Geberde der Pia zu beachten, die wieder auf ihre Kniee gesunken war und, wie von einer Schlange gebissen, zusammenschauderte, als das leichte metallene Geschmeide ihre Stirn berührte. Auch haftete das Krönchen nicht in ihrem Haare, sondern fiel auf die Stufen des Altars herab; ein Knabe vom Dorf hob es auf. Maino dagegen trug sein kaiserliches Diadem, wie wenn es auf seinem Haupte festgeschmiedet wäre, und als auf einen herrischen Wink seine Gefährten in jubelnden Zuruf ausbrachen und Kaiser und Kaiserin von Spinetta glückwünschend umdrängten, hob er die knieende junge Frau von dem Teppich auf, sprach ihr ernst, aber zärtlich zu, daß sie sich zusammennehmen und ihrer Würde eingedenk sein sollte, und führte sie dann durch die Reihen des Volkes hinaus, der Schenke zu, wohin alle Zeugen dieser seltsamen heiligen Handlung in dichtem Schwarme nachfolgten.
Wieder erschallten Freudenschüsse, und jetzt mischten sich auch die bescheidenen Klänge der Clarinette und der Guitarren mit ein, aber die Hochzeitsgäste waren sonderbar still geworden, und erst der Wein, der auf Kosten des Bräutigams in Strömen floß, vermochte die erstarrten Zungen zu lösen. Dazwischen aber blickten die Leute immer wieder mit heimlichem Grauen auf die blanke Krone, die der Festgeber auf seinen krausen Locken trug, und raunten sich scheu und halblaut zu, wie bleich und stumm die junge Frau neben dem Maino sitze, völlig abwesenden Geistes, und habe noch nicht die Lippen mit dem rothen Weine genetzt, und auch kein einziges Mal gelacht über die anzüglichen Späße, die der lahme Beppe, der officielle Buffone des Dorfes, bei dieser wie bei jeder Hochzeit zum Besten gab. „Alles wäre [175] recht und gut,“ flüsterte der Bader seinem Gevatter, dem Schmied, in’s Ohr, „Alles wäre, wie sich’s gehörte, denn die Leute im Buschwalde wollen auch Weiber nehmen, und mit der Copulation ist’s ja hier obenein in regola abgelaufen; aber das mit der Krönung, Gevatter, denkt an mich, das bekommt ihm noch schlimm. Sacrilegium bleibt Sacrilegium, und mit dem Governo mag man’s verderben, aber geistlich Regiment läßt nicht mit sich spaßen. Seht nur die Pia! Ist’s nicht, als wäre ihr was unter der Stirn zu Stein geworden, als die geweihte Krone sie berührt hat? Indessen, was kümmert das uns? Wir trinken Maino’s Wein, weil wir müssen, denn andernfalls würde er es als eine Beleidigung ansehen und schwer an uns rächen, das können wir vor Gericht beschwören, wenn sie uns fassen wollen. Im Uebrigen mag er sehen, wie er davonkommt!“
Der, dem diese Worte galten, schien um Nichts weniger besorgt, als wie er sich für Alles, was er gethan, verantworten möchte. Er saß mit strahlendem Gesicht mitten unter seinen zechenden Gästen, trank seinerseits nur selten seinen Becher aus, war aber der Fröhlichste und Redseligste von Allen. Er belachte jeden der dürftigen Späße, mit denen der Buffone seiner kaiserlichen Hoheit und ehelichen Würde huldigte, und erzählte dazwischen allerlei drollige Geschichten von dem freien und verwogenen Leben, das er im Waldgebirge geführt hatte. Zuweilen auch sang er mit seiner hellen Stimme ein zärtliches Liedchen und drückte dabei die stumme Braut, die neben ihm saß, fester an sich, ohne sich über ihr seltsam versonnenes und starres Wesen zu verwundern. Nur als das junge ledige Volk zu tanzen anfing und auch das Hochzeitspaar sich erhob, fiel ihm die Todtenblässe ihres Gesichtes auf. Er zog sie sanft und dringend mit sich fort in den stillen Garten der Schenke und befragte sie, was sie habe, ob ihr nicht wohl sei. Statt aller Antwort fiel sie ihm um den Hals, preßte ihn mit ängstlicher Heftigkeit so fest in die Arme, daß ihm fast der Athem verging, und er fühlte, daß sie über den ganzen Leib zitterte wie von Fieberfrost geschüttelt.
Auf all seine Bitten und Fragen aber blieb sie hartnäckig die Antwort schuldig, so daß er es endlich aufgab, aus seinem wunderlichen jungen Weibe klug zu werden, zumal er überlegte, daß die Aufregungen dieses Tages auch eine starke Natur wohl aus dem Gleichgewicht bringen konnten. Also beschloß er, sie sofort dem Festesgetümmel zu entziehen, da sie ohnehin nicht lange in den Tag hineinschlafen durften, sondern mit dem ersten Morgengrauen aufsitzen und ihrem Versteck im Gebirge zusprengen sollten.
Ohne sich erst von den Hochzeitsgästen zu verabschieden, führte er seine Liebste, die wie traumwandelnd neben ihm hinschritt, nach ihrem eigenen Häuschen. Die kleine Margheritina war schon für diese Nacht bei einer guten Frau untergebracht, die sich auch fernerhin ihrer annehmen wollte. Denn das Kind sollte nicht wie die Schwester seine Heimath für immer verlassen. Nur das Hündchen Brusco war den heimlich Entweichenden gefolgt, klingelte mit seiner silbernen Schelle lustig voran und schlüpfte auch in die Brautkammer mit hinein, wo es sich in seinem gewohnten Winkel auf die Strohmatte niederkauerte und sofort einschlief.
Um Mitternacht war auch Maino eingeschlafen, und der Mond, der oben durch das Loch im Fensterladen hereinsah, mochte weit und breit kein friedlicheres und seligeres Menschengesicht bescheinen, als das des jungen Geächteten, der den Schlaf des Gerechten zu schlafen schien. Seine Krone hatte er auf den Schemel am Bette gestellt, auf seine Kleider und Waffen, wo sie neben der kahlen Wand und dem schlechten dörflichen Geräth wunderlich gleißte. Die Krone der Pia war in der Schenke zurückgeblieben.
Nicht viele Stunden mochte er geschlafen haben, doch hatte der Hahn noch nicht gekräht, und eben erst zuckte fern am östlichen Rande des Himmels ein falber Morgenschimmer auf, da hörte Maino mitten im glücklichsten Liebestraume das Hündchen winseln, und mit der Behendigkeit, die er in seinem Banditenleben gelernt, strich er den Druck des Schlummers von den Wimpern und richtete sich im Bette auf.
Der Platz an seiner Seite war leer, der Laden aber halb aufgemacht, so daß er in dem grauen Zwielicht Alles, was in der Kammer war, erkennen konnte. Da sah er sein junges Weib auf dem Strohsessel am Fenster sitzen, einen Handspiegel auf den Knieen haltend, mit der anderen Hand bemüht, die Krone auf ihrem Haupte zu befestigen, was ihr nur mit Mühe gelang. Sie war so leicht bekleidet, wie sie aus dem Bette gestiegen war, aber ihr aufgelöstes dichtes Haar fiel ihr wie ein Mantel über die nackten Schultern. Dabei lächelte sie beständig ihr Abbild im Spiegel an und summte mit gedämpfter Stimme eine der Strophen, die Maino am Abend vorher gesungen hatte, worüber das Hündchen aufgewacht war, das nun mit scheuem Winseln um seine Herrin herumstrich.
„Pia!“ rief der tödtlich Erschrockene, „du bist schon aufgestanden? Was thust du da am Fenster? Es ist noch nicht Morgen. Sie werden uns wecken, wenn es Zeit ist; ich hab’ es ihnen auf’s Strengste eingeschärft. Komm! Lege die Krone weg! Schlafe noch eine Stunde – der Weg ist weit und du bist das Reiten nicht gewöhnt –“
„Zitto!“ machte sie, indem sie den Finger warnend aufhob, doch ohne sich nach ihm umzuwenden. „Hörst du nicht? Sie kommen schon. Ich habe mich schmücken müssen zu der Huldigung – eine Kaiserin darf sich nicht ohne ihre Krone dem Volke zeigen – sie will aber nicht festsitzen – so – so – so – nun geht es – nun noch den Purpurmantel –“
Im Nu war Maino aus dem Bette gesprungen und in die Kleider gefahren. „Pia,“ flehte er, während er die Jacke umwarf, „ich beschwöre dich bei allen Heiligen –“
„Still!“ unterbrach sie ihn. „Rufe die Heiligen nicht an! Mit denen haben wir’s verschüttet. Sie sind uns böse, weil sie ihre Kronen an uns haben abtreten müssen. Aber,“ und hier lächelte sie mit einem wunderlich verschmitzten Ausdruck, „ein hungriger Esel frißt seine eigene Streu – Noth kennt kein Gebot – warum hat der Goldschmied unsere Kronen nicht zur rechten Zeit fertig gebracht? Die guten Heiligen können wohl einmal barhaupt gehen – hahaha!“
Er stürzte zu ihr hin und faßte ihre beiden Hände, die eiskalt waren, und berührte ihre Stirn, die ebenfalls wie Marmor sich anfühlte. „Misericordia!“ rief er. „Du träumst, Pia! Wach’ auf! Siehe, hier bin ich, dein Maino, dein Gatte, dem du das Herz im Leibe schmelzest mit solchen unsinnigen Reden. Lege dich nieder, meine süße Frau, und schlaf diese Possen aus! Ich Unseliger, daß ich es dahin habe kommen lassen!“
„Nein, nein, nein!“ sprach sie vor sich hin. „Mache mich nicht irre! Mein Gemahl der Kaiser war die Nacht bei mir, dann aber ist er weggegangen, in den Krieg, denn wir haben so viele Feinde. Es ist erschrecklich, wie Größe gehaßt und Hoheit beneidet wird. Aber mein kaiserlicher Herr wird sie Alle niederwerfen, daß ich den Fuß auf ihren Nacken setze. Dann werden wir regieren in Freude und Herrlichkeit, und Brusco wird Statthalter von Spinetta, wenn wir selbst unsere Provinzen bereisen. So – so! Sitzt die Krone nun recht kaiserlich? Es ist noch ein bischen Spinneweb daran; das thut Nichts – das ist um so heiliger – Kaiserin Pia – so sollen sie mich nennen – und meinen Gemahl – wart’, wie heißt er nur gleich? Er hat einen süßen Namen, und er hat mich tausend Mal geküßt – aber das sind Kindereien, daran dürfen wir erst wieder denken, wenn all unsere Feinde – horch! Da kommen sie!“
Sie war vom Sessel aufgefahren; das Spiegelchen glitt ihr vom Schooß und zersprang klirrend auf dem Steinboden der Kammer – sie achtete es nicht; sie lehnte am Fenster und starrte mit großen Augen in das Zwielicht hinaus. Maino stand, von Jammer überwältigt, vor ihr; er hatte keinen Gedanken, als an die Zerrüttung dieses geliebten Wesens, die er sich selbst zuschreiben mußte. Mit leisen flehenden Worten suchte er sie vom Fenster wegzuschmeicheln. Aber sie schien seine Stimme nicht zu hören, nur mit der Hand wehrte sie ihn von sich ab und drückte sich fest an den Rahmen des kleinen Fensters. „Jetzt!“ rief sie auf einmal. „Hörst du auch jetzt noch nichts? Da sind sie. Nun, sie mögen kommen. Ich bin bereit.“
In der That hörte auch er jetzt ein seltsam dumpfes Geräusch, das durch die graue Morgenluft herandrang. Es war nicht Hufschlag der Pferde, auf denen seine Gefährten vor das Brauthaus sprengen sollten, um ihren Anführer zu wecken und ihn und sein junges Weib zur Flucht zu mahnen. Ein Menschenhaufe näherte sich, behutsam auftretend, zu Fuß; die Dorfgasse kam es heran – es konnte kaum noch fünfzig Schritte entfernt [176] sein. Rasch entschlossen stürzte Maino in das größere Gemach nebenan, das Küche und Wohnraum zugleich war und ein Fenster nach der Straße hatte. Durch den Spalt des Ladens konnte er ins Dorf hinaus spähen. Da sah er einen Trupp Soldaten vorsichtig herannahen. Unfern des Hauses machten sie Halt. Er erkannte seinen alten Feind, den Barbone, der mit dem Sergeanten Rath zu halten schien. Eine furchtbare Klarheit durchzuckte sein Gehirn: die beiden Gefesselten hatten sich ihrer Bande zu entledigen gewußt, durch List oder Verrath die Riegel ihres Kerkers gesprengt und von Alessandria Hülfe herbeigeholt. Wo waren nun seine armen Gefährten? Sicherlich hatte es wenig Mühe gemacht, die vom Hochzeitswein Taumelnden zu überwältigen. Aber der Hauptstreich sollte nun erst geschehen: der Anführer und Häuptling der Geächteten sollte in der Brautkammer überfallen und wie Simson von den Philistern in Ketten und Banden davongeführt werden.
Mit einem wilden Fluch fuhr der doppelt Unglückselige zurück. Er hatte im Nu begriffen, daß Alles verloren war, wenn nicht in den nächsten Minuten noch die Flucht gelang.
„Pia!“ rief er, in die Kammer zurückstürzend, „man will uns fangen und fortschleppen. Die Verfolger sind schon ganz nah, aber wir können uns noch retten; hier zu diesem Fenster hinaus, durch das Maisfeld, hinten an den Scheuern vorbei – mich holt so leicht Niemand ein, und wenn du dich nur sputen willst –“
„Es ist gut,“ hörte er sie erwidern; „ganz gut, daß wir hier fortkommen. In der That, ich bin neugierig, unsern Palast zu sehen. Aber zu Fuß gehe ich nicht – das ist nicht kaiserlich; sie sollen mir die Karrosse schicken mit sechs milchweißen Pferden – schön – schön – die Heiligen haben es nicht besser –“
„Wenn dir dein und mein Leben lieb ist, süßes, geliebtes Kind, so komm’!“ drängte er sie in verzweifelter Hast, indem er versuchte, ihr ein Tuch um den entblößten Nacken zu werfen. „Noch drei Secunden – so ist es zu spät – und wir – hörst du mich nicht? Kennst du mich nicht mehr?“
„Rühre mich nicht an, Verwegener!“ rief sie mit flammendem Blicke. „Ich kenne dich wohl – du bist mit unseren Feinden im Bunde; du willst unserer Majestät nicht huldigen, wie sich’s gebührt – aber bei der Krone auf meinem Haupte schwör’ ich es –“
„Nun, so sei Gott deiner armen Seele gnädig!“ rief er und drängte sie vom Fenster weg; „so flieh’ ich allein und komme dich zu holen, wenn dein armer Kopf wieder in den Fugen ist. Gute Nacht, mein Weib!“
Er hatte seine Waffen vom Schemel aufgerafft, drückte das arme blasse Geschöpf noch einmal an sein Herz und schwang sich dann über das niedrige Fenstersims in den dunklen Hof hinaus. In demselben Augenblick pochten die Gewehrkolben der Soldaten an die vordere Thür; Stimmen wurden laut, die Maino riefen, das Hündchen bellte heftig dazwischen, und das Haus erdröhnte von den wuchtigen Stößen, mit denen man die Thür zu sprengen suchte. Plötzlich fiel von der anderen Seite ein Schuß; schreiende Stimmen, Stöhnen und der Ruf: „Mord! Mord! fangt den Mörder!“ wurden rings um das Haus her laut; darauf gab die Thür nach, und die bewaffnete Schaar drang in das todtenstille Gemach. Als sie hier Niemand fanden, betraten sie, eine Fackel vorantragend, die Kammer. Da sahen sie das bleiche junge Weib am Fußende des Bettes sitzend, die Krone noch immer auf dem Haupt, die nackten Arme über der Brust gekreuzt, mit einem stillen, feierlichen Lächeln ihnen zunickend, als danke sie ihnen, daß sie gekommen, ihr zu huldigen.
