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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[799]

No. 50.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Ein Meteor.


Von E. Werber.


(Fortsetzung.)


Ich ging mit dem Manne. Der Kopf brauste mir. Ich war wie Einer, den man plötzlich aus dem Schlafe gerissen und auf die Straße gestoßen hat und der noch nicht recht zu sich gekommen und nicht weiß, was ihm geschah. Ein halbverwischter Traum schwirrt ihm vor dem Auge.

Ich ging barhaupt. Der Regen that mir wohl, und ich kam nach und nach zu mir. Ich bemerkte, daß ich nicht ging, sondern rannte. Der mir nachkeuchende Mann rief: „Herr, wenn Du so läufst, so wirst Du gleich hinsinken und dann kommen wir gar nicht vorwärts.“

Der Mann hatte Recht. Ich hielt einen Augenblick an; allein Bodiwil’s Angst, mit der er gebeten hatte: „Nicht wahr, Sie gehen schnell, schnell, schnell!?“ klang mir im Ohr, und ich fing von Neuem an, zu laufen.

„Rechts!“ rief der Mann, als der Weg sich theilte. Ich war genöthigt, langsamer zu gehen, denn der Boden wurde jetzt mehr und mehr mooricht und feucht und erschwerte schnelles Gehen. Nach und nach stieg der Pfad; wir näherten uns einem Hügel, und da war festerer Boden.

„Haben wir noch weit?“ fragte ich den Mann.

„Nein, Herr,“ antwortete er. „Siehst Du das röthliche Haus unter den Tannenbäumen auf dem Hügel? Dort ist’s, wohin wir gehen.“

Noch einige Minuten – und wir standen vor dem Hause. Es hatte ein Stockwerk mit einem einfenstrigen Aufsatz und zeichnete sich durch Nichts von den Bauernhöfen der Gegend aus. Meine Bangigkeit wuchs, als ich über die Schwelle trat.

Die Thür eines Zimmers öffnete sich leise, und eine ältliche Frau in der Landestracht schaute mich mit bangen, verweinten Augen an. Sie schien Alles zu verstehen, noch ehe ich gesprochen hatte.

„Warum kommt er nicht selbst?“ fragte sie.

Ich sagte ihr die Ursache und bat, zu der Kranken geführt zu werden.

„Gleich,“ sprach sie, „ich will das Fräulein nur erst vorbereiten.“

Nach einigen Secunden kam sie zurück und sagte: „Komm’, Herr! Sie will Dich sehen.“

Ich folgte der Frau; das Herz hämmerte mir in der Brust. Sie führte mich durch eine kleine Stube in eine größere, wo zwei Dinge mir in die Augen fielen: ein violetter Damastvorhang und eine auf einem Divan davor liegende weibliche Gestalt, in einen weißen Shawl gehüllt und mit einer türkischen Decke bis über die Kniee zugedeckt. Sie hielt beide Hände vor’s Gesicht, feine, durchsichtige Hände, und zwischen den Fingern quollen reichlich Thränen hervor.

Ich stand erschüttert. Ihre Hände sanken herab ich – empfand, als ich ihr Gesicht sah, einen elektrischen Stoß, wie ich ihn beim Anblick von Bodiwil’s Bildern empfunden hatte – es war das Gesicht der Sphinx, die über Bodiwil’s Bette hing. –

Sie streckte eine Hand nach mir aus und sagte mit schwacher Stimme: „Sie sind sein Freund?“

Ich beugte mich zu ihr nieder und küßte ihre Hand. „Allmächtiger Gott!“ rief es in mir, „soll dieses Geschöpf sterben?“

„Wird Bodiwil bald kommen?“ fragte sie.

Ich rang nach Fassung und sagte: „Vielleicht gleich, längstens aber in einer halben Stunde.“

„Ich fühle mich ein wenig besser,“ sagte sie seufzend. „Vielleicht kann ich noch ein paar Tage leben. Sagen Sie Bodiwil nicht, daß ich geweint habe! Er könnte glauben, ich habe Furcht, und ich weine doch nur, weil ich von ihm gehen muß.“ Sie trocknete die Thränen, die zitternd auf ihre Wangen herabtröpfelten.

Das Herz wollte mir brechen. „Kann ich nichts für Sie thun?“ fragte ich.

„Doch!“ sagte sie, und wies auf einen Stuhl, welchen die Frau neben den Divan gestellt hatte.

„Ich bitte, ich beschwöre Sie,“ sprach sie, „verlassen Sie Bodiwil nicht, wenn ich todt bin; nicht bei Tag und nicht bei Nacht! Zwingen Sie ihn zur Arbeit! Er darf der Kunst nicht verloren gehen. Reißen Sie ihn aus der Einsamkeit, nehmen Sie ihn mit nach Deutschland und wecken Sie seinen Ehrgeiz! Eine Intelligenz, wie die seinige, gehört der Welt und nicht dem Kloster. Müßte ich nicht sterben, so wäre es meine Aufgabe, ihn zum Ruhme zu führen; aber bei allem guten Willen bin ich ohnmächtig wie ein Kind, denn ich bin in der Gewalt des Todes.“

Ich wagte, ihr zu erwidern: „Verlieren Sie den Muth nicht! So jung, wie Sie sind, stirbt man nicht so leicht.“

„Nein,“ sagte sie wehmüthig, „man stirbt nicht leicht, allein man stirbt darum nicht weniger sicher.“

Sie schwieg erschöpft und schloß die Augen. Nach einiger [800] Zeit hörte ich Schritte vor dem Hause. Die Kranke hörte sie auch. Eine selige Verklärung flog über ihre Züge, und sie richtete sich auf. „Das ist Bodiwil,“ sagte sie und heftete die Augen auf die Thür.

Bodiwil trat ein und sank am Divan zusammen. Ich stützte ihn, bis er sich ermannt hatte. Dann verließ ich das Zimmer und setzte mich im Vorgemach nieder, nachdem ich die Thür hinter mir geschlossen.

Ich begann mich zu sammeln. Das also war das Geheimnißvolle in Bodiwil. Warum auch hatte ich nichts geahnt, wenn er einsam in der Rotunde saß und zu den Hügeln hinblickte, oder wenn er die Nebel mit dem Fernrohr zu durchdringen suchte! Wer aber war das Wesen, das hier verborgen lebte? Wie konnte Bodiwil sie besuchen, ohne daß man im Stifte Kenntniß davon bekam? Woran starb das Mädchen, und war es wirklich unrettbar?

Als die Frau, welche die Pflegerin der Kranken zu sein schien, nach einiger Zeit herein kam, fragte ich sie, worin des Fräuleins Krankheit bestehe.

„Sie hat das Sumpffieber, Herr, aber sie stirbt nicht eigentlich daran,“ sagte sie.

„Woran denn?“ fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf und sprach: „Ich kann Dir das jetzt nicht sagen, Herr. Es ist zu traurig.“

„Ihr habt doch einen Arzt gerufen?“ rief ich bestürzt.

„Der Arzt sagt, es sei dem Fräulein nicht zu helfen,“ erwiderte die Frau und verließ, in Thränen ausbrechend, das Zimmer.

Ich saß lange allein. Der Regen fiel noch immer; zuweilen schlug der Wind die Tropfen gegen die Fensterscheiben, und jedes Mal erschrak ich. Als es zu dämmern anfing, trat Bodiwil herein und sank in einen Sessel. „Wie ist es möglich!“ rief er. „Wie soll ich es ertragen?!“

„Ist ihr besser?“ fragte ich.

„Sie schläft; vielleicht erwacht sie nicht mehr,“ erwiderte er, und schwere Tropfen fielen aus seinen Augen.

„Muth, Bodiwil, Muth!“ sprach ich.

Es wurde dunkel in der Stube. Keiner von uns sprach; Keiner wagte dem Andern seine Gedanken zu sagen. Als später die Frau mit Licht herein kam, äußerte Bodiwil: „Lieber Freund, ich bitte Sie, diese Nacht und morgen, und vielleicht länger noch sich hier mit mir zu verbergen. Ich habe, um bei Mariana bleiben zu können, dem Prälaten gesagt, wir machten eine Excursion und kämen erst in zwei oder drei Tagen zurück.“

„Wie?“ fiel ich ein, „wird man es nicht seltsam finden, daß wir bei Regen eine Excursion unternehmen?“

„Seltsam oder nicht!“ versetzte Bodiwil. „Uebrigens ist man an mir allerlei Excentricitäten schon gewohnt.“

Mariana war erwacht und rief Bodiwil. Er ging zu ihr und ließ die Thür offen. Ich hörte Beide längere Zeit leise sprechen; dann rief mich Bodiwil. Eine Lampe brannte in einer Ecke des Zimmers. Mariana’s Züge schienen mir seltsam gespannt; ihr Auge hatte einen Blick, der mir durch die Seele schnitt – ich fühlte, daß der Tod im Zimmer war. Mit einer Stimme, süß und schaurig zugleich, sagte sie zu mir: „Ich vermache Ihnen meine Freundschaft für Bodiwil. Verlassen Sie ihn nicht, lieben Sie ihn und wachen Sie über ihn! Weil ich so frühe sterben muß, soll er um so länger leben. Machen Sie, daß er noch glücklich werde!“

Sie hatte langsam und mühsam gesprochen. Bodiwil knieete neben ihr. Ich gelobte ihr, Bodiwil zu lieben, ihn nicht zu verlassen und über ihm zu wachen. Dann verließ ich, meiner selbst kaum noch mächtig, das Sterbezimmer.

Gegen Mitternacht hörte ich einen dumpfen Schrei und einen Fall; ich eilte hinzu und fand Bodiwil besinnungslos neben Mariana’s Leiche an der Erde liegen.

Drei Tage später erhob sich im Tannengrunde hinter dem Hause ein Grabhügel. In die Rinde der ihm zu Häupten stehenden Tanne waren die Worte gegraben: Mariana Santorin.




Bodiwil und ich waren, nachdem wir Mariana in die Erde gelegt hatten, in’s Stift zurückgekehrt. Ich gab vor, er habe sich erkältet und einen Anfall von Sumpffieber, welches in der Gegend häufig ist.

Man ließ ihn ruhig auf seinem Zimmer. Ich war stets bei ihm. Der Prälat, welcher täglich zweimal nach ihm sah, verrieth weder durch Wort noch Blick, daß er von den Ereignissen und unserem Aufenthalte während der drei letzten Tage Kunde hatte. Ich erfuhr dies erst später. Er war ein Mann von etwa fünfundsechszig Jahren und hatte ein intelligentes und gemüthvolles Gesicht. Er flößte mir großes Vertrauen, große Verehrung ein. Dem Fieber Bodiwil’s scheinbar Glauben schenkend, brachte er aus der Hausapotheke die gegen das Fieber gebräuchlichen Mittel herauf und fragte besorgt nach Bodiwil’s Wünschen; mehr als einmal sah ich Thränen in seinen Augen stehen.

Bodiwil war wie ein still Wahnsinniger. Er verweigerte jede Speise, und wenn ich versuchte, ihm eindringlich zuzureden, so hielt er sich die Ohren zu oder trat an’s Piano und schlug laute, schreiende Accorde an, die meine Stimme übertönten. Nach einigen Tagen verlangte er auszugehen; ich begleitete ihn. Er schlug den Weg zum Tannengrunde ein. Als wir an Mariana’s Grab kamen, fanden wir ihren Hund, eine große braune Dogge, todt neben dem Hügel liegen.

„Hat dieser Hund mehr Schmerz empfunden als ich?“ rief Bodiwil ingrimmig aus. „Mariana! Mariana! Warum kann ich nicht sterben?“

Dann wandte er sich heftig zu mir und sagte: „Heinrich, wenn Sie das Geschöpf, das hier unten liegt, gekannt hätten, so würden Sie mich, der ich es schon um sechs Tage überlebt habe, für den stärksten oder auch für den erbärmlichsten Menschen halten.“ Er sank mit diesen Worten der Länge nach auf den Grabhügel, drückte seine Finger in das Erdreich und bedeckte ihn mit leidenschaftlichen Küssen. Er überließ sich einem Schmerzensausbruche, der mich entsetzte.

„Bodiwil,“ rief ich, „das Weib hier drunten ist mit männlicher Fassung gestorben, und Sie, ein Mann, haben nicht den Muth, das Leben mehr zu ertragen? Das Leben, welches sie mich gebeten hat Ihnen zu erhalten? Ihr Genie, Ihren Beruf – vergessen Sie Alles?“

„Mein Genie!“ rief er. „Als ob die Welt oder das Kloster es brauchten! Als ob ich es überhaupt noch besäße! Es ist in mir erloschen, langsam erloschen, da sie zu sterben anfing.“

Ich wollte ihm entgegnen; allein er fiel mir in’s Wort und sagte: „Kommen Sie mit mir in das Haus, in dem sie starb! Dort will ich Ihnen von ihr erzählen.“

Dieser Entschluß war mir erwünscht; ich dachte, die Mittheilung werde ihn erleichtern, ihm wohlthun.

Mariana’s Zimmer waren unberührt geblieben. Der Divan, auf welchem sie verschieden, stand noch vor dem Vorhange, welcher, ganz wie in Bodiwil’s Zimmer, die Wohnstube von dem Schlafcabinete trennte. Ein Theil des Vorhanges war zurückgeschlagen; ich sah Mariana’s Bett und über ihm Bodiwil’s Bild, in Oel gemalt. Dieses Bild war merkwürdig durch die Wahrheit des Ausdrucks, in welchem die ganze reiche und mächtige Individualität Bodiwil’s zu lesen war, und durch eine Durchsichtigkeit und Vergeistigung des Tons, wie ich sie nie in einem Portrait gesehen hatte.

Es war Bodiwil in einem jener Momente, wo, wie bei allen genialen Naturen, der ganze Inhalt seines Wesens aus den Schlupfwinkeln trat und dem Angesicht eine Zaubergewalt verlieh, die man „seelischen Magnetismus“ nennen könnte.

Das Bild war ein Meisterwerk, welches einen Maler hätte unsterblich machen können.

„Wer hat dieses Bild gemalt?“ fragte ich Bodiwil.

„Sie – Mariana,“ antwortete er.

Erstaunt blickte ich ihn an. „Aber wer war denn das wunderbare Geschöpf? Reden Sie!“ bat ich.

Bodiwil setzte sich neben den Divan und heftete seinen Blick auf das Kissen, wo Mariana’s Haupt gelegen hatte.

„Als ich,“ begann er, „ein zwölfjähriger Knabe, in’s Stift kam, war sie noch nicht geboren. Ein Jahr später wurde auf dem zwei Stunden von hier entfernten Gute des Herrn Santorin die Taufe eines Töchterchens gefeiert. Der Prälat und zwei Stiftsherren waren zur Taufe geladen und nahmen mich mit. Das Kind lag in einer mit hellblauer Seide ausgefütterten Korbwiege und schlief, als man es mir zeigte. Ich mußte [801] weinen und wußte nicht, warum. Santorin war ehrgeizig, leidenschaftlich und finster. Seine Besitzung war groß, und er galt für reich und angesehen in der Umgegend; allein er wollte der Reichste und Angesehenste unter den Gutsbesitzern werden und ließ keine Gelegenheit vorübergehen, sich Land und Vieh auf vortheilhafte Weise zuzulegen. Einige Jahre nach der Geburt seines Töchterchens suchte er die Verwaltung des Stifts zur Abtretung eines großen Landstriches zu bewegen, welcher an seine Besitzungen stieß. Dieser Landstrich war dem Stifte sehr nützlich, fast unentbehrlich; die Verwaltung lehnte daher Santorin’s Vorschlag ab und blieb unbeugsam, als Santorin nach einigen Monaten noch einmal und ziemlich gebieterisch die Sache in Vorschlag brachte. Von da an brach Santorin allen Umgang mit dem Stifte ab und wurde unser Feind. Er grüßte keinen der Stiftsherrn mehr; er verbot seinen Pächtern und Dienstleuten den Umgang mit den Leuten unserer Meierei; er verleumdete die Tendenz des Collegiums und suchte uns die Söhne der angesehenen dalmatischen Familien zu entziehen. Er ging in seinem Hasse und seiner Rachsucht bis zu Gewaltthätigkeiten: eines Morgens sah man seinen Sohn, einen Knaben von vierzehn Jahren, in der Nähe einer unserer Schafhürden und fand zehn Schafe darin niedergestochen. Etwas später that man es den Pferden an. Man hatte fünf Zugpferde in einer warmen Sommernacht, in einem leichten Holzverschlage angebunden, auf dem Felde gelassen. Der in der Nähe schlafende Hüter erwachte durch das entsetzliche Toben der Pferde. Als er hinzu eilte, fand er zwei der Pferde todt, die andern rasend. Er schoß sie nieder und fand in ihren Ohren brennenden Schwamm. Der Prälat ließ die Sache gerichtlich untersuchen. Man konnte Santorin oder seine Leute der That nicht überführen, obwohl Meilen weit keine andern Besitzungen als die Santorin’schen lagen und sein Wohnhaus sogar nahe dem Felde stand, wo die That begangen wurde. Allein der Proceß und der Verdacht, welcher auf seinem Namen lag, schadeten seinem Ansehen in der Umgegend. Sein Haß wurde jetzt noch ingrimmiger; doch Santorin wußte, daß er scharf beobachtet wurde, was ihn zur Vorsicht zwang und von Gewaltthätigkeiten abhielt. Eine dalmatische Rache aber schläft nie, selbst wenn sie die Augen zu hat. Santorin’s Rache that zuweilen kleine Katzensprünge, da ihr die Tigerangriffe versagt waren. Von seiner Familie hörten wir nichts mehr seit dem Tode von Santorin’s Frau, welche eine Deutsche war und während der Zwistigkeiten starb.

