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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[203]

No. 13.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


„Glück auf!“ sagte der Schichtmeister, sich langsam nach ihm umwendend. „Hältst Du es nicht einmal mehr der Mühe werth, uns einen Gruß zu sagen? Ich dächte, das wenigstens könntest Du doch beibehalten!“

„Quäle mich nicht, Vater!“ stieß Ulrich ungeduldig hervor, indem er den Kopf noch weiter zurückwarf und die Hand gegen die Stirn preßte.

Der Schichtmeister zuckte die Achseln und wandte sich ab; Martha verließ ihren Platz am Fenster und setzte sich neben den Oheim, um die Arbeit wieder aufzunehmen, die sie vorhin beim Gespräch mit Lorenz hatte liegen lassen. Einige Minuten lang herrschte ein drückendes Schweigen in der Stube; endlich trat der junge Bergmann zu seinem Freunde.

„Steiger Wilms war vorhin da, um Dich zu sprechen, Ulrich; er wird in einer Stunde wiederkommen. Er ist überall herum gewesen auf den Werken der Nachbarschaft.“

Ulrich fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen quälenden Traum wegscheuchen. „Nun, wie ist’s?“ fragte er, aber die Frage klang theilnahmlos, halb mechanisch, als müsse er sich erst besinnen, wovon eigentlich die Rede sei.

„Sie schließen sich uns an!“ berichtete Lorenz. „Unser Vorgehen scheint ihnen Muth gemacht zu haben. Es bricht jetzt überall los. Die Eisenhütten oben fangen an; dann folgen die übrigen Werke, wenn ihnen nicht sofort Alles bewilligt wird – und daran ist nicht zu denken. So feiern in acht Tagen die sämmtlichen Gruben und Hütten im ganzen Bezirk.“

„Endlich!“ Ulrich fuhr wie elektrisirt in die Höhe. Fort waren auf einmal Theilnahmlosigkeit und Träumerei. Die ganze Spannkraft des Mannes war zurückgekehrt. „Endlich!“ wiederholte er tief aufathmend. „Es war auch Zeit; sie haben uns lange genug allein gelassen!“

„Weil wir allein vorgingen.“

„Mag sein! Aber wir konnten nicht warten. Die Sache lag hier anders als auf den übrigen Werken. Jeder Tag Arbeit brachte die Berkows einen Schritt vorwärts und uns einen zurück. Ist Wilms hinüber nach den Dörfern? Er muß es sofort den Cameraden mittheilen. Das wird ihnen Muth geben!“

„Thut auch Noth!“ sagte der Schichtmeister ruhig. „Es sieht nicht mehr allzufrisch aus mit dem Muthe. Seit vierzehn Tagen wird kein Fäustelschlag mehr gethan. Ihr wartet und wartet auf eine Bitte, auf eine Verhandlung wenigstens, die Eurer Meinung nach kommen muß, und drüben rührt sich nichts. Die Beamten gehen Euch aus dem Wege, und der Herr sieht wahrhaftig nicht aus, als wollte er Euch auch nur einen Daumen breit nachgeben. Ich sage Dir, Ulrich, es war hohe Zeit, daß Du Unterstützung bekamst.“

„Warum nicht gar, Vater!“ fuhr der junge Mann auf. „Wir feiern kaum zwei Wochen, und ich hab’ es ihnen vorhergesagt, daß sie sich zur Noth auf zwei Monate gefaßt machen müssen, wenn wir siegen wollen, und siegen müssen wir!“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Zwei Monate! Das hältst Du aus, und ich und der Lorenz halten es aus, aber nicht die, welche Frau und Kinder haben.“

„Sie müssen!“ sagte Ulrich kalt. „Ich habe auch gedacht, daß wir leichter und schneller durchkommen würden. Ich habe mich eben geirrt. Wenn sie es drüben nun einmal bis zum Aeußersten treiben wollen, so wollen wir ihnen dieses Aeußerste auch bis auf den letzten Tropfen zu kosten geben.“

„Oder sie uns!“ warf Lorenz ein. „Wenn der Herr wirklich –“

Ulrich stampfte wüthend mit dem Fuße. „‚Der Herr‘! Und immer nur ‚der Herr‘! Habt Ihr denn gar keine andere Bezeichnung für diesen Berkow? Ihr habt ihn ja doch früher nicht so genannt, aber seit er’s Euch in’s Gesicht gesagt hat, was er ist und sein will, da kennt Ihr gar nichts Anderes. Ich sage Euch, wenn wir durchdringen, sind wir die Herren; dann hat er nur den Namen noch und wir haben die Macht! Er weiß recht gut, daß es darauf hinausläuft. Darum sträubt er sich eben so, und darum eben müssen die ganzen Forderungen durchgesetzt werden – um jeden Preis!“

„Versuch’s!“ sagte der Schichtmeister kurz. „Sieh’ zu, ob Du allein die Welt auf den Kopf stellst! Ich rede schon lange kein Wort mehr darein.“

Lorenz nahm seinen Hut vom Fensterriegel und schickte sich zum Gehen an. „Du mußt am besten wissen, wie weit wir damit kommen. Du bist ja unser Führer.“

Ulrich’s Gesicht verfinsterte sich. „Ja, ich bin’s, aber ich habe es mir leichter gedacht, Euch zusammenzuhalten. Ihr macht mir das Ding schwer genug!“

Der junge Bergmann fuhr gekränkt auf. „Wir? Du kannst doch gewiß nicht über uns klagen; es gehorcht Dir ja Alles auf’s Wort.“

„Gehorchen!“ Ulrich streifte mit einem düster forschenden Blick das Gesicht seines Freundes. „Ja, daran fehlt es nicht [204] und darüber klage ich auch nicht, aber es ist anders geworden zwischen uns, auch zwischen uns Beiden, Karl, ganz anders. Ihr seid Alle so fremd jetzt, so kalt und scheu, und manchmal kommt es mir vor, als fürchtetet Ihr mich nur noch und – weiter nichts.“

„Nein, nein, Ulrich!“ Lorenz erhob sich mit einer Heftigkeit gegen den Vorwurf, die beinahe vermuthen ließ, er habe das Rechte getroffen. „Wir vertrauen Dir ganz, Dir allein. Was Du auch gethan hast, Du hast es für uns gethan, nicht für Dich; das wissen sie Alle; das vergißt Dir Keiner!“

„Was Du auch gethan hast, Du hast es für uns gethan!“ das klang harmlos genug und konnte auch so gemeint sein, und dennoch schien ein verborgener Sinn in den Worten zu liegen, und Ulrich schien ihn herauszufühlen, denn er heftete das Auge mit durchbohrendem Ausdruck auf den Sprechenden. Dieser wich dem Blicke aus und sah zu Boden.

Ich muß fort! sagte er hastig. „Ich werde Dir den Wilms herüberschicken. Du bleibst doch hier, daß er Dich sicher findet?“

Ulrich gab keine Antwort. Die glühende Erregung der letzten Minuten war auf einmal wieder der tiefen Blässe gewichen, die sein Antlitz beim Eintreten gezeigt; er neigte nur bejahend den Kopf und wendete sich zum Fenster.

Der junge Bergmann verabschiedete sich von dem Schichtmeister und verließ die Stube; Martha stand auf und ging mit ihm hinaus. Das Mädchen hatte während der ganzen Unterredung kein einziges Wort gesprochen, aber unverwandt die Männer beobachtet. Sie blieb ziemlich lange draußen; indeß das konnte den Zurückbleibenden nicht auffallen. Sie wußten ja, daß ein angehendes Brautpaar manches miteinander zu flüstern hat, und sie schienen sich auch überhaupt nicht viel darum zu kümmern.

Vater und Sohn waren allein, aber das Schweigen, das jetzt zwischen ihnen herrschte, war vielleicht noch beängstigender, als vorhin bei Ulrich’s Eintritt. Dieser stand noch am Fenster, die Stirne gegen die Scheiben gedrückt, und starrte hinaus, ohne irgend etwas zu sehen. Der Schichtmeister hatte seinen Platz nicht verlassen; er saß noch immer am Tische, den Kopf in die Hand gestützt; aber das Gesicht des alten Mannes war seltsam verändert seit den letzten Wochen. Gram- und sorgenvoll war es geworden; die Furchen, die das Alter hinein gegraben, hatten sich noch vertieft, und das Auge blickte so matt und trübe, als sei all die frühere Rüstigkeit und Schlagfertigkeit, mit der er dem Sohne so manche derbe Strafpredigt gehalten, auf immer dahin. Still und gedrückt saß er da und machte keinen Versuch, das Gespräch wieder anzuknüpfen.

Dieses Schweigen wurde endlich für Ulrich unerträglich, und er wandte sich mit einer hastigen Bewegung um.

„Und Du sagst gar nichts, Vater, zu der Nachricht, die Wilms uns bringt? Ist Dir’s denn wirklich ganz gleich, ob wir siegen oder unterliegen?“

Der Schichtmeister hob langsam den Kopf in die Höhe. „Gleich ist mir’s nicht, aber freuen kann ich mich auch nicht, wenn Ihr nun wirklich mit Drohungen und Gewalt losbrecht. Wollen erst abwarten, wen es zuletzt trifft, die Herren oder uns! Freilich, Du fragst nichts danach, Du hast Deinen Willen durchgesetzt! Bist ja jetzt Herr und Gebieter auf den ganzen Werken. Zu Dir kommt Alles; vor Dir bückt sich Alles; Dir gehorcht Alles auf’s Wort – das war es ja, was Du von Anfang an gewollt hast, worauf das Ganze eigentlich angelegt war.“

„Vater!“ fuhr der junge Mann auf.

„Laß nur, laß!“ sagte der Schichtmeister abwehrend, „Du wirst mir’s nicht eingestehen und Dir selber auch nicht, aber es ist doch so. Sie sind Alle mit Dir gegangen, ich hab’s auch gethan, denn ich konnte am Ende nicht allein zurückbleiben. Sieh zu, wohin Du uns führst! Du hast die Verantwortung.“

„Habe ich etwa allein die Sache angefangen?“ fragte Ulrich heftig. „War’s nicht einstimmiger Beschluß, daß es anders werden müßte, und haben wir uns nicht das Wort gegeben, zusammenzustehen, bis es anders würde?“

„Wenn nicht bewilligt würde! Nun ist aber Alles bewilligt, so gut wie Alles, denn was Euch abgeschlagen wurde, das sind nicht die Forderungen unserer Bergleute; das hast Du erst hineingebracht, Ulrich, Du allein, und Du bist’s auch allein, der sie dabei festhält. Ohne Dich arbeiteten sie längst wieder, und wir hätten Ruhe und Frieden auf den Werken.“

Der junge Steiger warf trotzig den Kopf zurück. „Nun ja, von mir ging’s aus, und ich rechne es mir wahrhaftig nicht zur Schande, daß ich weiter sehe und sorge, als die Anderen. Wenn sie zufrieden sind, daß ihnen das alte Elend etwas erträglicher gemacht, das Bischen Leben in den Schachten mehr gesichert wird – ich bin’s nicht zufrieden und die Muthigen unter uns sind’s auch nicht. Wir verlangen viel, das ist wahr, – wir wollen nahezu Alles, und wenn Berkow noch der Millionär wäre, für den ihn alle Welt hält, er würde sich hüten, sich so in unsere Hände zu geben. Er ist’s aber nicht mehr und auf unseren Händen, wenn sie sich jetzt für ihn rühren oder nicht rühren, steht sein ganzes Wohl oder Wehe. Du weißt nicht, Vater, wie es drüben in den Bureaus und in den Conferenzen aussieht, aber ich weiß es und ich sage Dir, er mag sich sträuben, wie er will: nachgeben muß er doch, wenn es erst von allen Seiten auf ihn losstürmt.“

„Und ich sage Dir, er thut es nicht!“ erklärte der Schichtmeister. „Eher schließt er die Werke! Ich kenne den Arthur. Schon als kleiner Bube war er so, ganz anders wie Du. Du gingst immer mit Gewalt darauf los, wolltest mit Gewalt Alles zwingen, ob es nun eine Arbeit, oder ein Gartenzaun, oder ein Camerad war – der griff überhaupt nie gern irgend was an, und es dauerte immer lange, ehe er dazu kam; that er’s aber einmal, dann ließ er auch nicht wieder los, bis er das Ding unter sich hatte. Jetzt ist er aufgewacht, und jetzt wird er Euch Allen zeigen, was in ihm steckt. Nun er die Zügel einmal hat, reißt sie ihm Keiner aus den Händen. Der hat etwas von Deinem eigenen Starrkopf. Denk’ an mich, wenn Du ihn einmal zu fühlen bekommst!“

Ulrich blickte finster vor sich hin; er widersprach nicht mit seiner gewohnten Heftigkeit, aber man sah es ihm an, wie der Groll in ihm wühlte, daß er nicht widersprechen konnte. Vielleicht hatte er den „Starrkopf“ schon einmal gefühlt.

„Und wie die Sache nun auch ausfallen mag,“ fuhr der Vater fort, „meinst Du denn wirklich, daß Du noch Steiger bleiben kannst, daß sie Dich noch auf den Werken dulden nach Allem, was jetzt vorgekommen ist?“

Der junge Mann lachte höhnisch auf. „Nein, wahrhaftig nicht, wenn’s von Denen da drüben abhängt. Die nehmen mich sicher nicht wieder zu Gnaden an! Aber von Gnade soll auch keine Rede sein, dictiren werden wir ihnen unsere Forderungen, und die erste der ganzen Knappschaft ist die, daß ich bleibe.“

„Weißt Du das so gewiß?“

„Vater, beschimpfe mir meine Cameraden nicht!“ brach Ulrich los. „Sie lassen mich nicht im Stich!“

„Auch nicht, wenn die erste Forderung drüben ist, daß Du gehst? Und der Herr stellt sie, verlaß Dich darauf!“

„Nie! das erreicht er nie! Sie wissen Alle, daß ich’s nicht für mich gethan habe; mir ging es nicht schlimm; ich brauchte nicht zu darben und ich finde überall mein Brod. Ihr Elend war es, was ich ändern wollte. – Rede mir nicht davon, Vater! Sie machen mir oft Noth genug, aber wenn es Ernst wird, dann dringe ich durch, dann läßt mich Keiner im Stich. Wo ich sie hinführe, da gehen sie mit, und wo ich stehe, da stehen sie zu mir, und wenn’s in Noth und Tod wäre!“

„Früher – ja! Jetzt nicht mehr!“ Der alte Mann hatte sich erhoben, und jetzt erst, wo er sich dem vollen Lichte zuwendete, sah, man, wie gramvoll die Züge waren, und wie gebückt die noch vor Kurzem so kräftige Haltung war.