Grauen hemmte den Schritt der wild Hereingestürmten, und eine Weile wagte Niemand das Schweigen zu brechen. Erst als einige Soldaten den Barbone hereinschleppten, der den entfliehenden Maino hatte fassen wollen und mit einer tödtlichen Kugel von seinem alten Feinde abgewehrt worden war, kam Bewegung und Unruhe in die verschüchterte Schaar. Sie wollten den Verscheidenden auf das Bett heben, wo die Irre noch immer saß, die nicht von fern zu ahnen schien, was vorging. Aber der Mann des Todes, der mit einem halberloschenen Auge die weiße Gestalt auf dem Bett erkannte, machte eine heftige Geberde des Abscheues und sträubte sich davor, das Lager zu berühren. Man streckte ihn auf dem Steinboden zu den Füßen der Kronenträgerin aus, die huldvoll lächelnd auf ihn herabsah. Da gab er nach wenigen Minuten seinen Geist auf, ehe noch der Pfarrer herbeigeholt werden konnte. –
Von dem glücklich Entflohenen hat man nie wieder etwas gehört. Nur so viel ist durch eine alte Frau, die Nachts zur Bewachung der armen Irren in der Küche ihr Lager aufschlug, bekannt geworden, daß etwa eine Woche nach diesen Ereignissen im einer stürmischen Herbstnacht Maino mit einem Pferde, dessen Hufe mit Lappen umwickelt gewesen, sich ins Dorf gewagt habe, um seine Geliebte wiederzusehen und sie mit sich zu nehmen auf seine Irrfahrt in die weite Welt hinaus. Die Pia habe ihn auch zuerst wieder erkannt und Freude über sein Kommen bezeigt. Als er sie aber in seine Arme habe schließen wollen, sei sie vor ihm zurückgebebt, wie wenn der Tod sie an sich ziehen wollte, und habe so kläglich zu jammern und zu weinen angefangen, daß er wohl erkennen mußte, es sei Alles umsonst. Da habe er sich mit bitterem Schmerze von ihr losgerissen und in einem ledernen Beutel einen großen Haufen Gold ihr zurückgelassen, um sein Weib für alle Zeit vor Elend zu schützen. Dann sei er davongesprengt auf Nimmerwiedersehen.
Diesen Beutel fand am andern Morgen die Hüterin der Pia auf dem Fenstersimse und übergab ihn dem Pfarrer, der das Geld der Kirche zuwendete, um für die Seele der armen Wahnwitzigen und ihres sündigen Gatten Messen zu lesen. Welch ein Ende der Flüchtling gefunden, ist bis auf diesen Tag nicht bekannt geworden. Das aber steht fest, daß noch in den vierziger Jahren vor dem letzten Hause von Spinetta täglich ein armes Weib in der Sonne zu sitzen pflegte, einen leeren Spinnrocken in der Hand, den sie wie ein Scepter gegen die Vorübergehenden neigte, immer sanft und freundlich und die eisgrauen Haare, da man die Krone dem Heiligen wiedergegeben hatte, wie ein Diadem über der Stirn zusammengeflochten; die Kinder, die zur Schule an ihr vorbeimußten, nickten ihr zu und sagten jedesmal: „Gott segne dich, Kaiserin von Spinetta!“ – worauf die Frau erwiderte: „In Ewigkeit, Amen!“
Eine Gesundheitshalle.
Ein plötzlicher Schneesturm hatte mich auf meinem allabendlichen Gang zum Bade in die Thorhalle der Pleißenburg getrieben, wo sich bald eine Anzahl schutzsuchender Flüchtlinge zusammenfand. Unter diesen begrüßte mich ein Freund, der erst kurze Zeit aus dem bairischen Oberfranken nach Leipzig übergesiedelt war; er fragte mich:
„Ja, wohin wollten Sie denn bei dem sanften Wetter?“
„In’s Bad, um meine Lungen und Flossen durch Schwimmen zu stärken,“ antwortete ich.
Mein strammer Franke schrak vor dem kühnen Gedanken förmlich zusammen und rief: „Bei der Kälte in’s Flußwasser? Ich glaub’, Sie – (er sprach das Compliment nicht aus). Herrgott, da kriegt man ja den Gefrörer (fränkisch: Fieberschauer), wenn man nur daran denkt.“
„Kommen Sie nur getrost mit mir!“ erwiderte ich. „Ich weiß im voraus, daß Sie, ehe eine halbe Stunde vergeht, als der fröhlichste Mensch sich im Wasser tummeln und es so erfrischt und gestärkt an Leib und Seele verlassen, wie nur irgendje das schönste Sommerbad.“
Ich erklärte ihm nun, daß es sich nicht um ein offenes Flußbad handle, sondern um ein Vollbad in einem geschlossenen, angenehm durchwärmten Raume mit großem Bassin und immer frischem Zu- und Abfluß einer stets bis zu bestimmter Temperaturhöhe gebrachten Wassermenge. Hatte ich ihm auch damit den „Gefrörer“ vertrieben, sein Vorurtheil gegen Kaltbaden im Winter überhaupt hielt noch fest; aber er war doch sofort bereit, „die Gelegenheit sich einmal anzusehen“. Seltsamerweise mußte ich wahrnehmen, daß von den übrigen etwa anderthalb Dutzend Anwesenden die Wenigsten von einer solchen Badeanstalt in Leipzig etwas wußten und Alle, bis auf Einen, den ich als
[177][178] Badegenossen kannte, den Schauer des Vorurtheils gegen solch ein Winterbad theilten.
Diese Beobachtung ist es hauptsächlich, die mich zu dem vorliegenden Artikel veranlaßt hat. Denn wenn hier am Orte, wo solch eine wahrhaft „wohlthätige“ Anstalt besteht und seit Jahren täglich benutzt wird, dennoch im Allgemeinen eine solche Unbekanntschaft mit ihr und ihren Einrichtungen möglich ist, so ist wohl der Schluß erlaubt, daß man an übrigen Deutschland noch weniger davon weiß und die etwaigen Vorgänger und Nachbildungen derselben wohl nur spärlich vorhanden sind.
Und doch gilt von dieser sozusagen „perennirenden“ Schwimmanstalt Alles, was wir im Jahrgange 1866 (S. 580) zum Lobe und zur Empfehlung der „neuen Schwimmanstalt zu Leipzig“ gesagt haben, nur in noch viel höherem Grade. Der unschätzbare Werth der Schwimmkunst, der dort dargelegt ist, erfährt seine höchste Würdigung doch jedenfalls erst durch eine Anstalt, welche den Schwimmunterricht vollkommen unabhängig macht von allen Wandelungen der Jahreszeiten und Witterungen. Mein älterer Knabe hat mitten im Winter Schwimmen gelernt, so daß er, als endlich die offenen Bäder möglich wurden, wie ein Fisch im freien Wasser daheim war. Man bedenke, daß wir im Durchschnitte nur vier Bademonate haben, und berechne, wie viele Tage, in kalten und regnerischen Sommern, auch davon noch für die Bewegung im offenen Bade verloren gehen, wenn nicht, namentlich für Kinder und Frauen, die Gesundheit auf das Spiel gesetzt werden soll – dann wird man alle Gerechtigkeit einer „Gelegenheit“ (wie mein Franke sagte) widerfahren lassen, welche uns alle Freuden, Genüsse und Wohlthaten des Vollbades nicht nur um acht Monate verlängert, sondern auch den Unregelmäßigkeiten der Temperatur keinen Einfluß auf ihre wahrhaften Hallen der Gesundheit gestattet.
Also frisch hinein! – Die Dämmerung war rasch zur Nacht übergegangen. Der Schneesturm, der uns zusammengejagt hatte, tobte zwar noch; aber wir brauchten für die kurze Strecke von unserem Schutzwinkel bis zum Durchgangsthore der Dorotheenstraße (Reichels-Garten) nichts nach ihm zu fragen. Ein paar Schritte über die Pleißenbrücke, und wir betreten, links schwenkend, durch den Vorgarten das Wartezimmer des Sophienbades. Nachdem wir uns am Schalter mit Eintrittsmarken für das „Schwimmbassin“ versehen, durchwandeln wir einen langen Gang, von dem links und rechts ein paar Dutzend Thüren zu warmen Wannenbädern führen, und gerathen endlich auf einen geräumigen[WS 1] Vorplatz. Mein Franke, ganz von Begierde erfüllt auf Das, was da kommen sollte, schoß gleich auf die hohe Doppelthür der Mitte los. Aber – „halt!“ mußte ich rufen. „Da geht’s in die Dampf- und Heiße-Luft-Bäder von Koch-, Sied- und Brathitze – auch eine sehr schöne Gegend! – aber zu unserem Paradies führt da links das Treppchen hinauf.“ Ich war gespannt auf seine ersten Aeußerungen, öffnete die Thür – und da stand er, Augen und Mund freudig geöffnet. Endlich rief er:
„Ah! Schau schau! Ja nun, das ist schon ganz was Anderes! Das ist freilich plaisirlich, und schön aber auch.“ Allerdings gewährt, namentlich bei der Gasbeleuchtung in den Abendstunden (im Winter auch schon in den Morgenstunden) die Halle mit dem Gewimmel fröhlicher Menschen auf den Seitengängen, auf den Galerien und in dem den ganzen Mittelraum einnehmenden Bassin mit seiner dunkeln, im Wellenspiel schimmernden Fluth ein heiter anmuthiges Bild, das jeden Stammgast des Bades täglich von Neuem erfreut; warum sollte mein Mann aus Franken so bald mit seinem freudigen Erstaunen fertig werden? Er hatte seine ganze Aufmerksamkeit schließlich den einzelnen Gruppen und Personen im Wasser zugewandt und sprach nun plötzlich mit edler Entschlossenheit:
„Da sehen Sie nur die ganz kleinen Büble, die der Schwimmmeister dort an der Stange im Wasser hängen hat! – ‚Eins – zwei – dreioh!‘ lautet sein tiefes gedehntes Commando – und hier die alten, grauen Herren zwischen diesen Staatskerlen von jungen Männern. – ich schämet’ mich ja vor dem ganzen Vaterland, wenn ich da nicht mit thun wollte.“
Jetzt hielt ich es für meine Pflicht, dem Bekehrten mit meinen Erfahrungen beizuspringen. Nachdem wir uns in zwei Zellen der Galerie badefertig gemacht, führte ich meinen Neuling erst in das ebenmäßig erwärmte Douchezimmer neben dem Schwimmbassinsaale. Unter den Strahl- und Regendouchen, welche von der Decke herab, von der Wand herüber und vom Boden herauf sich ergießen, ist eine für Neulinge zur Abkühlung und angenehmsten Einführung in das Bassin ganz besonders geeignete Regendouche. Das Wasser zu den Douchen ist zum Theil Flußwasser, zum Theil kommt es aus der städtischen Wasserleitung; letzteres hält Jahr aus Jahr ein zehn Grad Réaumur. An der einen Douche ist aber ein Zuflußrohr mit heißem Wasser aus der Dampfmaschine so angebracht, daß der Badende durch Zu- oder Aufschrauben des Hahns zum kalten oder zum warmen Wasser sich einen Regen von beliebiger Temperatur herstellen kann. Hier ist auch der Platz zu den Waschungen mit Seife, die natürlich im Bassin nicht zur Verwendung kommen darf. Mein Freund fand den warmen und lauen Regen sehr „schmeichelhaft“, hielt aber auch die kälteren Grade aus, bis ihn endlich doch beim zehnten Grad sein „Gefrörer“ packte und er entlief. Um so wohliger ward ihm nun im Bassin mit seinen zwanzig Grad Réaumur. Im Ueberbehagen rief er mir zu:
„Recht hatten Sie! Es ist noch keine halbe Stande her, und ich schwimme richtig in Wonne!“
Nachdem wir unsern ungläubigen Franken so weit gebracht, ist es wohl an der Zeit, zum Besten unserer Leser, eine Erklärung unseres Bildes zu geben und daran Einiges über die dort nicht sichtbaren Ein- und Vorrichtungen dieses Bades zu knüpfen.
Die ganze Badehalle hat eine Länge von 19,50, eine Breite von 20,25 und eine Höhe von 6,50 Meter; davon kommt auf das Schwimmbassin selbst 18 Meter Länge und 7 Meter Breite. Im Hintergrunde unseres Bildes (es ist die Eingangsseite mit dem Marken- und Aufbewahrungstisch für bedeutende Werthsachen der Badenden und mit den deponirten Handtüchern, Schwimmhosen und Bademänteln an den Wänden) führen zwei Treppen in den Bassinraum für Nichtschwimmer, der durch ein querherüberlaufendes Tau vom Schwimmerraum abgegrenzt ist; von hier an vertieft sich das Bassin von 0,85 Meter bis zu 2,75 Meter, der tiefsten Stelle bei den Sprungbrettern im Vordergrundes unserer Illustration.
Die Tagesbeleuchtung erhält die Halle durch vierzehn große Fenster an der Seite der Parterre- und Galeriezellen (zum Aus- und Ankleiden) und fünf große Oberlichter, die den dritten Theil der Decke einnehmen und oberhalb welcher der Trockenboden sich befindet. Letztere gewinnen an heißen Sommertagen noch besondere Bedeutung, denn dann wird durch Oeffnen dieser Fenster im ganzen Raum ein erfrischender Luftstrom bemerklich. – Im Winter geschieht die Nachtbeleuchtung durch Gas und die Erwärmung aller Räume mittelst Dampfheizung; die Heizungsröhren liegen unter dem Lattenfußboden der Zellen und Gänge, so daß diese selbst mit erwärmt werden und keine Erkältung der Füße möglich ist.