Ich machte häufig Ausflüge, theils um mich im Skizziren zu üben, theils um Pflanzen und Insecten zu sammeln. Als ich eines Abends bei Sonnenuntergang, nahe bei Santorin’s Gute, durch ein Wäldchen kam, hörte ich leises Wimmern. Ich ging der Stimme nach und fand ein Mädchen von acht bis neun Jahren, welches in einen Sumpf gerathen und bis an’s Knie hineingesunken war. Als die Kleine mich sah, rief sie:

‚Herr, Herr, ach hilf mir!‘

Ich zog sie aus dem Sumpfe und fragte, wie sie heiße.

‚Mariana Santorin,‘ sagte sie.

Ich fragte, ob sie die Tochter des Gutsherrn Santorin sei.

‚Ja, Herr,‘ antwortete sie. ‚Mein Vater wohnt nicht weit von hier.‘

Auf meine Frage, wie sie in den Sumpf gerathen war, erwiderte sie:

,Ich liebe die Bäume; ich komme oft her, um sie auswendig zu lernen, damit ich sie zu Hause zeichnen kann.‘

Ich öffnete mein Skizzenbuch und bat die Kleine, mir einen Baum hineinzuzeichnen. Sie blickte einen Augenblick auf eine meiner Skizzen und sagte: ‚Du machst lauter kleine Bäume, Herr; ich kann solche kleine Bäume nicht leiden.‘ Dann machte sie zwei kräftige Striche in großer Entfernung, einen oben und einen unten.

‚Sieh, Herr,‘ sagte sie, ‚der Strich oben ist der Himmel und der unten die Erde, und dazwischen hinein zeichne ich meine Bäume. Die Wurzeln gehen in die Erde, und die Spitze stößt an den Himmel.‘

In wenigen Secunden hatte sie mit groben, aber sichern Strichen eine Tanne gezeichnet, wie sie in Norwegen, aber nicht in Dalmatien zu finden ist: groß, breit, voll, ernst und ausdrucksvoll. Sie war mit einem so wahren Naturgefühle gezeichnet, daß ich bei mir dachte: ich möchte diesem Kinde Unterricht geben. Sie sagte mir, es helfe ihr Niemand beim Zeichnen, und es kümmere sich auch Niemand zu Hause darum. Ich nahm das Kind an der Hand, um es nach Hause zu führen; bald fühlte ich an seinen schwankenden Schritten, daß seine Füßchen im Sumpfe schwer und müde geworden waren. Ich hob es auf meinen Arm und trug es bis zu Santorin’s Hause. Vor der Thür saß eine Frau und spann; ich übergab ihr das Kind und erzählte ihr mit kurzen Worten, wo und wie ich es gefunden hatte. Sie dankte mir mit finsterm, verdrossenem Tone, einen langen Blick auf mein Gewand werfend, welches den Stiftsherrn erkennen ließ. Die Kleine küßte mir die Hand und sagte: ‚Herr, ich danke Dir. Du bist sehr gut gegen mich gewesen. Wie heißt Du?‘

Ich sagte ihr meinen Namen und ermunterte sie, fleißig zu zeichnen. Dies war das einzige Mal, daß ich Santorin’s Töchterchen sah. Als ich einige Wochen darauf Santorin’s Sohn im Felde begegnete, hetzte er seinen Hund auf mich. Ich fragte ihn, warum er dies thue?

‚Weil Du meine Schwester auf den Armen getragen hast,‘ antwortete er. ‚Du solltest mir dafür danken,‘ sagte ich, ‚denn Deine Schwester war müde.‘ ‚Ich wollte lieber, daß sie im Sumpfe erstickt wäre, als daß ein Stifsherr von Constantin sie berührt hat,‘ erwiderte er und hetzte auf’s Neue den Hund auf mich. Ich schlug diesem mit meinem Stocke über den Rücken, ließ den wüthenden Jungen toben und ging meines Weges.

Nach und nach schenkte man im Stifte den ohnmächtigen Rache-Ausbrüchen der Santorin keine Aufmerksamkeit mehr, und selten nur nannte man ihren Namen. Jahre vergingen; ich hatte meine Reisen gemacht und war nach Constantin zurückgekommen. Der Stiftsherr Samuel starb, und die Leitung der Malerschule wurde auf mich übertragen. Vor zwei Jahren starb der Gutsherr Santorin. Sein Sohn verkaufte die Güter und zog mit seiner Schwester fort. Wir wußten nicht, wohin sie gegangen, und kümmerten uns auch nicht darum. Sehen Sie, der Gedanke, daß ich neben einem Wesen, welches die Gottheit für mich schuf, achtzehn Jahre lang in unwissender Gleichgültigkeit gelebt habe – dieser Gedanke könnte mich wahnsinnig machen.“ Bodiwil vergrub seinen Kopf in beide Hände und schwieg.

Ich entgegnete nichts, denn ich begriff die furchtbare Bitterkeit seines Gedankens.

„Der Fürst Ap.,“ fuhr er nach einer Weile fort, „kam im vorigen Herbste nach Constantin. Ich mußte ihm versprechen, ihn in W. zu besuchen. Ende December reiste ich ab; der Prälat gab mir einen Urlaub von drei Monaten. Der Fürst hatte alle erdenklichen Aufmerksamkeiten für mich. Da er meinen Hang zur Einsamkeit kannte, hatte er ein Häuschen am Ende seines Gartens für mich einrichten lassen; es war in maurischem Stile erbaut und enthielt mehrere Zimmer und ein großes Atelier. Ein Diener, welcher die Zimmer in Ordnung hielt, war die einzige Person, welche mit mir das Häuschen bewohnte. Der Fürst ging oft in Gesellschaft, und nur um ihm gefällig zu sein, ging ich mit. Ich war durch die Bilder, welche ich dem Fürsten zum Geschenke gemacht und die er vor meiner Ankunft ausgestellt hatte, für Manche ein Gegenstand der Neugierde und empfing zuweilen Besuche in meinem Atelier, namentlich Besuche von Damen. Es konnte mich also nicht befremden, als eines Vormittags mein Diener wieder eine Dame bei mir anmeldete. Ich ließ sie bitten, einzutreten. Gott, wie war sie verschieden von den andern! Sie trug ein einfaches schwarzes Seidenkleid und hielt eine Mappe an einem Bändchen. Sie schien kaum achtzehn Jahre alt zu sein; ihr Gesicht war blaß, süß und ernst. Sie blieb an der Thür stehen und sagte: ‚Verzeihen Sie, daß ich Sie störe und es wage, ohne Empfehlung zu Ihnen zu kommen!‘

Ich bat sie, sich zu setzen und fragte, ihr die Mappe abnehmend, was mir die Ehre ihres Besuches verschaffe.

‚Ich bin Mariana Santorin,‘ sagte sie.

‚Santorin?‘ wiederholte ich, mich besinnend.

‚Ja,‘ sprach sie, ‚die kleine Santorin, welche Sie vor zehn Jahren aus einem Sumpfe zogen.‘

‚Wie?‘ rief ich, ‚Mariana Santorin besucht den Stiftsherrn von Constantin? Das beweist viel Selbstüberwindung.‘

‚Vielleicht auch nicht,‘ erwiderte sie. ‚Ich komme nicht, um Ihnen einen Gegendienst zu erweisen, sondern um eine Gunst [802] von Ihnen zu erbitten.‘ Sie warf einen Blick auf die Mappe, welche ich ihr abgenommen und auf einen Stuhl gelegt hatte, und sagte: ‚Ich habe einige Skizzen mitgebracht und bitte Sie, dieselben prüfen und mir einige Anleitung geben zu wollen, wenn Sie meine Fähigkeiten dieser Ehre werth halten.“

‚Sie malen?‘ fragte ich.

‚Ja,‘ antwortete sie. ‚Ich habe ein halbes Jahr lang Unterricht beim Maler Fl. gehabt. Seit ich Ihre Bilder in der Galerie des Fürsten Ap. sah, habe ich den Unterricht bei Fl. aufgegeben. Ich hörte von Ihrer Ankunft, allein – ich hatte nicht gleich den Muth, mich Ihnen vorzustellen.‘

Ich öffnete die Mappe. Sie enthielt etwa ein Dutzend Bleistift- und Kohlenskizzen und einen auf Leinwand gemalten Greisenkopf. Die Skizzen waren poetische Momente, kühn hingeworfen und von einem großen Zug durchweht. Zwei davon waren meisterhaft, das eine: Zenobia’s Geist, traurig aus einer Wolke auf die Trümmer Palmyras niederschauend; das andere: die Poesie, eine schöne weibliche Gestalt vor einer steinernen Sphinx in tiefe Träumerei versunken, eine Leier in der lässig herabhängenden Hand haltend. Dies war so neu, so ureigen empfunden und entsprach so ganz meiner eigenen Gefühlsweise, daß ich erstaunt ausrief: ‚Und dies, in der That, sind Ihre eigenen Compositionen?‘

Ich blickte das Mädchen theilnehmend an; es war mir, als sei sie eine Widerstrahlung, eine Verdoppelung meines eigenen Wesens. Es war etwas Feierliches in diesem Augenblicke, wir fühlten es Beide. Es hätte mich verlegen gemacht, ihr meine Bewunderung auszusprechen. Ich sagte ihr nur, sie habe eine reiche Phantasie und ein großes Gestaltungstalent, und fragte, ob sie Künstlerin werden wolle.

‚Nicht für die Oeffentlichkeit, nur für mein eigenes Glück,‘ sagte sie.

Auch diese Empfindungsweise entsprach meiner eigenen und fiel mir um so mehr auf, als mit einer so reichen künstlerischen Natur, wie die Mariana’s, gewöhnlich ein glühender Ehrgeiz verbunden ist.

Ich sagte ihr, daß ich nur noch zwei Monate in W. bleiben werde, da sie aber schon eine so bedeutende künstlerische Selbstständigkeit besitze, so werde diese kurze Zeit wohl zu dem Wenigen genügen, was ich sie lehren könne. Ich fragte sie auch, ob sie sich bequemen wolle, in meinem Atelier zu arbeiten, und sie antwortete, sie habe nicht zu hoffen gewagt, daß ihr eine solche Ehre zu Theil würde.

Auf meine Frage, ob sie sich für immer in W. niedergelassen, theilte sie mir mit, daß ihr Bruder das Gut des Vaters verkauft habe, weil er die Landwirthschaft nicht liebe, und da sie von frühester Jugend periodisch am Sumpffieber gelitten, habe er es für gut befunden, ganz mit ihr fortzuziehen. Nach einer Reise durch Italien hätten sie sich für unbestimmte Zeit in W. niedergelassen; ihr Bruder habe sich aber inzwischen mit einer jungen Dame verlobt und werde nach seiner Verheirathung nach Mähren ziehen, wo er eine Erzgießerei gekauft habe. Ich frug sie, ob sie noch immer am Fieber leide.

‚Seit ich Dalmatien verließ, bin ich viel wohler,‘ sagte sie.

Ich stellte ihr frei, zu kommen, so oft sie wolle, und bevollmächtigte den Diener, sie in mein Atelier zu führen, wenn ich auch gerade nicht zu Hause sein sollte.

Sie bat, gleich am nächsten Tage kommen zu dürfen. Ich ward von ihrem Eifer gerührt und versicherte ihr, daß sie mir keine größere Freude machen könne, als schon morgen und alle Tage zu kommen.

Ein glückliches Lächeln flog über ihr Gesicht; es stand ihr gut und that ihr wohl. –

Als ich allein war, befand ich mich in einem sonderbaren Zustande. Es war nicht, als ob mich eine Dame besucht oder ich eine Schülerin übernommen, sondern als ob ich eine Erscheinung gehabt, die Erscheinung eines Wesens, mit dem ich vor tausenden von Jahren Eins gewesen wäre. Am Abend desselben Tages ging ich mit dem Fürsten in Gesellschaft. Ich fand die Frauen hohl, albern, lächerlich.

Am nächsten Morgen kam Mariana, von einem Diener gefolgt, welcher eine Staffelei und eine Leinwand trug. Als ich ihren Finger an die Thür klopfen hörte, schlug mein Herz hörbar; dies geschah mir lange Zeit täglich, denn sie kam täglich. Ich wies ihr zum Arbeiten einen Platz an, an welchem ich sie von meiner Staffelei aus sehen konnte. In den ersten Tagen ließ ich sie in der Farbenbehandlung sich üben, da mir schien, als habe sie einige Unsicherheit darin. Sie faßte schnell, und was sie erfaßte, das konnte sie auch augenblicklich ausführen. Die Technik war bei ihr nicht Sache der Uebung, sondern des Begriffs. Sie war in diesem Punkte, wie in so manchem Andern, ein Phänomen. Schülerhaftes Copiren war ihr unmöglich; überall brach ihre eigene mächtige Natur durch. Ich bin gewiß, daß, wenn ich dies getadelt hätte, sie bei ihrem großen und ernsten Eifer sich alle Mühe würde gegeben haben, ihre Natur zu unterdrücken; allein ich bin auch ebenso gewiß, daß sie es nicht gekonnt hätte. Ihr Wesen war ein tiefer, voller Strom, von einem Gott getrieben – und er trieb mächtig, dieser Gott.

Mariana war stets schweigsam und ernst; sie sprach nur, wenn ich sie anredete. Hörte sie aus der Art meiner Frage, daß ich meine Gedanken von der Arbeit losriß, so antwortete sie kurz; fühlte sie aber, daß ich gern ein Gespräch mit ihr anknüpfte – und sie fühlte immer richtig – so antwortete sie wortreicher und setzte die Unterhaltung selbst fort. Ihre Gedanken waren ernster und hoher Art; für die gewöhnlichen Lebensformen und Vergnügungen hatte sie gar keinen Sinn. Zuweilen, wenn sie sprach, blickte sie zu mir herüber, und ihr Auge gab mir Räthsel auf, tiefsinnigere als die griechische Sphinx dem Oedipus zu lösen gab. Jeder ihrer Blicke, jedes ihrer Worte, jede ihrer Bewegungen hingen sich an mich und umschlangen mich wie ein unabweislicher Zauber. Ich konnte mir bald nicht mehr verhehlen, daß ich Mariana liebte. Ich fragte mich mit Sorgen, was aus Mariana und mir werden würde, denn – es war seltsam – ich hatte die feste Ueberzeugung, daß Mariana für mich geschaffen sei und daß sie mich lieben müsse – ich glaubte unfehlbar daran. Ich glaubte sogar, daß diese Bestimmung es war, was sie unbewußt zu mir getrieben hatte, und daß Mariana, gleich mir, sich in diese Liebe fügen werde, wie in ein himmlisches Gebot.

Es schien mir natürlich, daß unser Loos außerhalb der gewöhnlichen Lebensformen lag. Zuweilen beruhigte mich dieser Gedanke, und ich ließ das Schicksal dann ruhig im Verborgenen unsere Seligkeiten und unsere Nöthe weben; zu anderen Malen aber überkam mich eine grenzenlose Bangigkeit. Ich wurde dann finster und hart, um mich nicht zu verrathen.

Es war etwas furchtbar Ernstes in dieser Liebesgewalt. Oft, wenn Mariana vor ihrer Staffelei saß, die zarte Gestalt ein wenig in sich gesunken und den ausdrucksvollen Kopf tiefsinnend vorgebeugt, hätte ich Thüren und Fenster vermauern und zu ihren Füßen stürzen und sagen mögen: ‚Du weißt, daß Du mein bist, denn Du bist von Anbeginn mein gewesen. Laß uns hier mitsammen sterben!‘ –

Ihr Fleiß war beunruhigend. Sie kam Morgens um neun und arbeitete bei mir bis zwei Uhr. Zu Hause arbeitete sie gleichfalls. Sie brachte wöchentlich zwei bis drei Skizzen, welche ihr den ganzen Nachmittag und Abend mußten genommen haben. Ich bat sie eines Tages, sich weniger anzustrengen. ‚Sie sind ja jung,‘ setzte ich hinzu, ‚und haben noch viele Jahre zur Vollendung vor sich.‘

‚Nein,‘ sagte sie, ‚das habe ich nicht. Ich muß mich im Gegentheil sehr beeilen, denn ich werde kaum noch ein Jahr leben.‘“


(Schluß folgt.)




Ein römisches Modell.


Wie jeder Fremde, der nach Rom gekommen, lustwandelten auch wir, einige Freundinnen, welche Liebe zur Kunst nach der ewigen Stadt geführt, gern und oft nach dem Monte Pincio. Hier entfaltet sich täglich in den Nachmittagsstunden das bunteste Leben. Das Militärconcert unter der Palme zieht unzählige Spaziergänger aller Stände und eine unabsehbare Reihe von glänzenden Equipagen hierher. Der Fremde sieht hier staunend den höchsten modernen Luxus zur Schau getragen, und in unaufhörlichem

[803]

Die kleine Cäcilie in Rom.
Nach dem Oelbilde von Helene Richter in Düsseldorf.