„Du hast ja selbst dem Lorenz gesagt, daß es anders geworden ist,“ fuhr er tonlos fort, „und Du weißt auch den Tag und die Stunde, wo es anders wurde. Ich brauche Dir das nicht erst zu sagen, Ulrich, aber mir – mir hat der Tag auch das Bischen Ruhe und Freude gekostet, das ich noch vom Alter hoffte. Jetzt ist’s vorbei damit, auf immer.“

„Vater!“ schrie der junge Mann auf.

Der Schichtmeister machte eine hastig abwehrende Bewegung. „Laß gut sein! Ich weiß ja nichts davon, will nichts davon wissen, denn wenn ich es gar noch klar und deutlich hören müßte, dann wäre es vollends aus. Ich habe genug an dem bloßen Gedanken; schon der hat mich fast um den Verstand gebracht.“

[205] Ulrich’s Augen flammten wieder auf, so drohend wie vorhin bei der Hindeutung seines Freundes.

„Und wenn ich Dir nun sage, Vater, daß die Stricke gerissen sind, wenn ich Dir sage, daß meine Hand nicht dabei war –“

„Sag’ mir lieber nichts!“ unterbrach ihn der Alte bitter. „Ich glaube Dir doch nicht, und die Anderen thun es auch nicht mehr. Du bist immer wild und gewaltthätig gewesen und hättest in der Wuth Deinen besten Freund niedergeschlagen. Probir’s, tritt unter Deine Cameraden und sage ihnen: ‚Es ist ein bloßes Unglück gewesen!‘ – es glaubt Dir Keiner!“

„Keiner!“ wiederholte Ulrich dumpf. „Auch Du nicht, Vater?“

Der Schichtmeister richtete das trübe Auge fest auf seinen Sohn. „Kannst Du mir hier in’s Gesicht behaupten, daß Du keine Schuld an dem Unglück hast, gar keine? daß Du –“ er kam nicht zu Ende mit der Frage, denn Ulrich hielt den Blick nicht aus, seine eben noch flammenden Augen richteten sich scheu auf den Boden; mit einer zuckenden Bewegung wendete er sich ab und – schwieg.

Es war ein langes, banges Schweigen in dem Stübchen; man hörte nur das schwere Athmen des alten Mannes. Seine Hand zitterte, als er sich über die Stirn fuhr, und die Stimme zitterte noch mehr, als er endlich leise sagte:

„Deine Hand war nicht dabei? Ob es nun gerade die Hand war, und wie es überhaupt gekommen ist – sie meinen ja alle, da ließe sich nichts untersuchen und nichts beweisen, Gott sei Dank, wenigstens nichts für die Gerichte. Mach’s mit Dir allein aus, Ulrich, was da unten geschehen ist, aber poche nicht mehr auf Deine Cameraden! Du hast ganz recht gesehen, seitdem fürchten sie Dich bloß noch. Sieh zu, wie lange Du es noch mit der Furcht allein zwingst!“

Er ging. Der Sohn machte eine Bewegung, als wolle er ihm nachstürzen; dann auf einmal blieb er stehen und schlug die geballte Hand vor die Stirn. Der Laut, der sich dabei aus seiner Brust hervorarbeitete, klang fast wie ein unterdrücktes Stöhnen. –

Es mochten wohl zehn Minuten vergangen sein, da wurde die Thür von Neuem geöffnet, und Martha trat wieder ein. Der Oheim war fort, und Ulrich lag im Lehnstuhl, das Gesicht in den Händen vergraben. Das schien sie aber nicht weiter zu befremden; sie warf nur einen Blick auf ihn, trat dann an den Tisch und begann ihre Arbeit zusammenzulegen. Ulrich hatte sich bei dem Geräusch ihrer Schritte emporgerichtet. Er stand jetzt langsam auf und kam zu ihr hinüber; sonst pflegte er sich nie viel um das Thun und Lassen des Mädchens zu kümmern, am wenigsten mit ihr darüber zu sprechen. Heute that er beides. Vielleicht war auch für diese starre, verschlossene Natur der Moment gekommen, wo sie sich nach irgend einem Wort, irgend einem Zeichen der Theilnahme sehnte, gerade jetzt, wo alles sie floh, alles vor ihr zurückwich.

„Du und Lorenz, Ihr seid also einig?“ begann er. „Ich habe noch nicht einmal mit Dir darüber gesprochen, Martha. Mir gingen in der letzten Zeit so viel andere Dinge durch den Kopf. Ihr seid ein Brautpaar?“

„Ja!“ war die kurze, halb abweisende Antwort.

„Und wann wird die Hochzeit sein?“

„Damit hat’s noch Zeit.“

Ulrich blickte auf das Mädchen nieder, das mit fliegendem Athem und zuckenden Fingern sich mit der Arbeit beschäftigte, ohne ihn auch nur anzusehen, und ein geheimer Vorwurf schien doch in ihm aufzusteigen.

„Du hast recht gethan, Martha,“ sagte er leise, „ganz recht! Karl ist brav und hat Dich lieb, mehr vielleicht als Andere es hätten thun können. Und doch ließest Du ihn noch einmal fortgehen ohne Bescheid, nach unserer letzten Unterredung? Wann bekam er denn Dein Wort?“

„Heute vor drei Wochen.“

„Heute vor drei Wochen! So! Das war der Tag nach unserem – Schachtunglück. Da also hast Du es ihm gegeben?“

„Ja, da! Bis dahin habe ich’s nicht gekonnt! Erst an dem Tage wußte ich, daß ich seine Frau werden könnte.“

„Martha!“ In der Stimme des jungen Mannes wallte es auf, halb wie Zorn und halb wie Schmerz. Er wollte die Hand auf ihren Arm legen. Sie bebte zusammen und zuckte wie unwillkürlich seitwärts. Ulrich ließ die Hand sinken und trat einen Schritt zurück.

„Du auch?“ sagte er dumpf. „Nun freilich, ich hätte es mir denken können!“

„Ulrich!“ brach das Mädchen aus in wildem, verzweiflungsvollem Schmerze. „O mein Gott, was hast Du uns, was hast Du Dir gethan!“

Er stand ihr noch gegenüber. Die Hand, welche er auf den Tisch stützte, zitterte; aber seine Züge hatten einen Ausdruck furchtbarer Härte und Bitterkeit angenommen.

„Was ich mir gethan habe, damit werde ich wohl auch allein fertig werden. Euch –? Nun, es will mich ja Keiner auch nur anhören! Aber nun sage ich Euch auch,“ – hier schwoll seine Stimme wieder drohend an – „jetzt ist’s genug mit den ewigen Andeutungen und Quälereien; ich halte das nicht länger aus. Glaubt, was Ihr wollt und wem Ihr wollt! Mir soll’s künftig gleich sein. Was ich angefangen habe, werde ich durchführen, Euch Allen zum Trotz, und wenn es wirklich vorbei ist mit dem Vertrauen – Gehorsam werde ich mir wohl noch zu erzwingen wissen!“

Er ging. Martha machte keinen Versuch, ihn zurückzuhalten, und es wäre wohl auch umsonst gewesen. Er schmetterte wüthend die Thür hinter sich zu, so daß das ganze kleine Haus davon erbebte; in der nächsten Minute hatte er es bereits verlassen.




Drüben im Berkow’schen Landhause hatte die Ankunft der Gäste wohl einiges Leben, aber keine größere Zusammengehörigkeit in den so kalt getrennten Haushalt der beiden Gatten gebracht. Obgleich die Dauer dieses Besuches nur auf einige Tage festgesetzt war, fand Arthur doch Gelegenheit und Vorwände genug, sich dem öfteren Zusammensein möglichst zu entziehen, eine Aufmerksamkeit, für die ihm sein Schwiegervater sowohl als sein junger Schwager außerordentlich dankbar waren. Der Baron kehrte erst jetzt, nach einem mehrwöchentlichen Aufenthalte auf den Rabenau’schen Gütern, nunmehr den seinigen, nach der Residenz zurück. Er hatte damals bei dem ersten Besuche seine Tochter schon am folgenden Morgen wieder verlassen müssen, und zwar trotz der furchtbaren Katastrophe, die sich gerade während seiner Anwesenheit ereignete, denn eine nähere Verwandtenpflicht rief ihn an den Sarg seines Vetters; aber selbst nachdem dieser Pflicht Genüge geleistet worden war, gab es in dem Nachlasse und auf den Gütern noch so Vieles zu ordnen, was die Gegenwart des neuen Majoratsherrn forderte. Erst jetzt war dieser in Begleitung seines ältesten Sohnes, den er hatte nachkommen lassen, auf der Rückkehr begriffen; natürlich nahm man auch diesmal den kurzen Umweg über die Berkow’schen Besitzungen, und dies um so mehr, als der junge Baron Curt die Schwester noch nicht wiedergesehen hatte.

Es schien sich indessen um mehr als einen bloßen Besuch und ein bloßes Wiedersehen zu handeln bei der Unterredung, welche am Tage nach der Ankunft in dem Salon Eugeniens stattfand und bei der Arthur wie gewöhnlich fehlte. Die junge Frau saß auf dem Sopha und hörte ihrem Vater zu, der, vor ihr stehend, soeben eine längere Auseinandersetzung beendet hatte. Curt lehnte seitwärts an einem Sessel und blickte mit dem Ausdruck gespannter Erwartung zu seiner Schwester hinüber.

Eugenie hatte die Stirn in die Hand gestützt, so daß letztere ihr Gesicht beschattete; sie veränderte ihre Stellung nicht und sah auch nicht auf, als sie leise erwiderte:

„Ich bedarf dieser Winke und Hindeutungen nicht, Papa, um zu errathen, was Du meinst – Du sprichst von einer Trennung!“

„Ja, mein Kind,“ sagte der Baron ernst, „von einer Trennung, gleichviel unter welchem Vorwande und um welchen Preis. Erzwungenes pflegt nur der Zwang zu halten; das hätten die Berkows sich sagen müssen. Jetzt, wo ich wieder Herr meines Handelns bin, wo ich nicht länger ihr Schuldner zu sein brauche, jetzt werde ich Alles daran setzen, Dich den Fesseln wieder zu entreißen, die Du einzig um meinetwillen auf Dich nahmst und die Dich, magst Du es nun leugnen oder nicht, grenzenlos unglücklich machen.“

[206] Eugenie antwortete nicht; der Vater nahm ihre Hand und setzte sich an ihre Seite.

„Der Gedanke ist Dir neu und überraschend? Mir stieg er schon damals auf, als ich die inhaltschwere Nachricht empfing, die unsere Vermögensumstände so unerwartet änderte. Freilich damals war er kaum zu verwirklichen. Was hat dieser Berkow nicht Alles aufgewendet, um die Verbindung mit uns zu erreichen! Die Möglichkeit war gar nicht denkbar, daß er eine Aufhebung zulassen würde, die ihm vollends die Kreise verschließen mußte, in die er sich durch uns Eingang erzwingen wollte, und mit einem Manne, der in seiner Gewissenlosigkeit zu Allem fähig war, ließ sich der Kampf nicht aufnehmen. Sein Tod hat das Alles mit Einem Schlage geändert, und der Widerstand seines Sohnes wird zu brechen sein. Er hat ja von jeher bei der ganzen Angelegenheit nur eine passive Rolle gespielt, sich nur zum Werkzeuge seines Vaters hergegeben; ich hoffe, er weicht einem energischen Auftreten unsererseits.“

„Er wird weichen!“ bestätigte die junge Frau tonlos. „Sei ohne Sorge deshalb!“

„Desto besser!“ erklärte Windeg. „Um so schneller gelangen wir an’s Ziel!“

Er schien rasch genug auf dies Ziel losgehen zu wollen, und so war es auch in der That. Dem armen tiefverschuldeten Baron, der seinen Ruin vor sich sah, war keine andere Wahl geblieben, als das Opfer Eugeniens anzunehmen und damit sich und seinen Söhnen Namen und Stellung zu retten; wie schwer es ihm auch geworden war, er beugte sich der Nothwendigkeit, und die Nothwendigkeit lehrte es ihn ertragen. Der Majoratsherr von Rabenau, der seine volle Selbstständigkeit und sein volles Selbstbewußtsein wiedergewonnen hatte, der mit Leichtigkeit die empfangene Summe zurückerstatten konnte, empfand jenen Zwang als einen brennenden Schimpf und die Ehe seiner Tochter als ein schweres Unrecht, das er ihr angethan und das er wieder gut machen mußte um jeden Preis. Während des ganzen Aufenthaltes auf seinen neuen Gütern hatte er einzig diesem Gedanken nachgehangen, und der Plan lag jetzt fertig und zur Ausführung bereit.