Wie kommt aber das Wasser, und zwar immer frisch und erwärmt, je nach Erforderniß, in das Bassin? Diese Füllung geschieht in zweierlei Weise: durch directe Einführung der städtischen Wasserleitung durch eine Oeffnung von zehn Centimeter, sowie aus der an der Anstalt vorbeifließenden Pleiße mittelst einer Dampfmaschine von sechs Pferdekräften, welche zwei doppelt wirkende Pumpen treibt und zugleich durch ein verdecktes Wellenrad die Oberfläche des Wassers fortwährend in wellenförmige Bewegung bringt. Die Erwärmung des Wassers geschieht durch directe Dampfeinströmung und Zuführung heißen Wassers; im Winter wird die Temperatur auf zwanzig, im Sommer auf siebenzehn bis achtzehn Grad Réaumur erhalten. Will man in recht heißen Sommern, wo unsere kleinen Flüsse bei niedrigem Wasserstand fast nirgends erfrischende Abkühlung möglich machen, im Schwimmbassin eine recht erquickliche Temperatur erzielen, so braucht man nur ein entsprechendes Quantum aus der städtischen Wasserleitung einströmen zu lassen, denn im Hochsommer und im Winter beträgt der Unterschied der Temperatur zwischen den Wassern der Flüsse und der Wasserleitung immer zehn Grad Réaumur. Diesen Temperaturunterschied kann Jeder an sich selbst ermessen, wenn er eine der beiden Regendouchen im Nichtschwimmerraume benutzt, von denen wir eine auf unserer Abbildung in Thätigkeit sehen. Jede führt in einem Rohre Fluß-, im anderen Leitungswasser; auch hier ist’s möglich, beide zu vereinigen und je nach Erforderniß und Zuträglichkeit für den Badenden zu mildern. Was endlich das Ablassen des Wassers betrifft, so dienen auch dazu zwei Ausgänge von je zwanzig bis zehn Centimeter Oeffnung, [179] sodaß für rasche Leerung und Füllung des Bassins auch bei dem lebhaftesten Besuche der Anstalt ausreichend Sorge getragen ist. Vollständig wird das Bassin in anderthalb Stunden entleert und in drei Stunden gefüllt. Auch wird die größte Reinlichkeit des Wassers dadurch gehütet, daß Waschungen darin nicht gestattet und rings an den Wänden des Bassins Spucklöcher angebracht sind.
Wenn für die Frauen und Mädchen neben der obengenannten „neuen Schwimmanstalt“ auch noch eine besondere Schwimm- und Bade-Anstalt gebaut worden ist, so steht täglich für bestimmte Stunden auch dieses Schwimmbassin, die nothwendige Ergänzung jener Sommeranstalten, den Damen offen, und man weiß, daß die Schwimmmeisterin sich derselben ausgezeichneten Erfolge zu erfreuen hat, wie ihr männlicher College; ja, es wird gesagt, daß der kühne Sprung vom Springplatze der Galerie hinab in’s Bassin von jungen muthigen Damen noch häufiger als von der männlichen Jugend ausgeführt worden sei.
So ist diese „perennirende Wasserlust“ nun schon fast sechs Jahre* in Flor; sie hält ihre Getreuen Winter und Sommer fest und erhält sie gesund, indem sie die Jungen erfrischt und die Alten verjüngt. Jeder, der aus diesem Bade, sei es in die schwüle Sommer-, sei es in die kalte Winterluft, hinausgeht, fühlt sich so gesundheitsfroh, daß er Jeden bedauert, der ihm begegnet und von dem er befürchtet, daß er nie die gleiche Lust mit ihm theile. Und dieses mein Mitleid erstreckt sich weit, über ganz Deutschland hin, das ja immer gesünderer Menschen bedarf und doch das nächste und einfachste Mittel, sie sich zu ziehen und zu erhalten, so sehr vernachlässigt. Wir brauchen hier keine medicinische Abhandlung über Bäder einzufügen; wer es an sich selbst erfahren hat, welch außerordentlichen Einfluß kräftigende Hautpflege auf das Leibliche und Geistige des Menschen ausübt, der wird Propaganda machen für die Ausdehnung dieses Wasserheils, dieser Wasserlust über das ganze Jahr und – über das ganze Volk. Und wenn die Schwimmanstalt des Sophienbades in Leipzig, der Stadt im Herzen Deutschlands, Veranlassung werden könnte zur Weiterverbreitung der Einsicht in ihre außerordentliche Heilsamkeit, so wäre damit ein wahrhaft patriotisches Verdienst erworben und eine neue Wirkungsbahn eröffnet für den Vaterlands- und Volksfreund.
* Der Besitzer des Sophienbades, M. E. Loricke, ließ das Schwimmbassin mit den Douche-Einrichtungen von dem Architekten Münch und dem Maurermeister Siegel-Ullrich erbauen; eröffnet wurde es am 7. Juni 1869.
Gedenkblatt für Georg Büchner.
„Der Mörder Tod schlich nächtlich sich in’s Haus,
Der rohe Knecht zerbrach die zarte Schale
Und goß den hellen Geist als Opfer aus.“
Georg Herwegh an Georg Büchner. 1841.
Es war eine warme helle Sommernacht – die Nacht vom 1. auf den 2. August des Jahres 1834. Glänzend blinkten die Sterne von der Mitte des Himmels herab, während am fernen Horizonte ein beständiges Blitzen leuchtete. Wer sich in jener Nacht auf der Landstraße befand, welche von Frankfurt a. M. nach der Universitätsstadt Gießen führt, der hätte einem Fußreisenden eigner Art begegnen können. Ein Schnürrock mit breiter Brust und hohem Kragen, wie ihn damals die deutschen Studenten zu tragen pflegten, umhüllte eine schlanke, jugendliche Gestalt; der breit herausgelegte Hemdkragen ließ den obersten Theil der Brust offen, welche weiter abwärts durch die stehende, mit einer dichten Reihe von Knöpfen gehaltene Weste bedeckt wurde. Das offene, feine Gesicht mit breiter Stirn und lebendigem Auge, von üppigen dunkelblonden Locken eingerahmt, war lebhaft geröthet von der Eile, mit welcher der Wanderer seine Schritte beschleunigte. Galt es demselben doch darum, in jener Zeit, wo es noch keine Eisenbahnen und Telegraphen gab, die politischen Freunde in Frankfurt und Offenbach vor einer großen sie bedrohenden Gefahr rechtzeitig zu warnen und die Entdeckung einer geheimen zu revolutionären Zwecken in Offenbach errichteten Druckerei unmöglich zu machen! Auf dieser geheimen Presse war der im Juli 1834 erschienene „Hessische Landbote“ gedruckt worden – vielleicht die revolutionärste aller politischen Flugschriften, die je geschrieben worden sind, welche das bezeichnende Motto trug: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ und welche bestimmt war, das hessische Volk, insbesondere das Landvolk, für die Zwecke der revolutionären Propaganda in Hessen zu bearbeiten. Ihren Mittelpunkt hatte diese Propaganda in dem hessischen Städtchen Butzbach, und ihr Oberhaupt war der bekannte Pfarrer F. L. Weidig, dessen tragisches Schicksal erst vor wenigen Wochen in diesen Blättern einen so vortrefflichen Darsteller gefunden hat. Der Verfasser des Hessischen Landboten aber war derselbe junge Mann, dem wir auf seiner nächtlichen Wanderung von Gießen nach Butzbach, Frankfurt und Offenbach begegnet sind, und der bald nach diesem Ereigniß seinen Namen im deutschen Vaterlande durch seine dichterische Thätigkeit weit bekannter machte, als durch seine politische – es war Georg Büchner, der geniale Verfasser von „Danton’s Tod“, „Leonce und Lena“, „Lenz“ etc., dessen Andenken bekanntlich Georg Herwegh eines seiner schönsten Gedichte gewidmet hat, und der (geboren am großen Leipziger Schlachttage in Goddelau bei Darmstadt) in einem Alter von nur dreiundzwanzigundeinhalb Jahren als Lehrer der Philosophie und der physiologischen Naturwissenschaften an der Universität Zürich am Typhus oder Nervenfieber starb.
Veranlaßt aber war jene Fußwanderung in der Nacht vom 1. zum 2. August dadurch, daß eine halbe Stunde vor Beginn derselben, am Abend des 1. August, Stud. jur. Karl Minnigerode (er lebt jetzt als Prediger der Episcopal-Kirche in Richmond in Amerika) eine größere Anzahl von Exemplaren des „Hessischen Landboten“ zu Wagen in Gießen einzuschmuggeln versucht hatte und dabei in Folge einer an das Ministerium in Darmstadt gelangten Denunciation an einem Thore Gießens verhaftet worden war. Der Zweck von Büchner’s Reise wurde erreicht; aber während seiner Abwesenheit von Gießen ließ der Untersuchungsrichter, welcher Verdacht gegen ihn geschöpft haben mußte, seine Papiere durchsuchen. Man witterte namentlich eine Verbindung mit den revolutionären Elementen in Frankreich, da Büchner von 1831 bis 1833 in Straßburg studirt hatte, während einer durch die Nachwirkungen der Pariser Juli-Revolution politisch sehr aufgeregten Zeit. Glücklicherweise fand man damals nichts Gravirendes, und es gelang ihm im folgenden Frühjahr (1835), sich der ihm später drohenden Verhaftung von Darmstadt aus durch die Flucht nach Straßburg zu entziehen, nachdem er noch sein Drama „Danton’s Tod“ an Gutzkow nach Frankfurt am Main geschickt und bei demselben eine begeisterte Aufnahme gefunden hatte.
Die „Gesellschaft der Menschenrechte“, welche er nach dem Muster der gleichnamigen, schon früher von ihm gestifteten Gießner Gesellschaft im Frühjahr 1834 in Darmstadt gegründet und für welche er eine „Erklärung der Menschenrechte“ geschrieben hatte, löste sich bald nach seiner Flucht auf. Das einsame Gartenhäuschen, in welchem die meist aus jungen Bürgerssöhnen bestehende Gesellschaft ihre heimlichen Zusammenkünfte hielt, steht noch an der sogenannten Dieburger Landstraße, wird aber wohl bald dem vordringenden Häusermeer als Opfer fallen. Wie Wenige unter den Tausenden, welche an schönen Sommertagen diese Straße hinaus nach den herrlichen Buchenwäldern des Kranichsteiner Parks ziehen, mögen dem alten, halbverfallenen Häuschen einen andern als leicht vorbeistreifenden Blick geschenkt und sich Derer erinnert haben, die einst hier in jugendlicher Begeisterung für deutsche Freiheit schwärmten und später so schwer dafür büßen mußten!
Sie waren wohl Alle mehr oder weniger dem dominirenden[WS 2] Einfluß Büchner’s gefolgt. „Allen von uns,“ sagte später einer seiner Mitschuldigen, der inzwischen in Amerika gestorbene August Becker, vor dem Untersuchungsrichter aus, „imponirte er, ohne daß wir es vielleicht uns selber gestehen mochten, sowohl durch die Neuheit seiner Ideen, wie durch den Scharfsinn, mit welchem er sie vortrug. Wenn er sprach und seine Stimme
Anmerkungen (Wikisource)
[180] sich erhob, dann glänzte sein Auge wie die Wahrheit. Ich habe die von ihm verfaßte Flugschrift abgeschrieben. Was hätte ich nicht für ihn gethan! Wovon hätte er mich nicht überzeugt?!“
Als Politiker war Büchner, der auf die öffentliche Tugend der sogenannten ehrbaren Bürger nicht viel hielt und glaubte, daß man sich mehr an die niederen Volksclassen halten müsse, seiner Zeit bereits so weit voraus geeilt, daß er damals schon die sociale Frage für weit wichtiger erklärte, als die politische. Ist doch auch der „Hessische Landbote“ ebensowohl eine Predigt für die Armen und gegen die Reichen, wie eine revolutionäre Flugschrift.
Diese Ansichten brachten Büchner in einen entschiedenen Gegensatz zu seinem Freunde und Gesinnungsgenossen Weidig, der, wie man kaum denken sollte, trotz seiner revolutionären Richtung noch einen Wahlcensus für nöthig hielt und der Ansicht war, daß aus dem allgemeinen Stimmrechte eine Pöbelherrschaft hervorgehen werde. Büchner dagegen meinte, in einer gerechten Republik, wie in den meisten nordamerikanischen Staaten, müßte Jeder ohne Rücksicht auf Vermögensverhältnisse eine Stimme haben – eine Ansicht, die bekanntlich heutzutage auch ohne Revolution zur allgemein herrschenden geworden ist.
Die damalige Zeit konnte Büchner’s Ansichten selbstverständlich nicht gerecht werden, und als der radicale Pamphletist erfuhr, daß die Bauern die meisten der ihnen zugestellten Flugschriften auf der Polizei abgeliefert hatten und daß sich selbst die Patrioten gegen seine Arbeit aussprachen, scheint er die Freude an politischer Thätigkeit mehr und mehr verloren zu haben. Er wandte sich nun mit ganzer Seele seinem eigentlichen Berufe, dem des Dichters, zu.
Freilich war auch hier der erste Gegenstand, den er ergriff, ein eminent politischer und durch das Studium der ersten französischen Revolution ihm zugeführter. Jener gewaltige Moment, in welchem die beiden hervorragendsten Gestalten dieser Revolution, Danton und Robespierre, gegen einander prallen mußten, weil für zwei solcher Männer nicht Raum genug war, ist von Büchner herausgegriffen und mit echt dramatischer Kraft zu einem tragischen Gemälde umgeschaffen worden, das fast auf jeder Seite in Sprache, Haltung und raschem Gang der Handlung an den großen Meister des Dramas, an Shakespearee, erinnert.
Shakespeare war Büchner’s Meister und Lieblingsdichter, dem er nachstrebte, und zwar mit solchem Erfolge, daß in ihm, wenn er am Leben geblieben wäre, Deutschland vielleicht seinen nationalen Shakespeare gefunden haben würde. „Die Kritik,“ so schrieb Karl Gutzkow in seinem „Phönix“ vom 11. Juli 1835, indem er das Erscheinen von „Danton’s Tod“ anzeigte, „ist immer verlegen, wenn sie an die Werke des Genie’s herantritt; sie kann hier nicht mehr sein, als der Kammerdiener, der die Thür des Salon’s öffnet und in die versammelte Menge laut des Eintretenden Namen hineinruft; das Uebrige wird das Genie selbst vollbringen“ – und schloß seine Besprechung mit den Worten: „Ich bin stolz darauf, der Erste gewesen zu sein, der im literarischen Verkehr und Gespräch den Namen Georg Büchner genannt hat.“
„Danton’s Tod“ entstand im Winter 1834 auf 1835 in Darmstadt, während sich Büchner auf Wunsch seines Vaters mit einer kurzen Unterbrechung seiner Studien im elterlichen Hause aufhielt und anatomische Vorlesungen für einige junge Leute, die sich auf das Studium der Chirurgie vorbereiteten, hielt. Unter den anatomischen Tafeln und Schriften zog er furchtsam die Papierbogen hervor, auf welche er seine Gedanken mit Hast und Unruhe niederwarf. Diese Hast und Unruhe erklären sich daraus, daß inzwischen die politische Untersuchung Büchner immer näher gerückt war, und daß man in ihm den Verfasser des „Hessischen Landboten“ zu vermuthen anfing. Die Straße, in welcher das Büchner’sche Haus stand, war Tag und Nacht von Polizisten bewacht; daher die Aeußerung Büchner’s in einem späteren Briefe an Gutzkow, daß für „Danton“ „die Darmstädtischen Polizeidiener seine Muse gewesen“ seien. Das Buchhändlerhonorar für sein Drama sollte ihm die nöthigen Geldmittel für die geplante Flucht nach Straßburg liefern, aber noch ehe dasselbe in Darmstadt ankam, hatte er sich veranlaßt gesehen, abzureisen. Ein Steckbrief folgte ihm auf der Ferse.