Wechsel wogt die Menge in den schattigen Alleen hin und her, bis die Glocken Ave Maria ankündigen und die Schaaren den Heimweg antreten.

Das Spiel ist zu Ende; der Pincio wird geschlossen. Abendliche Schatten lagern sich über die weit ausgedehnte Stadt; die Kuppel des St. Peter’s glüht noch im Abendsonnengolde, und unvergleichlich schön breitet sich das Panorama der Stadt und Umgegend aus, begrenzt von den Linien der blauen Albaner Berge.

Ganz betäubt von solchen Eindrücken, kehren wir in die Stadt zurück und wählen wie Viele den Weg über die „spanische Treppe“. Welch ein Gegensatz zu dem eben Gesehenen bietet sich hier! Dort sahen wir den begüterten und vornehmen Menschen in Pracht und Herrlichkeit, die ihm Stand und Vermögen bieten, hier den ärmsten Erdensohn – und doch wie oft in Pracht und Herrlichkeit einer unverfälschten Natur, im angestammten Gefühl für Schönheit und Würde.

Auf der „spanischen Treppe“ ist der Ort, wo die Künstler die Modelle für ihre Werke suchen und oft auch finden. [804] Die Modelle sind die einzigen Leute, die des Geldverdienstes wegen sich noch in die malerische Landestracht kleiden, mitunter prächtige, charaktervolle Figuren.

Oben auf der Terrasse, an der breiten Brüstung des Treppengeländers sind die Männer in Gruppen versammelt von frühem Morgen bis zum Abend. Sie rauchen, plaudern, schmausen und warten in Ruhe, bis ein Künstler sie erwählt; dann ist Alles an ihnen Feuer und Bewegung. Eine Schaar lebhafter Knaben tummelt sich um sie herum und stürzt, sobald ein Fremder sich naht, diesem mit Frohsinn und Zuversicht bettelnd entgegen. Dem verwöhnten, vornehmen Reisenden ist dies ein lästiger, gräßlicher Eindruck; er sieht nur Lumpen und Verkommenheit, weil er nichts anderes von „solchen Volke“ erwartet, nichts anderes an ihm sehen will.

Wie anders wir! Lachend plaudern wir mit der lustigen Schaar. Schnell und gern greift die Hand in die Tasche, um durch eine kleine Gabe den fröhlichen Dank durch Wort und Blick einzuernten. Bald ist man Allen bekannt und weiß sie bei Namen zu nennen, und schon aus weiter Ferne sieht man den Gruß des „kleinen Cecco, il piccolo“, des drolligsten Kerlchens der Welt, im Schafpelzjäckchen, immer mit strahlendem, lachendem Gesichte die begehrliche kleine Hand entgegenstreckend oder winkend. Er ist unwiderstehlich komisch; man sieht es ihm an, Betteln ist ihm Lebensberuf, sein allerangenehmstes Handwerk; er wird nicht müde, einem entgegenzutrippeln und, mit einer Hand den Hut, damit er nicht herunterfällt, festhaltend, die andere zuversichtlich entgegenzustrecken, während sein Vater oder Pflegevater, der den Jungen nur zum Betteln engagirt hat, sich in behaglichster Stellung, eine Cigarre rauchend, hingestreckt hat und den Geber gnädig lächelnd anschaut, ohne die Stellung im Geringsten zu verändern. Der Kleine muß für die ganze Familie verdienen. Entweder steht er Modell in fast täglichem Wechsel der verschiedenen Ateliers der vielen Künstler, die ihn gebrauchen, oder er bettelt fleißig, ist wohlgemuth, wohlgenährt und kerngesund dabei, ein Liebling der Künstler, wie des Publicums, eine kleine Berühmtheit von Rom.*[1]

Auf den unteren Stufen der spanischen Treppe haben die Frauen ihren Platz. Sie ist ihr Daheim. Hier arbeiten, essen und vergnügen sie sich. Dabei entfaltet sich eine unerschöpfliche Fülle von „Motiven“ für den beobachtenden Künstler. Hier findet er Gestalt und Ausdruck für eine Mater dolorosa so gut wie für eine Bacchantin. Und welche Genrebilder! Wie sie sich gruppiren, die Spindel oder das Nähzeug in der Hand, ihr einfach Mahl verzehrend, Weißbrod, Obst und geröstete Kastanien den Kindern austheilend, die sorglos und fröhlich um sie herumspielen! Alles, was sie thun, hat „Art“ und ist fesselnd. Der Künstler findet oft die unmittelbare Anregung zu neuem Schaffen durch den Anblick und Eindruck der Wirklichkeit.

Wir gingen gern, den Zauber dieser frischen Eindrücke zu genießen, den Weg. Aber so oft wir kamen, fesselte uns vor Allem der Anblick eines drei- bis vierjährigen kleinen Mädchens, welches nicht, wie die andern Kinder, sich herumtummelte und bettelte, sondern sich befangen zurückzog und an’s Knie der Mutter, einer schönen Frau, anschmiegte, wenn wir es begrüßten. Der Wunsch wurde rege, das ernste, schüchterne, schöne Kind, die „kleine Cäcilie“ zu malen, so, wie sie oft vor uns dastand, stolz und eigenartig, abgesondert von ihren Gespielen. – Die Kleine wurde bestellt, und die Mutter begleitete sie zu den Sitzungen. Bei der großen Beweglichkeit ihres Mienenspiels war es nicht möglich, eine Photographie der Kleinen anzufertigen. Noch verstand sie es nicht, Stellung und Ausdruck nach Wunsch des Künstlers festzuhalten; es war eben ein eigenes und dadurch unbeschreiblich anziehendes Kind, wie es nur unter dem milden Himmel Italiens gedacht werden kann. Bei ihrem Anblicke gedachte man unwillkürlich der Strophe „Aus dunklem Laub die Goldorange glüht“. Die Mutter unterhielt die Kleine, erzählte ihr Legenden und sang mit ihrem Lieblinge volksthümliche Weisen, welche uns völlig fremd waren; dabei leuchteten Cäciliens große Kinderaugen, und jeder Eindruck spiegelte sich in ihren Zügen.

Wer war schöner und anziehender in solchen Momenten, die Mutter oder das liebliche Kind? Man mußte sie zusammen sehen und sich ihrer freuen. Die Malerin ließ oft die fleißige Hand sinken, um staunend und bewundernd zu beobachten. Bald waren Beide die allerbesten Freunde, und je unbefangener die Kleine wurde, desto reicher zeigte sich die hochbegabte Kindernatur in Ausdruck und Bewegung.

Es war Osterfest und die Mutter mit dem Kinde zu Verwandten auf’s Land gegangen. Wenige Tage darauf kam Cäcilie und überreichte uns, strahlend vor Freude, zehn frische Eier, die sie uns mitgebracht hatte. Sie war überglücklich dabei, noch mehr als sonst, wenn sie durch Geschenk einer Puppe, bunter Bänder, Obst oder Naschwerk überrascht wurde. Dann schlang sie dankerfüllt und kindlich anmuthig die kleinen Arme um den Hals der Geberin; beim Geben aber war sie stolz und doch lieblich.

Aber ernst und großartig, wie der erste Eindruck war, den das Kind auf uns gemacht, sollte ja das Bild werden. Es wurde immer schwerer dies bei den immer neuen Anregungen durchzuführen, doch es gelang. Das Bild wurde in Rom vollendet und fand hier bald in goldstrahlendem Rahmen in einem Palaste seinen Platz. In herrlicher Umgebung erfreut es die Besitzer durch seine Schönheit – und Wahrheit.

Das Kind selbst aber saß nach wie vor auf den Stufen der spanischen Treppe.

Unwillkürlich fragten wir uns: „Was wird aus diesem Kinde werden? Wird es in Armuth und dem elenden Lebensberufe verbleiben, wie die Eltern und seine Geschwister?“

Möge ein gütiges Geschick es in bessere Bahnen führen!

Die spanische Treppe, der Schauplatz eines so regen bunten Lebens, ist jetzt leer. Die neue Regierung schafft Ordnung in der alten Roma; das Herumlungern ist verboten. Der verwöhnte Reisende wird nicht mehr von dem „faulen Gesindel“ durch Betteln belästigt werden – aber viele, viele weniger verwöhnte Fremde, besonders die Künstler, werden schmerzlich die bunte Gesellschaft vermissen, mit der sich so traulich verkehren ließ und bei welcher der Künstler so viele Eindrücke zu Studien und Bildern sammeln konnte.

Wie gern mochte man hier Rast machen! Am liebsten, wenn das Abendsonnengold Alles so schön und glücklich erscheinen ließ, wenn in der Carnevalszeit beim schwirrenden aufregenden Tone des Tambourins sich bunt maskirte Tänzer zur Tarantella unermüdlich einfanden, mit ihrer Fröhlichkeit die Vorbeigehenden festhielten und durch ihr Beispiel die Kinder anregten, ihnen nachzuahmen, was unvergleichlich komische Scenen bot.

Das Original-Oelbild der kleinen Cäcilie, gemalt von Helene Richter in Düsseldorf, wurde in Rom von mir photographirt und wird, wie es heute in diesem Blatte vorliegt, von denen, die in Rom waren, gewiß mit Freude begrüßt werden; giebt es doch Kunde von einer Zeit, wo alltäglich auf der Straße Eindrücke zu sammeln waren von einem Leben reich an Ursprünglichkeit und Schönheit. Möge das Bild, da es durch die Blätter der vielverbreiteten Gartenlaube den größten Kreisen zugänglich gemacht wird, Vielen eine liebe Erinnerung sein!

Düsseldorf.

E. Planck.


  1. * Der kleine Cecco ist von derselben Künstlerin gemalt worden; das Bild wurde von der photographischen Gesellschaft vervielfältigt.




Der letzte Sonnensohn.
Nachdruck untersagt.
Eine Historie von Johannes Scherr.


(Fortsetzung.)


Der Aufenthalt in Tumbez und die Gründung von San Miguel hatten einen Zeitraum von fünf Monaten in Anspruch genommen. Längeres Zögern schien dem Conquistador um so unthunlicher, als unter seiner Mannschaft das Gemurre, wo denn eigentlich das verheißene Dorado sei, immer lauter zu werden begann. Er mußte sich daher zum Aufbruche nach Kaxamalka entschließen, ohne weitere Verstärkungen von Panama her abwarten zu können. In San Miguel eine Besitzung zurücklassend, trat er am 21. September von 1532 mit hundertzehn Fußsoldaten und siebenundsechszig Reitern seinen Marsch an, eines der kühnsten [805] Spiele wagend, welche jemals gewagt worden sind. Aber gerade die Abenteuerlichkeit, die Tollkühnheit des Wagnisses entsprach so recht dem Charakter der Spanier von damals und vollends der Sinnesweise des „Heldengesindels“ der Conquistadoren. Man läßt dem Francisko Pizarro und seinen Gefährten nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn man anerkennt, daß wohl niemals ein kühnerer Entschluß gefaßt und mit stahlhärterer Thatkraft zur Ausführung gebracht worden sei als der von ihnen gefaßte und ausgeführte. Mit hundertsiebenzig Mann zuerst in die tropische Urwaldwildniß sich hineinwagen, dann den himmelan gethürmten Riesenwall der Kordilleren übersteigen, in das Herz eines großen und wohlgeordneten Reiches eindringen, den unumschränkten, abgöttisch verehrten, sakrosancten Beherrscher desselben in der Mitte seines siegreichen Heeres in seinem eigenen Prätorium aufsuchen mit der Absicht, der Herrlichkeit dieses Halbgottes von Sonnensohn so oder so ein Ende zu bereiten – gewiß konnte nur ein heldischer Mann diesen Gedanken aussinnen und zur That machen. Dabei ist noch in Anschlag zu bringen, daß die Ausrüstung von Pizarro’s Mannschaft mit Feuerwaffen eine nur sehr spärliche war. Nicht mehr als drei Büchsenschützen befanden sich unter der Schaar, und was das „Geschütz“ anging, so bestand dasselbe aus zwei „Feldschlangen“ kleinsten Kalibers.

Vorwärts also trotz alledem! Die ersten Tagmärsche führten durch ein mälig gen Südosten ansteigendes Land, welches von der Ueppigkeit tropischer Urwaldvegetation überwuchert war. Dann, als man sich den Kolossen der Andeskette mehr genähert hatte, ging der Zug durch Thalgelände, welche, wasserreich und äußerst sorgfältig angebaut, die Anmuth ihrer landschaftlichen Scenerie selbst diesen Wanderern, welche sich sonst um dergleichen blutwenig kümmerten, fühlbar machten. Hier war die Bevölkerung eine zahlreiche, aber von Widerstand nirgends eine Spur. Die Fremdlinge, welche kamen, den armen Peruanern statt des hölzernen Joches, welches sie bislang getragen, ein eisernes aufzulegen, wurden allenthalben freundlich aufgenommen und gastlich beherbergt und bewirthet. Mittels seiner Dolmetscher konnte der Conquistador auch die Wahrnehmung machen, daß unter den Unterthanen Atahuallpa’s eine dumpfe Unzufriedenheit gährte. Die Herrschaft des Inka mußte sich demnach schon als eine sehr drückende erwiesen haben.

Derweil die Spanier an einem Orte, welcher Zaran hieß und innerhalb der Vorberge der Kordilleren gelegen war, Rast hielten, ward ihnen ein Beweis, daß ihr Marsch auf Kaxamalka dem Inka zu Ohren gekommen sein mußte. Leider wissen wir nicht, was sich Atahuallpa, welcher, von seinem Heere umgeben, in Kaxamalka, das schon damals seiner warmen Quellen wegen berühmt war, eine Badkur gebrauchte, bei der Kunde von dem Erscheinen der weißgesichtigen, bärtigen Fremden dachte, welche – so hatten ihm seine Späher zweifelsohne bereits gemeldet – Blitz und Donner mit sich führten und auf wunderbaren Geschöpfen, so man im Reiche der vier Himmelsgegenden nie gesehen, auf einer Art von vierfüßigen Schlangen einherritten. Wie zu vermuthen, hatte die Erscheinung der Fremdlinge zunächst nur die Neugier des Sonnensohnes erregt und scheint ihm ein Gedanke an Gefahr gar nicht aufgestiegen zu sein. So erklärt es sich, daß er einen seiner Edelleute als Gesandten an den Häuptling der Fremden abordnete, um dieselben an sein Hoflager einladen zu lassen. Der Gesandte, welcher selbstverständlich zugleich ein Spion war, wie ja das die Gesandten allzeit oder überall mehr oder weniger waren, sind und sein werden, stellte sich mit seinem Gefolge in Zaran dem Conquistador vor, überreichte etliche Geschenke und entledigte sich mit bester Manier seines Auftrages. Pizarro spielte nicht weniger fein den Diplomaten, überschüttete den peruanischen Höfling mit höfischen Redensarten und sandte denselben zu seinem Gebieter zurück mit der Meldung, er, Pizarro, werde, die Einladung Sr. Majestät des Emperadors von Peru dankend annehmend, mit seinen Leuten bald in Kaxamalka eintreffen. Zugleich trug er dem Gesandten noch auf, den Sonnensohn zu benachrichtigen, daß sie, die Spanier, von jenseits des Meeres kämen und zwar als Botschafter eines mächtigen Monarchen. Dieser hätte von der Macht und dem Ruhme des Inka’s so viel vernommen, daß er ihnen den Befehl gegeben, dem Herrscher von Peru ihre Ehrerbietung darzubringen und ihm ihren Beistand gegen alle seine Feinde anzubieten.

Nach also bewerkstelligter Abfertigung des Gesandten verweilte der Eroberer noch mehrere Tage da und dort am Fuße der Sierra, weil er hoffte, daß noch diesseits des Gebirges Verstärkungen von Panama her und über San Miguel zu ihm stoßen würden. Aber er mußte diese Hoffnung endlich aufgeben und so, wie er war, und mit dem, was er hatte, die Ersteigung und Ueberklimmung der Kordilleren unternehmen. Ein furchtbares Mühsal! Aber es ward überwunden. Wohl war manchem von Pizarro’s Gefährten beim Anblicke dieses riesigen Gebirges, dessen Firnschneegipfel in die Wolken sich verloren und das sie überklettern sollten, um drüben in ein Chaos von Gefahr, in das Unbekannte, Nichtzuahnende sich zu stürzen, der Muth gesunken. Aber der Führer verstand es auch jetzt, wie immer, den gesunkenen wieder zu heben. Oviedo, der klassische Geschichtschreiber der Conquista, hat uns die Rede überliefert, welche Pizarro vor dem Aufbruch in’s Hochgebirge an seine Mannschaft hielt. Die „santa fé catolica“ spielte darin eine große Rolle. Ebenso die Berufung auf das Spanierthum. „Schreitet vorwärts, wie es guten Spaniern geziemt, ganz unbekümmert, daß ihr Christen so klein an Zahl. Gott ist unser Beistand; er wird den Stolz der Heiden demüthigen und sie zu unserem heiligen katholischen Glauben herüberführen.“

Es war am 15. November von 1532, als die Spanier, die Gipfel der Anden hinter sich, die letzten Abdachungen der Ostseite des Gebirges hinabstiegen und die Stadt Kaxamalka, hinter welcher thalhinein die warmen Quellen ihre Dampfsäulen in die Luft trieben, zu ihren Füßen liegen sahen.