„Es muß in Deinen wie in unseren Wünschen liegen,“ fuhr er fort, „daß diese peinliche Angelegenheit möglichst schnell eingeleitet und beendigt wird. Ich wollte Dir vorschlagen, uns für jetzt unter irgend einem Vorwande nach der Residenz zu begleiten und von dort aus die nöthigen Schritte zu thun. Du weigerst Dich dann einfach, zu Deinem Gatten zurückzukehren, und bestehst auf der Trennung. Wir werden dafür sorgen, daß er seine Ansprüche nicht gewaltsam geltend macht.“

„Ja, bei Gott, das werden wir, Eugenie!“ fiel Curt leidenschaftlich ein. „Wenn er sich jetzt noch weigern sollte, den schmachvollen Handel rückgängig zu machen, so werden ihn die Degen Deiner Brüder dazu zwingen. Jetzt kann er uns ja nicht mehr mit der Schande, mit der öffentlichen Herabsetzung drohen, wie sein Vater es that. Es war das Einzige, wovor die Windegs je gebebt haben, das Einzige, womit man ihnen eine Tochter ihres Hauses abzwingen konnte!“

Die junge Frau machte eine abwehrende Bewegung gegen den Bruder hin. „Laß Deine Drohungen, Curt, und Du, Papa, laß Deine Sorgen fahren! Beides ist hier unnöthig. Das, was Ihr erst erkämpfen und erzwingen zu müssen glaubt, ist zwischen Arthur und mir längst beschlossene Sache.“

Windeg fuhr auf, und Curt trat in stürmischer Ueberraschung einen Schritt näher. Eugenie rang sichtbar danach, ihrer Stimme Festigkeit zu geben, aber es wollte ihr nicht gelingen, die Stimme bebte hörbar, als sie fortfuhr:

„Schon vor dem Tode Berkow’s waren wir einig darin, aber wir wollten das Aufsehen eines zu frühen und zu plötzlichen Bruches vermeiden und legten uns deshalb noch den äußeren Zwang des Zusammenlebens auf –“

„Schon vor dem Tode Berkow’s?“ unterbrach sie der Bruder; „das war ja kurz nach Deiner Vermählung!“

„Also Du selber hast die Sache zur Sprache gebracht?“ fragte der Baron mit gleicher Lebhaftigkeit. „Du bestandest darauf?“

Keiner von Beiden schien die Pein zu verstehen, die sich doch so deutlich auf dem Gesichte der jungen Frau malte; sie raffte augenscheinlich ihre ganze Selbstbeherrschung zusammen bei der Antwort, aber aus dieser klang auch volle Festigkeit.

„Ich habe diesen Punkt nie berührt! Arthur war es, der mir freiwillig die Trennung anbot.“

Der Baron und sein Sohn sahen einander an, als ginge diese Erklärung über ihre Fassungskraft.


(Fortsetzung folgt.)




Das Königshaus auf dem Schachen.


Allgemein ist es bekannt, daß der verstorbene König von Baiern, Maximilian der Zweite, ein großer Freund des Jagdvergnügens war. Zahlreiche Jagdhäuser, in den schönsten Gegenden des bairischen Gebirges verstreut, geben hievon Kenntniß. Baierns regierender König sucht dieselben oft und für längeren Aufenthalt auf, nur daß er im Gegentheile den Jagdfreuden vollkommen abgeneigt ist und lediglich die hochinteressanten Naturscenerien dort genießt, von welchen sie umgeben sind. Die Anzahl solcher einsam gelegenen Wohnorte wurde sogar noch vermehrt, und erst vor wenigen Jahren gab König Ludwig der Zweite Auftrag, ein weiteres, irren wir nicht, zwölftes Jagdhaus, das Königshaus auf dem Schachen, zu bauen.

Künstler und Architekten legten ihre Pläne vor und die Wahl traf dieses Mal auf den eben genannten „Schachen“, der hoch über allen menschlichen Ansiedelungen sich an das Wettersteingebirge lehnt. Der Wetterstein, jener wildzerrissene, felsige Bergrücken, auf welchem nur tollkühne Gemsenjäger der Jagd obliegen, und der höher und höher steigend sich bis zur Zugspitze fortsetzt – der höchsten Erhebung der bairischen Alpen –, setzt schon bei Mittenwald an der Grenze zwischen Tirol und Baiern mit einem imposanten Bergkegel an, hinter dem sich der Zugspitze zu die weiteren Felsenkolosse in gleicher Unzugänglichkeit und Zerrissenheit aufthürmen. Diesem Bergstock entlang läuft auf südlicher Seite das Leutaschthal, einsam, fast menschenleer, wie nicht leicht eines in den Alpen, aber reich an erhabenen landschaftlichen Schönheiten. Von Hunderten von Quellen und Bächen des Wettersteins gespeist, sammelt sich darin die Leutasch an, um zwischen der Scharnitz – einer ehemaligen österreichischen Grenzbefestigung – und Mittenwald in das Isarthal durchzubrechen. Hoch über der Felsenklamm, durch die sie in tausendjähriger Arbeit ihr Bett geschnitten, gelangen wir dort auf dem „gefährlichen Wege“ in dieses Thal. Kein anderer Zugang führt in dasselbe, es wären denn die nur verwegenen Bergsteigern zugänglichen Joche des Wettersteins. Auf nördlicher Seite dieses Gebirgsstockes dagegen lehnt sich ihm, bis zu seiner halben Höhe hinanreichend und den Uebergang zur Thalsohle vermittelnd, ein

[207]

König Ludwig’s Auffahrt nach dem „Schachen“.
Nach der Natur aufgenommen von G. Sundblad.

Bergzug an, dessen dunkle Nadelwälder nur stellenweise von freien Grasflächen unterbrochen werden, die dem Vieh der benachbarten Almen zur Weide dienen. Die letzte und höchste Erhebung dieses Bergzuges, ebenfalls ein freier grüner Platz, auf dem jedoch das Gestein des Hauptstockes stellenweise schon gewaltig durchbricht, heißt der Schachen, auf dem nun das sogenannte Königshaus steht.

Wir können zu diesen sehenswerthen Punkte auf zwei Wegen gelangen: von Partenkirchen aus, der Partnachklamm entlang aufwärts, oder von Mittenwald aus, durch ein reizend stilles Thal an zwei kleinen, aber ungemein malerischen Gebirgsseen vorüber, in deren ungetrübter Fläche sich die umliegende Bergwelt spiegelt.

Beide Wege vereinigen sich bei der Elmau. (Siehe die Initialabbildung.) So heißt eine keine Gruppe von Häusern, die sich in Abständen um ein Kirchlein herum auf grünendem Wiesenplane lagern. Dort, wo aus der Schlucht zur Rechten der geräuschvolle, hellgrüne, schäumende Gebirgsbach bricht, setzt der Weg an, der zum Königshaus auf den Schachen hinanführt. Seinem Laufe entgegen dringen wir vorerst in die Schlucht vor, aus der uns, wenn wir den Plan der Elmau verlassen, auf dem der warme Sonnenschein liegt, [208] eine kalte Gebirgsluft entgegenströmt. Nach Kurzem aber verlassen wir das steinige Bett des Gebirgsbaches, dessen Tosen sich mehr und mehr in der Ferne verliert, und nun nimmt uns der schweigsame Hochforst auf, in welchem der Nußhäher kreischt, die scheue Amsel aufgescheucht davonfliegt und nur manchmal hoch über uns der Geier sich vernehmen läßt, der, mit ausgebreiteten Flügeln langsam über den Wäldern kreisend, nach einem Opfer späht.

Unser Weg führt in zahlreichen Windungen durch den Wald. Breit genug für ein Gefährte, vermeidet er die Schwierigkeiten der Steigung. Da und dort ist ein Theil der Berglehne abgetragen, den nötigen Raum zu gewinnen; an anderen Stellen sind kleine Schluchten überbrückt oder mit Steinblöcken als festem Unterbau angefüllt. So steigen wir ohne alle Beschwerde auf breiter, fest mit Kies bedeckter Fahrstraße, wie wir sie nur in wohlgepflegten Parkanlagen zu sehen gewohnt sind, höher und höher, und die vielfachen Windungen, welchen wir folgen, gewähren uns den hohen Reiz, daß wir bald zur Rechten, bald zur Linken freie Umsicht erhalten. Dann ist es jedesmal ein hochinteressantes Bild, das wir vor Augen haben. Lichtet sich der Forst zur Linken, dann sind es die frischbeschneiten Wände des Wettersteins, die uns, vom Zuge der Wolken umspielt, entgegenglänzen, und die Sonne, schon im Begriffe, die leichte Schneedecke zu entfernen, läßt den ganzen, von Feuchtigkeit überrieselten Felsrücken erglitzern. Rechts dagegen blicken wir, wenn die Tannen auseinandertreten, über die Wipfel der hinabrollenden Waldgehänge hinweg, bis hinab in das Thal, wo Garmisch und Partenkirchen, nebeneinanderliegend, mit ihren freundlichen weißen Häusern heraufblinken.

An drei Stunden geht es in dieser Weise bergan, immer in der würzigen Harzluft des Forstes, zwischen dessen Bäumen die duftigen Alpenkräuter gedeihen, immer zwischen den charakteristischen Fernsichten unserer Hochalpennatur, wenn es stellenweise dem Blick gestattet ist, in die Ferne zu schweifen.

Noch eine Krümmung des Weges, und indem wir nun ganz aus dem Forste treten, erblicken wir vor uns in weiter Ferne, hochgetragen in luftiger Höhe, das Königshaus. Noch haben wir wohl eine halbe Stunde zu steigen; aber es geschieht innerhalb einer wunderbaren Scenerie. Das Gehänge am Wege erglüht von den aufgebrochenen Kelchen der Alpenrosen, die zwischen Wachholderbüschen in Menge hervorbrechen.

Die Wände des Wettersteins treten immer näher an uns heran, zu oberst noch in Kuppenform oder in schiefen Felsplatten abfallend, dann aber jäh absetzend und steilrecht zum Schachen abstürzend. Oberhalb dem Königshause führt der Gefährliche Pfad hinan zum sogenannten Teufelsgsaß und jenseits hinab zur Leutasch. Der wildzerrissene Felsengrat setzt sich gerade nach vorwärts fort, und indem wir nun am Königshause angelangt sind, können wir seine Linie verfolgen, bis wo sie, in der Ferne rechts abbiegend, amphitheatralisch den Zugspitzferner umschließt. Dort ruft die Nachmittagssonne auf der Schneefläche ein Meer von so intensivem, grellweißem Lichte hervor, daß sich das Auge geblendet abwendet.

Treten wir vor bis zu dem Gartenpavillon – die Gartenanlagen auf dem Schachen sind noch nicht zu Ende gediehen – der in einiger Entfernung vom Königshaus steht, so bietet sich uns eine überwältigende Aussicht. Der Schachenberg fällt von hier aus senkrecht in unendliche Tiefe ab, in das Rainthal, aus welchem das Getose der Partnach sich herauf verliert. Die weite Schlucht dieses Thales trennt uns von der Zugspitze und ihrem Ferner, welchem die Partnach entquillt. Hoch oben im oberen Rainthal erweitert sie sich zu zwei kleinen Seen, die „blauen Gumpen“ genannt, deren tiefblauer Spiegel herüberleuchtet, und fließt dann durch das untere Rainthal am Fuße des Schachenbergs vorüber, um rechts in verblauender Tiefe, wo die das Thal einschließenden Bergwände sich zusammenzuschließen scheinen, sich durch die Klamm zu zwängen, der sie ihren Namen giebt.

Darüber hinaus aber zieht am fernen Horizonte die Linie der Voralpen vorüber, inmitten unterbrochen und beiderseitig bis zur Thalsohle sich neigend. Dort dringt der Blick über sie hinaus bis weit hinein in die baierische Ebene, aus der uns fern die Fläche des Staffelsees entgegenblinkt.

Es mag in den an Naturschönheiten so reichen baierischen Bergen, ja vielleicht in der ganzen Alpenwelt, keinen Punkt geben, der sich an großartiger Aussicht mit diesem messen könnte.

Was nun das Königshaus selbst betrifft, so können wir darüber leider nur wenig berichten, da der Besuch desselben nicht gestattet wird. Es ist ein festgezimmertes Haus im anmuthigen Schweizerstile. Ueber dem Erdgeschosse erhebt sich nur ein Stockwerk, um das die Altane herumläuft und welches den Speisesaal enthalten soll. Die Ausschmückung des Saales, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätschert, soll vorwiegend in blauer Farbe und in maurischem Stile gehalten sein. Das Schlafgemach des Königs, sein Arbeitszimmer und das Wohnzimmer seines jeweiligen Begleiters liegen im Erdgeschosse. In einiger Entfernung vom Hauptgebäude stehen noch ein Wirthschaftsgebäude, zugleich Wohnhaus der Dienerschaft, und eine Stallung.

Wer sich dort oben auf dem Schachen einmal selbst umgesehen, den wird es nicht mehr befremden, zu vernehmen, daß König Ludwig fast in jedem Monate der besseren Jahreszeit hier Besuch abstattet und – meist nur in Gesellschaft eines seiner Bereiter – mehrere Tage verbringt. Wenn der Tag in Lectüre und Arbeit vorübergegangen und dann die Schatten der Nacht aus der Ebene mählich heraufsteigen, das Mondlicht silbern auf die Hochterrasse des Schachens fällt und die Gestirne am Himmel nächtlich ihre Kreise ziehen, – dann insbesondere liebt es der König, dort oben sich zu ergehen, und er dehnt diese Spaziergänge oft bis tief in die Nacht hinein aus. Es läßt sich aber auch vorstellen, daß der nächtliche Sternenhimmel in solcher Höhe sich in einer Pracht zeigen muß, wie sie der Bewohner der Ebene kaum ahnt.

Es war ein günstiger Zufall, der uns auf die Höhe des Schachens gerade an einem Tage hinaufführte, an welchem der König selbst ihn bezog. Die stämmigen Gestalten, die uns auf unserem Abstieg entgegenkommen, kündigen uns seine Ankunft an. In beträchtlicher Anzahl tragen sie mit Hülfe ihrer Traggestelle – „Kraxen“ – auf ihren starken Schultern unglaubliche Lasten von Koffern, Kisten und Rundkörben, den ganzen Apparat des königlichen Umzugs. Das Gepäck wird bis zur Elmau gefahren, und dort erst an die Träger vertheilt. Immer wieder begegnen wir Nachzüglern des Zuges, der, je höher er ansteigt, desto länger wird; denn die Schwächeren bleiben zurück oder ruhen an der Berglehne aus, neue Kräfte zu sammeln; die Rüstigeren streben vorwärts, um bald wieder zu den Ihrigen heimzukehren.