Das Drama erschien bei Sauerländer in Frankfurt a. M. und machte sofort Aufsehen, obgleich sich Gutzkow wegen der damals noch bestehenden Censurverhältnisse genöthigt gesehen hatte, dasselbe arg zu verstümmeln, und obgleich sich eine Anzahl abscheulicher Druckfehler eingeschlichen hatte. „Lange zweideutige Dialoge in den Volksscenen, die von Witz und Gedankenfülle sprudelten,“ schreibt Gutzkow in seiner Biographie und Charakteristik Georg Büchner’s, „mußten zurückbleiben. Die Spitzen der Wortspiele mußten abgestumpft oder krumm gebogen werden. Der echte Danton von Büchner ist nicht erschienen.“
Dieser echte Danton ist in den 1850 bei Sauerländer in Frankfurt a. M. erschienenen „Nachgelassenen Schriften von Georg Büchner“ mit Hülfe des schon unleserlichen Manuscripts soweit als möglich wieder hergestellt worden. Dagegen konnte leider aus gleichem Grunde nicht das Nämliche geschehen mit einem in dem Nachlasse vorgefundenen, mit sehr blasser Tinte geschriebenen bürgerlichen Trauerspiele, von dem sich nur einzelne zusammenhanglose Scenen entziffern ließen. Um so besser gelang dies mit dem von Geist, Witz und übermüthiger Laune sprudelnden, die Verhältnisse eines kleinen Hofes persiflirenden, romantischen Lustspiele „Leonce und Lena“. Dasselbe ist in der Sammlung vollständig abgedruckt, nachdem es vorher nur bruchstückweise erschienen war.
Das dritte Stück dieser Ausgabe, die Novelle „Lenz“, welche die Lebensgeschichte des unglücklichen Dichters aus der Sturm- und Drangperiode, des Jugendfreundes Goethe’s, behandelt, ist leider Fragment geblieben. Aber auch als Fragment ist sie höchst charakteristisch für die innere Entwickelung des Dichters, welcher sich schon damals, wo die romantische Richtung noch vorherrschend war, ganz und gar auf die Seite der realistischen Dichtung stellte und der Meinung war, daß die Kunst nur der Geschichte und Natur dienen, nicht aber sie meistern dürfe. In einem seiner Briefe macht er sich über die Idealdichter lustig, welche nach seiner Meinung „fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affectirtem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Thun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt.“
Das Fragment „Lenz“ erschien zuerst in Gutzkows „Telegraph“ und wurde von dem Herausgeber mit den Worten eingeleitet: „Diese Probe von Büchner’s Genie wird auf’s Neue beweisen, was wir mit seinem Tode an ihm verloren haben. Welche Naturschilderungen, welche Seelenmalerei! Wie weiß der Dichter die feinsten Nervenzustände eines, im Poetischen wenigstens, ihm verwandten Gemüthes zu belauschen! Da ist Alles mitempfunden, aller Seelenschmerz mitdurchdrungen; wir müssen erstaunen über eine solche Anatomie der Lebens- und Gemüthsstörung. G. Büchner offenbart in dieser Reliquie eine reproductive Phantasie, wie uns eine solche selbst bei Jean Paul nicht so rein, durchsichtig und wahr entgegentritt.“
Auch in der eifrig von ihm studirten Philosophie war G. Büchner entschiedener Realist. In seinem nicht gedruckten Nachlasse findet sich nicht nur eine mit großer Gründlichkeit geschriebene Geschichte und Darstellung der philosophischen Systeme von Cartesius und Spinoza, sondern auch eine ganz ausgearbeitete Geschichte der älteren griechischen Philosophie. Ueber diese Arbeiten sagt er in einem seiner Briefe aus Straßburg: „Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt und werde in Kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst Ueberflüssiges, nämlich über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza, zu halten – man braucht einmal zu vielerlei Dingen unter der Sonne Muth, sogar, um Privatdocent der Philosophie zu sein.“ An Gutzkow schrieb er über seine philosophischen Studien: „Ich werde ganz dumm in dem Studium der Philosophie; ich lerne die Armseligkeit des menschlichen Geistes wieder von einer neuen Seite kennen.“
Deutscher Patriot blieb G. Büchner trotz seiner bitteren Erfahrungen auch im Exil. Er unterstützte die Anstrengungen der beiden Brüder Adolf und August Stöber auf Erhaltung deutscher Sprache und deutschen Wesens im Elsaß und schreibt an Gutzkow: „Es wäre traurig, wenn das Münster einmal ganz auf fremdem Boden stünde.“
So vielfache geistige Anstrengungen, zu denen sich noch die [181] Ausarbeitung einer vergleichend anatomischen Arbeit über das Nervensystem der Fische behufs Erlangung des Doktorhuts und der venia legendi an der Universität Zürich gesellte, mußten selbstverständlich aufreibend auf Körper und Geist unseres Dichters wirken, und es scheint fast, als ob er sein nahes Ende und sogar die Art der Krankheit, an der er sterben sollte, vorausgefühlt hätte. Wenigstens schreibt er an seine Braut: „Könnte ich dieses kalte und gemarterte Herz an Deine Brust legen! – Meine geistigen Kräfte sind gänzlich zerrüttet“ etc.
Am 21. Februar des Jahres 1837 wurde Georg Büchner zu Zürich beerdigt. Am 15. Februar desselben Jahres hatte man Ludwig Börne, seinen großen Gesinnungs- und Leidensgenosen, in Paris zu Grabe gebracht. Zwei Tage nach Büchner’s Beerdigung, am 23. Februar, erlitt sein Mitkämpfer, Pfarrer Weidig, in einem Darmstädter Kerker seinen schauervollen und immer noch in die Geheimnisse eines fürchterlichen Augenblicks begrabenen Tod. Keiner von den Dreien sollte die Wonne haben, die Zeit zu sehen, an deren Herbeiführung sie die Kräfte ihres Lebens gesetzt hatten; aber freilich wurde ihnen auch manche Art der Täuschung dabei erspart!
– Es bricht die müde Brust in Staub,
Und mit ihr wieder eine Freiheitsstütze!
Auf’s stille Herz fällt die gelähmte Hand,
Daß sie im Tod noch vor der Welt es schütze!
Und die so reich vor seinem Geiste stand,
Er darf die Zukunft nicht zur Blüthe treiben,
Und seine Träume müssen Träume bleiben;
Ein unvollendet Lied singt er in’s Grab,
Der Verse schönsten nimmt er mit hinab –“
so singt G. Herwegh in seinem berühmten Gedichte an Büchner und spielt mit den letzten Worten auf den Umstand an, daß höchst wahrscheinlich ein oder zwei ungedruckte Dramen Büchner’s aus seinem Nachlasse verloren gegangen sind. Wenigstens erwähnt der Dichter dieser Dramen in seinen Briefen mehrfach; während der Fieberdelirien seiner Krankheit soll er sich vergebens angestrengt haben, von Etwas Mittheilung zu machen, das ihm Sorge zu machen schien. Der Tod schloß seine Lippen, und in seinem Nachlasse konnte außer dem bereits Angeführten und einigen Jugendarbeiten Weiteres nicht aufgefunden werden. Sein Grab in Zürich schmückt ein einfacher Stein, den seine Geschwister ihm setzen ließen, doch soll, wie man hört, der mitten in der Stadt gelegene Kirchhof demnächst cassirt werden, in welchem Falle die Familie des Hingeschiedenen wohl eine Uebertragung der Leiche nach Darmstadt bewerkstelligen wird.
Bei der allgemeinen Beliebtheit, deren sich der Canarienvogel bei Hoch und Niedrig, bei Arm und Reich seines prächtigen goldgelben Gefieders wie seines Gesanges wegen erfreut, und bei der großen Verbreitung desselben über fast alle Länder nicht nur des Continents, sondern auch jenseits des Oceans, dürfte es den Tausenden und Abertausenden von verehrlichen Lesern und schönen Leserinnen der Gartenlaube, welchen ein Canarienvogel das Zimmer zieren und mit seinen harmonischen Tönen trübe Gedanken verscheuchen hilft, gewiß nicht uninteressant sein, an dieser Stelle einmal etwas Näheres über die Herkunft, Pflege und Zucht des kleinen Sängers zu erfahren.
Der Canarienvogel (fringilla canaria) gehört in die Classe der körnerfressenden Singvögel (granivori) und unter diesen mit Buchfink, Stieglitz, Hänfling, Zeisig und Sperling in’s Geschlecht der Finken. Seinen so sehr empfehlenden Eigenschaften – Gesang und Farbe, Gelehrigkeit, Fortpflanzung in der Gefangenschaft – hat er es zu verdanken, daß er schon seit Jahrhunderten zum erklärten Lieblinge unter allen Stubenvögeln besonders der zarteren Hälfte des Menschengeschlechtes ernannt ist.[1]
Es ist bekannt, daß er auf den canarischen Inseln einheimisch ist und daß er von diesen seinen Namen erhalten hat. Nicht so bekannt dürfte sein, daß er dort in der Wildniß nicht das gewöhnliche gelbe, sondern ein einfach graues Gefieder, das am Unterleibe in’s Grünliche spielt, trägt. Diese seine ursprüngliche Farbe ist durch klimatische Verhältnisse,[2] veränderte Nahrung und Lebensweise, wie durch Kreuzung mit Stieglitz, Hänfling, Zeisig etc. derart verändert worden, daß sie bei uns nur noch in seltenen Fällen zu Tage tritt. Die bei weitem vorherrschende Farbe unseres gezähmten Canarienvogels ist die gelbe, und je nachdem dieselbe mehr in’s Weiße oder Goldgelbe spielt, unterscheidet man weißgelbe, strohgelbe und hoch- oder goldgelbe Vögel. Doch giebt es daneben noch grüne, rothbraune und gefleckte oder bunte Vögel, letztere tragen bei gelber Grundfarbe graue, braune, schwarzgraue, graubraune oder grüne Abzeichen. Je regelmäßiger diese Zeichnungen sind und je besser die verschiedenen Farben zusammen passen, desto kostbarer ist der Vogel. Vögel, welche neben weiß- oder strohgelber Körperfarbe einen mit Krone gezierten Kopf und rothbraune ober isabellenfarbige Flügel besitzen, gelten für die schönsten; nächst diesen haben goldgelbe Vögel mit schwarzem Kopfe, schwarzgrauen Flügeln und Schwanz den höchsten Werth; auch einfach gelbe mit schwarzem Kopfe oder schwarzgraue mit gelbem Kopfe oder Halsband sind noch geschätzt; alle übrigen unregelmäßig gezeichneten werden den einfarbigen gleich geachtet.
Besondere Farbenunterschiede zwischen Männchen und Weibchen giebt es nicht. Doch zeichnen sich die ersteren durch schlankeren Wuchs, größeren Kopf, längeren Hals und breitere Brust vortheilhaft vor den Weibchen aus. Strohgelbe und rothbraune Männchen zeigen außerdem rings um die Augen eine feurigere Farbe als die gleichfarbigen Weibchen. Der Hauptunterschied zwischen beiden Geschlechtern besteht in der Stimme. Während nämlich das Männchen schon bei einem Alter von sechs bis acht Wochen ein anhaltendes Gezwitscher hören läßt, das sich nach und nach vervollkommnet und nach einem halben Jahre in einen durchdringenden, schönen Gesang übergeht, ist das Weibchen höchstens im Stande, einige abgebrochene schwache Töne ohne Harmonie und Zusammenhang von sich zu geben.
Das Alter der Canarienvögel variirt zwischen zehn und zwanzig Jahren. Am besten sind die Vögel von zwei bis acht Jahren; wenn sie älter werden, verlieren sie mehr oder weniger an Gesang und Farbe.
In seiner Heimath lebt der Canarienvogel vom Samen des Canariengrases, welches mit dem Vogel auch bei uns acclimatisirt ist; er soll jedoch auch das Zuckerrohr nicht verschmähen und in den Zuckerplantagen der canarischen Inseln nicht selten arge Verwüstungen anrichten, so daß er dort keineswegs ein gern gesehener Gast ist. In der Gefangenschaft muß das Hauptfutter zu allen Zeiten des Jahres aus reifem, nicht allzu jungem Sommerrübsamen bestehen, der gehörig von Staub zu reinigen ist; alle anderen Körnerarten, Canariensamen, Mohn, Hanf, Hirse etc. dürfen nur ab und zu und dann in geringen Quantitäten gereicht werden; wird zu viel davon gegeben, so werden die Vögel fett und in Folge dessen faul und krank. Auch alle anderen Leckerbissen, Zwieback, Zucker, Biscuit und dergleichen sind zu verwerfen, weil sie die Thiere verweichlichen und öfter Ursache von Krankheiten (Verstopfungen, Durchfall) werden.
Dagegen ist es nothwendig, daß die Vögel regelmäßig (mit [182] Ausnahme der Mauserzeit – vergl. weiter unten), vielleicht von drei zu drei Tagen, etwas grünes Futter bekommen. Am liebsten fressen sie das im Harz und Thüringen sogenannte Kreuzkraut, jedoch auch Salat, Braunkohl, Rapunzen verschmähen sie nicht. Ist keins von Allen zu haben, so giebt man etwas Apfel oder Birne, aber ohne Schale. Dabei ist zu beachten, daß man immer nur auf einen Tag Futter geben darf; im anderen Falle geht viel Futter unnöthig verloren und die Vögel gewöhnen sich nicht daran, an allen Tagen gleich fleißig zu singen. Mindestens täglich einmal muß frisches Wasser zum Saufen gereicht werden. Das Gefäß ist jedesmal gründlich zu reinigen, damit das Wasser nicht schlecht wird. Neben dem Saufen ist in Zwischenräumen von vier bis sechs Tagen in einem größeren Geräthe Wasser zum Baden vorzusetzen. Weiches Wasser hat den Vorzug vor hartem. In der Mauserzeit (August bis October) empfiehlt es sich, ein Stück Eisen in das Trinkwasser zu legen.