5.


Nun höre ich da und dort einen klugen Leser und vielleicht auch eine noch klügere Leserin meiner Historie murmeln: „Dieser Sonnensohn von Inka muß doch ein recht dummer Teufel gewesen sein. Wie hätte er sich sonst die Spanier so auf den Hals kommen lassen können?“

Die Frage ist berechtigt und auch schon vor dreihundert Jahren von klugen Leuten aufgeworfen worden. Schade, daß wir nur Vermuthungen zur Antwort geben können.

Wie bereits oben bemerkt worden, scheint Atahuallpa zuvörderst einer, wie leicht begreiflich, sehr lebhaften Regung von Neugier nachgegeben zu haben, als er die Fremdlinge, deren ganze Erscheinung von dem Nimbus und Reiz des Geheimnisses umgeben war, an sein Hoflager lud. Die Erinnerung an die mit den Anfängen des peruanischen Staates verknüpfte Sage, daß weißhäutige Männer in der Urzeit am Titikakasee gelebt hätten, mag auch in dem Inka wach geworden sein und ihm ein freundliches Verhalten gegen die Eindringlinge vorgezeichnet haben. Man hat nachmals, um das Verfahren Pizarro’s zu entschuldigen ober gar zu rechtfertigen, von spanischer Seite die Behauptung aufgestellt, das zuvorkommende Gebahren des Sonnensohnes sei von Anfang an nur Verstellung gewesen. Er habe mittels geheuchelter Freundlichkeit die Spanier in sein Lager locken wollen, um sich ihrer wundersamen Waffen und Reitthiere zu bemächtigen, sie selber aber umzubringen. Dazu ist zu sagen, daß die notorische Verschlagenheit und Grausamkeit Atahuallpa’s dieser Unterstellung allerdings eine scheinbar gute Stütze gibt. Allein diese Stütze hält nicht vor angesichts der Thatsache, daß der Inka die Spanier ohne alle Belästigung bis nach Kaxamalka gelangen ließ und sie nach ihrer Ankunft daselbst so gastlich behandelte, daß sie selber schlechterdings kein Symptom feindseliger Absichten von seiner Seite anzugeben vermochten. Das Entscheidende ist jedoch, daß Atahuallpa, falls er einen Ueberfall der Spanier geplant hätte, klug und kriegserfahren genug gewesen wäre, damit nicht bis zur Ankunft der Fremden an seinem Hoflager zu warten, sondern sie vielmehr während ihres beschwerlichen und gefährlichen Zuges über die Anden zu überrumpeln. So das mit auch nur einiger Geschicklichkeit geschehen wäre, mußten sie unfehlbar verloren sein. Es war aber nicht geschehen, und demnach vollzogen sich die Geschicke des Sonnenlandes mit außerordentlicher Raschheit.

Wir wissen aber aus dem Munde der Conquistadoren selbst, daß sie beim Anblicke der wohlgebauten Stadt zu ihren Füßen, mehr aber noch beim Anblicke des weit über die Bergabhänge rings um die Stadt hingedehnten weißen Zeltlagers von Atahuallpa’s Heer denn doch ein sehr starkes, obzwar vorübergehendes Bangen [806] empfanden. Indessen, zurück konnte man nicht – also vorwärts! –

Pizarro suchte seine Erscheinung zu einer möglichst imponirenden zu machen. Er ordnete seine Mannschaft in drei Treffen, wenn man so sagen darf, als ob es zur Schlacht ginge, ließ die Fahnen entfalten, die Trompeten schmettern und marschirte so, die Reiterei voran, die Feldschlangen in der Mitte, in echt spanisch-stolzer Haltung auf die Stadt zu. Er erreichte seinen Zweck: er imponirte. Tausende und wieder tausende von schwarzen Peruaneraugen hingen an dem herankommenden Zuge, an dem alles so fremdartig, daß er den Unterthanen des Inka’s wie unmittelbar vom Himmel gefallen erscheinen konnte. Später dürften sie sehr geneigt gewesen sein, zu glauben, die Hölle hätte diese Blaßgesichter ausgespieen.

In Kaxamalka eingerückt, erfuhr der Conquistador, daß der Inka in einer Villa residirte, welche etwa eine Legua weit hinter der Stadt und vor der Fronte des peruanischen Lagers gelegen war. Dorthin entsandte, den „Emperador“ zu begrüßen, Pizarro seinen Bruder Hernando und den Ritter Soto an der Spitze einer Reiterschaar, welche alsbald auf der von der Stadt zur kaiserlichen Residenz hinausführenden, wohlangelegten Kunststraße hingaloppirte. Bei ihrem Herankommen traten die peruanischen Krieger überall neugierig aus ihren Zelten hervor, verhielten sich aber durchaus friedlich. Die zeitweilige Behausung des Inka war leicht, aber hübsch gebaut; die Außenwände waren mit einer bunten Mörtelglasur versehen und um den offenen Hof lief ein Säulengang, in welchem das „Inkabad“ sichtbar war, das heißt eine große steinerne Wanne, in welche mittels Röhren warmes und kaltes Wasser geleitet werden konnte. Eine Menge prächtig gekleideter Hofleute und Offiziere füllte den Hofraum. Auch reichgeschmückte Frauen des kaiserlichen Harems waren sichtbar. Unschwer vermochten die Spanier die Person des Inka zu erkunden, nämlich in einem auf einem niedrigen Sessel dasitzenden Manne, welchen das außerordentlich ehrfurchtsvolle Bezeigen der ihn umstehenden höchsten Würdenträger als den „Emperador“ bezeichnete. Außerdem war Atahuallpa kenntlich durch das Symbol seiner Sonnensohnherrschaft, das heißt durch die rothseidene Stirnbinde, die „Borla“, deren Fransen ihm bis auf die Augenbrauen herabfielen. Nur der Inka durfte diesen Kopfschmuck tragen, und Atahuallpa hatte sich mit diesem heiligen Zeichen unumschränkten Herrscherthums erst geschmückt, nachdem er mittels Besiegung und Gefangennahme seines Bruders in den alleinigen Besitz der Macht in Peru gelangt war.

Der Inka empfing die beiden Boten des Conquistadors mit der ganzen Gemessenheit und stoischen Würde, welche den Häuptlingen der rothhäutigen Rasse bei Haupt- und Staatsactionen überall eigen war und ist. Hernando Pizarro und der Ritter Soto ritten bis dicht vor den Sitz Atahuallpa’s und richteten durch den Mund des Dolmetschers Felipillo ihren Auftrag aus, indem sie das wiederholten, was der Eroberer schon in Zaran dem Abgesandten des Inka’s gesagt hatte. Der Herrscher von Tavantinsuyu hörte schweigend und ohne eine Miene zu verziehen die Botschaft. Nur einer der ihm zur Seite stehenden Würdenträger sagte, als die Spanier ihre Anrede vorgebracht hatten, lakonisch: „Es ist gut.“ Damit war aber den Boten nicht gedient, und der Bruder Pizarro’s nahm daher abermals das Wort und bat den Inka, selber mit ihnen zu sprechen und ihnen seinen Entschluß und Beschluß mitzutheilen. Nun ging – so hat uns Soto berichtet – ein flüchtiges Lächeln über die ernsten Züge Atahuallpa’s, und er ließ sich herab, zu sagen: „Meldet Eurem Häuptlinge, daß ich dermalen Fasten halte, welche morgen zu Ende gehen. Dann werde ich ihn mit meinen Häuptlingen besuchen. Derweil ober möge er in dem Staatsgebäude an dem öffentlichen Platze in der Stadt Quartier nehmen. Was weiter geschehen soll, werde ich befehlen.“

Soto, welcher einen Andalusier ritt, dessen Feuer die Strapazen des Andesüberganges nicht zu schwächen vermocht hatten, bemerkte, daß der Inka das schöne Thier, welches ihm wie ein Wunder vorkommen mußte, aufmerksam, aber ruhig betrachtete. Da ließ der Ritter dem Renner die Zügel schießen, beschrieb in vollem Laufe ein paar Kreise auf dem Wiesenplane vor dem Hofraume, kam dann pfeilschnell zurück und hielt sein Roß so plötzlich und so dicht vor Atahuallpa an, daß es sich auf die Hinterfüße setzte und den Schaum seines Gebisses umherspritzte. Der Inka behauptete auch hierbei seine würdevolle Fassung, aber etliche seiner Officiere wichen entsetzt zurück. Ihr Gebieter soll sie, wie die Spanier aussagten, um solcher Feigheit willen noch am Abende desselben Tages haben hinrichten lassen.

„Was weiter geschehen soll, werde ich befehlen“ – hatte der Inka gesagt. Lag in dieser Aeußerung souveränen Machtbewußtseins eine Drohung? Sollte es etwa heißen: „Trotz alledem besitze ich die Mittel, euch Blaßgesichter mitsammt eurem Blitz und Donner, mitsammt euren vierfüßigen Schlangen zu erdrücken, sobald es mir beliebt!“? Nahm es Pizarro so?

Wie er es nahm, weiß man nicht; daß er aber handelte, als hätte er es so genommen, das weiß man. Kamen doch seine beiden Boten trotz des berauschenden Chikatrankes, welcher ihnen auf Befehl Atahuallpa’s durch schöne Odalisken in großen Goldpokalen kredenzt worden war, mit sehr gemischten Eindrücken aus dem Lager des Inka nach Kaxamalka zurück. Was sie da gesehen hatten und was sie ihren Gefährten berichteten, imponirte den Spaniern nicht wenig, und als die Nacht gekommen war und die zahllosen Lagerfeuer der peruanischen Krieger von den Berghalden herableuchteten – „so dicht wie die Sterne am Himmel,“ meldet uns einer der Augenzeugen –, da sank diesem in tausend Gefahren hartgegerbten „Heldengesindel“ der Muth.

Einer jedoch war darunter, dem blieb der Muth oben, Pizarro selbst, welcher derweil seine Leute in dem großen kasernenartigen Gebäude untergebracht hatte, welches den Marktplatz der Stadt von drei Seiten einfaßte. Dieses Bauwerk bestand eigentlich nur aus weiten Säulenhallen, welche sich gegen den Platz hin aufthaten und diesen zu einem geschlossenen Hofraume machten, indem die vierte Seite durch eine hohe, in der Mitte mit einem großen wohlbefestigten Thore versehene Mauer abgeschlossen wurde. Die Beschaffenheit seines Quartiers half zweifelsohne Pizarro’s Plan mitbestimmen.

Denn der Mann hatte einen Plan, einen verzweifelten, auf Sieg oder Untergang gestellten Plan, aber einen Plan, welcher mit ebenso fester Hand ausgeführt wurde, wie er mit festem Geiste entworfen worden war. Nachdem er am Abend des 15. Novembers mittels einer seiner bündigen, von Energie schwellenden Anreden seiner ganzen Schar zu Gemüthe geführt hatte, daß es jetzo gälte, für den heiligen katholischen Glauben gegen die Heiden einen großes Schlag zu thun, der schlechterdings gethan werden müßte, so sie nicht alle schmählich zu Grunde gehen wollten, versammelte er seine Officiere zu einem Kriegsrathe, setzte ihnen klar und bestimmt auseinander, was er vorhätte, was morgen gethan und wie es gethan werden sollte, und wies jedem seine Stelle und seine Rolle an. Dann entließ er sie, machte die Runde in dem ganzen Quartiere, prüfte die getroffenen Vertheidigungsanstalten, besichtigte die Wachtposten und legte sich endlich schlafen mit der Gefaßtheit eines Mannes, welcher wußte, daß er morgen zu dieser Stunde der Herr von Peru oder aber todt sein würde.




6.


Aus wolkenlosem Himmelsblau blickte am Morgen des 16. Novembers von 1532 die Gottheit Peru’s in stralender Majestät auf ihr Land herab. Sie sollte es an diesem Tage zum letztenmale in der Hand und Gewalt ihrer Kinder sehen.

Draußen im Lager des Inka war frühzeitig große Regung und Bewegung. Aber frühzeitiger noch riefen Trompetenstöße die Spanier in ihrem Quartier aus dem Schlafe und unter die Waffen. Der Conquistador erschien gepanzert und in voller Waffentracht. Ebenso seine Officiere und seine sämmtlichen Gefährten bis zum letzten Soldaten herab. Ein reichliches Frühmahl wurde eingenommen. Dann celebrirte Pizarro’s Feldpater an einem im Hofraume improvisirten Altar eine Messe und stimmte zum Schlusse das „Exsurge, Domine!“ an, in welches die ganze fromme Räuberbande höchst andächtig einstimmte. Hierauf ordnete der Führer, was noch zu ordnen war. Den Don Pedro de Kandia ließ er mit etlicher Mannschaft die zinnenbekrönte Mauer, in welcher die große Pforte eingelassen war, besetzen und hier wurde auch das „Geschütz“, das heißt die beiden kleinen Feldschlangen, aufgepflanzt. Innerhalb der um den Platz herlaufenden Säulenhalle stellte er auf dem rechten und dem linken Flügel in zwei von seinem Bruder und De Soto befehligten [807] Trupps seine Reiter auf, im Mittelflügel sein Fußvolk, mit Ausnahme von zwanzig auserlesenen Leuten, die er unter seiner unmittelbaren Führung behielt. Sämmtliche Mannschaften hatten den Befehl, gefechtsbereit zu sein, und ihre Officiere erhielten die letzten Losungen von dem General.

Der höchste Einsatz war gemacht, und die Schicksalswürfel rollten in der Urne, das heißt der Conquistador stand auf dem Sprunge, alles zu wagen, um alles zu gewinnen. Von seinem Rechte dazu war der Mann vollständig überzeugt. Diese Spanier des 16. Jahrhunderts nahmen den berühmten Satz, welchen nachmals der größte Denker des 17. Jahrhunderts theoretisch aufstellte, den Satz: „Jeder hat gerade soviel Recht, wie er Macht hat“ – überall praktisch vorweg.

Die Eroberer von Peru haben später, um ihr schnödes Spiel zu rechtfertigen, die Behauptung ausgehen lassen, sie hätten nur das Prävenire gespielt, indem sie dem Inka anthaten, was er ihnen anzuthun beabsichtigt hätte. Diesen Vorwand zu widerlegen lohnt sich nicht der Mühe. Es ist ja nicht ein Schatten von Beweis dafür beigebracht worden. Thatsache dagegen ist, daß Atahuallpa arglos und vertrauensvoll in die ihm gestellte Falle ging. Er hatte offenbar gar keine Ahnung von dem wirklichen Charakter der blaßgesichtigen Fremdlinge. Er war gänzlich unvermögend, den Verrath sich vorzustellen, welchen seine Gäste gegen ihn im Schilde führten. Dies beweist zweierlei: die Superiorität der Spanier an Intelligenz und Thatkraft und die Superiorität der Peruaner an Moral. Seume’s Hurone hätte hier mit vollem Rechte sagen können: „Seht, wir Wilden sind doch bess’re Menschen!“ Aber das hatte hier, wie überall, wenig oder nichts zu bedeuten. Die arme Moral, in der physischen Welt eine unbekannte Größe, ist auch in der sogenannten „moralischen“ nur das immer gesuchte, aber nie gefundene X. Die wahre und wirkliche Moral der Weltgeschichte ist bekanntlich der Erfolg, vor welchem ja die Menschen in ihrer unergründlichen Niedertracht allzeit die Kniee gebeugt haben. Aber – im Sinne Spinoza’s zu sprechen – der Erfolg ist das Recht gerade so lange, bis ein anderer Erfolg noch rechtmäßiger, das heißt erfolgreicher über ihn kommt, ihn wegwischt und sich auf seinen Platz stellt. Das ist allerdings sehr „unmoralisch“, aber es ist eine historische Wahrheit, ebenso evident und unwiderleglich wie irgendeine mathematische Wahrheit. …

Der Inka hatte morgens die Botschaft gesandt, daß er den gestern angekündigten Besuch im Quartiere der Spanier in Wehr und Waffen an der Spitze seiner Krieger abstatten werde. Quer das! Aber es ließ sich nicht wohl etwas dagegen machen oder auch nur sagen. Wirklich meldeten die spanischen Vedetten bald, daß sich das peruanische Heer gesammelt und gegen die Stadt in Bewegung gesetzt habe. Aber – zu Pizarro’s nicht kleiner Erleichterung – machte der Inka mit seiner Armee auf der großen Prairie vor der Stadt Halt und sandte die Meldung herein, er werde nur mit einem nicht gar großen und unbewaffneten Gefolge kommen.