Längst ist der letzte der Träger an uns vorübergekommen; die Schatten der Nacht breiten sich bereits über die Wälder aus, und das Licht des Mondes beginnt schon, unsicher zwischen dem Gezweige der Tannen herumtastend, auf dem Moosboden weiterzugleiten und den Kiespfad zu erhellen, auf dem wir abwärts schreiten. Eine dunkle Masse steigt auf demselben herauf uns entgegen. Es ist das Gefährt des Königs. Wir treten zur Seite unter die Tannen, den schmalen Weg frei zu lassen. Von einem kräftigen Gebirgspferd gezogen, das ein Hoflakai, nebenhergehend, an der Hand leitet, wird langsam der niedrige, zweirädrige Wagen vorübergezogen, dessen sich der König für diese Fahrt bedient. Die kränklichen, aber edel geschnittenen Züge des jungen Monarchen, von dunklem Haare eingerahmt, erscheinen im Lichte des Mondes von geisterhafter Blässe. Der Begleiter des Königs folgt dem Wagen, in welchem dieser allein sitzt, zu Pferde. Es geht wie ein Zug aus phantastischer Märchenwelt an uns vorüber, still und schweigsam; wir hören nur das Knistern der Räder auf dem Kiesboden, die Tritte der Pferde, die auf dem steilen Wege kräftig ihre Hufe in den Boden schlagen. Einen Augenblick später ist der Zug an der nächsten Windung hinter den Bäumen verschwunden.

P. D.




[209]
Meine Schuljahre.
Von Gottfried Kinkel.
(Geschrieben Winter 1849–50 im Gefängniß zu Naugardt.)
IV.


Auch mit jungen Männern belebte sich etwa ein Jahr später unser Haus, freilich durch eine traurige Veranlassung. Mein Vater, bereits ein Siebenziger, verfiel in eine langwierige Krankheit, welche ihn einen ganzen Winter an’s Zimmer fesselte und dem Tode so nahe brachte, daß er schon sein Testament anfertigen ließ. Nun galt es, für seine Vertretung auf der Kanzel zu sorgen, und da kein Pfarrer in der Nähe wohnte, mußte die nahe Universitätsstadt mit Studenten und Candidaten der Theologie aushelfen. Regelmäßig am Nachmittag des Sonnabends fand sich also ein junger Mann im Pfarrhause ein, und zwar jedesmal ein Anderer. Mutter und Schwester sorgten für die Gastfreundschaft, denn es versteht sich in diesem Verhältnisse von selbst, daß der Stellvertreter auch Gast des Hauses ist.

Mancher Jüngling hielt so seine erste Predigt bei uns, und es war wirklich anziehend, jeden Sonntag einen neuen Redner zu hören, unter denen doch auch manche recht begabte Talente sich fanden. Aber auch die jungen Männer kamen gern zu uns; die Gemeinde war so klein, daß die Zuhörerzahl den Anfänger nicht schreckte, die Kirche so nett und sauber wie eine große Wohnstube. Die Bewirthung bei uns war reichlich genug, um sich im Hause behaglich zu fühlen, und doch auch wieder so einfach, daß der Gast sah, er beschwere uns nicht; brachte er selbst einen Freund mit, so fand auch dieser ohne Umstände eine herzliche Aufnahme. Die außerordentliche Belesenheit meiner Mutter in der Bibel und in anderen religiösen Schriften, namentlich aber ihre unerschütterliche Bestimmtheit im Glauben und in allen Grundsätzen, konnten auch einem wohlstudirten Theologen imponiren. Besonders heiter war die Mittagstafel am Sonntag, wenn die Predigtangst nun vorüber und der angehende Amtsbruder im Hause schon etwas heimisch war.

Mein Vater besserte sich im Frühling so sehr, daß er bei Tische wieder mit erschien. Er hatte an dem aufwachsenden Geschlechte Freude und holte aus den Schubfächern seiner Schulgelehrsamkeit manchen lateinischen Spruch und Witz heraus, mit denen er die jungen Leute neckte und erheiterte. Am Nachmittage machte man mit dem Gaste einen Spaziergang oder auch eine kleinere Partie an einen Vergnügungsort, und oft rüstete sich derselbe erst spät Abends zur Heimkehr nach Bonn, wohin ich ihm dann meistens Gesellschaft leistete. Auch nach des Vaters Wiedereintritt in’s Amt hörte diese Sitte der Candidatenpredigten bei uns nicht mehr völlig auf.

In diese ländliche Idylle, die wirklich Vossens „Louise“ wiederspiegelte, trat denn bald auch die Neigung hinein. An einem Sonntag-Morgen machte meine Schwester der Mutter die sonderbare Anzeige, der heutige Candidat müsse von feiner Erziehung sein, denn so oft er aus dem Hause auch nur in den Garten trete, ziehe er sofort Handschuhe an. Dieser junge Mann kam häufig wieder; er war ein getaufter Jude aus Westphalen, und da er auf den Wegen der Frommen wandelte, hielt auch meine Mutter ihn besonders hoch. Zwischen ihm und meiner Schwester entstand ein Herzensverhältniß, das mich bei der letzteren in die zweite Reihe stellte; übrigens mochte ich ihn recht wohl leiden, obwohl er oft anmaßend über unsere Dichter aburtheilte, wenn sie ihm nicht gottselig oder moralisch genug erschienen.

So hätte denn das Vaterhaus mir noch einmal ein reines Glück bieten können, wäre nicht unablässig der religiöse Zwang dazugetreten, der schon mein Kindesleben so oft verdüstert hatte. Die erweiterte Weltkenntniß, die mir aus dem Gymnasialunterricht und den großen Dichtern zuwuchs, vielleicht auch der Umgang mit einzelnen Studenten der Theologie und vor Allem mein eigenes Nachdenken machte mich zum Rationalisten. Der Knabenverstand will Alles recht faßlich haben, und so trat ich ungefähr auf den Standpunkt, auf welchem Muhamed seinen Islam aufbaute: Ein persönlicher Gott hatte die Welt geschaffen und bestimmte mit unabänderlichem Willen alle ihre und der Menschen Schicksale. Große Männer hatten ihn anerkannt und als seine Boten ihn verkündigt. Unter ihnen war Christus der bedeutendste, allein von Natur und Geburt ihm nicht näher als alle Uebrigen verwandt. Die Versöhnungs- und Begnadigungslehre widerstritt meinem herben Rechtsgefühl. Die evangelische Geschichte legte ich mir zurecht, wie die Rationalisten des vorigen Jahrhunderts es gethan haben: bald war etwas von den Schriftstellern verkehrt aufgefaßt, bald mußte man es anders als nach dem Wortsinne auslegen. Glücklicher Weise stand ich auf dieser Ansicht noch nicht, als ich durch meinen Vater zur Confirmation vorbereitet wurde, denn sonst hätte ich als vierzehnjähriger Junge auf die Frage „Glaubst Du das?“ in offener Kirche mit „Nein!“ geantwortet und weder vor dem Scandal noch der Strafe mich gefürchtet. Nur einen Glaubenssatz des Katechismus ertrug ich schon damals nicht; es war die furchtbare Lehre von der Vorherbestimmung, wonach einzelne Menschen von Ewigkeit her zur Seligkeit erwählt, die übrigen verworfen sind. Dieser Satz des finstern Calvin hat geschichtlich seine große Bedeutung gehabt; er gab den französischen Cevennenkämpfern, den holländischen Geusen und den englischen Independenten jenen unwiderstehlichen Schicksalsglauben, mit dem auch Muhamed’s Araber in den Schlachtentod stürzten. Ihre Feinde waren ja von ihrer Geburt an Kinder Belial’s, sie aber die Streiter Gottes, und das wetzte ihrem Republikanerschwerte die schärfste Schneide. Allein jene Zeiten des Kampfes waren vorüber, und ich wollte die menschliche Freiheit des Willens auch einem göttlichen Rathschlusse nicht mehr aufopfern. Demnach erklärte ich der Mutter, daß ich die Einsegnung nicht annehmen würde, wenn der Vater uns auf diesen Satz verpflichte. Sie hat denn, weil sie auch selbst hierin mehr lutherisch dachte, den Vater bewogen, das ganze Capitel bei der Confirmationsprüfung wegzulassen.

Tausend junge Leute verschwören sich in diesem Alter auf Lehrsätze, die sie entweder nie durchdacht haben oder im Herzen verwerfen; für diesen Zwang rächen sie sich nachher durch Frivolität. Mir lag Beides fern; es ist gute deutsche Art, im Religiösen unbiegsam zu sein. So kaufte ich mich mit dem Vater ab, denn er war blos orthodox; aber einem viel härteren Zusammenstoße mit der Mutter konnte ich später nicht entgehen denn sie war eine Pietistin.

Vielleicht wundert man sich, daß ich zwischen streng kirchlicher Gläubigkeit und Pietismus noch einen Unterschied mache, da Beides jetzt stets vereint vorkommt. In der That hat es aber eine Zeit gegeben, wo beide Richtungen sich todfeindlich gegenüberstanden. Als der Pietismus im Beginn des vorigen Jahrhunderts zuerst auftrat, fand er eine erstorbene Rechtgläubigkeit vor, die mit Gedächtnißwissen und Mundbekenntniß sich begnügte. Er dagegen forderte, daß der ganze innere Mensch von der Religion ergriffen werde, und legte daher auf die Erweckung des Gemüthslebens den stärksten Nachdruck. Ob Jemand in allen Artikeln das richtige System habe, das erklärte er für minder wichtig; aber ob man Christi Geist im Glauben sich aneigne und im praktischen Leben sein Gebot erfülle, das galt ihm als das Entscheidende. Aus seinem Schooße gingen Bücher hervor, die den Beweis aufzustellen suchten, daß die von der Kirche verworfenen Ketzer dem Herzen Jesu weit näher gestanden haben als die kirchlichen Lehrer selbst. Der Pietismus hatte folglich ein Aufklärungselement in sich, und wirklich kämpfte Hand in Hand mit ihm der große Thomasius in Halle gegen den Hexenaberglauben.

Nun waltet aber in aller geschichtlichen Entwickelung das Gesetz, daß gegen eine neu und siegreich auftretende Wahrheit alle die absterbenden älteren Richtungen sich verbünden und ihre alten Feindschaften vergessen, wie nach dem Evangelium durch Christi Verurtheilung Herodes und Pilatus Freunde geworden sind. Um den unwiderstehlich hereinbrechenden Pantheismus zu dämmen, haben in unseren Tagen die langjährigen Feinde Orthodoxie und Pietismus sich die Hand gereicht, so wie auch der lange Hader zwischen weltlicher Monarchie und Priestereinfluß im Kampfe gegen uns verschwunden ist. Mit der bloßen Orthodoxie kann, wer Lust hat, bequem sich abfinden; allein [210] der Pietismus geht tiefer ein. Meine Mutter hatte die Kraft, die Sicherheit und den ganzen Trost ihres Innenlebens in einem lebendigen Glauben an Christi Gottheit, an seine himmlische Sendung und persönlichste Theilnahme für jeden durch ihn Erlösten, und da sie zu mir eine ganz unbegrenzte Liebe hegte, vermochte sie den Gedanken nicht zu ertragen, daß ich des gleichen Heiles entbehren sollte. Nicht in ihrem Sinne Christ sein, das war für sie schon der Weg des Verderbens. Daß ich redlich und jedem Gebote gehorsam, ohne Lüge, Tücke und Eigennutz mich entwickelte, war ihr nicht genug; auch der Weg, auf dem man zur Tugend emporstrebt, mußte der ihrige sein, und sie war viel zu leidenschaftlich, um bei dem begonnenen religiösen Gährungsprocesse in mir das Ende in Ergebenheit abzuwarten. Mit ihren Gebeten bestürmte sie den Himmel, und mit ihren Ermahnungen und Wehklagen bestürmte sie leider mich. Nun kannte ich auf Erden kein Wesen, das ich auch nur annähernd meiner Mutter in Liebe und Verehrung gleichstellte; denn sie war überhaupt die Einzige, die zärtlich gegen mich war, und dadurch entfesselte sie mein liebeflammendes Herz zu gleicher Zärtlichkeit und Inbrunst. Hier entstand für mich die erste wahrhaft anspannende und folternde Prüfung. Was sind weltlicher Gewinn und Verlust einer männlichen Ueberzeugung gegenüber? Nur der Weichling wird von ihnen bestochen. Aber einem heißgeliebten Wesen wehe thun mit seinem Bekenntniß, das kann wohl ein junges Gemüth irre machen.

Die arme Mutter war kränklich; schon entwickelte sich in ihr die Schwindsucht mit der erhöhten Erregbarkeit, welche dieser unheimlichen Krankheit eigen ist, und sie wußte ihren frühen Tod voraus. Ihre Nerven waren von Jugend auf leicht gereizt, und starke Gemüthserschütterungen versetzten sie in einen furchtbar anzusehenden, schwer zu ertragenden Zustand. Die traurige Erleichterung der Nervenzuckungen im Augenblicke des ausbrechenden, lange verhaltenen Schmerzgefühls hatte sie auch auf mich vererbt; ich litt daran bis zur Mannesreife. Nun konnte es wohl geschehen, daß ich bei ihr im friedlichsten Gespräche saß. Unmerklich lenkten wir auf’s Religiöse ein; ich fühlte ihr an, wie ihr Inneres glühte und fieberte, allein vergebens suchte ich dann noch auszuweichen. Sie drängte mich auf einen Punkt, wo ich nicht mehr mich zurückziehen konnte; ich stritt liebevoll mit Gründen gegen ihre Bibelstellen und Betheuerungen, und der Forderung des Glaubens trat endlich das schmerzvolle Bekenntniß der Unmöglichkeit entgegen. Ich wußte, was kam, und nie habe ich solch ein Gespräch gewünscht oder gesucht; aber was mir Wahrheit war, das zu verleugnen haben auch Mutterthränen mich nicht bewegt, und mit fünfzehn Jahren bin ich für den Zweifel in schrecklicheren Qualen Märtyrer geworden, als der Scheiterhaufen sie den Bekennern des Glaubens anthat, denn nun brach das Uebel in dem heißgeliebten kranken Körper hervor; ich durfte sie nicht einmal pflegen, denn mein Anblick entzündete ihren Schmerz stets von Neuem, und mehrere Tage hindurch ging sie dann wie gebrochen umher. Dann schlich ich thränenlos, aber innerlich wie von Mühlsteinen zermahlen in den Baumgarten hinab, warf mich auf den Boden und drückte mein Angesicht gegen die Erde, bis die Ruhe und ewige Ordnung der Natur auch meinen Sturm wieder stillte; ja einmal war ich so rasend vor Schmerz und Seelenkrampf, daß ich in einem Haselbusche fingerdicke Aeste wie eine wilde Bestie entzweibiß. In diesen Stunden habe ich die Feuerprobe der Wahrheitstreue bestanden, und weder der Zorn einer Facultät noch der von ihm mir decretirte Hunger haben später mich dazu gebracht, auch nur einen Schritt weit vom Wege der wissenschaftlichen Ueberzeugung abzuweichen. An dieser Gesinnung wird wohl auch jeder Versuch scheitern, mir irgend einmal die Rolle eines Galilei aufzudrängen.