Von den Käfigen eignen sich die runden, sogenannten Glockenbauer am besten für den Canarienvogel. Dieselben dürfen jedoch nicht zu groß und nicht zu klein sein. Käfige aus Messingdraht können leicht schädlich werden durch Ansetzen von Grünspahn. Jeder Käfig muß mit zwei bis drei Sprunghölzern versehen sein, welche jedoch nicht zu dünn sein dürfen, weil der Vogel sonst leicht Krampf in den Beinen bekommt. Futter und Trinknäpfe sind an der Außenseite anzubringen und werden zweckmäßig mit einer Blechhaube versehen. Gläserne haben den Vorzug vor metallenen oder irdenen Gefäßen. Den Boden des Käfigs bestreut man mit feinem Flußsande.
Die Temperatur, der ein Canarienvogel ausgesetzt werden kann, darf in der Regel nicht unter zehn und nicht über achtzehn Grad betragen. An Kälte kann er eher gewöhnt werden, als an zu große Hitze. Verfasser hat seine Vögel bis Mitte November im ungeheizten Zimmer bei einer Temperatur von + 4° R. gehalten, und sie haben sich dabei wohl befunden. Es ist deshalb durchaus verkehrt, die Vögel an heißen Sommertagen in die Sonne zu hängen; ebenso schädlich ist es, wenn sie an’s offene Fenster gestellt werden, wo es stets mehr oder weniger zieht.
Nachdem im Vorstehenden das Wichtigste über die Pflege unserer zarten, gelbgefiederten Freunde mitgetheilt ist, sollen die gewöhnlichsten Krankheiten der Vögel einer näheren Besprechung unterzogen werden.
So lange ein Vogel das Gefieder glatt trägt, singt, in gewohnter Weise im Käfig herumspringt und Appetit zeigt, ist er gesund. Fehlt eines von diesen Merkmalen, dann ist er krank. Nach Anleitung der folgenden Zeilen wird es nicht schwer werden, die Krankheit zu erkennen und zu heilen.
Bei der Darre, welche in Verhärtung der Fettdrüse auf dem Bürzel besteht und welche dadurch kenntlich ist, daß der Vogel öfter nach der Drüse beißt und den Schwanz hängen läßt, drückt man die Drüse behutsam mit dem Finger auf und bestreicht sie dann mit Provencer- oder Leinöl. Ist die Drüse hart, so muß sie vorher mit Butter oder Oel erweicht werden.
Bei Durchfall schneidet man die Afterfedern ab und bestreicht den After mit Oel. In das Saufen legt man rostiges Eisen und giebt einige Tropfen herben Rothwein dazwischen.
Bei Verstopfung, welche sich durch Anschwellung des Hinterleibes kenntlich macht und bei welcher der Vogel keine Excremente von sich geben kann, empfiehlt sich ein Klystier von Oel. Man taucht zu diesem Zwecke eine Stecknadel mit großem, glattem Kopfe in lauwarmes Oel und führt diese mehreremal behutsam in den Mastdarm ein. Wirkt dieses Mittel noch nicht, so füllt man dem Vogel von oben einige Tropfen Baumöl ein. Einige Blätter Brunnenkresse wirken dabei günstig.
Die Auszehrung oder Dörrsucht, bei welcher die Vögel auffallend mager werden, dabei Traurigkeit, Trägheit im Gesang, und Appetitlosigkeit an den Tag legen, hat ihren Grund meistentheils darin, daß verdorbenes oder zu mageres Futter gegeben worden ist. In der Regel hilft daher fettes Futter, Mohn, Hanfsamen (der aber gequetscht sein muß), auch wohl etwas gekochter Eidotter. Das Trinkwasser vermischt man gleichfalls mit einigen Tropfen Wein und macht dasselbe, durch Einlegen eines rostigen Nagels eisenhaltig.
In der Mauserkrankheit, welche bei allen Stubenvögeln mehr oder weniger zu Tage tritt, hilft wiederum Wein und eisenhaltiges Wasser; grünes Futter muß während der Mauserzeit auch bei gesunden Vögeln ganz wegbleiben. Werden die Vögel kränker, stecken sie den Kopf unter die Flügel, sitzen traurig auf einer Stelle und sträuben die Federn, so gebe man ihnen Eidotter, ferner einen Tropfen Zimmtöl und in’s Wasser etwas Chinaauflösung oder Jodtinctur.
Bei der Milben- oder Läusesucht giebt es ein einfaches, aber probates Mittel, welches darin besteht, daß man die alten Sprunghölzer aus dem Käfig nimmt und an deren Stelle solche aus hohlem Tüncherrohr einsetzt, welche an der unteren Seite mit einigen Einschnitten versehen sind. Das Ungeziefer zieht sich in den hohlen Raum und wird, wenn die Hölzer von Zeit zu Zeit herausgenommen und gereinigt werden, bald zu vertilgen sein. Alle anderen Mittel, Kienöl, Petroleum und dergleichen wirken bei weitem nicht so vorzüglich und können dem Vogel leicht Schaden bringen. Ein reinlich gehaltener Vogel wird übrigens von Schmarotzer-Insecten nie zu leiden haben.
Schließlich noch einige Winke darüber, wie man Canarienvögel ganz besonders zahm machen und wie man ihnen den so beliebten Nachtschlag beibringen kann.
Soll ein Vogel daran gewöhnt werden, auf der Hand sitzen zu bleiben, so schneidet man ihm zunächst die Schwungfedern der Flügel etwas ab; dann verdunkelt man das Zimmer und bestreicht ihm die Nasenlöcher mit einem starkriechenden Oele, z. B. Bergamottöl, so daß er kurze Zeit betäubt wird. Nach wenigen Wiederholungen wird er ruhig sitzen bleiben und auch lernen, von einem Finger zum andern zu hüpfen. Soll er dagegen aus dem Munde Nahrung nehmen lernen, so hält man ihn eine Zeit lang im Futter knapp und reicht ihm dann sein Lieblingsfutter mit den Lippen dar.
Den Gesang bei Nacht erreicht man einfach dadurch, daß man junge Vögel am Tage dunkel stellt, so daß sie wenig fressen können, und sie dann am Abend an’s Licht bringt.
Was den Handel mit Canarienvögel betrifft, so leistet Deutschland darin Bedeutendes.
Vor allen anderen Gegenden ist es das nördlichste der Gebirge Deutschlands, der Harz mit den nächstliegenden angrenzenden Districten (Eichsfeld, Grafschaft Hohnstein, Fürstenthum Grubenhagen), welcher die bei weitem größte Anzahl aller in den Handel kommenden und gleichzeitig die besten Canarienvögel producirt; denn wenn auch in vielen Orten Thüringens und Hessens, sowie in den nicht zum Harz gehörigen Theilen von Braunschweig und den preußischen Provinzen Sachsen und Hannover von Einzelnen Canarienvögel gezüchtet werden, so kann doch dieser Umstand der im Harz betriebenen Massenzüchtung gegenüber kaum in Betracht gezogen werden.
Es hat seine großen Schwierigkeiten, über die Gesammtzahl der im Jahre durchschnittlich gezüchteten Vögel genaue Ermittelungen anzustellen, doch hat Verfasser auf Grund zahlreicher Angaben, die ihm von größeren Händlern und vielen Züchtern zugegangen sind, wie auf Grund eigener Beobachtung berechnet, daß in Deutschland überhaupt jährlich rund 450,000 Canarienvögel gezüchtet werden, und daß von diesen mindestens 300,000 Vögel, also sechsundsechszig Procent der Gesammtzucht Deutschlands, auf den Harz mit fünfmeiligem Umkreis entfallen.
Diese Zahlen mögen übertrieben groß erscheinen; wer aber die Vögelzucht im Harz einigermaßen kennt, wird zugeben müssen daß sie durchaus nicht zu hoch gegriffen sind. Im Harz wird die Canarienvögelzucht eben nicht, wie anderwärts, aus Liebhaberei betrieben, sondern sie hat sich zu einem Industriezweig ausgebildet, der noch stetig im Wachsen begriffen ist und dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf.
Und wenn sich dabei auch nicht Reichthümer sammeln lassen, so ist doch vielen Familien, die sich kümmerlich durch Bergbau, Holzarbeiten, Nagelschmiederei und dergleichen ernähren müssen, die Gelegenheit geboten, sich zu ihrem Lebensunterhalt durch die Vögelzucht eine regelmäßige mehr oder weniger große Beihülfe zu verschaffen.
Man nimmt an, daß die Canarienvögelzucht unter normalen Verhältnissen vierzig bis fünfzig Procent Reingewinn abwirft.
Werden also im Harze jährlich dreihunderttausend Vögel gezüchtet, von denen die eine Hälfte aus Männchen, die andere aus Weibchen besteht, und wird im Durchschnitte ein Hähnchen mit fünf Mark, ein Weibchen mit einer halben Mark bezahlt, so [183] ergiebt sich ein Reingewinn von über vierhunderttausend Mark jährlich.
Wenn freilich, wie im vergangenen Jahre, welches ohnehin für die Vögelzucht im Harze ungünstig war, nicht nur, weil die im April und Mai vorherrschende kalte Witterung den in ungeheizten Räumen untergebrachten Hecken großen Schaden zufügte, sondern auch, weil aus einer nicht erklärlichen Ursache unverhältnißmäßig viel taube, das heißt unbefruchtete Eier gelegt wurden, der Preis der Vögel in Folge des „großen Krachs“, wohl auch in Folge von Ueberproduction, gegen den der Vorjahre plötzlich um fünfundzwanzig Procent zurückgeht, dann ist der Gewinn für den Einzelnen ein sehr bescheidener. Arbeit und Mühe ist in solchen Fällen umsonst gewesen; ja, mancher Züchter, der durch Krankheiten seiner Vögel noch besonders Unglück hatte, hat nicht nur Nichts verdient, sondern sein baares Geld zugesetzt.
Gezüchtet wird im Harze überall. Im ganzen, vierzig Quadratmeilen umfassenden Gebiete desselben dürfte schwerlich ein Ort zu finden sein, der nicht wenigstens einen oder mehrere Züchter des beliebten Stubensängers aufweisen kann. Besonders die auf dem Hochplateau des Unterharzes gelegenen Ortschaften Hasselfelde, Benneckenstein, Fanne, Hohegeiß. Elbingerode, sowie die durch ihren Bergbau bekannten Städte des Oberharzes Clausthal, Wildemann und Andreasberg betreiben die Züchtung in’s Großartige; auch in Nordhausen und Umgegend, in Lauterberg und Herzberg, in Wernigerode und Ilsenburg giebt es bedeutende Züchtereien. Es wurden beispielsweise trotz der vorstehend geschilderten ungünstigen Verhältnisse des Vorjahres gezüchtet: in Hasselfelde von zwanzig Familien ungefähr zweitausendvierhundert Vögel, in Benneckenstein von fünfzig Familien über viertausend Vögel. In Nordhausen, wo ungefähr achtzig Züchter größere Hecken unterhalten, erzielte ein einziger derselben, der Rentier Kuntze, zwölfhundert Vögel.
Die Größe der Hecken und die Zahl der von den Einzelnen producirten Vögel sind sehr verschieden. Der räumlich beschränkte, zur Miethe wohnende Handwerker, welcher zwanzig bis vierzig Vögel züchtet, begnügt sich damit, seinen Vögeln für die Dauer der Heckzeit die Hälfte seines Schlafgemachs einzuräumen, während Andere ganze Stockwerke geräumiger Häuser mit zahlreichen Zimmern zur Hecke einrichten und Hunderte, ja Tausende von Vögeln züchten. Den größten Ruf aber, nicht allein was die Stückzahl der dort gezüchteten Vögel anbelangt, sondern auch, was die Vortrefflichkeit ihres Gesanges betrifft, hat sich das hoch im Gebirge am Fuße des Brockens gelegene schon oben erwähnte Städtchen Andreasberg zu verschaffen gewußt. Von ungefähr dreihundert Familien werden dort im Jahre durchschnittlich fünfundsiebenzigtausend Stück Canarienvögel gezüchtet, welche einen Verkaufswerth von mindestens einer Viertel Million Mark repräsentiren.
Andreasberger „Glucker“, „Hohlschläger“, „Roller“, „Doppelroller“, „Flöter“ – das sind die keiner weiteren Erläuterung bedürftiger Kunstausdrücke für die im Gesange sehr verschiedenartigen Vögel – sind weit über die Grenzen Deutschlands, ja Europas hinaus bekannt und gesucht.
Ihre Berühmtheit verdanken die Andreasberger Vögel dem Umstande, daß die dortigen Züchter sich seit langen Jahren darauf befleißigt haben, ihren Vögeln einen möglichst vollkommenen Schlag beizubringen, was sie dadurch erreichen, daß sie zur Zucht und demnächst zum Anlernen der jungen Hähnchen immer nur die ausgesuchtesten Vögel verwenden. Das alte deutsche Sprüchwort: „Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen“, trifft hier im eigentlichsten Sinne des Wortes zu. Außerdem kommt hinzu, daß nirgends so wie in Andreasberg die Vögelzucht in den Familien forterbt und sich deshalb sämmtliche Einwohner auf die sorgfältigste und nutzbringendste Behandlung der Vögel verstehen.
Nur einen Fehler tragen wohl alle Andreasberger Vögel mehr oder weniger an sich, den nämlich, daß sie schwächeren Körperbaues und mehr verweichlichter Natur sind, als die an anderen Orten des Harzes groß gewordenen Vögel, eine Erscheinung, die sich nur durch die zu ängstliche und sorgfältige Abwartung derselben erklären läßt.
Die vollkommensten Schläger liefern gegenwärtig die Bergleute Trute, Schnell und Rosenbusch. Der größte Händler dagegen, der Züchterei, An- und Verkauf in einer Hand vereinigt, und der einzige, der dieses Geschäft kaufmännisch mit Hülfe von Zeitungsinseraten und Preiscouranten betreibt, ist Rudolph Maschke. Derselbe verschickt jährlich weit über tausend Hähnchen einzeln durch die Post. Seine Hauptabsatzgebiete sind die östlichen Provinzen Preußens, Oesterreich, Ungarn mit Siebenbürgen, Schweiz, Niederlande, Schweden und Norwegen. Je nach der Länge des Weges, den sie zurückzulegen haben, werden die kleinen Holzkäfige mit ihren gefiederten Insassen in gut verschlossene mit Glasfenstern versehene Papp- oder Holzkisten gestellt; das mitgegebene Futter besteht in Weichfutter, Ei und Semmel, und einem mit Wasser getränkten Schwämmchen; auf diese Weise verpackt, können die Vögel einen drei- bis siebentägigen Posttransport, selbst bei strenger Kälte ohne Nachtheile aushalten. Rudolph Maschke kann Allen, die sich einen guten Harzer Vogel anschaffen wollen, als zuverlässig und reell empfohlen werden.