Und so kam er nachmittags. Als die Procession – denn eine solche war es, nicht ein kriegerischer Zug – die Stadt betreten hatte und zu dem Quartiere der Spanier sich heranbewegte, erstaunten die Schildwachen über die bunte Pracht des etliche Tausende zählenden kaiserlichen Hofstaates, dessen einzelne Abtheilungen in ganz weißen oder in weiß und roth gewürfelten Festkleidern einhergingen. Die Schar der Leibtrabanten war himmelblau gekleidet, trug reichen Goldschmuck und führte silberne Keulen. Sonst sah man keine Waffen. Die Mitglieder des Inka-Adels waren an ihren prächtigen, bis auf die Schultern herabreichenden Ohrgehängen erkennbar. Inmitten des Gefolges schwebte über den Köpfen desselben die von Edelleuten getragene Sänfte des Inka’s. Das Gestell war mit Goldplatten belegt und mit den glänzenden Federn tropischer Vögel verziert. Darauf ruhte der Thronsitz Atahuallpa’s aus gediegenem Golde. Der Anzug des Herrschers blitzte von Gold und Edelsteinen. Er hatte eine Halskette von herrlichen Smaragden angethan, in seinen Haaren waren kostbare Steine befestigt und die Fransen der rothen Borla fielen über seine Stirne herab. Seine Haltung war würdevoll, sein Blick ruhig. Die schon über ihm hängende Verhängnißwolke warf nicht den leisesten Schatten auf seine Züge

Wie die Augen der in den Säulenhallen lauernden spanischen Christen vor Begier gefunkelt haben mögen, als sie beim Hereinschwenken des Zuges auf den großen Hofraum alle diese heidnische Pracht erblickten!

Spanischer Aussage zufolge ordnete sich die Menge des kaiserlichen Geleites mit bewunderungswerther Raschheit und Genauigkeit auf dem freien Platze, auf welchem zunächst nicht ein Spanier zu sehen war. In der Mitte des Hofes angelangt, machte Atahuallpa Halt, blickte suchend umher und fragte: „Wo sind denn die Fremden?“

Als hätte er ein Stichwort gesagt, begann jetzt sofort das Verrathspiel, in welchem charakteristischer Weise ein Priester mit der „Exposition“ beauftragt war. Als Dank und Lohn hat er nachmals den Bischofsstab vom Kuzko erhalten.

Der Padre Vicente de Valverde, ein Dominikaner und Pizarro’s Feldprediger, trat in seiner weißen Kutte vor, das Krucifix in der Rechten, das Brevier in der Linken, näherte sich dem Thronsessel des Inka und erklärte ihm unter Vermittelung Felipillo’s, die Spanier seien nach Peru gekommen, um dieses Land zum wahren Glauben zu bekehren. Und rüstig ging der eifrige Mönch sofort daran, das Bekehrungswerk an dem Inka selber vorzunehmen, und er hub an die schwierige Lehre von der christlichen Dreieinigkeit, weiterhin die ebenfalls nicht so ganz leicht begreiflichen Dogmen vom Sündenfalle des Menschen und von der Erlösung durch Jesus Christus auseinanderzusetzen. Hierauf sprach er von des Heilands Kreuzigung, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt und wie der Apostel Petrus zum Statthalter Christi auf Erden bestellt worden und wie die Nachfolger Petri, die Päpste, die Obergewalt über den ganzen Erdkreis besäßen. Dies alles war die solide Basis für des Mönches Schlußapostrophe, nämlich: „Der Papst hat dem Kaiser Karl dem Fünften den Auftrag ertheilt, die Bewohner der Neuen Welt zu unterwerfen und zu bekehren. Zu diesem Zwecke sind wir da. Demnach kann der Inka von Peru nichts Besseres thun, als sich schleunigst zu dem ihm soeben vorgetragenen Christenthum zu bekehren und sich nebenbei als treugehorsamer Vasall seinem Oberherrn, besagtem Kaiser Karl, zu unterwerfen.“


(Schluß folgt.)




Ein Grab im Unterland.


„Zu Cleversulzbach im Unterland“ beginnt zwar ein Mörike’sches Gedicht, aber trotzdem wissen wohl Wenige im Schwabenlande, daß diesen Namen wirklich ein einsames, kleines Pfarrdorf jenseits Heilbronn trägt, noch weniger aber mag man es außerhalb der Grenzen des würtembergischen Landes ahnen, daß dieses Dörflein eine geweihte Stätte birgt, welche von der ganzen deutschen Nation heilig gehalten zu werden verdiente.

Cleversulzbach liegt fern vom lauten Weltgetriebe, verschollen und verborgen am Fuße eines waldigen Hügels. Kein Schnauben, Pfeifen und Rasseln des Dampfrosses klingt in die Stille. Selten geschieht’s, daß ein Wandersmann den Weg nach dem Dorfe einschlägt, noch seltener, daß ein Wagen dahin rollt. Die Verbindung mit dem nächsten Städtchen unterhält allein der Postbote – ein seltsam Ziel also zu einer Pilgerfahrt und dennoch ein würdiges.

Wie schön ist die Fahrt an dem sonnigen Herbstmorgen durch die gesegneten Auen des Schwabenlandes, zwischen den grünen, traubenbehangenen Weinbergen dahin! Von den Höhen und aus den Thälern grünen altersgraue Oerter, Wartthürme, verfallene Schlösser; der „silberblinkende“ Neckar windet sich anmuthig an dem malerischen Lauffen vorüber, wo Hölderlin, sein Sänger, geboren wurde. Heilbronns uralte Thürme tauchen auf und schwinden wieder, und – Neckarsulm ist erreicht, die letzte Eisenbahnstation.

Cleversulzbach, das stille Dorf, liegt indessen noch mehr als zwei Stunden von Neckarsulm, diesem aus dem Bauernkriege [808] bekannten Orte, entfernt. Der Weg dahin führt über Neuenstadt an der Linde, das aus den Trümmern einer Römerniederlassung erbaut wurde, nachdem die Mutterstadt, der Ort Helmbund in der Niederung, im vierzehnten Jahrhundert durch Wassersnoth oder Krieg zerstört worden. Zwischen dieser „neuen Stadt“ und Cleversulzbach steht das „tausendjährige Kirchlein“, das allein von dem ehemaligen Helmbund übrig blieb. Halb zerfallen, sieht es traurig aus seinen drei gothischen Fensteraugen hinüber nach der auf dem Bergrücken liegenden Neuenstadt, die sein vergaß. Stolz und beschattend breitet die uralte Linde, nach welcher die Stadt mit benannt wird, ihre grünen Arme dort oben aus.

Auf dem Wiesenteppiche zur Rechten stehen Tausende der melancholischen Herbstzeitlosen. Links breiten sich bunte Saatfelder aus, und dann tauchen die Häuser des Pfarrdorfes Cleversulzbach auf und sein windschiefer, kleiner Thurm. Vor dem Eingange des Dörfchens liegt der Friedhof – und dorthin ist unser erster Gang. Die Thür knarrt in den rostigen Angeln; die Umfassungsmauer ist alt und schadhaft, und auf die letzten Ruhestätten der Dörfler brennt die Sonne sengendheiß herab. Nirgends ein schattenspendender Baum; das Gras ist verdorrt; die schlichten Holzkreuze hüben und drüben sind verwittert; am Wege ist ein Kindergrab halb zugeschüttet. Der Todtengräber ruht von seiner Arbeit; zwei Blumenkränze, die den neuen, kleinen Hügel schmücken sollen, hängen einstweilen auf fremden Kreuzen. Aus der naheliegenden Kirche klingt Orgelton und der Gesang der Gemeinde herüber.

Welch heilige Ruhe auf diesem schmucklosen Friedhofe! Wenige Schritte zur Rechten, nach der Mauer hinüber und unter dem einzigen Baume des Friedhofes, einer kümmerlichen Linde, ist ein rohes, steinernes Kreuz sichtbar. Schiller’s Mutter“, sagt die kunstlos eingegrabene Inschrift. Kein Geburtsjahr und kein Todestag, kein Bibelspruch und kein gereimter Vers ist auf dem schlichten Denkmal zu finden, und ich meine, so ist’s recht und würdig. Schiller’s Mutter unter dem Hügel da vor uns, den versengtes Gras und spärlicher Epheu bedecken! Eine einzige Blume, eine blaue Campanula blüht auf dem Hügel; sie beugt matt ihr Haupt. Einförmig zirpen die Grillen auf dem Boden; ein Vogel flattert erschreckt auf und duckt sich hinter der Mauer des Nachbargartens. Es ist traumhaft still auf dem kleinen Gottesacker.

Was die hier Ruhende der deutschen Nation, der ganzen Welt gab, ist ein Unsterbliches. Ob das deutsche Volk nicht auch der Mutter seines Dichters hätte gedenken und sorgen sollen, daß ihrer letzten Ruhestätte ein Denkmal würde, das länger der Zeit und dem Verfall trotzen könnte, als jenes unscheinbare Steinkreuz? Unwillkürlich fragt man so. Und die Antwort?

Mit dem Grabe der „Schillerin“ durch eine Stein-Einfassung vereint, befindet sich dort ein zweites, das ein gleiches Kreuz trägt. Ein blühender Rosenstrauch steht statt einer Linde darauf, und ein Kranz ist darüber gehängt – ein Zeichen, daß es kein „vergessen Grab“ ist. Charlotte Mörike – eines andern schwäbischen Dichters Mutter – schläft hier neben Elisabeth Dorothea Schiller. Und der, welcher dem Andenken seiner Mutter den Stein errichtete, war’s auch, welcher jenes fast schon verschollene Grab, nach welchem bisher Niemand gefragt, bezeichnete und so der Vergessenheit entriß.

Im Jahre 1834 wanderte ein „musengeküßter“ junger Pfarrer gen Cleversulzbach, um dort sein Amt als Seelenhirt der kleinen Gemeinde anzutreten, Eduard Mörike. Er wußte, was Andere lang vergessen, daß einer seiner Vorgänger, der Pfarrer Frankh, Schiller’s Schwager gewesen und daß Frau Elisabeth Dorothea hier ihre müden Augen geschlossen. Und als er endlich ihr einsames Grab gefunden, legte er einen unvergänglich schönen Schmuck auf dasselbe nieder, folgende Verse:

„Nach der Seite des Dorfs, wo jener alternde Zaun dort
     Ländliche Gräber umschließt, wall’ ich in Einsamkeit oft
Sieh den gesunkenen Hügel! Es kennen die ältesten Greise
     Kaum ihn noch, und es ahnt Niemand ein Heiligthum hier.
Jegliche Zierde gebricht und jedes deutende Zeichen;
     Dürftig breitet ein Baum schützende Arme umher.
Wilde Rose, dich find’ ich allein statt anderer Blumen;
     Ja, beschäme sie nur, brich als ein Wunder hervor!
Tausendblättrig öffne dein Herz! entzünde dich herrlich
     Am begeisternden Duft, den aus der Tiefe du ziehst!
Eines Unsterblichen Mutter liegt hier bestattet; es richten
     Deutschlands Männer und Frau’n eben den Marmor ihm auf.“

So viel aber auch die pietätvollen Verse gelesen und gehört wurden, es fand sich Niemand, der dazu aufgefordert hätte, den stillen Vorwurf, welcher in ihnen lag, zu nichte zu machen. So ließ Eduard Mörike selber, vielleicht damals, als man seine eigne Mutter in’s Grab legte, dasjenige von Schiller’s Mutter neu herrichten und setzte ihr das einfache Kreuz.

Als man am 10. November 1859 das Geburtshaus des „großen Marbacher Kindes“ ganz seinem Andenken weihte, wurde auch die Schenkungsurkunde vom Grabe der Mutter dort niedergelegt. Die Gemeinde Cleversulzbach überließ das Eigenthumsrecht an demselben dem Schillerverein. Eine kleine Summe ist für die Erhaltung des Hügels zwar bestimmt, aber die Bodenbeschaffenheit und der Sonnenbrand machen jede Blumenpflanzung auf demselben fast unmöglich.

Der gütigen Bemühung des jetzigen Herrn Pfarrers von Cleversulzbach verdanken wir den wörtlichen Auszug aus dem Todtenbuche – das Einzige, was sich noch Schriftliches über Schiller’s Mutter daselbst findet. Der Eintrag rührt von der Hand des Schwiegersohnes her und lautet:

„1802 D. 29. Apr. N. M. 2 Uhr starb meine Frau Schwieger, weil. Frau Elisabeta Dorothea, weil. Hr. Johann Caspar Schillers, Herzogl. Württembergischen Majors u. Intendanten der Herzoglichen Solitude Gemalin, an der Entzündung u. wurde den 1 Mai Nachmittags 2 Uhr standesmäßig beerdigt, 69 Jahre 4 Mon. 16 Tage alt.“

Ueber den Pfarrer selber fand sich nur folgende kurze Notiz in den Registraturacten:

„Pf. M. Johann Gottl. Frankh, geb. Stuttgart d. 26 Dz. 1760, hier angestellt als auf dem ersten Dienst, a. 1799 od. 1800, studierte fleißig die Bibel u. seine kirchlichen Autoren, hatte a. 1804 1 Knaben von 1½ J. u. verschwindet wieder, indem d. 1. Febr. 1805 ein neuer Pfarrer, Gottlieb Friedr. Hirzel eingetreten ist.“ – –

Bilder vergangener Tage ziehen an uns vorüber. Die Sonne lacht goldig in die Fenster des weißen, saubern Häusleins. Tritt da nicht eben aus der geöffneten Thür die etwas gebeugte und doch immer noch rüstige Gestalt Frau Elisabeth Dorothea’s? Ihr Gesicht schaut so freundlich aus der weißen, faltigen Haube, und ihre Augen blicken strahlend auf ein Etwas, das sie, in weißen Kissen sanft gebettet, behutsam in den Armen trägt. Das erste Enkelchen ist im Cleversulzbacher Pfarrhause geboren, und die Großmutter trägt es, nachdem es, alter schwäbischer Sitte gemäß, baldigst die Taufe empfangen, zum ersten Male in den sonnenwarmen Garten. Sie denkt dabei, wie sie einen andern Enkel gewiegt, den Erstgeborenen ihres Sohnes – damals stand noch der Gatte verklärt lächelnd neben ihr, und der „Fritz“, der einstige heimathlose Flüchtling, hatte im stolzen Glücke den Arm um sein Weib geschlungen und sah mit leuchtenden Augen die Freude seiner alten Eltern. Das war in dem fernen Ludwigsburg gewesen. Trübes und Freudiges lag für die Matrone zwischen jenem Tage und dem Heute. Der stramme alte Major Schiller hatte sein Haupt zur Ruhe gelegt und seine Wittwe mit der letzten Tochter, Luise, in dem verwitterten Leonberger Schlosse jenseits der Solitüde zurückgelassen.

„Ich und Luise befinden uns zum Preise Gottes auch recht erträglich. Außerdem leben wir so in der Stille beisammen, arbeiten mit Spinnen und Stricken und anderen häuslichen Geschäften, machen wenige Besuche, damit wir nicht wieder Gegenbesuche bekommen, weil es in den Landstädten der üble Gebrauch mit vielem Aufwande.“

Noch stiller wurde es, als Luise mit dem Manne ihrer Wahl davonzog. Nun saß die Matrone allein am Spinnrocken, und allerhand Gedanken und Erinnerungen umwebten sie, während das Rad schnurrte und ihre fleißigen Finger nicht müde wurden, den Faden zu drehen. Da war zuerst die schmucke Gestalt Johann Caspar Schiller’s, wie er als Brautwerber vor die Jungfer Elisabeth Dorothea Kodweis trat, die erröthend und züchtig die Blicke senkte. Dann tauchte das braungetäfelte Stübchen in Marbach auf, wo neben dem mächtigen Kachelofen ein Hausrath zu sehen war, den man im Verzeichniß der „Liegenschaft und Fahrniß“ des jungen Ehepaares noch als „anzuschaffen“ aufgeführt hatte – eine Wiege. In derselben [809] lag ihr Knabe und lauschte, die großen klugen Augen weit offen, den sanften Wiegenliedern der Mutter. Wie schön das Lächeln auf dem Antlitze der Matrone ist, wenn sie des Sohnes denkt! Von dem Kinde in Marbach bis zum Professor in Jena war zwar ein langer Weg, und manche Thräne ist den Mutteraugen bis dahin entquollen, aber – hier richtet sich das graue Haupt höher auf – kaum eine zweite Frau darf sich mit so gerechtem Stolze eine „glückliche, gesegnete Mutter“ nennen, wie sie. – Zuweilen kommt ein Freudenbote in ihre Einsamkeit, ein Brief vom Fritz oder ihrer ältesten Tochter Christophine Reinwald, und dann setzt sich die Schillerin an den Eichentisch und greift zur Feder, und wenn sie auch lange Zeit braucht, bis sie einen Brief „stylisiret“, sie läßt sich die Mühe nicht verdrießen, und bei den Empfängern erregt jeder ihrer Herzensergüsse Freude und Rührung.

Die Briefe von Schiller’s Mutter sind das Zeugniß ihrer Seelengüte und wahren Frömmigkeit Mit echt hausfraulicher Sorgfalt sucht sie die fernen Lieben mit dem zu erfreuen, was ihre eigenen fleißigen Finger geschafft haben.