Welch ein schauderhafter Gehorsamszwang in unserem Hause über mich geübt worden ist, davon will ich noch ein Beispiel anführen. Mein älterer Halbbruder Karl hatte, wie ich oben erzählte, beim Kataster gestanden. Als diese Arbeit aufhörte, konnte er in den Staatsdienst als Postbeamter eintreten und so ein anständiges und lebenslängliches Unterkommen gewinnen. Allein dazu hatte er eine Caution von fünfhundert Thalern nöthig, und das meldete er brieflich den Eltern. Er bat nicht um Vorstreckung dieser Summe; er meldete blos, daß sie von ihm verlangt werde. Meine Mutter hatte fast nichts in die Ehe mitgebracht, sondern aus dem hinterbliebenen Vermögen von Karl’s Mutter uns größtentheils erzogen; aber wenn das auch nicht gewesen wäre, dem Stiefsohn war sie ja unbedingt schuldig, auch aus ihrem eigenen Vermögen mit dem mäßigen Opfer von ein paar hundert Thalern seine Existenz zu sichern. Allein so weit verpflichtete ihre Gottseligkeit sie nicht; sie beschloß die Caution zu verweigern. Als Stiefmutter mochte sie nun nicht gerne selbst dem Betheiligten dies erklären, und meinen Vater konnte sie wohl zu einer solchen Härte gegen sein erstgebornes Kind auch nicht bringen. Meine Schwester, die sonst stets die rechte Hand der Mutter war, schlängelte sich klüglich an diesem bittern Kraut vorüber, und so zwang die Mutter mich, das jüngste Kind, zu diesem unbrüderlichen Briefe. Vergebens meine Vorstellungen, daß jene Summe ja dem Bruder gebühre, vergebens mein Flehen, wenigstens mich von jener Maßregel unbefleckt zu lassen; man verlangte stummen Gehorsam, und so mußte ich mit blutendem Herzen an Karl die harten Worte schreiben: die Eltern erwarteten, daß er doch endlich sich selbst so viel werde erworben haben, um selber die Caution beibringen zu können! Mit welch verbittertem Gefühl muß der damals wohl schon dreißigjährige Mann diese Zeilen aus der Hand eines unreifen Knaben gelesen haben, der noch nie für sein eigen Brodverdienst eine Hand angelegt hatte! Wie altklug und widerwärtig mußte das Lieblingskind der Stiefmutter ihm erscheinen, wie haltlos jedes brüderliche Verhältniß für alle Zukunft zerstört werden! Wirklich betrat auch Karl seitdem lange Jahre unser Haus nicht mehr und begnügte sich, als officielle Respectserklärung regelmäßig einen kühlen Glückwunsch zum Neujahr an die Eltern abzusenden.

Mein letztes Schuljahr war da. Es herrschte damals an den Gymnasien noch der Gebrauch, vom Schlußexamen Nummern zu ertheilen. Man hat ihn später aufgegeben, weil man einsah, daß in dieser Uebergangszeit des Knaben zur Jünglingsreife es bedenklich sei, den Ehrgeiz zu allzu gespannten Arbeiten zu stacheln. In der That war das Streben nach Nummer Eins ein ganz unglaublicher Sporn, und da ich diese Nummer haben wollte, begann ich mit unerhörtem Fleiße zu studiren. Meine Sonntagsgänge nach Hause gab ich fast ganz auf. Außer den Schulstunden und der Vorbereitung auf sie wurde eifrigst die Privatlectüre betrieben. Regelmäßig eine Stunde nach Schluß der Schule fand ich mich im Hause meines Mitschülers Hermann Velten ein, um mit ihm und noch einem Schulgenossen Classiker zu studiren. Velten war ein lebhafter Mensch von vielem Talent, der besonders in lateinischer Prosa sich auszeichnete, wie denn sein Lieblingsschriftsteller immer Cicero blieb. Außerdem trieb er schon damals das Englische, dem er zum großen Theil seine geachtete Stellung als Arzt bei den Bädern von Aachen verdankt. Der ganze Homer und die Oden von Horaz, so wie mehrere Schriften von Cicero wurden in diesen Abendstunden durchgenommen, und dann begann man oft noch zu Hause bis in die späte Nacht geschichtliche Werke zu lesen.

Mit einem andern mir wegen seiner jovialen Laune sehr lieben Mitschüler, Hubert Eiler, hatte ich schon früher große Stücke aus Herodot durchgemacht; dieser Erzvater der vernünftigen Geschichtschreibung sagte meiner Geistesrichtung ungemein zu. Um aber auch in anderem Sinne gerüstet die Hallen der Akademie betreten zu können, nahmen die Oberprimaner im letzten Sommer bei dem Universitätsfechtmeister eine gemeinsame Lehrstunde im Rappier. Hierin kam ich anfangs schlecht vorwärts; ich war erst fünfzehn Jahr alt, und da ich sehr stark und schlank aufschoß, verbrauchte die Natur alle Kraft auf’s Wachsen. Meine Armmuskeln waren noch zu schwach und ermüdeten rasch; die regelrechte Tiefquart habe ich erst viel später losbekommen.

Die Examenzeit kam heran, und zuerst wurden unter Clausur die schriftlichen Arbeiten angefertigt. Bei diesen entsteht ein Kampf des Scharfsinns zwischen Lehrern und Schülern. Stets giebt es unter den letzteren Einige, die sich wenigstens in einzelnen Fächern schwach fühlen und folglich fremder Hülfe vertrauen. Die Lehrer suchen dies pflichtmäßig zu verhindern und bieten Alles auf, um jeden Unterschleif zu entdecken; die Schüler aber sinnen immer neue Wege aus, und diese Wege sind oft so unerhört, daß die List dennoch gelingt. Das Thema der Arbeit wird erst mitgetheilt, wenn die Arbeit selbst beginnen soll, und dann ist es mehrere Stunden lang verboten, den Schulsaal zu verlassen.

[211] So entsteht die Hauptschwierigkeit, eben das Thema den Freunden bekannt zu machen, die auf ihren Stuben bereit sitzen, um die Arbeiten anzufertigen; denn verspätet sich diese Mittheilung, so kommen die draußen gemachten Aufsätze nicht früh genug den verzweifelnden Examinanden zu. Hier gab es nun viele Auswege. Am frühen Tage mußte ein Unterprimaner, der zu diesem gefährlichen Gange förmlich gepreßt wurde, sich auf die Aula schleichen, die an die Prüfungsclasse stößt, um hier das Thema zu erlauschen, oder es flog auf einem zugewickelten Papier durchs Fenster, wanderte auch wohl durch die Ritze unter den Thürflügeln, und begann nun seinen Schnelllauf durch die Stadt. Die zweite Schwierigkeit bestand aber darin, die draußen gefertigten Arbeiten wieder hineinzuliefern. Die ältere Praxis war, dies in Weißbrödchen zu thun, welche die Hauswirthe mit einer Tasse Fleischbrühe oder Chocolade den armen Examinanden zur leiblichen Stärkung hereinsandten; allein dieser Schleichweg war zu unserer Zeit längst entdeckt, und solche Liebesgaben passirten die Vorposten nicht mehr. So mußte etwas Neues ausgefunden werden. Mitten in der für die Aufsätze abgemessenen Zeit treten alle Schüler ein einziges Mal aus, um unter Aufsicht von einem oder mehreren Lehrern frische Luft zu schöpfen. Alle Ecken des kleinen Hofes, wo dieses geschah, waren zuvor durchsucht worden, ob nicht eine Pfuscharbeit in sie sich verkrochen habe. Es schien unmöglich, noch einen Versteck aufzufinden, und doch gelang es den zaghaften unter uns ebenso wunderbarlich als glücklich. Bei einem verschwiegenen Tischler wurde eine kleine Schublade bestellt, die sich mit ein paar Schrauben leicht an jedes Holzwerk anheften ließ. Diese befestigte man unter das Sitzblatt des Abtrittes, so daß dieses gleichsam das Tischblatt der Lade bildete, die sich also gerade in die Oeffnung herausziehen ließ. In diese Lade legte ein gewandter Unterprimaner die sämmtlichen Pfuscharbeiten, und Jeder, der eine bestellt hatte, holte die seinige dort mit aller Gemüthlichkeit heraus. Auf die Möglichkeit dieses fabelhaften Einfalls ist der Scharfsinn des Lehrercollegiums allerdings nicht gerathen, und die Lade hat den Schwächeren unter uns ihre Dienste nicht versagt. Wer die Schulzeit hindurch redlich seine Schuldigkeit gethan hatte, brauchte natürlich diesen anrüchigen Unterschleif nicht.

Ich erfuhr bald, daß meine schriftlichen Arbeiten vollständig genügten. In der mündlichen Prüfung ging es mir, wie bei Allem, wo es auf’s Sprechen ankam, noch glücklicher, und ich errang das unbedingte Eins. Mit mir wurde diese Auszeichnung noch Hermann Velten und einem jungen Adligen, Maximilian Raitz von Frentz, zu Theil, der wirklich durch ganz tadellose Sitten und einen unwandelbar gleichen Fleiß uns Allen vorleuchtete. Drei andere Mitschüler erhielten das Nahe Eins, die drei übrigen Zwei. Eine niedrigere Nummer kam nicht vor, und so zeigte sich, daß wir doch eine sehr tüchtige Schülergeneration gewesen waren.

Das Lehrercollegium wählte mich aus, um die deutsche Abschiedsrede zu halten. Im mündlichen Vortrag hatte ich mich schon vielfach geschult. Schriften, die mir gefielen, namentlich begeisternde und klangvolle Gedichte, las ich von Jugend auf mir gerne laut vor, und dies ist die Grundlage jeder gesunden Schule im Vortrage. Auch hatte ich aus ganz freiem Antrieb mich im Declamiren aus dem Gedächtniß geübt und meine Eltern an Geburtstagen damit überrascht. Wollte Keiner mich hören, so declamirte ich einsam im Pfarrgarten. Aber so mächtig zog Öffentlichkeit mich an, daß ich auch schon als halber Knabe eine Rede gewagt habe. In Oberkassel baute man einen neuen Schulsaal. Mein Vater, im Fundamentgraben stehend, legte den Grundstein und hielt in seiner Weise eine biblische Ansprache vom Eckstein Christus. Dieser ließ ich eine von mir gearbeitete Rede freieren Inhaltes folgen, die ich ohne Zittern unter dem blauen Himmel vor einer Menge von Zuhörern mit meiner dünnen Knabenstimme vortrug.

Beim Uebergang aus Secunda in Prima hatte ich am Schulfeste Goethe’s „Zueignung“ zu declamiren gehabt; dies ging aber matt und schläfrig, weil das Gedicht für einen Knaben zu hoch ist, mich also nicht fortreißen konnte. Jetzt fiel mir eine Aufgabe zu, auf die ich stolz war, denn die Abgangsrede war von allen Schulauszeichnungen die höchste. Es war Sitte, daß der Stoff dieser Reden vom Lehrer gegeben wurde; den meinen bestimmte Domine. Diesen Mann habe ich schon oben als einen entschiedenen Ghibellinen und eifrigen Anhänger der Monarchie geschildert; als solchen bewährte er sich auch hier, denn er zeichnete mir eine Lobrede vor auf den regierenden König Friedrich Wilhelm den Dritten von Preußen. Im Munde eines Jünglings, dem man nie eine Ahnung von Politik beigebracht hatte, der also des Königs wirkliche Verdienste gar nicht scharf hervorzuheben wußte, war das jedenfalls eine höchst unpassende Aufgabe. Allein eben wegen meiner politischen Unerfahrenheit ergriff ich sie bereitwillig und arbeitete eine Rede aus, die auch zur Zufriedenheit Domine’s ausfiel.

Meinen Eltern wußte ich zu verbergen, daß mir die deutsche Rede zugetheilt sei; doch bewog ich sie, zum Schulfeste nach Bonn zu kommen. Ganz überraschend für sie trat ich auf und sprach mit einer mir selbst unerwarteten Leichtigkeit und vielem Feuer. Die große, festlich gekleidete Versammlung hob mich; denn jeder geborene Redner spricht am besten, wenn Viele ihn hören. Ueber den Stoff und die Ausarbeitung der Rede mag gar verschieden geurtheilt worden sein; über den Vortrag war Eine Stimme, und namentlich ein katholischer Geistlicher erkannte schon damals in mir den künftigen Herrscher des Wortes. Meine Eltern waren doppelt gerührt und erfreut; es war ja nun kein Zweifel mehr, daß ich die wünschenswertheste Gabe des geistlichen Standes besaß, für den sie mich bestimmten. Hierauf erhielt ich aus der Hand des Directors mein Abgangszeugniß; es war in Bezug auf Studium und auf sittliche Führung gleich ausgezeichnet.

Und so hatte ich, eben erst sechszehn Jahr alt, das erste Ziel mit Ehren erreicht, nach welchem mein jugendlicher Wille so lange sich streckte. Froh und stolz verließ ich mit den Eltern die lieben Räume des Gymnasiums und kehrte für die Zeit der Ferien nach Oberkassel zurück. Es war am 10. September 1831. Zufällig fiel auf den folgenden Tag die silberne Hochzeit meiner Eltern, und zur Feier des Doppelfestes schenke mir an demselben mein Vater einen goldenen Fingerring, welcher mir noch heute das Andenken an den ersten Kampfpreis rettet, den ich dem Leben abgewann.




Erinnerungen aus dem letzten Kriege.
Nr. 12. Das rothe Haus.


Wir hatten eine der blutigsten Schlachten vor Metz mitgemacht. Ziemlich spät Nachmittags zur Verwendung gekommen, waren wir ununterbrochen mit Hurrah vorgegangen und hatten durch das unglaublich weittragende Chassepot nicht unbedeutende Verluste erlitten, trotzdem aber keinen Franzosen zu sehen bekommen. Umsomehr erheiterte es uns, als wir bald darauf in einer Zeitung unter „Eingesandt“ einen Bericht über unsere Thätigkeit in der Schlacht lasen, in dem wir zu wahrhaften Helden gestempelt waren. Wir wußten zuerst nicht, wem wir diese Glorificirung zu danken hatten, bis wir den Dichter in einem einjährig Freiwilligen entdeckten, den ich Fritz nennen will.