Nirgends wird übrigens mehr Schwindel getrieben, als gerade beim Handel mit Canarienvögeln. Wie allerorts giebt es auch in Andreasberg gewissenlose Händler, welche ganz gewöhnliche Vögel für theures Geld verkaufen. Besonders muß vor herum ziehenden Händlern gewarnt werden, weil diese fast ohne Ausnahme betrügen. Tausende von Weibchen, besonders solche, die schon eine oder mehrere Hecken durchgemacht haben, werden von denselben für wenige Groschen das Stück aufgekauft, um demnächst in der Fremde als Hähnchen wieder verkauft zu werden. Um ihre Waare an den Mann zu bringen, bedienen sich diese Menschen der verschiedenartigsten Kunstgriffe. Sie erbieten sich z. B. dem Käufer einen Vogel gegen die Hälfte des Kaufpreises zur Probe zu überlassen und versprechen in einigen Tagen wiederzukommen, um den Rest der Kaufsumme oder den Vogel wieder in Empfang zu nehmen. Ein Käufer, der darauf eingeht, ist natürlich der Betrogene; er erhält für zwei bis drei Mark ein Weibchen, das im günstigsten Falle fünfzig Pfennige werth ist, der Händler aber verschwindet auf Nimmerwiedersehen.
Wer deshalb sicher gehen will, kaufe von unbekannten Händlern nie einen Vogel, wenn er nicht vorher den Gesang desselben gehört hat. Der Preis für Schläger ist sehr verschieden; im einzelnen wird für den geringsten Vogel sechs Mark bezahlt, bessere Vögel kosten bis dreißig Mark; ganz besonders ausgezeichnete Schläger erlangen noch höhere Preise. In Andreasberg wurde beispielsweise im letzten Sommer von einem Liebhaber für ein Hähnchen hundertfünf Mark bezahlt. Doch stehen solche Fälle vereinzelt da. Jedenfalls muß es als Luxus bezeichnet werden, in Deutschland für einen Canarienvogel mehr als zwanzig Mark auszugeben.
Die große Mehrzahl aller gezüchteten Vögel wird von Händlern aufgekauft; kein Harzer Züchter zieht mit seinen Vögeln, wie früher die Tiroler, selbst in die Welt. Die Händler bezahlen nach der Qualität der Vögel drei bis sechs Mark. Nach Beendigung der Mauserzeit, im October und November, ziehen sie von Ort zu Ort mit großen Reffen auf dem Rücken, welche bis zu fünfzig kleine Holzbauer enthalten, von denen je einer einen Vogel aufnimmt. Sie kaufen entweder für eigene Rechnung oder sind als Aufkäufer von größeren Vögelhandlungen ausgeschickt. Bis auf einen kleinen Bruchtheil werden alle der auf solche Weise eingekauften Vögel in’s Ausland ausgeführt.
Das bedeutendste Exportgeschäft für Canarienvögel ist gegenwärtig das der Firma C. Reiche zu Alfeld in Hannover, welcher fünf Aufkäufer oder Sortirer, von denen jeder seinen bestimmten Bezirk hat, beschäftigt. Dieselbe hat im Jahre 1874 neben vielen anderen deutschen Singvögeln achtundsechszigtausend Canarienhähnchen nach fremden Ländern ausgeführt. Davon gingen einundsechszigtausend nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika und nach Canada, dreitausend nach Brasilien und Peru, zweitausend nach Australien (Melbourne und Sidney), tausendfünfhundert nach Südafrika und fünfhundert nach England. Nach sämmtlichen Plätzen gingen nebenbei der zehnte Theil Weibchen.
Das besondere Verdienst der genannten Firma ist es, dem Handel mit deutschen Canarienvögeln ganz neue Absatzgebiete jenseits des Oceans eröffnet zu haben. Ihre im Jahre 1846 gegründete Zweigniederlassung, Chas. Reiche u. Brother in New-York, hat durch fortgesetzte Bemühungen und Anstrengungen [184] und ungeachtet mehrfacher empfindlicher Verluste in den Anfangsjahren, durch häufige Reclamen, kostspielige Annoncen und ausführliche Broschüren wie durch stets reelle Bedienung in Nordamerika eine so große Liebhaberei für deutsche Canarienvögel in’s Leben gerufen, daß gegenwärtig die Hälfte der ganzen Zucht nach den Vereinigten Staaten abgesetzt wird. Natürlich stellen sich die Preise für Canarienvögel in Amerika bedeutend, um das Doppelte bis Vierfache höher, als bei uns.
Diese Preise lassen sich einestheils aus den hohen Transportkosten erklären, anderntheils haben sie ihren Grund darin, daß bei jeder längeren Seereise eine größere Anzahl der zarten Vögel durch Tod verloren geht.
Wenn ein Fremder bei seinen Wanderungen durch die Straßen Berlins eines schönen Nachmittags einen stattlichen alten Militär in weißem Rocke mit blauen Aufschlägen daher kommen sieht, der, umgeben von einer Schaar munterer Jungen, freundlich nach allen Seiten hin grüßt und, wenn er eine hübsche, junge Maid erblickt, auch wohl ein zierliches Kußhändchen wirft, so mag er wissen, daß ihm „Papa Wrangel“ begegnet ist. Das ehrfurchtsvolle Zurückweichen der Passanten und die Zurufe der keckeren Jugend, welche sich als freiwillige Suite an die Fersen des alten Reitergenerals heftet, sobald er sich auf der Straße blicken läßt, würden ihn auch Demjenigen kenntlich machen, der sein Antlitz niemals gesehen hätte. Trotz seiner neunzig Jahre schreitet er rüstig und gemächlich dahin, und sein munter blickendes Auge zeigt den regen Antheil, den Geist und Gemüth an Allem nimmt, was seine Aufmerksamkeit erweckt.
Es ist ein vielbewegtes, inhaltvolles und an höchsten Ehren reiches Leben, auf welches der greise Veteran zurückblickt, der sich rühmen kann, seit Jahrzehnten die originellste und populärste Gestalt Berlins zu sein. Der aus der alten Pommernstadt Stettin gebürtige Generalfeldmarschall Graf von Wrangel war zwölf und ein halbes Jahr alt, als er am 15. August 1796 in die preußische Armee eintrat. Aus dem Tertianer des Gymnasiums zu Neu-Stettin wurde ein Fahnenjunker des in Königsberg garnisonirenden Dragonerregiments von Werther. Zwei Jahre nach seinem Eintritte in das Regiment wurde der inzwischen zum Fähnrich avancirte Junker zum Lieutenant befördert, Beweis genug, daß er sich „gut auf den Dienst applicirt“ hatte.
Als die Trauerbotschaft von Jena und Auerstädt eintraf, wurde auch sein Regiment, eines der stärksten in der damaligen preußischen Armee, auf den Kriegsfuß gesetzt. Es war das einzige Regiment, welches bei Beginn des Winters von 1806 noch vollzählig beisammen war und nun mit der Aufgabe, die letzte Provinz des Staates zu vertheidigen, in Activität trat.
Am 23. December des genannten Jahres vollzog Lieutenant von Wrangel die erste Waffenthat. Ein von ihm geführtes, aus sechszig Mann bestehendes Detachement gerieth bei der Stadt Gurczno in's Gefecht mit einer Abtheilung des unter Commando des Marschalls Ney gegen Soldau vorrückenden französischen Corps. Hier that sich der junge Officier derart hervor, daß er die Aufmerksamkeit des Generals von Lestocq erregte. Als sich Letzterer nach einem Officiere von sicherem Blicke und scharfem Urtheile umsah, welchem er den schwierigen Auftrag ertheilen könnte, ihm Nachrichten über die Stellung der auf Preußisch-Eylau vorrückenden französischen und russischen Armee zu bringen, fiel seine Wahl auf den Lieutenant von Wrangel, welcher dem Befehle zur größten Zufriedenheit seines Generals nachkam. In der Nacht vom 7. zum 8. Februar 1807, bei schneidiger Kälte, machte er sich mit fünfzehn Dragonern und einem berittenen Förster von Rossitten aus auf den Weg. Das vom Feinde besetzte Dorf Storchnest wurde im schärfsten Trabe passirt; mehrere feindliche Bivouaks wurden umritten, und um ein Uhr Nachts war das Thor von Preußisch-Eylau erreicht. Hier erfuhr er von Bürgern, die der Feind aus den Häusern getrieben hatte, daß die Stadt stark besetzt und ein Durchreiten nicht rathsam sei. So ritt denn Wrangel mit seinen Dragonern östlich um die Stadt herum und wagte sich so weit vor, daß er aus den Bivouakfeuern die Stellung der feindlichen Armeen erkennen konnte. Sodann wurde der Rückweg angetreten. Es war ein Ritt von starken drei Meilen, welche aber so schnell zurückgelegt wurden, daß die kühnen Reiter Punkt fünf Uhr Morgens in dem preußischen Hauptquartier wieder eintrafen.
In der Schlacht bei Heilsberg am 10. Juni 1807 trug Wrangel die erste Wunde davon. Der Orden pour le mérite war der Lohn seiner Tapferkeit. Nach dem Tilsiter Frieden, welcher alsbald der Heilsberger Schlacht folgte, wurden auf Grund der neuen Armeeorganisation die vier ersten der acht Escadrons jenes Dragonerregiments zu Kürassieren umgeformt. Die hellblauen Röcke wurden weiß, die weißen Kragen und Aufschläge aber hellblau. So gehörte Wrangel von Anfang an demselben Regimente an, dessen Chef er später wurde und dessen Uniform er zu tragen pflegt, so oft die Wahl derselben in seinem Belieben steht.
Bei Ausbruch der Freiheitskriege rückte Wrangel als Rittmeister und Escadronchef jenes neugebildeten ostpreußischen Kürassierregimentes in’s Feld. In der Schlacht bei Groß-Görschen hatte er mit seiner Escadron eine russische Batterie zu decken. Bei der Entwickelung des Gefechts nahm er einen Moment wahr, wo ein weiteres Vorrücken der Batterie ihre Wirkung erhöhen mußte. Der Commandeur schloß sich der Meinung Wrangel’s an, machte ihn aber auf eine Stelle aufmerksam, wo französische Tirailleurs standen, welche der Batterie gefährlich werden konnten, wenn dieselbe bis zu dem vom Rittmeister angegebenen Platze avancirte. „Ich werde hinreiten und selbst sehen,“ meinte Wrangel, „ob die feindlichen Tirailleurs den Platz beschießen können. Schießen sie mich todt, so ist es dort gefährlich, reichen die Kugeln aber nicht bis dorthin, so werde ich vom Pferde steigen und Ihnen dadurch das Zeichen zum Avanciren geben.“ Gesagt, gethan. Er ritt bis zur betreffenden Stelle vor und gab sich selbst als Zielscheibe den französischen Kugeln preis. Als er sich überzeugt hatte, daß dieselben nicht zu ihm heranreichten, stieg er ab, und in demselben Augenblicke setzte sich die Batterie in Bewegung. Wrangel selbst spielte den Kanonier und richtete das erste Geschütz. Die Granate sauste dahin und drüben ging ein Pulverkarren in die Luft.
Am Abend der Schlacht kamen die ostpreußischen Kürassiere bei der bekannten Blücher’schen Cavallerieattaque noch einmal in’s Feuer. Wrangel’s Escadron attaquirte ein französisches Infanteriequarré und sprengte es vollständig. Es entstand ein wirrer Knäuel, und die Dunkelheit ließ Freund und Feind kaum unterscheiden. Wrangel selbst war beim Einhauen gestürzt, als sein Pferd, von einem feindlichen Schusse tödtlich getroffen, unter ihm zusammenbrach. Stundenlang blieb er auf dem verödeten Schlachtfelde in finsterer Nacht unter dem erschossenen Pferde liegen. Erst nach vielen Fährlichkeiten und von einer schmerzhaften Fußquetschung geplagt, gelang es ihm, gegen Morgen zu den Seinen zurück zu gelangen, die ihn bereits todt geglaubt hatten. Es ist bezeichnend, daß der junge Rittmeister damals auf die Frage des Majors von Grolmann, seines treuen Freundes und Gönners, ob das Avancement zum Major oder aber das kurz zuvor gestiftete Eiserne Kreuz seinen Wünschen besser entspräche, nach kurzer Ueberlegung erwiderte, „der Majorsrang wäre ihm vor der Hand lieber, denn das Kreuz gedächte er sich bei nächster Gelegenheit doch noch zu holen.“
Am 3. August, dem Geburtstage Friedrich Wilhelm’s des Dritten, erfolgte dann Wrangel’s Ernennung zum Major. Inzwischen aber hatte der Regimentskommandeur, Oberst von Twardowski, seinerseits den nunmehrigen, noch nicht dreißigjährigen Major zum Eisernen Kreuz in Vorschlag gebracht. Als er nun zwar selbst, nicht aber Wrangel das Kreuz erhielt, erklärte er vor dem versammelten Officierscorps, daß er es nicht früher tragen werde, bis auch sein Camerad damit geschmückt wäre, und so lange wiederholte er seinen Vorschlag, bis der König dem jungen Major das Ehrenzeichen verlieh.
Wrangel’s hervorragendste Waffenthat in den Befreiungskriegen war das ruhmvolle Rückzugsgefecht bei Etoges am 13. Februar 1814. Der damalige Führer des Regiments,
[185]Major von Manstein war bei den wiederholten Attaquen auf die scharf versorgende französische Vorhut in persönlichem Kampfe mit dem Kommandeur der feindlichen Kavallerie verwundet worden, und so übernahm der Major von Wrangel das Kommando. Im Verein mit dem russischen 7. Jägerregiment wußte er durch geschicktes Eingreifen mit seinen preußischen Reitern die dreimaligen Angriffe der französischen Gardecavallerie erfolglos zu machen und so den Russen den Abzug zu ermöglichen. Da erschien gegen Abend General von Zieten, lobte die Haltung des Regiments und befahl dem Major von Wrangel nöthigenfalls mit eigener Aufopferung so lange vor einem naheliegenden Walde dem Feinde Stand zu halten, bis die russische Infanterie unter Karpzewitsch das Walddefilé passirt hätte.