„Nehme Er, liebster Sohn, dieses Wenige von meinem dankbaren Herzen an. Das Stückle Tuch ist auch von unseren Kindern gesponnen und ich wünschte, daß Er es zu einem halben Dutzend Hemden selbst tragen möchte. Das Tischzeug ist für die liebe Lotte. Nebstdem überreiche für unsern besten Karl die Sacktücher, dem kleinen Ernst Zitz zu Bettkitteln. Hätte ich noch etwas von meinen Sachen, so steht Ihm Alles zu Seinem Verlangen, auch habe ich der Luise schon gesagt, Alles das Beste und Schicklichste soll nach meinem Tode für Ihn und die liebsten Seinigen aufgehoben werden. Wie glücklich und ruhig wäre ich, wenn ich auch noch vermögend an der so herzlich kindlichen Liebe meinen Dank beweisen könnte; denn meine selbstgemachte Leinwand ist immer mehr als noch so gut als in Kaufläden; es schmerzte mich, meinen Fleiß unter fremde Menschen kommen zu lassen. Wir spannen öfters bis Nachts 12 Uhr und der liebe, selige Vater hatte eine große Freude, uns Flachs zu kaufen.“

Bleiben jedoch einmal die Briefe vom Sohne länger, als gewöhnlich, wie geängstigt und besorgt ist dann gleich das treue Mutterherz! So schreibt sie einmal:

„Leonberg, 16. Mai 1797. 

Mein bester Sohn, diesesmal wird uns die Zeit allerdings zu lang, keinen Buchstaben von Ihm in einem Vierteljahr zu sehen; es macht mich anfangen sehr unruhig, da ich alle Posttag vergeblich warte, welches doch in meinen wirklichen Umständen mir den größten Trost auf der Welt noch gewährt – immer gute Nachricht von meinen lieben Kindern zu bekommen. Gott gebe, daß Alles bei Ihm und den Seinigen wohl ist. – Da ich schon so lange keine Nachrichten von Euch Lieben bekommen, so habe ich die Briefsammlung von Ihm noch von Mannheim und Leipzig, Dresden, Weimar und Jena durchgelesen, welche mir theils Thränen, theils Freude gekostet; es stärkt aber immer mein Dankgefühl gegen Gott, der uns schon durch so manche Labyrinthe geführt und doch Alles bisher so weislich zu unserm Besten gefügt und zwar zu unserm ewigen Heile. O, wenn ich zurück denke, wie viele Barmherzigkeit Gott an mir allein erwiesen, so muß ich ausrufen, ich bin viel zu gering aller dieser Gnade, die er an mir und meinen lieben Kindern erwiesen. Es ist unglaublich, daß ich noch lebe und mich so gesund und in Kräften bewegen kann, wenn ich bedenke, was ich schon in etlichen vierzig Jahren um meines Ehestandes durchgemacht, und ich stärke mich immer durch das Vertrauen zu der göttlichen Vorsehung, in dem noch kleinen Rest meines Lebens nicht verlassen zu werden. – Gott erhalte Sein theures Leben in Gesundheit noch lange Jahre, welches ich täglich in meinem Gebete thue. Die treuste und dankbare und Euch Alle zärtlich liebende Mutter S.“

Aber auch in Cleversulzbach sehnt man sich nach der Mutter, und das junge Ehepaar holt sie aus der Unruhe und dem Kriegslärme, welchen die Franzosen in der Umgebung Stuttgarts verbreiteten, in die beschauliche Stille des Dorflebens.

Die Schilderung, die Mörike „im alten Thurmhahn“ entwirft, mochte auch wohl auf das Studirstübchen des Herrn Pfarrer Frankh zutreffen, welches Mutter Schillerin immer mit einer gewissen Ehrfurcht betrat:

„Hier wohnt der Frieden auf der Schwell’,
In den geweihten Wänden hell,
Sogleich empfing sie sondre Luft,
Bücher und Gelehrtenduft,
Gerani- und Resedaschmack,
Auch ein Rüchlein Rauchtaback.“

Das häusliche Glück ihres jüngsten Kindes wirft neuen Freudenschein über ihre alten Tage: „Die Luise ist wohl und vergnügt und sie schicken sich gut für einander. Er thut sein Amt recht gut versehen und ist auch ein guter Prediger, wie die Leute sehr gut mit ihm zufrieden hier sind,“ berichtet sie dem Fritz, aber so stolz sie auch auf den geistlichen Herrn Schwiegersohn ist, ganz so hoch als den Dichtersohn stellt sie ihn doch nicht im Wissen und Können.

„Pfarrer Frankh wird sich fürchten, an seinen Schwager zu schreiben; verzeih’ Er also, wenn es noch nicht geschehen ist,“ schreibt sie.

Im Pfarrhause hätte man gern gesehen, die sorgende, kluge Großmutter nähme beständig dort ihren Wohnsitz. „Sie wollen haben, daß ich vor immer dableiben soll, zu Diesem bin ich aber nicht entschlossen, weil ich mein Logis in Leonberg nicht ganz vergeben möchte.“

So zieht sie sich denn, als die junge Mutter genesen und sie den Enkel tüchtig gedeihen sieht, wieder auf ihren Wittwensitz nach Leonberg zurück, um nur dann und wann einige Zeit in Cleversulzbach als Gast einzukehren. Die freundliche Gestalt der „Pfarrersmutter“ war gewiß im Dorfe bald bekannt, und man grüßte sie überall ehrfurchtsvoll, wenn sie dasselbe an der Seite der Tochter durchschritt. Das Dörfchen liegt dem Walde nahe, und so wenig malerischen Reiz es an und für sich hat, es besitzt etwas, auf welches seine Bewohner ein besonderes Gewicht legen: „einen Gesundbrunnen“. Unten am Bache befindet sich ein krystallenes Bassin mit starkem Abflusse, von einer Gruppe hochgewachsener Erlen und niederen Buschwerks malerisch umgeben. Der Sage nach soll die Tiefe unergründbar sein. Die Dorfbewohner schreiben dem etwas schwefelhaltigen Wasser Heilkraft zu. Gewiß schöpften auch die beiden Frauen aus dem Pfarrhause auf ihren Spaziergängen an dieser Stelle. Die Mutter Schiller’s war eine große Freundin der Natur. Wie bei ihrem Sohne, so mochte sie auch in dem Mädchen den Sinn für dieselbe geweckt haben, und sicher schlug man an manchem Sonntag Nachmittage den Weg nach dem Walde ein.

Die Pfarrerin Frankh ist, dem noch von ihr existirenden Bilde nach, weder schön noch anmuthig gewesen. Sie hatte hiernach ein scharfes Profil und eine stark gebogene Nase; der Kopf war von reichgelocktem Haare umwallt. Ihre Briefe zeigen sie als gute Hausfrau, Tochter und Gattin; sie pflegte die schwerkranke Mutter mit rührender Liebe bis zum Ende. Auch ihre Gestalt taucht dort zwischen den Beeten des Gartens auf, als:

 – – „Hausfrau, die so reinlich stets
Den Garten hielt, gleich wie sie selber war, wann sie
Nach schwülem Tag am Abend ihren Kohl begoß,
Derweil der Pfarrer ein paar Freunden aus der Stadt,
Die eben weggegangen, das Geleite gab;
Er hatte sie bewirthet in der Laube dort,
Ein lieber Mann, redseliger Weitschweifigkeit.“

Von Leonberg aus schreibt die Matrone am 28. October 1801 einen Brief nach Cleversulzbach, aus welchem ihr ganzer Mutterstolz über den Dichtersohn spricht:

„Auch habe ich vor etlichen Tagen Briefe wieder von Fritzen und Lotte bekommen. Er ist nicht in Berlin gewesen, aber in Dresden und Leipzig, da in letzterem ihm große Ehre geschah. Er schrieb auch, daß ein neues Stück, von ihm gemacht, zu Lieb ihm aufgeführt worden. Als er in die Loge, so wäre Er gleich mit Pauken und Trompeten empfangen worden und nach dem ersten Acte rief Alles zusammen: ‚Es lebe Friedrich Schiller!‘ und er mußte hervortreten und sich bedanken. Als er aus der Komödie ging, nahmen Alle die Hüte vor ihm ab und riefen: ‚Vivat, es lebe Schiller, der große Mann!‘ Das ist freilich eine Ehre, die nur einem Prinzen gemacht wird. – Auch die Lotte schrieb mir, daß ihm so viele Ehre erwiesen worden, daß es sie zu Thränen gerührt.“ –

Das ist der letzte fröhliche Brief, welchen sie schrieb; ihre Gesundheit war stets eine schwankende gewesen, und mehrmals hatten sie heftige Krankheiten bis an den Rand des Grabes gebracht. Nun befiel sie auf’s Neue ein Leiden, dem sie erlag. [810] Während eines Curgebrauchs in Stuttgart wurde sie so krank, daß Luise Frankh sie in Betten gehüllt heimholte. So betrat sie am 12. Februar 1802 zum letzten Male die Schwelle des Cleversulzbacher Pfarrhauses, um es nicht eher wieder zu verlassen, als bis man sie hinaustrug, um sie drüben in den stillen Grund zu betten.

Ein einziger Brief ist aus jener Zeit erhalten; er ist an Christophine Reinwald gerichtet und vom 2. April 1802 datirt. Die ruhigste Ergebung in einen höheren Willen spricht sich darin aus und die rührendste Dankbarkeit für die Liebe ihrer Kinder. Einen Monat später – und die zitternde Hand, welche ihn niedergeschrieben, ruhte starr und kalt auf dem Herzen, das so warm und edel geschlagen. Wie

Das Grab von Schiller’s Mutter.

sanft und gottergeben sie aus dem Leben schied, schildern am besten Luisens Worte an den Bruder:

„So wie sie zu sich selbst wieder kam, sprach sie von ihren lieben Kindern und dankte Gott mit innigster Rührung vor diesen Trost im Tode. Ach, von Dir, lieber Bruder, sprach sie oft und segnete Alles mit so vieler Dankbarkeit gegen Dich, was Du je unternehmen würdest. Ich mußte ihr Dein Medaillonportrait zwei Tage vor ihrem Ende holen, das drückte sie an ihr Herz und dankte Gott vor ihren lieben Sohn. Auch mir dankte sie oft für meine Pflege und Vorsorge in ihrer schmerzlichen Krankheit, und ich konnte ihr doch so wenig Linderung verschaffen. – Sie wurde mit aller möglichen Ehre und Ehrerbietung, die je unser Dorf vermochte, zur Erde bestattet und liegt so nahe meinem Garten, daß ich aller Augenblicke ihren Grabhügel sehen kann.“

Der einfache Sarg von den angesehensten Bauern getragen, unter dem Gesange der Schulkinder in die Grube gesenkt, eine warme Grabrede des Schwiegersohns – so mochte die Bestattung sein.

Noch vor des Dichters Tode, zu Anfang des Jahres 1805, war der Pfarrer Frankh nach dem jenseits Neuenstadt liegenden Städtchen Möckmühl versetzt; von dort aus konnte die Tochter wohl nur selten einmal das Grab der Mutter besuchen, um einen frischen Kranz darauf zu legen. Und Jahre kamen und gingen, und der Hügel war eingesunken und die darunter ruhende einfache und natürliche, mit der größten Herzensgüte begabte Mutter unsers volksthümlichsten Dichters, war – scheinbar vergessen.

Scheinbar nur! Der Ruhm, das Grab vor gänzlicher Vergessenheit und Zerstörung bewahrt zu haben, gebührt, wie gesagt, einzig Eduard Mörike. Die duftigen Lieder dieses sangbegnadeten Dichters sind lustig hinaus geflattert in die Welt; er selber legte den Hirtenstab kränklichkeitshalber nieder. Als er zum letzten Male unter die Buche im kleinen Pfarrgarten, die „Dichterbuche“, trat, mochten ihm die Blätter ein wehmüthiges Lebewohl zurauschen, aber auch die Linde auf dem Grabe der Dichtermutter bewegte ihre Zweige grüßend. Wäre sein Name nicht als Dichter genannt und bekannt, er verdiente es der einzig guten That wegen, überall gerühmt zu werden, wo man Schiller’s Andenken feiert, der That wegen, das Grab der „Schillerin“ geschmückt und gepflegt zu haben.

Die Mutter Schiller’s! Noch einen letzten Blick und Abschiedsgruß nach ihrer Schlummerstätte! Was sie dem deutschen Volke gegeben, ist unvergänglich. Wer weiß und ermißt, wie viele der poetischen Anregungen sie dem Kinde mitgab, wie groß ihr unbewußter Antheil an all dem war, was er an unsterblichen Werken schuf?! Verdient das schmucklose Grab nicht ein grünes Blättchen von den zahllosen Lorbeerkränzen, welche man dem Andenken ihres großen Sohnes flicht?

E. V–y.




 Ich ziehe mit!*[1]

Vier Wände sind es nur, ein schlichtes Dach,
Doch fass’ ich’s kaum, soll ich von ihnen scheiden.
O, dieses Haus ruft Tage, Jahre wach,
Die froh uns sah’n und auch in bittern Leiden.
Mein Mann, nach Westen all’ dein Sinnen steht,
Wo eine bess’re Zukunft uns soll tagen –
Ich ziehe mit, doch wie an’s Herz mir geht
Der Abschied, kann kein Wort, kein Blick dir sagen.

Vier Wände nur, vom Sturme bald durchwühlt,
Doch bleiben sie mir ewig lieb und theuer.
Hier hab’ ich ja zuerst die Lust gefühlt
Zu wärmen mich an eig’nen Heerdes Feuer.
Hier saßen nach des Tages Müh’ wir oft
So froh zusammen, still in uns vergnüget, –
Ach! was wir damals all’ geglaubt, gehofft,
Wie anders, anders hat es sich gefüget!

Hier hab’ ich meine Kinder treu gewiegt;
O Gott! wie war ihr Lächeln lieb und sonnig!
Welch’ ein Gefühl, hielt ich sie fest geschmiegt,
Durchdrang mich hier, so unaussprechlich wonnig!
Doch hab’ ich hier mit Augen thränennaß
Auch oft an ihrem Bett gewacht mit Zagen;
Nun wächst ob zweien schon das kühle Gras,
Und, wo sie ruh’n, da soll ich nicht mehr klagen?

Wo sie gestanden, wo sie einst gespielt,
Von all’ den Orten soll ich fort, den lieben!
Hier stand so oft, das braune Haar zerwühlt,
Der ält’ste Bub, das Mädchen sinnend drüben.
Mein Mann, wird drüben über’m Ocean,
Wenn nach der Heimat unsre Blicke schweifen,
Auch Einer wohl uns mitempfindend nahn,
Auch Einer unsern tiefen Schmerz begreifen?

Zu Boden trüb’ und bang’ dein Auge blickt.
Ach, hab’ ich hier zuerst nicht auch empfunden,
Wie schmerzlich, wenn ein Weh’ den Liebsten drückt!
Ich hatt’ kein Kraut zu lindern deine Wunden –
Die theure Zeit, das böse Fieber kam,
Was sorgsam wir erspart in bessern Zeiten:
Zur Neige ging’s – ich sah den bleichen Gram
Mit finstrer Macht auf deiner Stirn sich breiten

Und konnt’ nicht helfen! O, den herben Schmerz!
Ich fühl’ ihn heut’, ich fühl’ ihn stets auf’s Neue,
Doch glaube nicht, es schwanke noch mein Herz;
Sieh, felsenfest bleibt meine Lieb’ und Treue.
Sie soll auch in der Fremde, über’m Meer,
In ungeschwächten Gluthen stets entbrennen.
Ich ziehe mit, doch schwer, o, bitterschwer
Wird’s mir, von dieser Scholle mich zu trennen.

 Reinhard Neuhaus.


  1. * Obiges Gedicht entnehmen wir der soeben bei Hartung und Sohn in Leipzig in zweiter Auflage erschienenen Sammlung lyrischer Poesien von Reinhard Neuhaus. Der Dichter hat sich bereits in den fünfziger Jahren unter dem Pseudonym Gustav Reinhart durch einen Band schwunghafter Gedichte zahlreiche Freunde erworben. Auf die nunmehr erschienene Sammlung haben schon vor einigen Monaten Emil Rittershaus, Ferdinand Freiligrath und andere rheinische Poeten in hervorragender Weise aufmerksam gemacht, indem sie in einem eigenen Circulär das Publicum auf diese werthvolle Musengabe hinwiesen. In der That dürfen sich diese Neuhaus’schen Gedichte, was Lebenswahrheit in den gestaltenden und Gemüthswärme in den rein subjectiv gehaltenen Dichtungen anbetrifft, getrost neben die besseren Erzeugnisse des jüngsten lyrischen Marktes stellen.
    D. Red.




[811]

Die glücklich geborgene Weihnachtsgans.
Eine Verhörscene aus dem Jahre 1870 von unserm Feldmaler F. W. Heine.




Stammverwandt.


Im Jahre 1867, an einem südlich warmen Octoberabend, vereinte mich in Mailand die Tafel des Gasthofs „Zu den drei Schweizern“ mit drei blonden Wanderern. Alle trugen echt germanische Gesichtszüge. Alle waren noch gegenseitig unbekannt und hatten, unabhängig von einander, erst heute die Alpen und blauen Seen hinter sich gelassen, Jeder in freudiger Erwartung dessen, was Italiens Schönheitswelt, an deren Schwelle sie sich befanden, ihnen bieten würde. Die Tafel war schon abgeräumt, nur noch die Flaschen rothen lombardischen Weines und die rothgebundenen Reiseführer hoben sich vom weißen Tischtuch ab, aber die lebendigste Unterhaltung war bereits in Fluß gekommen, ohne daß es irgend einer Vorstellung untereinander bedurft hätte. Gleich fremder Boden, gleiche Interessen, gleiche Stammverwandtschaft, gleiche Bildung und endlich gleiche Wanderfreunde – was brauchen wir auch Weiteres zu schneller und herzlicher Annäherung! Und so wurde beschlossen, andern Tags, was uns Mailand bieten konnte, gemeinsam zu genießen.