Der Vicefeldwebel der Compagnie, welcher fand, daß er in diesem Phantasiegemälde zu kurz gekommen war, beehrte den armen Freiwilligen dafür mit seiner heimlichen Abneigung und brütete Rache. Nun hatte Fritz den Schlachttag zwar mit Unterdrückung des widerstrebenden Ichs männlich mitgemacht – und ich stelle den moralischen Muth über den angeborenen –, aber es war sicher, daß er es sich bedeutend süßer dachte, für das Vaterland zu leben, als pro patria mori (für’s Vaterland zu sterben). Es war ihm, als wir dann den Befehl erhielten, mit in die Cernirungslinie zu rücken, welche den eisernen Ring um das starke Metz bildete, höchst unbehaglich gewesen, sich dem verderbendrohenden Festungsgürtel Schritt für Schritt zu nähern, und wenn er auch eine sorglose, ja heitere Miene zeigte, so hatte er doch öfters mit dem Taschentuch flüchtig über die Stirn fahren müssen, um die unter der Mütze hervorperlenden Schweißtropfen abzuwischen. Er sagte dann jedes Mal zu seinem Nebenmann im Gliede: „furchtbar heiß heute“, was Jener dann mit stummem Kopfnicken [212] erwiderte. Dem Vicefeldwebel war das nicht entgangen und er benutzte jede Gelegenheit, um mit teuflischem Behagen den Einjährigen auf das Gefährliche der neuen Situation aufmerksam zu machen.

Die Compagnie wurde zunächst in zweiter Linie postirt und ihr ein reizendes Dörfchen als Aufenthalt angewiesen. An dem Eingang der Straße lag ein todtes Pferd.

„Sehen sie nur, Fritz,“ sagte der Feldwebel boshaft darauf hindeutend, „Granatverwundung!“

Fritz wandte sich mit Abscheu von dem widerlichen Anblick ab. „Daß sie aber bis hierher schießen können!“ sagte er.

„Wir können hier von drei Seiten Feuer bekommen,“ erwiderte der Feldwebel schmunzelnd. In der That hörte man in diesem Augenblick einen sehr fernen dumpfen Knall, und nach kurzer Zeit sauste eine Granate pfeifend und zischend über das Dorf hinweg, um gleich darauf mit heftiger Detonation zu platzen.

„Na,“ sagte der Vicefeldwebel, „da schreiben Sie nur morgen einen Bericht, daß wir mit unerschütterlicher Standhaftigkeit im heftigsten Granatfeuer unsere Ruhe und Kaltblütigkeit bewahrt hätten.“

Der Freiwillige warf ihm einen scheuen Blick zu. Die Compagnie wurde einquartiert. Bald darauf kam ein Marketender in das Dorf gefahren und hielt, unbekannt mit der Gefahr, mitten in der Hauptstraße. Mit zauberhafter Schnelligkeit verbreitete sich die Kunde: „Es giebt Bier vom Faß!“ Einer rief es dem Andern zu, und in kaum zehn Minuten war Alles, was Geld und Durst hatte – und an Beidem fehlte es selten – um das Faß versammelt, aus welchem der speculative Händler den schäumenden Trank in sehr kleine Gläser zapfte und ihn für sehr große Münze verkaufte.

Der Vicefeldwebel war im schnellsten Tempo durch die Straße geeilt, um auch noch seinen Theil zu erhalten, als wieder eine Granate durch die Straße fegte, in welcher die Ressource sich etablirt hatte. Er blieb stehen, schien sich einen Augenblick zu besinnen und lief dann rasch wieder zurück. Ich konnte mir sein Benehmen zuerst nicht erklären, bis ich ihn Arm in Arm mit dem Freiwilligen zurückkehren sah, der die Miene eines Märtyrers hatte. Er hatte ihn abgeholt.

„Göttlich,“ hörte ich ihn sagen, „ganz göttlich, hier das herrliche Bier vom Faß und drüben spielt Bazaine das große Solo auf der Zwanzig-Centimeter-Kanone, hören Sie nur diesen langgezogenen Ton – Dschingggnnnnnnnn – – – herrlich, göttlich, virtuos!“ Eine Granate fuhr während dessen mit nervenzerreißendem Getöse durch die Straße und bohrte sich an deren Ende tief in den Boden ein. Der Freiwillige sah aus, als wenn er sich für sein Leben gern auch in den Boden eingebohrt hätte.

Der Marketender wollte fort aus der Straße, aber davon war keine Rede; er könne weg, wurde ihm gesagt, aber das Faß müsse bleiben. Er war blaß, zitterte und bebte, aber – er blieb. Die Geldgier überwog bei ihm die Angst um das Leben. Mit wahrhaft satanischer Bosheit betrachtete der Vicefeldwebel den Freiwilligen, der den Marketender mit seinem Bier zu allen Teufeln wünschte. Zwei Tage hatte die Compagnie so in dem Dörfchen gelegen, als sie den Befehl erhielt, eine vorgeschobene Stellung zu besetzen.

„Wir müssen fast unmittelbar unter die Kanonen des St. Quentin,“ sagte der Vicefeldwebel zu Fritz, „es ist ein Skandal, daß wir immer nur als Kanonenfutter verwendet werden.“

„Ja,“ sagte Fritz entrüstet, dem das aus der Seele gesprochen war, „weiß Gott, es ist ein Skandal.“

Der Vicefeldwebel sah ihn an, lachte laut auf, drehte sich vergnügt auf dem Absatz herum und ging fort. Der Freiwillige sah ihm betroffen nach. Als die Compagnie früh antrat, um nach ihrem Bestimmungsort abzurücken, lag die Nacht noch auf der Erde. Die größte Stille wurde anbefohlen, und querfeldein durch tief aufgeweichten Acker zog die dunkle Linie in gerader Richtung auf die Festung zu. Als es anfing, etwas licht zu werden, stieg dunkel und drohend vorn ein mächtiger Fels auf. Es war das Fort St. Quentin, welches stolz und unnahbar auf dieser Seite auf jäh aufsteigendem Gestein erbaut ist. Es wurde leise „Halt“ commandirt und die Disposition zur Besetzung der neuen Stellung ausgegeben. Der Vicefeldwebel rückte mit seinem Zuge, bei welchem sich Fritz befand, durch ein kleines Wäldchen vor. Als er aus demselben heraustrat, erhoben sich, wie aus dem Boden gewachsen, dunkle Gestalten. Es war der Trupp, der abgelöst werden sollte. Stillschweigend traten die Leute aus dem Graben, in welchem sie gelegen hatten, in das Wäldchen, trotz aller Vorsicht aber schien man drüben doch den Wechsel zu bemerken. Zahlreiche Schüsse blitzten auf, und mit dem knatternden Knall von drüben vermischte sich das Pfeifen der Kugeln. Rasch warf der Zug sich in den Graben.

Du lieber Gott! tief genug war der Graben, um Deckung zu gewähren, aber einen Fuß Morast und einen halben Fuß Wasser mußte man mit in den Kauf nehmen. Schaudernd empfand man das Durchdringen des Wassers, und seufzend ergab sich ein Jeder in sein Schicksal, vierundzwanzig Stunden in dem unfreiwilligen Bade zu verbleiben. Deutlich hörte man die Uhr der Kathedrale von Metz die vierte Stunde schlagen. Deutlicher stiegen die Felsenmauern des St. Quentin vor uns auf; das Fort erschien uns so nah, als ob es uns erdrücken könne.

Schon stieg die Sonne blutroth über den Horizont und zertheilte den dichten, auf der Erde liegenden Nebel. Ueber dem Eisenbahndamm, der, kaum siebenhundert Schritt entfernt, parallel mit unserem Graben die feindliche Vorpostenlinie deckte, sah man in den ersten Strahlen der Morgensonne das Blitzen der französischen Bajonnete. Zwischen dem Damm und dem Graben stand ein zierlich aus rothen Backsteinen aufgeführtes Haus.

Auf den neben dem St. Quentin aufsteigenden Höhen wurde weithin tönend Reveille geblasen, und Bivouacfeuer flammten hier und da auf. Der Zug befand sich in sehr exponirter Position. Der Freiwillige hatte sich fröstelnd mit heroischer Verachtung alles zukünftigen Rheuma’s auf den Boden des Grabens gesetzt und lehnte müde und abgespannt gegen die Grabenwand. Selbst diese unbehagliche Situation konnte den Schlaf nicht verscheuchen. Der Einjährige schlief ein, und auf der ganzen Linie hörte man tiefe schnarchende Töne. Seit der Trupp Deckung in dem Graben gefunden hatte, fiel von drüben kein Schuß mehr. Die Sonne stieg höher am wolkenlosen Himmel; der Tag versprach heiß zu werden.

Es mochte wohl drei Uhr Nachmittags sein, als der Vicefeldwebel vorsichtig durch das Wäldchen glitt, um dem Freiwilligen ein Kochgeschirr mit Erbssuppe zu bringen. Er hielt öfters inne auf seinem gefährlichen Wege, um einen Blick auf die Gruppen der Schlafenden zu werfen. Alle lagen bis über das Knie in dem dicklehmigen Wasser, das Gewehr vorgeschoben über den äußeren Grabenrand, den Körper an die Wand des Grabens gelehnt, den Kopf schwer herniedergesunken auf den Kolben des Gewehrs, welchen selbst im Schlaf die Rechte pflichttreu umfaßte. Manche Mutter, manche Braut hätte sich vielleicht feuchten Auges von diesem Bilde der Ruhe abgewendet, und doch war diese Ruhe sanft, fest und unschätzbar für die Schläfer. Auch der Freiwillige schlummerte noch.

Der Vicefeldwebel, der trotz seiner boshaften Rachsucht für Fritz dessen großer Jugend wegen ein Gefühl empfand, welches den Namen Mitleid wohl eher, als den der Zuneigung verdiente, zögerte erst, ihn zu wecken. Dann stieß er ihn sanft an. Der Freiwillige wendete sich seufzend auf die andere Seite. Der Vicefeldwebel, welcher auf den Knieen herangekrochen war, streckte sich platt auf den Boden aus, legte seinen Mund dicht an das Ohr des Einjährigen und sagte im tiefsten Grundton des Basses: „Granate!“

Fritz fuhr wild auf, knack – knack – knack, ging es drüben los und mehrere Kugeln schlugen prasselnd in das junge Holz. Fritz tauchte wieder unter und sah sehr verstimmt aus. Sein Gesicht klärte sich aber wieder auf, als ihm der Feldwebel den dampfenden Kessel Suppe in den Graben reichte, und er machte sich mit dem glänzenden Appetit der Jugend an die Vertilgung des labenden Gerichtes. Die Sonne sandte ihre senkrechten Strahlen glühend heiß vom Himmel, so daß es jetzt fast eine Erquickung war, in dem Wasser des Grabens zu sitzen.

„Jetzt ein Glas Bier vom Eise,“ seufzte Fritz, indem er den leeren Kessel dankend zurückschob. Auch der Vicefeldwebel konnte sich nicht enthalten zu seufzen. Er rutschte näher: „Für heute Abend habe ich einen Plan,“ flüsterte er.

Der Freiwillige sah ihn mit lebhafter Spannung an; denn nach seinen bisherigen Erfahrungen hatte er gegründete Ursache, die Pläne des Vicefeldwebels mit Mißtrauen entgegenzunehmen.

[213] „Sie sehen doch drüben das rothe Haus?“ fragte der Letztere leise. Fritz nickte, obgleich er aus seiner tiefen Stellung absolut nichts sah, als Himmel und Graben. „Der Lieutenant, den wir ablösten,“ fuhr der Vicefeldwebel fort, „hat mir bestimmt versichert, daß er gestern Nacht in dem Hause gewesen sei und sich in dem Keller ausgezeichneter Rothwein befunden habe. Das Haus liegt in beiderseitigem Schußbereich, und es hat sich wohl Niemand so recht hineingewagt. Wir wollen heute Nacht eine Patrouille dorthin machen und uns ordentlich verproviantiren.“

Der Freiwillige streckte vorsichtig den Kopf aus und warf einen Blick nach dem rothen Hause hinüber. „Herr Vicefeldwebel,“ sagte er schüchtern, „das lohnt ja nicht.“

„Es wird schon lohnen,“ erwiderte derselbe, „halten Sie nur reinen Mund, damit Niemand etwas merkt! Ich werde Sie abholen, sobald ich die Zeit für günstig halte.“ Hiermit glitt er vorsichtig in das Wäldchen zurück und kroch wieder an seinen Platz.

„Was das wieder für Blödsinn ist!“ murmelte der Einjährige verstimmt, als sein schrecklicher Freund sich entfernt hatte. „Gott beschütze einen nur vor seinen Freunden! Vor meinen Feinden will ich mich schon selbst schützen.“ Damit lehnte er sich wieder tief in den Graben zurück, zog aus der hinteren Rocktasche eine total durchnäßte windelweiche Cigarre und versuchte sie anzuzünden.

Sein Nebenmann, ein Unterofficier Lange, sah den vergeblichen Anstrengungen, den Tabak in Brand zu setzen, mit Interesse zu. „Die wehrt sich,“ sagte er gutmüthig nickend, „legen Sie das Ding erst etwas in die Sonne, Herr Freiwilliger!“

Der Einjährige legte seufzend das schwärzliche Kraut auf den trocknen Grabenrand. Lange stopfte eine Pfeife, setzte sie ohne Hinderniß in Brand und reichte sie freundlich dem Freiwilligen, welcher sie, freudig überrascht, dankend annahm und begierig den Dampf einsog. Der Unterofficier rückte ihm näher. „Was sagte der Feldwebel vorhin von Wein?“ fragte er vertraulich.