Dieser Auftrag war nichts minder ehrenvoll, als gefährlich. Das Terrain um Etoges war mit kleineren und größeren Waldungen bedeckt, durch welche sich die Landstraße zog, die mit Infanterie und Artillerie so angefüllt war, daß ein Durchgehen der Cavallerie vor der Infanterie der Nachhut nicht möglich gewesen wäre. In großer Ueberzahl drängte der Feind auf der Chaussee nach und seine Kavallerie schickte sich an, den Wald [186] zu umgehen. Zudem wurde es immer dunkler und dunkler, so daß die Bewegungen der Gegner fast nicht mehr zu unterscheiden waren. Schon hatte der Feind in bedeutender Stärke die auf ihren schwierigen Posten ausharrenden ostpreußischen Kürassiere umgangen, als ein französischer Parlamentär vor der Front des Regiments erschien und zur Uebergabe aufforderte. Der Wald sei bereits durch Umgehung besetzt, ein Durchkommen durch denselben nicht mehr möglich. Da indessen die Kürassiere sich so tapfer geschlagen hätten, solle die Capitulation eine durchaus ehrenvolle sein und namentlich jeder Officier im Besitze seines Eigenthums bleiben. Wrangel dankte dem Parlamentär für die gute Meinung von dem Regimente, wies sein Ansinnen aber energisch zurück. „So lange ich den Pallasch in der Hand habe,“ sagte er, „und noch im Sattel sitze, so lange capitulire ich nicht.“ Da versuchte es der Officier, durch Versprechungen die Mannschaft zum Niederlegen der Waffen zu bewegen. Die unmittelbare Folge dieses Versuchs, das Regiment zu einer pflichtwidrigen Handlung zu bestimmen, war die, daß der Officier, tödtlich getroffen, zu Boden stürzte. Gestützt auf die preußischen Kriegsartikel, hatte Wrangel dem ihm zunächst befindlichen Kürassier sofort Befehl gegeben, den Verräther vom Pferde zu schießen, und diese energische Maßregel verfehlte nicht, den tiefsten Eindruck unter der Mannschaft hervorzurufen.
Die Lage war eine verzweifelte. Nicht allein auf der Chaussee, sondern auch schon im Walde war feindliche Infanterie gesehen worden. Von den äußersten Strapazen ermüdet, harrten die braven Kürassiere der Entscheidung. Seit Tagesanbruch waren sie nicht einen Augenblick aus dem Sattel gekommen, hatten sie ihre Pferde weder füttern noch tränken können. Die Capitulation war zurückgewiesen, und so blieb kein anderer Ausweg, als sich, so gut es ging, in dunkler Nacht durch den vom siegreichen Feinde besetzten Wald durchzuschlagen und so das Hauptcorps wieder zu erreichen. Da rief Wrangel todesmuthig den Seinigen zu: „Wir sind auf allen Seiten von feindlichen Massen umzingelt, müssen uns also durchschlagen. Ich werde Euch voran reiten und die Bahn brechen. Folgt mir! Reiter, die entschlossen sind, eher zu sterben, als sich zu ergeben, können durch keine irdische Macht aufgehalten werden. Ihrem Entschluß folgt der Sieg so gewiß, wie der Tag der Sonne. So denn mit Gott! D’rauf!“
Und d’rauf ging es, erst im Schritt, dann im Trabe, endlich im sausenden Galopp, unter schallendem Hurrah gerade auf den Wald los, wo die Chaussee in denselben einmündete und eben feindliche Infanterie einmarschirte. Es war inzwischen so finster geworden, daß der Feind nichts von der Annäherung der Kürassiere gemerkt hatte und höchlichst erschrocken war über die Pallaschhiebe, mit welchen ihm die flotten Ostpreußen im Vorbeijagen auf den Kopf kamen. Kaum aber hatte man die vorübereilenden Kürassiere als Preußen erkannt, so machte die französische Infanterie Front gegen sie und feuerte auf gut Glück. Aber die Kürassiere ließen sich nicht beirren. Wie Windsbrausen stürmten sie dahin, vorbei an den feindlichen Colonnen, voran ihren kühnen Führer, der ihnen den Weg zeigte. Nicht die mannigfachen Hindernisse des gefahrvollen Weges, nicht Gräben und Hohlstämme hielten sie zurück. Weiter und weiter ging der Ritt über Männerleichen und verwundete Pferde, bis die in den Wald eingedrungenen feindlichen Colonnen überholt waren. Endlich erreichte man das Freie und stieß weit hinter Etoges auf das preußisch-russische Hauptquartier, wo das tapfere Regiment schon verloren geglaubt war. Der Triumph der ostpreußischen Kürassiere am Tage von Etoges aber verbreitete sich windesschnell in der ganzen Armee und mit ihm der Name ihres Führers, der bald genug für seinen Heldenmuth außergewöhnlich belohnt werden sollte.
Noch im Jahre 1814 wurde Wrangel Commandeur des westpreußischen 2. Dragonerregiments, nachmaligen 5. Kürassierregiments, sieben Jahre später Commandeur der 10. Cavalleriebrigade in Posen und schon im Jahre 1823 zum General befördert. Als späterer Commandeur der 13. Division in Münster hatte er die Genugthuung, die im Jahre 1837 daselbst in Folge der bekannten Differenzen zwischen der Regierung und dem Erzbischof von Köln ausgebrochenen Unruhen im Keime und ohne Blutvergießen zu ersticken.
Das Jahr 1839 sah ihn in Königsberg als commandirenden General des ersten Armeecorps, welches er bald darauf in vollkommenster Ausbildung und Schlagfertigkeit dem Könige vorzuführen Gelegenheit hatte. Es war dies die erste sogenannte Königsrevue, welche Friedrich Wilhelm der Vierte nach seiner im Juni 1840 erfolgten Thronbesteigung abhielt. Nicht lange nachher wurde Wrangel mit dem Commando des zweiten Armeecorps betraut. In dieser seiner hohen militärischen Stellung hat er sich in verdienstlichster Weise der Reorganisation der Cavallerie gewidmet und das Wiederaufleben des preußischen Reitergeistes bewirkt, welcher dem Anscheine nach in der langen Friedenszeit verloren gegangen war. Der König berief ihn nach Berlin zu Leitung der bedeutenden Cavallerieübungen, welche damals von den sämmtlichen Cavallerieregimentern und reitenden Batterien des Garde- und dritten Armeecorps, gesondert von den großen Herbstübungen beider Corps, ausgeführt werden sollten. Der Versuch gelang so glücklich, daß der König nach Beendigung der Uebungen seine unverhohlene Freude über den „tüchtigen und frischen Reitergeist“ äußerte, der sich in den Bewegungen so großer Cavalleriemassen kundgegeben habe.
So kam Wrangel, mit Ehren überhäuft, nach Stettin in den stillen Kreis seiner Familie zurück, welche damals aus seiner Gattin, geborenen von Below, und drei Söhnen bestand, von denen der Aelteste beim Civil, die beiden Jüngeren schon als Cavallerie-Officiere dienten. Mit sämmtlichen Angehörigen unternahm er darauf eine lange Reise durch die Schweiz nach Italien, wo er Genua, Rom, Neapel und auch, um den großen österreichischen Manövern beizuwohnen, Verona besuchte. Alsbald nach seiner Rückkehr, im Jahre 1846, beging er im Alter von nur zweiundsechszig Jahren sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum, in dessen Anlaß ihm die Freude zu Theil wurde, zum Chef des ostpreußischen Kürassierregiments Nr. 3 ernannt zu werden, in welchem er vor fünfzig Jahren seine militärische Laufbahn begonnen hatte. Das Jubiläum des „Papa Wrangel“ erregte in der ganzen Armee die freudigste Theilnahme. Von seiner Vaterstadt Stettin erhielt er das Ehrenbürgerdiplom, von dem dritten Kürassierregimente einen kostbaren Pallasch mit den Wappen aller Officiere und reichen, auf die ehrenvollen Dienste ihres Chefs bezüglichen Verzierungen, von dem zweiten Armeecorps eine prachtvolle Vase, auf welcher die Dragonerattaque bei Heilsberg abgebildet war, der König aber ehrte ihn durch den Stern des rothen Adlerordens in Brillanten.
So nahte das Jahr 1848, in welchem Wrangel berufen war, eine hervorragende Rolle zu spielen. Wie er die gegen Dänemark kämpfende deutsche Bundesarmee befehligte und bei Schleswig zum Siege führte, ist noch frisch in Aller Gedächtniß. Als diesem Kriege durch den Waffenstillstand zu Malmö ein vorläufiges Ziel gesetzt war, bedurfte es eines für die Regelung außerordentlicher Vorfälle geeigneten Feldherrn im Herzen der Monarchie. Am 15. September wurde Wrangel zum Oberbefehlshaber sämmtlicher Truppen in den Marken ernannt und am 10. November fand der Einmarsch in Berlin statt.
Während des Octobers bis in den Anfang Novembers hatte der Oberbefehlshaber sein Hauptquartier im Schlosse von Charlottenburg. Es war eine schwierige Aufgabe, die seiner harrte, in der innerlich durch und durch aufgewühlten Hauptstadt der Monarchie die Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. Die halben Maßregeln der Regierung, das Schwanken zwischen Nachgiebigkeit und Strenge hatten die Straßendemagogie zur vollsten Blüthe gebracht; so z. B. hielten unter dem Vorwande, die im Schauspielhause tagende Nationalversammlung zu beschützen, helle Volks-Haufen den Gensdarmenmarkt besetzt. Wrangel befand sich in Charlottenburg, war aber noch nicht nach Berlin gekommen. Die Berliner Arbeitermassen hatten ihm auch gedroht, sie würden ihm, wenn er Berlin betrete, dasselbe Schicksal bereiten, wie die Wiener dem Grafen Latour, den sie bekanntlich an einem Laternenpfahle aufgeknüpft hatten. Eines Tages war er nach Sanssouci zum Könige befohlen und sagte am Morgen zu seinem Leibjäger:
„Mein Sohn, der Zug nach Potsdam geht um zwei Uhr. Bestelle den Hofwagen so, daß ich um halb zwei Uhr in Berlin sein kann!“
„In Berlin, Ew. Excellenz?“ fragte erstaunt der Beauftragte.
„In Berlin, mein Sohn. Ich will meinem Schwager, dem [187] General von Below, einen Besuch machen und zur rechten Zeit am Potsdamer Bahnhof sein.“
„Aber Excellenz!“ suchte der Leibjäger einzuwenden.
„Bestelle den Wagen, mein Sohn!“
Der General fuhr durch das Brandenburger Thor in einem königlichen Hofwagen, der mit feurigen Trakehnern bespannt war, ein, von da nach der Französischen Straße, wo in der Nähe des Gensdarmenmarktes der General von Below wohnte. Der General stieg mit seiner Gemahlin aus und begab sich in die Wohnung seines Schwagers. Der Leibjäger folgte und schloß die Hausthürflügel hinter sich; der königliche Wagen blieb vor dem Hause halten. Der Leibjäger hatte Befehl, seinen Herrn kurz nach drei Viertel unten zu erwarten, und als er diesen mit der Generalin oben aus den Zimmern kommen hörte, öffnete er unten den einen Thorflügel, schlug ihn aber im nächsten Momente wieder zu, als er draußen vor der Thür und weithin nach der Straße dichte Massen jener unheimlichen Bassermann’schen Gestalten versammelt sah, die der Anblick des königlichen Wagens, einer damals in Berlin ungewohnten Erscheinung, vom Gensdarmenmarkte herangezogen hatte und die nun beim Oeffnen der Thür in lautes drohendes Gejohle ausbrachen, aus denen nur die Worte vernehmbar waren: „Nun kommt er.“
Der Jäger meldete oben, was unten drohte. Die Generalin erblaßte vor Schreck. Ihr Gemahl sagte ihr einige Worte in Französisch und schickte sich dann an, die Treppe hinabzugehen. Auf ihr Bitten, sich nicht der Wuth der Menge auszusetzen, deren wilde Ausbrüche jetzt laut zu ihnen heraufschallten, entgegnete er kalt und ruhig:
„Bleib’ nur ruhig! Muß doch sehen, was die närrischen Leute wollen.“
Er ging hinab. Der Jäger öffnete ihm die Thür. Er trat hinaus auf die Straße, wo sein Erscheinen ein lautes Johlen unter der versammelten Masse hervorrief.
„An die Laterne mit ihm! Schnell! Packt ihn!“ erscholl das Geschrei von allen Seiten, und schon streckten sich Arme nach ihm aus, um ihm das Schicksal Latour’s zu bereiten.
Kalt, unbeweglich stand er in Mitte der ihn umgebenden Menge. Sein Wort dämpfte für einen Moment den wüsten Lärm:
„Was wollen Sie von mir?“ war seine Frage.
„Sie sind ein Verräther,“ ließen sich einzelne Stimmen vernehmen. „Sie wollen das Volk niederkartätschen. Sagen Sie augenblicklich, ob es wahr ist, daß Sie Berlin bombardiren wollen, oder Ihr letzter Augenblick ist gekommen.“
„Ob ich Berlin bombardiren werde,“ war die Antwort des Generals, „das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Aber wenn Sie es durchaus wissen wollen: Ja! Ich werde es bombardiren lassen, und recht tüchtig, wenn diese Excesse fortdauern und nicht bald Ruhe und Ordnung wiederkehrt.“
Diese Drohung des kaltblütig der Menge in’s Angesicht schauenden Generals versetzte dieselbe in einen solchen Anfall von Wuth, daß aus tausend Kehlen der Ruf erscholl: „An die Laterne!“
Wer kann ermessen, was in diesem Momente geschehen wäre, wenn hier nicht einer jener Zwischenfälle eingetreten wäre, die man als ein Ungefähr oder als eine höhere Fügung ansehen mag, die aber oft den drohendsten Gefahren und folgereichsten Begebenheiten eine unerwartete Wendung geben. Hier war es ein etwa zwölfjähriger Knabe, der sich durch die Menge drängte und dem General, ihm ein Körbchen mit Veilchen entgegenhaltend, zurief:
„Veilchen, frische Veilchen! Ach, Herr Jeneral, koofen Sie mich den paar Sträußken ab! Eens nur eenen eenzigen Jroschen!“
Wie von einer plötzlichen Eingebung erfaßt, ergreift Wrangel den Korb, und ein Sträußchen nehmend, wendet er sich an den Vordersten der Schreier mit der Frage:
„Wollen Sie vielleicht ein Sträußchen für Ihre liebe Frau?“ und dann dem Nächsten eins bietend:
„Sie auch?“ und so die Reihe durch, bis denn überall aus der Masse Arme und Hände emporkamen, mit dem Rufe: „Mir auch, Herr General! Mir auch!“
Er hätte in diesem Augenblicke hundert haben können, er hätte fünffache Verwendung dafür gefunden, aber es waren verhältnismäßig nur wenig Sträußer gewesen. Das letzte emporhaltend, rief er:
„Dieses einzige und letzte will ich für mich behalten, zum Andenken an Sie und an diese Stunde. – Aber nun machen Sie Platz, meine Herren! Ich habe keine Zeit mehr; ich muß nach Sanssouci. Der König hat befohlen.“
Dieses Wort entfesselte die schon halb gebändigte Volksleidenschaft auf’s Neue. „Nein – nein! – Er soll nicht fort – Er darf nicht fort. Nieder mit ihm!“
In diesem entscheidenden Momente traten aus dem Haufen einige Männer, jedenfalls die ruhigeren Elemente, hervor und wandten sich zu den Uebrigen mit den drastischen Worten:
„Schafdämels Ihr, wat wollt Ihr denn noch? Habt Ihr’s doch jehört: der Mann hat keene Zeit.“
So suchten sie ihm den Weg zum Wagen frei zu machen. Der Jäger war unterdeß bei der Generalin im Hausflur geblieben, um mit ihr schnell seinem Herrn zu folgen, wenn er glücklich zum Wagen gekommen wäre. Fünf Schritte war der General noch von demselben entfernt, da stürzten sich Einige in neuaufschäumender Wuth mit dem Ausrufe „Latour!“ auf die Pferde, um diese im Zügel zu fassen, aber schneller und geschickter als sie nahm der Kutscher dieselben schnell zurück. Der General sprang in den Wagen; der Jäger drängte die Generalin hinein, sprang auf den Bock und fort ging’s in sausendem Galopp.