Nun erst gab Jeder sich zu erkennen: was und woher und weß Namens er sei. Ein junger Däne von der Insel Seeland, ein Holländer aus Leyden und ein Oesterreicher aus Preßburg hatten sich mit mir zusammengefunden. Das Gespräch lenkte sich bald auf Heimath, auf Stammverwandtschaft und Stammesunterschied und, wie es wohl kaum anders sein konnte, auch schnell genug auf die Politik. Wohl war erst vor wenigen Jahren der Donner des Düppelsturmes verhallt und Schleswig-Holstein seinem langjährigen [812] Beherrscher wieder entrissen; wohl brannte noch manche offene Wunde von Königgrätz; die unerquickliche Luxemburger Affaire füllte noch täglich die Spalten der Zeitungen, und auch in unseren Gesprächen spiegelte sich deutlich genug wieder, was die Herzen der Völker selbst bewegte, ja, schon wollte sich sogar dann und wann eine leise Mißstimmung unter uns zeigen, und sogar ein paar peinliche Pausen traten ein.

Namentlich verstimmt und empfindlich war der Däne, ein junger reizbarer Musiker, der nach Rom wollte, um alte Kirchenmusik zu studiren. Da plötzlich erhebt Einer von uns sein Glas – es war der Holländer, ein Philologe seines Berufs. „Kein Wort jetzt von Politik weiter!“ rief er; „kein Haß noch Hader mehr! Wir Alle sind Glieder einer einzigen großen Völkerfamilie; stoßen wir einträchtig an auf die Zukunft, auf eine Zeit, da all dieser kleinliche Haß und Hader längst vergessen und begraben ist, aber dafür wieder erwacht ein schönes, tiefes und starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Germanen, wodurch einst ein Werk entstehen möge, wie noch keines auf Erden war! – Stoßen wir an auf einen einzigen großen Germanenbund zu Schutz und Trutz!

„Ja, zu Schutz und Trutz,“ tönte es von anderer Seite, „sei’s denn gegen slavische oder romanische Völkermassen!“

Da war mit einem Male auch der letzte und leiseste Mißton unter uns verstummt. Wir Alle erhoben uns, klangen an mit den Gläsern und drückten einander in ahnungdurchschauerter Begeisterung warm und innig die Hand.

Es war eine Stunde, die mir unvergeßlich bleiben wird. Sieben Jahre verflossen seit jenem Abende. Unterdessen sind große Dinge geschehen: wir Deutschen sind ein Volk geworden, und nach langer schmachvoller Zeit steht unser Vaterland da, so stark und achtunggebietend nach außen, so frei und einig im Innern, wie nimmer zuvor, ja, und selbst in den Sympathien unserer germanischen Nachbarstämme und Brudervölker sehen wir schon eine Wandlung sich vollziehen, welche wir nur mit echter Herzensfreude begrüßen können. Zum Theile mag diese Wandlung allerdings noch sehr gering, ja kaum merkbar erscheinen, ihr Werden und Wachsen aber ist für jeden tiefer Schauenden ohne allen Zweifel und berechtigt zu den schönsten Hoffnungen. Diese Hoffnungen freilich beruhen aber zunächst auf uns selbst, auf dem unablässigen Schützen und gesunden Weiterbilden des so rasch und ruhmvoll Errungenen. –

In erster Reihe wohl steht Deutsch-Oesterreich mit seinen Sympathien zu uns. Aus keinem andern stammverwandten Volke scholl so früh, selbst noch in den Tagen unseres großen Kampfes und Siegeszuges der Jubel zu uns herüber; kein anderes reichte uns so innig die Bruderhand; in keinem schlagen die Herzen wärmer und begeisterter für uns, als im Volke an der „blauen Donau“. Das ist sicher, was auch ultramontane Blätter dort dagegen vorbringen mögen.

Freilich nicht ganz so erfreulich ist in dieser Hinsicht der Blick auf die Schweiz. Mag allerdings die größte Zahl der dortigen Gebildeten deutschen Blutes die Sache klaren Blickes schauen, wie sie liegt, einsehen, daß sie Deutschland als die stärkste Stütze ihrer Freiheit betrachten darf, mögen Manche darunter selbst mit warmem Herzen sich zu Kaiser und Reich halten, als Stammgenossen in vollem Maße unsere Freude über den großen Umschwung der Dinge theilen und nachfühlen – die große Menge verhält sich uns gegenüber entweder völlig gleichgültig oder ergeht sich wohl gar in offenbarem Neide und Grolle, da sie recht gut fühlt, daß der Abstand zwischen ihrer mit Recht gepriesenen republikanischen Freiheit und unserer constitutionellen von Tage zu Tage geringer wird. So klammert sie sich denn aus Mangel an großen Thaten der Gegenwart um so eifriger an die der Vergangenheit, und das Uebrige thut der alteingewurzelte, freilich grundlose Preußenhaß, der allerdings lange genug von den Süddeutschen redlich getheilt wurde.

Gern wollen wir den Schweizern die liebevolle Aufnahme der heruntergekommenen Soldaten des edlen Bourbaki als christliches Liebeswerk anrechnen: die empörenden Auftritte in Zürich aber, wo unter den Augen der Polizei und während die übrige Bevölkerung vollkommen gleichgültig blieb, mit brutaler Gewalt der Pöbel die Friedensfeier der Deutschen störte, obwohl sie ohne alle äußere Demonstrationen in einem geschlossenen Raume stattfand – nicht genug können solche Ereignisse als ein ebenso beklagenswerthes, wie verdammungswürdiges Zeichen der damals herrschenden Gesinnung bezeichnet werden. Erst in den letzten Zeiten können wir auch bei unseren Stammgenossen im Alpenlande eine entschiedene Wendung der Sympathien wahrnehmen, was vor Allem durch den gemeinsamen Kampf gegen den Ultramontanismus hervorgerufen wurde. Von noch größerer Bedeutung aber ist die Gesinnungswandelung, die wir im germanischen Norden von Europa beginnen sehen.

In keinem anderen Lande finden wir das altgermanische Blut so rein, so unvermischt und unberührt von fremden Elementen, als in den wogenumbrandeten und felsumstarrten drei Ländern, die wir in dem einen Namen Skandinavien zusammenfassen, und dennoch wurden französische Sympathien, sowie Groll, Neid und Abneigung gegen unser stammverwandtes Vaterland fast nirgends lebendiger unterhalten als dort. Von jenen drei Stämmen waren sicherlich die wackeren Norweger uns stets noch am meisten zugethan, im Gegensatze zu ihren schon in vieler Beziehung verschieden gearteten Nachbarn, den Schweden. Worin deren Abneigung gegen uns, sowie deren Sympathien für die Franzosen eigentlich begründet sind, mag ihnen vielleicht selbst nicht recht klar sein, denn schwerlich ist es doch zu glauben, daß sie noch heute an den Verlust Pommerns, Rügens oder des Herzogthums Bremen denken sollten, oder daß die Besetzung ihres Thrones durch eine Familie französischen Bluts auf das Volk eine so tiefe Einwirkung haben könnte. Sei es, wie es sei – sie nährten grundlosen vieljährigen Groll gegen uns, und ihre Zeitungspresse machte durchaus kein Hehl aus dieser Gesinnung, während wir Deutschen in unserer allumfassenden Empfänglichkeit fortfuhren auf’s Wohlwollendste uns für sie und für nordische Natur, Sitte, Sang und Sage zu interessiren. Dänemarks lebendiger Haß und Groll ist vielleicht noch jüngeren Datums, und wie er im Kampfe um Schleswig-Holstein zu mächtigen Flammen aufloderte, ist jedem Schulknaben bekannt. Es war nicht immer so. Als Klopstock den lebenden Königen auf dänischem Throne und den gestorbenen in Roeskilds Gräbern seine Oden sang, als Dänemarks Dichter, ein Baggesen und ein Oehlenschläger, bald in deutscher bald in dänischer Sprache dichteten, daß man kaum wußte, welcher Literatur sie in erster Linie angehörten, und wir wiederum Thorwaldsens classische Größe bewunderten, stolz darauf, daß auch in seinen Adern germanisches Blut floß, nachdem er sich voll Verehrung unserm Carstens, dem großen Bahnbrecher in der Kunst, zugeneigt hatte – in jenen Tagen wußten Deutschland und Dänemark wenig von Haß und Groll gegen einander, ein Gefühl, das die Gemüther dann so lange und tief erfüllen und aufregen sollte – bis auf die jüngsten Tage.

Die jüngsten Tage aber zeigen zu unsrer Freude, nicht nur in Skandinaviens Nordländern, sondern auch in dessen Süden eine wenn auch noch leise, aber doch zweifellose und fortschreitende Wandlung, ausgehend vom Throne und einem kleinen Häuflein Gebildeter, aber schon wahrnehmbar weitere und weitere Kreise berührend und bewegend.

Und endlich Holland.

So nah es uns liegt, so eng es mit uns verwandt ist, es wird doch nur selten von Reiselustigen besucht. Wenig wissen wir von seinen inneren politischen Strömungen und Richtungen, und in gleicher Weise auffallend gering ist unsre Kenntniß seines übrigen geistigen Lebens. Jeder gebildete Holländer kennt, liest und verehrt unsre großen Dichter und hervorragendsten Schriftsteller. Wer von uns kennt etwas von Hollands Literatur?

In jüngster Zeit begrüßten wir nun als schönen Beweis echt germanischen Sinnes ein Unternehmen eines holländischen Gelehrten, das wohl verdient bei uns bekannt und gewürdigt zu werden. Der Sprachforscher Johann Winkler zu Leeuwarden stellte sich nämlich die Aufgabe sämmtliche niederdeutsche und friesische Mundarten „von der Maas bis an die Memel“ zu sammeln und in seinem zu Gravenhage 1874 erschienenen zweibändigen Werke: Algemeen nederduitsch en friesch Dialecticon in gleicher stets sich wiederholender Probe übersichtlich neben einander zu stellen. Er wählte dazu ein biblisches Capitel im Lucasevangelium, die Geschichte vom verlorenen Sohne, und erließ über ganz Norddeutschland eine Menge eigenhändiger Briefe mit der Bitte um genaue Uebersetzung jenes Capitels in die Mundart der Heimath.

[813] Von einem Gelehrten und Freunde der Sprachkunde wandte er sich zum andern, Jeden um weitere Adressen für seinen Zweck ersuchend, und Jahre lang verfolgte er so denselben mit dem unermüdlichsten Sammeleifer, wie er vor allen dem Holländer und dem ihm in so manchen Zügen verwandten Engländer eigen ist. Und so ist sein rastloses Streben denn auch mit dem schönsten Erfolg gekrönt, und wir haben so ein Werk durch ihn erhalten, welches jenes Capitel in nicht weniger als hundertachtundsechszig niederdeutschen Mundarten wiedergiebt, jedes derselben begleitet und erläutert durch Anmerkungen und Vergleichungen; eine Arbeit, für die unser norddeutsches Volk ihm zu aufrichtigem Danke verpflichtet ist. Namentlich aber begrüßen wir es als lebendigen und thatsächlichen Ausdruck echter Stammesangehörigkeit, der sich auch schon in der Vorrede auf’s Deutlichste kund giebt.

Aber einen noch viel klareren Einblick in die politischen Sympathien Hollands gewährt uns ein Brief von daher. Mit besonderer Bezugnahme auf die Gartenlaube ward er jüngst an den Schreiber dieser Zeilen gerichtet, der es nicht unterlassen will, ihn hier theilweise zu veröffentlichen, theils seines Inhalts, theils aber auch des wohlthuend treuherzigen und reizvoll naiven Tones wegen, den sein wackerer, aber des Deutschen nur mangelhaft kundiger Verfasser darin anschlägt. –

„Ich kann nicht anders,“ schreibt er, „lieber Herr, ich muß Ihnen schreiben, um einen Irrthum aufzuklären, in dem Sie befangen sind.

In Ihrem letzten Briefe nämlich steht Folgendes:

‚Ist es doch wahrhaft betrübend, daß in Holland sich eher eine Abneigung als Hinneigung zum großen, nahen und stammverwandten Bruderlande zeigt und die Sympathie so Vieler dort sich lieber dem eitlen und wankelmüthigen Franzosenvolke zuwenden.‘ –

Ach, lieber Landsmann! (denn Sie sind gerade so ein guter Friese wie ich selber bin) das ist unwahr. So ist die Gesinnung unseres Volkes durchaus nicht. Gerade das Gegentheil ist wahr. Freilich wundert es mich nicht, daß Sie so denken, denn wir wissen nur zu gut, daß die Deutschen größtentheils das meinen. Ach, und diese Meinung eben hat gerade schon viel böses Blut gemacht, hüben wie drüben. Die Sache aber verhält sich so (daß ich die reine Wahrheit sage, weiß Gott): daß das niederländische Volk, ob friesischen, sächsischen oder fränkischen Stammes, rein deutscher Abstammung ist, das weiß hier Jedermann und wir wissen auch, daß Sprache, Sitten etc. alles hier urgermanisch ist, ja in mancher Beziehung reiner als in Deutschland selbst.

Wir fühlen uns Alle Germanen und sind stolz darauf. Daß die Deutschen unsere Brüder sind, das weiß hier auch Jedermann, und unsere Sympathien sind im Großen und Ganzen, sowohl die der höheren wie die der niederen Stände, entschieden mit Deutschland, was auch die ‚Kölnische Zeitung‘ und andere deutsche Blätter behaupten mögen. Nur geht unsere Hinneigung nicht so weit, daß wir annectirt werden möchten. O nein! Niederländer wollen wir sein und bleiben, auch schon, weil wir bessere, das heißt mildere und freiere Gesetze haben, als Sie, und überhaupt in mancher Beziehung besser daran sind; deshalb hat die Furcht während des französischen Krieges, die Furcht, annectirt zu werden, hier Viele dahin gebracht, daß sie gegen Deutschland ungerecht wurden. Dieses war zumal im eigentlichen Holland der Fall; weniger war’s in den anderen Provinzen. Es ist überhaupt ein großer Unterschied zwischen diesen und jenem. Nur unsere wenigen Katholiken darf man nicht mitrechnen; die sind fast Alle ultramontan durch und durch und dem deutschen Reiche nicht freundlich gesinnt. Brabant und Limburg sind namentlich unser rechtes Ultramontanien.

Sie würden sich aber freuen, lieber Landsmann, wenn Sie sähen, wie wir Anderen hier deutsche Wissenschaft und Kunst, deutsche Bildung, Literatur, Sprache und Musik hochschätzen und welch freundliches Begegnen die zahlreichen Deutschen finden, die unter uns wohnen. Freilich, Viele davon sind Westphalen und Niederrheinländer und leider auch ultramontan gesinnt. Diese natürlich finden dieselbe Abneigung wie unsere Katholiken, aber nicht weil es Deutsche, sondern weil es Römische sind.

Wahre Franzosenfreunde aber giebt es gar nicht unter uns; dazu haben wir gerade so wenig Ursache wie unsere deutschen Brüder, denn nichts als Uebles und Modetand verdanken wir den Franzosen. Noch leben Tausende, die das Elend und die Erniedrigung, den Hohn und die Schmach mit durchgemacht haben während der französischen Vergewaltigung. Oder meinen die Deutschen, daß wir so schlechte, entartete Söhne und Enkel wären? Gottlob, nein!

Auch hierher sandte Ludwig der Vierzehnte seinen Louvois, hier zu mordbrennen gleichwie in Eurer Pfalz. Auch uns stahl dieser „Roi soleil“ eine schöne Provinz, ein hochwerthes Theil von Flandern. Und dieses französische Flandern (jetzt Departement du Nord) ist gerade so unser Schmerzenskind, wie es Ihnen so lange das Elsaß war. Nein und wieder nein. Sieben Achtel der Niederländer (Brabant und Limburg natürlich nicht mitgerechnet) sind wahre Freunde der Deutschen und Feinde der Franzosen. Nur an unserm Königshofe ist das leider nicht so. Unser König und die Königin sind ausgemachte Franzosenfreunde, und es hätte wenig gefehlt, so wären wir durch deren Sympathien mit in den groß’n Krieg geschleppt worden, als Verbündete Frankreichs. Das aber hätte dem Könige gewiß seinen Thron gekostet. Vor Allem aber ist die hohe Aristokratie um den Hof herum leider so sehr französisch gesinnt. Aber die Dummheit dieser Leute kann man doch unserm urgermanisch fühlenden Volke nicht anrechnen.