„Na,“ sagte Fritz, durch die Pfeife verpflichtet, „da Sie es doch ’mal gehört haben, will ich es Ihnen sagen, aber lassen Sie sich um des Himmels willen nichts merken!“

„I Gott bewahre!“

„Der Herr Vicefeldwebel behauptet, in dem rothen Hause da drüben – er zeigte mit der Pfeifenspitze über die Schulter – „liege guter Rothwein, und hat die tolle Idee, heute Abend mit mir da hinüber zu gehen und den Wein herauszuholen.“

Der Unterofficier hatte aufmerksam gehorcht. „Na, ich will nichts gesagt haben,“ sagte er sehr ernst, „aber ich würde mich nicht darauf einlassen. Ich habe gehört, Nachts solle das Haus voller Franzosen stecken.“

„Na, das fehlte noch,“ sagte Fritz, „aber was soll ich machen? Wenn der Feldwebel sich solche Idee in den Kopf gesetzt hat, ist er eigensinniger als ein Maulesel.“

Lange schüttelte den Kopf. „Sehen Sie zu, daß Sie ihn davon abbringen. Das ist nichts anderes als Selbstmord.“

Der Freiwillige beschloß bei sich mit einem heiligen Schwur, sich nicht auf die Expedition einzulassen. Die Sonne sank langsam nach Westen. Nach einer Stunde gelang es Fritz, die Cigarre anzubrennen. Er sah träumerisch den blauen Wölkchen nach, welche auch dieses Kraut erzielte. Dann machte er nochmals mit Erfolg einen Schlafversuch und erwachte erst, als die letzten Strahlen der Sonne roth und goldig auf das Wäldchen fielen. Auf der Höhe flammten die Bivouacfeuer wieder auf; aus dem französischen Lager trug der Wind Gesang und Gelächter herüber. Dann schlug die Uhr der Kathedrale die zehnte Stunde. Einer nach dem Andern erhob sich in dem Schutz der Dunkelheit aus dem Graben, die steifen Glieder zu dehnen. Als der Freiwillige sich erhob, fühlte er sich an der Schulter berührt. Der Vicefeldwebel stand neben ihm. „Es ist Zeit,“ flüsterte er. Wie Posaunen hallten die Worte in das Ohr des Einjährigen.

„Auf ein Wort, Herr Vicefeldwebel,“ sagte er und trat mit ihm einige Schritte in das Wäldchen. „Sie wissen, Herr Vicefeldwebel, wie gern ich mich an der vorgeschlagenen Expedition betheilige;“ – –

Die Dunkelheit verbarg das ironische Lächeln, welches die Züge des Angeredeten überflog.

„– – nach reiflicher Ueberlegung fühle ich mich aber verpflichtet, Ihnen davon abzurathen; das Haus soll bei Nacht von den Franzosen besetzt sein, und wir dürfen uns wegen einer Flasche Wein nicht der Gefahr aussetzen, gefangen zu werden.“

„Unsinn!“ erwiderte der Feldwebel, „der Lieutenant ist ja vorige Nacht im Hause gewesen; außerdem sind wir nun doppelt verpflichtet, vorzugehen. Wir gehen nicht hin, um eine Flasche Wein zu holen, sondern wir machen eine Patrouille zur Aufklärung des Vorterrains und nehmen noch beiläufig Wein mit, wenn wir welchen finden. Sie haben doch zu Niemandem darüber gesprochen?“ fügte er mißtrauisch hinzu.

„Nein, bewahre!“ erwiderte der Freiwillige in möglichst aufrichtigem Tone.

„Geben Sie Ihr Gewehr ab! Es könnte hinderlich sein,“ fuhr der Feldwebel fort, „und nehmen Sie diesen Revolver! Ich habe noch einen; er ist geladen. Sehen Sie sich vor!“

Fritz nahm den Revolver widerwillig an und ergab sich in das Unvermeidliche. „Vorwärts denn, Herr Vicefeldwebel!“ sagte er mit verzweifelter Entschlossenheit. „Ich wasche meine Hände in Unschuld.“

„Waschen Sie nur zu!“ sagte der Feldwebel trocken und schritt voraus. Die Dunkelheit war vollkommen. Der Himmel hatte sich bewölkt. Als sie die Doppelposten vor der Linie erreichten, wurden sie angerufen. Sie gaben Losung und Feldgeschrei, passirten und schritten nun, ohne zu sprechen, auf die feindliche Stellung zu. Plötzlich blieb der Feldwebel stehen. „Hören Sie nichts?“ fragte er flüsternd.

„Nein,“ hauchte Fritz und fuhr mit der Hand über die feuchte Stirn.

„Auf den Boden!“ rief der Feldwebel leise, aber energisch; sein scharfes Ohr hatte deutlich Schritte vernommen.

Beide lagen regungslos. Eine feindliche Patrouille zog schwatzend kaum fünfundzwanzig Schritt an ihnen vorüber.

„Wollen wir noch weitergehen?“ fragte Fritz schüchtern.

Der Vicefeldwebel lachte kurz und ärgerlich. „Wollen wir jetzt vielleicht umkehren, wo wir ganz sicher sind, für’s Erste keiner feindlichen Patrouille wieder zu begegnen?“

Der Freiwillige unterdrückte mit Mühe einen Fluch und wünschte den Feldwebel in das Land, wo der Pfeffer wächst. Immer weiter schritten sie in die finstere Nacht hinein; endlich hob sich vor ihnen die dunkle Masse des Hauses in unbestimmten Umrissen. Vorsichtig schlichen sie heran und horchten. Kein Laut war zu hören. Sie tasteten an der Wand entlang bis zur Thür.

„Wollen Sie draußen Wache halten oder mit hineinkommen?“ fragte der Vicefeldwebel.

„Ich komm’ mit,“ flüsterte Fritz; er wäre nicht allein geblieben, nicht um beide Indien. Die Thür gab knarrend nach; noch tiefere Dunkelheit als draußen gähnte ihnen in dem verhängnißvollen Hause entgegen.

„Warten Sie!“ sagte der Vicefeldwebel leise, „ich werde leuchten.“ Er lehnte die Thür zu und rieb ein Streichhölzchen an. Das Licht fiel auf ein geräumiges Zimmer, angefüllt mit den Rudera von einigen Möbeln; Dachziegel lagen auf der Erde; ein Granatsplitter steckte in einer Wand. Links war eine offene Thür.

„Hier in dem zweiten Zimmer muß nach der Beschreibung der Eingang zum Keller sein,“ sagte der Vicefeldwebel und schritt rasch durch die offene Thür. Er rieb ein zweites Hölzchen an; auch hier waren nur Trümmer. An der hintern Wand gähnte ihnen der dunkle Eingang zum Keller entgegen. Der Vicefeldwebel blieb noch einmal, aufmerksam horchend, stehen; dann ging er schnell auf die Fallthür zu und stieg, gefolgt von dem Freiwilligen, vorsichtig die Stufen hinab. Noch einmal machte der Vicefeldwebel Licht: Flaschenscherben bedeckten den Boden; drei Wände waren kahl, aber dort! – sein Herz klopfte hoch auf vor Entzücken – dort an der Wand entdeckte er Regale, bis obenhinan angefüllt mit roth gesiegelten Flaschen. „Hurrah! was sagen Sie jetzt, Fritz?“

„Famos!“ sagte Fritz mit eigenthümlich bebender Stimme.

Im Nu war der Vicefeldwebel an dem Regal, orientirte sich schnell und warf das niedergebrannte Hölzchen fort. Er legte den Revolver auf die Erde und zog zwei Flaschen von ihrem Lager. „Kommen Sie her, Fritz!“

Er schob dem Freiwilligen die beiden Flaschen unter den linken, weitere zwei unter den rechten Arm. Wieder wollte er in das Regal greifen – da hielt er erschreckt inne. Das Knarren der Hausthür war an sein scharfes Ohr gedrungen. „Pst!“ [214] warnte er. Fritz fuhr zusammen und preßte krampfhaft die Flaschen an sich, um sie nicht fallen zu lassen. Schwere Schritte dröhnten in dem oberen Raum; mehrere Menschen traten geräuschvoll jetzt schon in das zweite Zimmer; Waffen klirrten. Der Vicefeldwebel beugte sich nieder, seinen Revolver aufzuheben; er fuhr hin und her mit der Hand; er konnte ihn nicht finden; er hatte vergessen, daß er sich umgewendet hatte. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. „Machen Sie sich schußfertig,“ flüsterte er mit gepreßter Stimme dem Freiwilligen zu.

„Ich habe ja die Flaschen unter dem Arm,“ erwiderte Fritz verzweifelt.

Oben wurde ein leises Gespräch geführt; dann wurde Licht angezündet. Ein heller Schein fiel durch die Kelleröffnung auf die feuchte, glitzernde Kellerwand. Dann wurde es wieder dunkel; die Schritte näherten sich der Fallthür. Sie schienen von drei bis vier Mann herzurühren.

Der Vicefeldwebel tastete nochmals vergeblich nach der Schußwaffe, dann bog er sich hinüber zu dem Freiwilligen und rang dem Widerstrebenden den Revolver aus der Hand.

„Lieber todt als gefangen!“ zischte er ihm durch die festgeschlossenen Zähne zu.

Fritz bebte, daß die Flaschen unter seinem Arme leise zusammenklirrten. Jetzt traten wuchtige Schritte auf die Kellertreppe. Der Vicefeldwebel trat energisch einen Schritt vor. „Halt!“ donnerte er mit Löwenstimme. Gleichzeitig flammte von der Treppe her ein Streichhölzchen auf und wurde auch sofort wieder wie im Schreck fortgeschleudert. Ein Gewehr wurde knackend gespannt. Das blaue Schwefellicht brannte auf der Erde weiter und warf seinen geisterhaften Schein auf die blitzenden Helme und rothen Kragen – preußischer Uniformen.

„Halt, halt,“ rief der Vicefeldwebel, „gut Freund!“

„Der Herr Vicefeldwebel!“ hörte man eine Stimme von der Treppe her rufen, aus deren Ton die Ueberraschung deutlich hervorklang.

„Gott sei Dank!“ hauchte der Freiwillige.

„Na, da soll doch gleich – ist das nicht Unterofficier Lange?“ rief der Vicefeldwebel erstaunt, aber doch sehr erleichtert.

„Zu Befehl, Herr Vicefeldwebel!“

„So ein hinterlistiger Kerl!“ murmelte der Einjährige.

Der Vicefeldwebel war zu vergnügt über diesen Ausgang des Abenteuers, um über die Angabe des Unterofficiers, er hätte eine Schleichpatrouille gemacht und sei dabei zufällig hierhergekommen, ein Wort zu verlieren.

Reich mit Flaschen beladen, trat man den Rückweg an und erreichte ohne Hinderniß die Vorposten. Als schon verschiedene Flaschen geleert waren, sagte der Vicefeldwebel versöhnt: „Na, Fritz, der Wein ist gut, aber das machen wir doch nicht wieder.“

Der Freiwillige sagte nur: „Nein!“ aber dieses Nein war der Ausdruck seiner aufrichtigsten, innigsten Ueberzeugung.
Alexander Weimann.




Wie eine große Zeitung hergestellt wird.


Es gab eine Zeit, da die Leute, welche täglich gewissenhaft ihr Journal lasen, zu den Ausnahmen gehörten – heute ist die Sache umgekehrt und ein Mann, welcher auf Bildung Anspruch macht und sich nicht durch die Lectüre eines oder des anderen Blattes über die Tagesgeschichte zu unterrichten strebt, ist eine solche Seltenheit, daß er eigentlich verdienen würde, unter den Curiositäten der Wiener Weltausstellung zu glänzen.

Obwohl dieser erfreuliche Zustand eine nicht wegzuleugnende Thatsache ist, haben aber die Leser in der Regel entweder gar keinen oder nur einen sehr mangelhaften Begriff von der Erzeugung einer großen täglich erscheinenden Zeitung. Es ist dies auch gar nicht anders möglich. Eine Zeitung ist das Product der angestrengtesten Thätigkeit so mannigfaltiger und so fieberhaft schnell in einander greifender geistiger und materieller Kräfte, daß sie Jedermann, der nicht einen intimen Einblick in das innere Getriebe derselben genommen, als ein Wunder erscheinen muß, verblüffend und beängstigend wie etwa die Erscheinungen der Optik und des Magnetismus einer minder aufgeklärten Epoche.

Nur wer vollständig begreift, würdigt auch vollständig, und es ist einer der bezeichnendsten und wohl auch am meisten zu preisenden Züge der Gegenwart, daß sie den Dingen auf den Grund zu kommen sucht. Wir wissen, daß es keine Wunder giebt, aber indem wir den auffallenden und durch ihre Wirkungen überwältigend auftretenden Erscheinungen bis zu ihren letzten Ursachen nachgehen, lernen wir die Thätigkeit, welche so Unglaubliches zu Stande gebracht, um so höher schätzen und fühlen uns gleichfalls angeregt, unsere Kräfte zu messen; indem wir Andere ganz nach Gebühr achten lernen, wächst unser eigener Muth, unser Selbstvertrauen.

Es war nur logisch, daß eine Unternehmung, wie die „Neue Freie Presse“, welche stets eine besondere Feinfühligkeit für Tagesfragen bewiesen, den Beschluß faßte, dem aus aller Herren Ländern auf der Wiener Weltausstellung zusammenströmenden Publicum in übersichtlicher und deutlicher Weise augenfällig zu zeigen, wie heutzutage eine große Zeitung hergestellt wird. Zu diesem Zwecke wurde auf dem Ausstellungsplatz, dicht am Industrie-Palaste, ein eigener Pavillon erbaut, in welchem während der sechsmonatlichen Dauer der Exposition eine im Doppelbogen erscheinende Ausstellungszeitung redigirt, gesetzt, stereotypirt, gedruckt und gefalzt werden soll, um dann frisch von der Maschine weg in die Hände des Publicums zu gelangen.