„Na, diesmal wären wir noch einmal glücklich durchgekommen,“ sagte darauf der General zu seinem Jäger. Derselbe lebt noch, heißt Boek, ist gegenwärtig Haushofmeister des Prinzen Friedrich Karl und gehört zu den Wenigen, die außer dem General und der Generalin von diesem Vorfalle noch wissen. Oft nachher, wenn der Oberbefehlshaber beim Prinzen Friedrich Karl zu Tische war, pflegte er, auf Boek zeigend, zu sagen: „Braver Kerl das – hat immer zwei Pistolen in der Tasche gehabt.“
Das war sehr nöthig, als Wrangel am 10. November Mittags zwölf Uhr durch das Halle’sche Thor mit den Truppen einzog und sein Hauptquartier im Schlosse von Berlin in den Zimmern der ersten Etage nahm, die der Schloßfreiheit und speciell dem Hause von Humbert gegenüber liegen; denn auch hier war er dem allgemeinen Volkshasse und der Gefahr für sein Leben täglich und stündlich ausgesetzt. Die Drohbriefe kamen in Haufen. Da, wo die Säule mit dem Adler steht, sammelten sich in jeder Stunde neue Volksmassen an, welche sehr deutlich mimische Geberden für den Begriff des Hängens nach den Fenstern hinauf machten. Um den General zu verhindern, an das Fenster zu treten und so die Gefahr herauszufordern, ließ man die Rouleaux herunter und brannte während des ganzen Tages Licht. Eines Tages verlangte Wrangel, nach dem Köpenikerfelde zu fahren. Dorthin hatte sich die Straßendemagogie verzogen, und dort fanden täglich stürmische Volksversammlungen statt; denn der Canal wurde damals gebaut, und alle unsauberen Elemente der Gesellschaft fanden sich mit den Arbeitern zusammen, um dieselben aufzureizen.
„Nach dem Köpenikerfelde wollen Excellenz fahren?“ fragte der damalige, nun auch schon verstorbene Adjutant von Kirchfeld den General.
„Ja – und Sie werden mich begleiten.“
Zur festgesetzten Stunde fuhr der königliche Wagen mit dem Generale und dem Adjutanten als Insassen – Boek mit den zwei Pistolen in der Tasche saß auf dem Sitze neben dem Kutscher – durch das Schloßportal dem Köpenikerfelde zu.
„Wrangel kommt. – Nieder mit ihm!“ tönte es im lärmenden Chore, als die Menge seiner ansichtig wurde. Aber er fuhr mitten in dieselbe hinein. Auf Einen aus der Masse deutend, der ihm der Vernünftigste schien, sagte er:
„Mit Sie will ich sprechen.“
Als nun der Sprecher hervortrat und im Verlaufe seiner kurzen Rede darlegte, daß die Zustände, so wie sie seien, auf die Dauer unmöglich bleiben könnten, daß etwas geschehen müsse, um das öffentliche Vertrauen zu befestigen, um Arbeit zu schaffen etc., antwortete ihm der General:
„Dann sind wir ja ganz einer und derselben Meinung: Es muß was geschehen, wenn alle bürgerliche Ordnung nicht zu Grunde gehen soll. Nur, glaube ich, sind wir über die Wege verschiedener Ansicht. Ich meine, der Ihrige führt zur Anarchie, der meinige aber zur Rückkehr gesellschaftlicher Ordnung.“
In dieser Weise sprach er in seiner drastischen Art weiter, und das Ende war, daß Boek den Hahn an seinen Pistolen in Ruhe lassen konnte und der gehaßte Mann von den Volksmassen [188] buchstäblich in seinen Wagen getragen und von ihrem Jubelgeschrei begleitet wurde.
„Man darf sich nur nicht fürchten,“ war seine Aeußerung. „Die Leutchen sind lange nicht so schlimm, wie sie aussehen.“
Die anfangs geübte militärische Strenge milderte sich binnen Kurzem und verschwand bald ganz. Berlin erhielt wieder seine frühere Physiognomie. Wrangel wurde in der edlen Bedeutung des Wortes populär, und alle Stimmen vereinigten sich zur Anerkennung der Festigkeit und Consequenz, des Taktes und der Schonung, welche er unter den schwierigsten Verhältnissen gezeigt hatte. Zudem fällt es schwer in’s Gewicht, daß jene erfolgreiche militärische Schlußhandlung des Jahres 1848 eine unblutige war. Die Geschichte der Revolutionen bestätigt die Seltenheit eines derartigen Erfolges ohne Blutvergießen, welches bei einer unzweckmäßigeren Handhabung der Waffengewalt wahrscheinlich nicht erreicht worden wäre.
Im Jahre 1849 übernahm Wrangel das dritte Armeecorps; am 15. August 1856, bei Gelegenheit seines sechszigjährigen Dienstjubiläums, erhielt er die höchste militärische Charge, indem er zum Generalfeldmarschall ernannt wurde, und im nächstfolgenden Jahre ward ihm das Gouvernement von Berlin zu Theil. In seinem achtzigsten Lebensjahre wurde der greise General von seinem Könige berufen, die alliirte preußisch-österreichische Armee gegen Dänemark zu führen, und leitete, ohne der Kälte und Strapazen zu achten, in vollster Rüstigkeit den beschwerlichen Winterfeldzug. Nach seiner Rückkehr wurde er von den Geschäften des Gouverneurs von Berlin in Anbetracht seines hohen Alters entbunden. Der König erhob ihn in den erblichen Grafenstand und machte ihn zum Chef eines Regimentes, welches sich in dem dänischen Feldzuge ganz besonders auszuzeichnen Gelegenheit gehabt hatte, des in Brandenberg a. H. garnisonirenden Füsilierregiments Nr. 35.
Der Krieg von 1866 sah den Feldmarschall inmitten seiner getreuen Kürassiere. Mit des Königs Erlaubniß begab er sich zu seinem Regimente, bei welchem er am 15. August jenes Jahres während des Waffenstillstandes in dem Städtchen Bistritz in Mähren sein siebenzigjähriges Dienstjubiläum feierte, bei welcher Gelegenheit sein Regiment den Beinamen „Graf Wrangel“ erhielt.
Ein noch selteneres Fest, das seiner fünfzigjährigen Generalscharge, hatte im Frühjahre 1873 unterbleiben müssen, da der Feldmarschall schwer erkrankt war. Im Herbste jedoch hatte er die Genugthuung, der Einweihung des Siegesdenkmals beiwohnen zu können, auf welchem er selbst als Feldherr des Jahres 1864 einen ehrenden Platz gefunden hat. Hier erhielten die Düppeler Schanzen den Namen „Wrangel-Schanzen“. Noch in diesem Jahre hat der Feldmarschall trotz seiner neunzig Jahre den sämmtlichen Cavalleriebesichtigungen zu Pferde beigewohnt.
Jetzt lebt der alte Wrangel still und zurückgezogen in seinem Palais auf dem Pariser Platze. Es ist ihm beschieden, seine sämmtlichen Söhne zu überleben. Der jüngste, den er im dänischen Kriege anno 1864 als persönlichen Adiutanten an seiner Seite gehabt hatte, zog sich in Folge der Strapazen eine Fußlähmung zu, mußte den Abschied nehmen und starb im Jahre 1867. Wrangel’s hochbejahrte, treue Lebensgefährtin, mit welcher er schon vor vier Jahren das nur Wenigen beschiedene Fest der Brillanthochzeit feierte, steht ihm noch heute zur Seite. Einer seiner Enkel lebt in seinem Hause.
Jedes Jahr, jeder Tag, dessen der Neunzigjährige genießt, ist ein Gnadengeschenk der Vorsehung. Wiederholte Schlaganfälle haben an der Gesundheit des alten Herrn gerüttelt. Seine Harthörigkeit erschwert ihm den Verkehr.
Mit frohem und zufriedenem Blicke kann er am Abende seines Lebens auf seine bewegte Vergangenheit zurückblicken. Sie war reich an Thaten und an äußeren Ehren. Mit kaum zwölf Jahren der Armee angehörig, wurde Wrangel mit noch nicht dreißig Jahren Oberstlieutenant und Regimentscommandeur, mit einunddreißig Jahren Oberst, mit neununddreißig Jahren General. In sieben Feldzugsjahren war er bei einer Belagerung, in zehn Schlachten und zweiundzwanzig Gefechten betheiligt. Mit den höchsten Orden ist seine Brust geschmückt; er wurde Kanzler des schwarzen Adlerordens.
Die Popularität, deren er sich namentlich seit dem Jahre 1848 erfreute, hat an seine Person allerhand curiose Anekdoten geknüpft, mit deren Wahrheit man es nicht allzu genau nehmen muß, die aber im Volksbewußtsein nicht mehr von ihm zu trennen sind.
Noch fünfzig Jahre, und um Vater Wrangel wird sich derselbe Volksmythus bilden, wie um Friedrich den Großen, den alten Zieten, Blücher und Andere. Wenn er z. B. nie einem Adjutanten erlaubte, anders als in vorschriftsmäßiger Weise, also mit dem Degen, vor ihm zu erscheinen, so ist das weniger als Anzeichen eines kleinlichen Gamaschenthums aufzufassen, als ein Gebot der militärischen Disciplin, das er, wie in großen Dingen, so auch bis in die geringsten Einzelheiten erfüllt haben will. Bekannt ist von ihm die Frage an einen jungen Officier, der vor ihm am Morgen in etwas nachlässiger Toilette erschien: „Was sind Sie?“ Der Gefragte, erstaunt über eine solche Anrede, gerieth in einige Verlegenheit, aus der ihn der General jedoch durch die Antwort erlöste: „Nicht rasirt sind Sie.“ Er duldet darum an Andern keine Nachlässigkeiten, weil er gegen sich selbst am strengsten ist.
Im General von Wrangel vereinigen sich alle jene Eigenschaften, welche zu einem tüchtigen Commandeur befähigen: Ernst, Strenge, Klarheit des Verstandes und jene Consequenz des Denkens, welche auch ohne Kant die richtigen Wege findet. Er ist leidenschaftslos bis zur Kälte und nüchtern in der Auffassung; wie ein Quäker ja er von einer Mäßigkeit im körperlichen Genießen, welche ihm eine Nervenkraft bewahrt hat, die ihn immer Herr seiner selbst und demgemäß auch Herr über andere sein läßt. Bekannt ist seine Sparsamkeit, aber wo der Soldat in ihm gerührt wird, ist diese wohl fähig, sich in Großmuth zu verwandeln. Vor einigen Jahren, nach dem Kriege und nach einem Badeaufenthalte in Wildbad, besuchte er Straßburg und nahm natürlich auch die Befestigungen in Augenschein. Dabei wurde ihm von der Heldenthat eines deutschen Ingenieurofficiers, Hauptmann Freiherr von Ledebur, erzählt. Derselbe hatte sich bei der Belagerung von Straßburg Nachts entkleidet, im Angesichte der französischen Wachen in den gefüllten Festungsgraben niedergelassen, war mit Gefahr seines Lebens in die Minengänge gedrungen und hatte daraus mit fast übermenschlicher Kraft ganze Ladungen von Pulver geholt und so die Minen für unsere Soldaten unschädlich gemacht. Bei einer solchen Excursion war er aber doch von den Franzosen bemerkt worden, hatte einen Schuß bekommen und starb an seiner Wunde im Lazareth in Karlsruhe. Das Erste bei Wrangel’s Ankunft in Karlsruhe war, daß er sofort den berühmten General von Werder nach dem Grabe des heldenmüthigen Officiers fragte. Als er jedoch erfahren mußte, daß dasselbe noch kein Denkmal zierte, daß nur ein Holzkreuz die Stelle bezeichnete, wo einer der Bravsten seinen Todesschlaf schläft, da händigte er dem General von Werder eine Banknote mit dem Bemerken ein:
„Hier, mein Sohn, hast Du hundert Thaler, und wenn das Ingenieurcorps es nicht für seine Pflicht achtet, einem so braven Cameraden ein schönes Denkmal zu setzen, so schreib’ mir, so werde ich das Uebrige auch noch bezahlen. Braver Kerl, der Ledebur!“
Nun erhebt sich auf dem Grabe des Helden ein prächtiges Denkmal, das ihm seine Cameraden mit Hinzunahme der Wrangel’schen Ehrengabe haben setzen lassen. –
Eine historische Thatsache ist es, daß die preußische Cavallerie ohne Wrangel niemals zu der Leistungsfähigkeit gelangt wäre, die wir an ihr bewundern müssen. „Wir haben große Generäle, aber über Allen steht doch Wrangel; der preußische Staat weiß gar nicht, was er diesem Manne zu verdanken hat,“ ist das Urtheil eines competenten Mannes über ihn, nämlich des Prinzen Friedrich Karl.
Was Wrangel jedoch mehr als die allerlei ihm meist angedichteten kleinen Eigenheiten in so seltenem Grade volksthümlich werden ließ, war nicht sowohl die soldatische Kernhaftigkeit, als die gewinnende Gutherzigkeit seines Wesens. In seinem langen, dem Dienste des Königs und dem Wohle des Vaterlandes gewidmeten Kriegerleben bewahrheitete Papa Wrangel den Sinn jener Worte, welche er am 14. Mai 1850 in das Album für die Denksäule im königlichen Invalidenparke zu Berlin schrieb:
„Man kann im Herzen Milde tragen
und doch mit Schwertern drunter schlagen.“
- ↑ Im siebenzehnten Jahrhunderte war der Canarienvogel im Salon jeder Schönen ebenso unentbehrlich, wie es heutzutage ein Pianino ist. Die Vögel waren in der Regel so dressirt, daß sie ruhig auf dem Zeigefinger der rechten Hand sitzen blieben. Mit dem Vogel auf der Hand empfing die Dame des Hauses Besuche, mit dem Vogel ließ sie sich malen; daher so häufig weibliche Portraits aus jener Zeit mit dem Canarienvogel auf der Hand.
- ↑ Es ist eine auffällige, aber durch ein merkwürdiges Naturgesetz begründete Erscheinung, daß solche Thiere, welche aus wärmeren, südlichen Gegenden nach kälteren nördlichen Himmelsstrichen verpflanzt werden, hellere Farbe bekommen. So haben nach übereinstimmenden Berichten die Gold- und Silberfische in ihrer Heimath China durchaus nicht die glänzende Farbe, durch welche sie sich bei uns auszeichnen.