Fast jedes Jahr besuche ich nebst Tausenden meiner Landsleute zu meinem großen Genusse Ihr schönes Vaterland. Da habe ich denn bei so Vielen falsche Ansichten über uns Niederländer gefunden, aber bin nicht müde geworden, sie zu corrigiren. Auch die Feder hat oftmals in meiner Hand gezuckt vor Verlangen, die vielen Unwahrheiten über uns in deutschen Blättern zu widerlegen; aber daß ich kein fehlerfreies Hochdeutsch schreibe, hat mich stets zurückgehalten. Zumal war dies der Fall, als auch sogar die Gartenlaube, das Lieblingsblatt von tausend Niederländern, solche Irrthümer verbeitete (siehe Jahrgang 1874 Seite 137). Darum, lieber Landsmann und Stammgenosse, belehren Sie doch statt meiner Ihre Landsleute durch einen kleinen Aufsatz in jenem Blatte! Ich kann leider kein so gutes Hochdeutsch schreiben, wie ich möchte. Also bitte, thun Sie es für mich! Denn zwischen Brüdern darf keine Unwahrheit sein.“ –

So weit der wackere Holländer. Mit Freuden erfülle ich seinen Wunsch, und nicht besser glaube ich es zu können, als durch Wiedergabe seiner eigenen treuherzigen Worte.

An den Abend in Mailand mußte ich denken, als ich den Brief gelesen hatte. – Mögen denn auch seine Worte mitwirken am großen Werke der Zukunft, dessen Gedanke damals mit ahnungsvoller Begeisterung unsere Herzen erfaßte, an dem herrlichen Werke eines einzigen großen germanischen Völkerbundes zu Schutz und Trutz! Wann erscheint der Tag, da dieser Gedanke zur That wird? –

Hermann Allmers.[WS 1]




Blätter und Blüthen.


Der galvanische Strom als unbesoldeter Nachtwächter. Zu den unschätzbaren Diensten, welche uns der galvanische Strom in der Haus-, Staats- und Welt-Telegraphie, in den schönen und nützlichen Künsten der Metallplattirung und Galvanoplastik, der Heilkunde, Uhren-Regulirung, Sprengtechnik etc. leistet, ist in der Neuzeit die Anstellung desselben als eines niemals schlafbedürftigen, noch zerstreuten oder unaufmerksamen Wärters für allerlei Geschäfte und Bedürfnisse getreten. So ist es z. B. für viele ökonomische und industrielle Zwecke hochwichtig, die Ueberschreitung einer bestimmten Temperatur in einem Raume – sei es ein Brüt- oder Trocken-Ofen, eine Malzdarre, oder eine Bierbrauerei – zu verhüten. Statt nun eine Person zu verpflichten, Tag und Nacht das Thermometer zu beobachten und das Verderben der jungen Küchlein oder der Bierwürze von einem Augenblicke der Unaufmerksamkeit abhängig zu machen, hat man darauf gedacht, dem Thermometer selber die Pflicht aufzulegen, es zu melden, sobald das Quecksilber bedenklich hoch gestiegen ist. Die Sache ist höchst einfach. Um eine elektrische Klingel zum Läuten zu bringen, dazu gehört bekanntlich weiter nichts, als daß man durch einen Druck oder sonstwie die Berührung zweier so lange getrennter Metalltheile bewerkstelligt, durch die dann der Monate und Jahre lang geduldig wartende galvanische Strom seinen Weg nach der beliebig entfernten Läutvorrichtung fortsetzen kann.

Diese metallische Berührung ist nun auf vielerlei Art zu bewerkstelligen. Man denke sich z. B. einen Thermometer mit großem Gefäß und weiterer Röhre, in welcher ein eingeschmolzener Platindraht von oben bis zu dem Punkte der Scala herabsteigt, den die Quecksilberoberfläche niemals überschreiten soll. Jener Draht bildet den einen Endpunkt der elektrischen [814] Leitung, das Quecksilber, zu dem ein zweiter Draht von untenher durch die Glaswandung tritt, den andern. So wie die Quecksilbersäule nun steigt und mit ihrer Kuppe den oberen Draht erreicht, wird damit die Stromleitung geschlossen, und die im Comptoir oder sonstwo angebrachte Glocke macht so lange einen Heidenlärm, bis dem Uebelstande abgeholfen ist. Die deutschen Professoren Gebrüder Laudois haben einen selbstthätigen Brüte-Apparat nach diesem Principe eingerichtet, bei welchem der sonst am Läutewerk thätige Elektro-Magnet sofort die Gasflamme zurückschraubt, wenn das den Brütraum umspülende Wasser diesem bedachtsamen Thermometer zu warm vorkommt. Vielleicht werden wir uns, Dank dieser Erfindung, bald nicht mehr von den alten Aegyptern in Ausnützung der Thatsache, daß ein Huhn im Jahre fünfmal mehr Eier legen als ausbrüten kann, beschämen zu lassen brauchen.

Derselbe Apparat kann auf jede beliebige Temperaturgrenze und mithin auch so eingestellt werden, daß er erst bei einer sehr großen Hitze zu wirken beginnt, also als Wächter in leer gelassenen Fabrikräumen, Magazinen etc. dienen kann, um eine ausbrechende Feuersbrunst rechtzeitig zu melden. Die französischen Ingenieure A. Joly und P. Barbier haben zu diesem Zwecke ein geeignetes Kabel construirt, um die zu schützenden Räume mit demselben zu durchziehen. Dasselbe besteht aus zwei Metalldrähten, welche durch eine Lage von Guttapercha oder eine ähnliche schmelzbare Substanz von einander isolirt und durch eine besondere Procedur stark zusammengedreht werden. Sobald nun in irgend einem von dem Kabel durchzogenen Raume eine Feuersbrunst ausbricht und die isolirende Substanz zum Schmelzen kommt, tritt sofort die Gefahr anzeigende metallische Berührung der Drähte ein. Oft kann es nun sehr erwünscht sein, ein Sinken unter eine bestimmte Temperatur, z. B. in Gewächshäusern, schleunigst gemeldet zu erhalten. Ein diesen Zwecken gewidmetes elektrisches Alarm-Thermometer hat unter Anderm der Mechanicus Hane in Berlin construirt. Die Schiffer, welche sich in bestimmten Meeresregionen und Zeiten (z. B. im Frühjahre unweit der Küste von Neufoundland) bei Nacht und Nebel nur schwierig vor dem Zusammenlaufen mit schwimmenden Eisbergen schützen können – wie dies noch im vorigen Frühjahre das Verunglücken des Packetbootes „Europa“ bewies – haben hier ein leichtes Mittel, die Gefahr einer solchen Nähe zu erfahren. Da das Wasser der Meeresoberfläche im weiten Umfange dieser Kolosse mehrere Grade unter die mittlere Temperatur sinkt, so ließ man in solchen gerade dort häufigen Nebelnächten einen Bootsmann beständig Wasser schöpfen und die Temperatur messen. Diese Arbeit kann man aber, wie der Ingenieur Michel gezeigt hat, viel besser einem an den Flanken des Schiffes angebrachten in einer Kapsel enthaltenen Metallthermometer, einem aus zwei verschiedenen Metallen gebildeten, spiralig gedrehten Doppelstreifen, überlassen, bei dem ein Uhrzeiger, sobald er rückwärts geht, die Stromschließung durch Metallberührung vollendet und die Gefahr nach der Bootmannscoje meldet.

Der Turiner Officier Lanzillo will nun gar dem galvanischen Strome geradezu die Dienste eines Haushundes aufbürden, der jedes Oeffnen der Thür eines verschlossenen leerstehenden Hauses, falls die Vorrichtung nicht vorher außer Thätigkeit gesetzt ist (was von außen nur durch einen besonderen Schlüssel möglich ist), als Einbruch nach dem städtischen Polizeibüreau meldet. Die Häuser einer Stadt wären also hierbei durch elektrische Klingeln mit dem Polizeibüreau zu verbinden, und eine ähnliche Vorrichtung, wie in Hôtels die Zimmernummer kund thut, würde hier Straße, Nummer des Hauses, in welchem eingebrochen wird, oder ein Brand im Entstehen ist, kurz, wo man Hülfe braucht, anzeigen.

Nicht minder nützlich und vertrauenswürdig sind die Signalapparate, durch welche Siemens in Berlin und andrerseits die französischen Ingenieure Lartigue und Forest dem galvanischen Strome den Sicherheitsdienst auf Eisenbahnen übertragen haben. Die zur Auslösung des Signals – hier einer forttönenden Dampfpfeife – führende metallische Berührung wird dadurch hervorgebracht, daß die Locomotive eine an irgend einer Wegstelle angebrachte metallne Platte inmitten des Schienenweges mit einer an ihrem Bauche befindlichen metallenen Bürste abfegt. In demselben Augenblicke, wo dies geschieht, meldet eine Dampfpfeife auf der nächsten Station, daß der erwartete Zug eben jene Stelle passirt, der betreffende Schienenstrang also besetzt ist. Die Locomotive sorgt mithin durch eine nie versagende Vorrichtung selbst für ihre Sicherheit.

C. St.




Es giebt noch gute Menschen, und zwar überall, möchte ich hinzusetzen. Schickt mir da neulich ein unbekannter R. aus B–m, ohne alle Anregung von meiner Seite und nur weil er meint, die Noth klopfe wohl öfters an die Thür der Gartenlaube, volle fünfundzwanzig Thaler ein – für „wirklich bedürftige Arme“, dann aber, wie er wörtlich schreibt, „in einem Satz, daß der oder die Empfänger wirklich Segen davon haben.“ Es muß wohl eine unverhoffte, liebe Freude gewesen sein, die den unbekannten Geber dazu drängte, in seinem Jubel unbekannter Armen zu gedenken, die vom Glück weniger bedacht sind als er. Jedenfalls quittire ich dankend über den Betrag. –

Aber nicht genug damit. Die Leser der Gartenlaube erinnern sich vielleicht der Briefkastennotiz in Nr. 43, worin ich über das Elend einer Soldatenmutter berichtete. Ohne die vielgeplagten Freunde meines Blattes wieder zu Liebesgaben aufzufordern, hatte ich einfach aus einem mir zugekommenen Briefe die betreffenden thatsächlichen Mittheilungen zusammengestellt und nur die Bemerkung angefügt, daß trotz der Unterstützung des Reichs wohl noch manche Wunde blute. Das Unglück der armen Wittwe Bartel, die vor Metz ihren einzigen Sohn und mit ihm ihre einzige Stütze verloren, sprach auch eindringlicher, als ich hätte schildern können. Und siehe, die Notiz, welche keine Bitte aussprach, war kaum erschienen, als sofort von vielen Seiten Briefe und Gaben einliefen. Da schickt ein „alter Abonnent aus Barmen“, ohne seinen Namen zu nennen 25 Thlr.; ein W. F. aus Frankfurt a. M. ebenfalls 25 Thlr.; ein G. Fiedler in Teplitz 10 Thlr.; ein nicht genannter „Verehrer der Gartenlaube“ 5 Thlr.; A. Pollack aus Ravicz 3 Thlr; ein Leipziger Landsmann in Moskau 5 Rubel; A. Küßner in Danzig 2 Thlr.; Brl. in Pößnek, ein Ungenannter, S. W. in Dresden, H. G. in Aschersleben und Eine, deren Bruder gesund von Metz zurückgekehrt, je Einen Thaler, zusammen also 75 Thaler und 5 Rubel, mit den oben von R. in B. eingesandten 25 Thalern im Ganzen 100 Thaler und 5 Rubel – Alles Früchte einer kleinen unbedeutenden Notiz.

Die Sender dieser Liebesgaben mögen wohl sämmtlich der begüterten Classe der Gesellschaft angehören und in ihren Börsen die kleinen Abgänge kaum gefühlt haben. Aber wenn demnächst die Weihnachtskerzen auf ihrem Tannenbaume leuchten, dürfen sie schon freudigeren Herzens die reichen Christgaben annehmen und austheilen; sie haben ihr Herz dem Mitleiden nicht verschlossen und nach Kräften den Weihnachtsabend – nein, die ganze nächste Zukunft einer alten vereinsamten Mutter erhellt, die auf Erden nur noch auf Eins hoffte – auf einen baldigen Tod.

E. K.




Ein neues Richter-Album. Von Ludwig Richter, diesem volksthümlichsten und in einem gewissen Sinne zartesten unter den deutschen Zeichnern der Gegenwart, welchen man nicht unrichtig den Idyllendichter mit dem Stifte nennen könnte, erschien soeben bei J. D. Sauerländer in Frankfurt am Main ein Richter-Album, eine Sammlung der von unserem Künstler allein gezeichneten Illustrationen zu W. O. Horn’s Schriften. Es haben in diesen von echtester Poesie erfüllten Blättern des greisen Zeichners sinniger Ernst und köstlicher Humor einen so innigen Bund geschlossen, es reichen sich in ihnen kindliche Einfalt und gereifter Schönheitssinn zu so glücklicher Vereinigung die Hände, daß das Werk einen wahren Born der Erquickung allen Denjenigen bietet, welche vom beunruhigenden Getriebe unserer vielbewegten Tage auf Momente im Anschauen wahrer Kunstgebilde ausruhen wollen.




Neueste Fahr- und Reisegelegenheiten. Die Erleichterung des Passagier- und Verkehrwesens im Allgemeinen gehört sicherlich nicht zu den letzten Errungenschaften unserer Zeit, aber nur selten begegnen sich völlig zufriedengestellte Reisende, denn das Menschenherz ist ebenso unerschöpflich im Wünschen, wie der Geist im Erfinden. Man reist so sehr nobel in einem Wagen erster oder zweiter Classe, aber wenn die Schienen schlecht sind, so bekommt man auch da noch sein gerütteltes und geschütteltes Maß und verspürt nach einer längern Fahrt immer noch die Empfindungen einer gelinden Räderung. Der Franzose Giffard will deshalb die theureren Wagenclassen mit Hülfe einer doppelten Aufhängung von allen Stößen befreien, so daß man wie im Schooße einer Wolke, und sanfter selbst als in einem Nachen, die Grenzen von aller Herren Ländern übergleiten würde. Der Naturforscher-Congreß, welcher im Sommer in Lille tagte, konnte bereits eine solche „Eisenbahnhängematte“ benutzen und dabei sein Votum dahin abgeben, daß nach einigen lebhafteren Schwankungen beim Abgange des Zuges die Schwingungen bald so rhythmisch und sanft geworden seien, daß man mit der größten Bequemlichkeit habe lesen und schreiben können, während allerdings die Neigung zum – Einschlafen befördert worden sei, was, wenigstens für Schlafwagen, kein Schaden wäre. Der Engländer Bessemer hat bekanntlich einen großen Raddampfer mit einem ähnlichen schwebenden Schiffssalon für den Verkehr auf dem meist sehr lebhaft bewegten Canale erbaut, um das unendliche Welt-Elend der seekranken Engländer und Franzosen zu lindern. Es wird aber bezweifelt, daß es ihm gelingen werde, diesem tragikomischen Leiden den Boden zu entziehen. Praktischer dürfte der Gedanke seines Collegen A. Bois sein, mit einer „Dampffähre“, welche ganze Eisenbahnzüge aufnehmen soll, diesen Verkehr zu erleichtern. Die Maschine würde inmitten der auf kahngestalteten Parallelschwimmern ruhenden Platform angebracht werden und, ohne ein Umwenden erforderlich zu machen, die Fähre hin- und zurückbewegen – Eine der originellsten Reisegelegenheiten der Neuzeit verspricht aber die einschienige Eisenbahn oder „Dampfkarawane“ zu werden, welche der Engländer Haddan, Ober-Ingenieur der ottomanischen Regierung, auf der einhundertsiebenundfünfzig Kilometer langen Strecke zwischen Alexandrette und Aleppo in Syrien zu bauen beabsichtigt. Die Bahn wird einen einzigen Schienenstrang erhalten, der auf einem Mauerfundamente von zwei und einem Viertel Fuß Höhe und vierzehn Zoll Breite ruht. Die eigenthümlich gestalteten kleinen Wagen des Zuges, sogenannte Zwillinge, reiten gleichsam auf dieser Schiene, indem ihre Hälften, wie die Körbe eines Lastesels, zu beiden Seiten der Mauer herabhängen. Die Locomotive wie der Schlußwagen müssen durch horizontale Klemmräder mit Lederbeschlag, wie sie bei einigen Bergbahnen in Anwendung gebracht worden sind, gegen das Fundament um so stärker angepreßt werden, je größer die vorhandene Neigung des Bahnkörpers ist. Jede Wagenhälfte soll zwei, der ganze Zug sechsundneunzig Personen aufnehmen. Als Vortheile dieses Systems von Wüsteneisenbahnen werden sehr geringe Baukosten angegeben; sie sollen einen Schnellverkehr in Gegenden möglich machen, in denen nicht leicht auf größere Bahnanlagen zu rechnen wäre.

C. St.




Kleiner Briefkasten.

B. N. in Nbg. Allerdings ist noch Mangel an guten dramatischen Lust- und Schauspielen für die Jugend, aber ganz, wie Sie meinen, ist dieses Genre unsrer Literatur noch nicht eingeschlafen. Wir empfehlen Ihnen vor Allem das in Stuttgart erschienene „Kindertheater“ von Charlotte Krug, geb. Schnorr von Carolsfeld, das außer vier andern allerliebsten Stücken auch das preisgekrönte Lustspiel „Vetter James“ enthält. Das Buch wird sich ganz für Ihre Zwecke eignen; wenigstens dürfen wir Ihnen versichern, daß sämmtliche darin abgedruckten Stücke bereits die Feuerprobe der Aufführung bestanden haben.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. korrigiert, Vorlage: Almers