Der Pavillon ist zweckmäßig gebaut, namentlich aber mit Rücksicht auf seinen Zweck, zu belehren und zu veranschaulichen; im gefälligen Renaissancestyl gehalten, besteht er aus einem stark vorspringenden, zwei Geschosse umfassenden Mittelraum, an den sich die Seitenflügel schließen, deren gewaltige Rundbogenfenster so hoch und so breit sind wie die Thüren des Mittelbaues und das Gebälke berühren. Da es der Natur der Sache nach geboten war, den Pavillon in seiner Architektur eben so an der dem Prater zugewendeten Seite als an jener zu betonen, welche gegen die Rotunde sieht, so ist der Gedanke des Baukünstlers Hasenauer glücklich zu nennen, die entsprechenden Façaden gleichmäßig reich zu schmücken, so daß man eigentlich von einer Hauptfaçade nicht reden kann, da die eine nur die Wiederholung der andern ist. Die beiden Geschosse des Mittelbaues sind durch die vom Fuße bis zum Friese reichenden scharf ausladenden Pilaster in Eines zusammengefaßt; der ganze Bau ist von einer mit hübschem Geländer versehenen Galerie umgeben, von wo aus es jedem Wißbegierigen möglich ist, die kleinsten Einzelheiten der journalistischen Production zu belauschen und klar darüber zu werden, wie ein Vorkommniß, das etwa um zwölf Uhr Mittags geschehen, bereits um vier Uhr Nachmittags mit allen Details in der Zeitung zu lesen sein kann.

Das Erdgeschoß zerfällt in drei durch Galerien geschiedene große Säle, in deren mittlerem die nach amerikanischen Mustern construirte, in den Ateliers des Herrn G. Sigl gebaute Druckmaschine arbeiten wird. Sie bedeutet in Wahrheit eine verbesserte Auflage der bisher in Gebrauch gewesenen ähnlichen Druckmaschinen, welche stündlich zehntausend Bogen auf beiden Seiten bedruckten und der Bedienung von sechs Personen bedurften. Einzelne kleine Unzukömmlichkeiten des Mechanismus und einschlägige Verbesserungen, welche man an den englischen Druckmaschinen angebracht hatte, lenkten den technischen Director des Blattes, Christoph Reißer, auf eine Reihe von Veränderungen, welche nach seinen Angaben von dem Ingenieur Becker in der Sigl’schen Fabrik ausgeführt wurden und sich seit Kurzem bereits praktisch bewähren. Durch diese Verbesserungen wurde der ungemeine Vortheil erzielt, daß nun die Maschine ohne alle Beihülfe von Menschenhänden, selbstständig die ganze vielgegliederte Arbeit verrichtet. Diese Maschine, die erste, welche in Oesterreich mit dem sogenannten endlosen Papier im großartigen Maßstab hantiert, wird dasselbe, wie es in sechs Centner schweren Walzen von der Pittener Fabrik anlangt, unmittelbar erfassen, diese Walzen abrollen, das Papier befeuchten, nach dem Format der „Neuen Freien Presse“ schneiden, auf die Druckcylinder leiten, bedrucken und in den mit der Druckmaschine verbundenen Falzapparat so einführen, daß dieser das fertige Blatt achtfach zu jener handlichen Form faltet, wie es dem Abonnenten zukommt. [215] All das ist das Werk weniger Augenblicke; jetzt sehen wir den Cylinder mit dem weißen Papier sich zauberhaft schnell um seine Achse drehen; einige Secunden später erscheint Blatt für Blatt nett bedruckt, und im nächsten Augenblicke ist es gefalzt. Diese Maschine ist im Stande, im Verlaufe einer Stunde elftausend Exemplare unseres Morgenblattes oder vierundvierzigtausend Exemplare unseres Abendblattes zu liefern.

In dem einen der Seitensäle befindet sich die Setzerei; an den Regalen ist eine Neuerung angebracht, die schon aus Gesundheits-Gründen mit Freuden zu begrüßen ist und nachahmenswerth erscheint; es ist ein vorspringendes Brett, welches dem Setzer ermöglicht, seine Arbeit im Sitzen zu verrichten. In dem andern Seitensaale ist die Stereotypie und die Seele sämmtlicher Mechanismen des Pavillons – eine sogenannte Wassersäulenmaschine – thätig. Die Haupttriebkraft ist also hier nicht, wie

Der Pavillon der „Neuen Freien Presse“ auf der Wiener Weltausstellung.

anderwärts, der Dampf, sondern das Wasser, wodurch alle die Unannehmlichkeiten, welche Dampfmotoren mit sich zu bringen pflegen, im Interesse der in diesem Hause Arbeitenden sowohl als des Publikums vermieden werden. Auf der dem Weltausstellungspalaste zugekehrten Seite enthält das Erdgeschoß überdies die Localitäten der Expedition.

Im ersten Stockwerke befinden sich die Redactionszimmer, das Sekretariat etc. Die Communication im Hause ist die sachgemäßeste, die man sich denken kann, und es wird den Besuchern gestattet sein, jeden einzelnen Zweig des Gesammtbetriebes aus unmittelbarster Nähe in seiner Thätigkeit zu beobachten. Damit dies, ohne daß irgend eine Störung zu befürchten wäre, geschehen könne, hat man die einzelnen Maschinen mit Galerien umfriedet, welche, während sie für das Publicum gewisse nicht zu überschreitende Schranken bilden, doch so eingerichtet sind, daß sie den Verkehr für die im Hause Beschäftigten nicht hemmen, sondern nach jeder Richtung hin frei halten.

Diejenigen Zuschauer, welche sich damit begnügen, von dem Ruheplatze der das Haus umspannenden Galerie das Getriebe in den Sälen des Erdgeschosses zu belauschen, werden die Empfindung haben, als sähen sie durch die Glastafel eines Bienenkorbes das Walten und Schaffen der fleißigsten aller Insecten vor sich. Da ist bei allem Eifer, bei aller Raschheit, jene ruhige Umsicht, welche bei den Thieren das Ergebniß des tausend und aber tausend Jahre dieselben Pfade weisenden und wandelnden Instinctes, bei den Menschen das Resultat von Erkenntniß, Erfahrung und Charakterbildung ist.

Unter allen Ausstellungsobjecten, welche im Prater zur Schau gestellt werden, dürfte dieser Pavillon eines der interessantesten und lehrreichsten sein. Er wird Jenen, denen auch heute noch die Presse zu schnell im Urtheil, zu wenig genau im Detail ist, die Ueberzeugung beibringen, daß die Journalistik nur deshalb eine solche Macht, ein solch imponirender Factor des öffentlichen Lebens geworden, weil sie mit der Plötzlichkeit der Inspiration arbeitet; jene aber, welche noch immer an das Märchen glauben, die Journalisten seien jemals verlegen um Stoff, werden durch den Augenschein erfahren, daß unsere größte Kunst nicht darin besteht, Alles, was wir erfahren, zu bringen, sondern in dem sicheren Geschmack, der uns aus der Ueberfülle der uns zugehenden Nachrichten, ohne lange zu wählen, stets das Wichtigste aufgreifen das Gleichgültige oder Nichtige aber bei Seite schieben läßt.

Unermüdlich, treffsicher, Alles beachtend – so soll eine große Zeitung sein und so wird sie hoffentlich auch in diesem Pavillon erscheinen.[1]
E. R.



[216]

Galerie historischer Enthüllungen.
2. Die Sage von dem Heldentode der vierhundert Pforzheimer.


Die Schlacht bei Wimpfen, welche Markgraf Georg Friedrich von Baden-Durlach gegen Tilly kämpfte, fand am 6. Mai 1622 statt. Nach einhundertsechsundsechszig Jahren wurde in einer Schrift von Ernst Ludwig Deimling die Mittheilung gemacht, es hätten in dieser Schlacht vierhundert Pforzheimer bei der Vertheidigung ihres Fürsten den Heldentod gefunden. In der fraglichen Schrift wird bemerkt, diese Begebenheit sei bis dahin nur Familienerzählung gewesen. Verfasser habe sie von seinem Vater, dieser wiederum von dem seinigen, und dieser – also E. L. Deimling’s Großvater – von seiner Großmutter erhalten, die der Schlacht angewohnt habe und die Tochter des Stadtpfarrers von Markgröningen, Namens Faber, gewesen sei.

Diese Mittheilung fiel in die Zeit der ersten französischen Revolution, deren Rückschläge auch in Baden fühlbar waren, und es lag nahe, daß man sich derselben gern bediente, ohne sie eingehend zu prüfen. Ja, es währte nicht lange, so erschienen die vierhundert Pforzheimer auf der Bühne. Von jetzt an wurde diese That verherrlicht, durch Zuthaten bereichert, so in der Pforzheimer Chronik von Gehres, der, ohne Quelle zu nennen, Alles in der Schlacht die Flucht ergreifen läßt, nur die Pforzheimer nicht. – Leichtler, in seiner badischen Kriegsverfassung, läßt die vierhundert Pforzheimer bei Ausbruch des Krieges von ihrem Bürgermeister Bertold Deimling zur Musterung auf das Mühlburger Blachfeld führen. – Ernst Münch in seinen Erinnerungen an die Schlacht schreibt: „Vierhundert Bürger aus Pforzheim, welche die Leibwache des Markgrafen bildeten, umschlossen die gefährdete Person des geliebten Fürsten eng und fest, wie eine Mauer, bis er sich in Sicherheit befand, darauf starben sie Alle, Tilly’s Gnade verschmähend, den ehrenvollsten Tod, welchen Helden gestorben sind.“ An dieser letzten Erzählung sieht man deutlich, wie das Unkraut rasch wächst. Der überschwengliche Verfasser vergißt, wie der Markgraf aus der ihn eng umschließenden Mauer hätte herauskommen sollen, denn wäre er darin geblieben, so hätte er mit den Anderen erschlagen werden müssen. Eine Leibwache bildeten die Pforzheimer nicht, worüber weiter unten mehr.

Es muß nun zugestanden werden, daß in der ersten Zeit keine Bedenken gegen diese Angaben auftauchten, sondern daß gerade diese Uebertreibungen dazu dienten, die Sage mehr und mehr zu verherrlichen. Der einst vielgelesene Trommlitz schrieb sogar einen längern geschichtlichen Roman: „Die Vierhundert von Pforzheim“.

Später wollte man am zweihundertsten Jahrestage die That besonders verherrlichen und Großherzog Ludwig von Baden bestellte 1821 eine Commission von drei höheren Officieren, welche die genauesten Recherchen anstellen sollte, die aber trotz aller Mühe kein Material fand, welches die Sage in dem Umfange bestätigte, den sie bereits gewonnen hatte. Einem Mitgliede dieser Commission verdankt Verfasser die eben gemachte Angabe. Diese Commission fand nur den Bericht des „ungenannten Augenzeugen“, welcher sagt: „Das weiße Regiment unter dem Oberst Helmstädt hat sich bis auf den letzten Mann gewehrt, hätte auch die Victorie erhalten, wenn nur die Reiterei Stand gehalten hätte.“

Die Pietät für die Sage war aber bereits so gewachsen, daß, ungeachtet des Resultats, welches die Arbeit der fraglichen Commission hatte, in dem 1824 für die badischen Truppen verfaßten Lesebuche die That der Pforzheimer unter Anderem auch erzählt wird, allerdings mit dem Zusatze, die Pforzheimer Compagnien, welche der Markgraf gewöhnlich zu seiner Leibwache genommen habe, seien in das weiße Regiment eingetheilt worden,[2] dessen Reste, namentlich die treuen Pforzheimer, sich bis auf den letzten Mann in einer Wagenburg vertheidigt hätten, damit der Markgraf nicht in feindliche Hände falle. Als Anführer der Vierhundert wird Bürgermeister Deimling genannt.

Diesen Angaben sieht man nun auf den ersten Blick an, daß man aus Tendenzrücksichten etwas zusammenreimen wollte, was doch nicht zusammen gehört; denn in das weiße Regiment konnte man nur die Fußcompagnie einreihen, nicht aber auch die Reitercompagnie; beide zusammen geben aber nur die vierhundert Mann ab, welche Stadt Pforzheim stellte. Wären diese vierhundert Mann aber eine Leibwache gewesen, so hätte man sie wieder nicht in das weiße Regiment einreihen können. Aber jeder Zweifel löst sich einfach dadurch, daß die Pforzheimer Compagnie von Haus aus stets zum weißen Regiment gehörte, wie weiter unten dargethan werden wird.

In den vierziger Jahren unternahm es nun ein badischer Officier, eine militärische Geschichte des dreißigjährigen Krieges zu schreiben.[3] Als die Darstellung der Schlacht von Wimpfen an ihn herantrat, hatte die mehrbemerkte Sage ihren Rundlauf gemacht und sich überall eingebürgert. Es lag nahe, daß der Officier diesen Kampf möglichst zu verherrlichen suchte, aber da er alle Angaben auch genau zu belegen sich bemühte, so bestrebte er sich, Zutritt zu den alten Quellen zu erhalten; auch wandte er sich an den damaligen Senior der Familie Deimling, um etwa dort befindliches Material zu erhalten.

Auf besondern Befehl des Großherzogs Leopold wurde ihm gestattet, die Manuscriptensammlung in der Hofbibliothek zu benutzen, ferner die Acten im großherzoglichen Landesarchiv, die bis dahin dort wohlversiegelt und unbenutzt lagen. Aus dem Stadtarchiv Heilbronn erhielt er interessante Notizen, und die städtischen Bücher Pforzheims gaben über manche Punkte völlige Aufschlüsse. Doch zur Sache!

Der älteste gleichzeitige Bericht über die Schlacht ist das Schreiben des Secretärs Abel, datirt Durlach den 8. Mai 1622, an den nürnbergschen Stadtoberst von Leubelfingen, „wie es in der Wimpfener Schlacht hergegangen“. Hier finden wir kein Wort über die Pforzheimer. Abel berichtet, daß die Reiterei retirirte, daß die Munitionswagen entzündet worden seien, wobei Oberst von Börslin auf das Jämmerlichste zugerichtet worden wäre, daß die Infanterie – der Bericht macht hier keine Ausnahme – sich aus den Spitzwagen trefflich gewehrt habe, aber durch die Confusion, entstanden durch die Entzündung der Munitionswagen, in Schrecken gerathen wäre und sich endlich „salvirt“ habe. Er sagt ferner: „Von uns sind 600 Mann auf der Wahlstatt geblieben“; wie er das „uns“ auslegt, ist zu erörtern jetzt nicht mehr möglich; ob er nämlich dasselbe auf das ganze Heer, wozu ein Regiment Pfälzer und ein Regiment Württemberger gehörte, oder nur auf den badischen Theil bezieht. Abel nennt endlich mehrere todte und verwundete Officiere, darunter Oberstlieutenant Hunelstein, Balthasar Stein, Lieutenant der Garde. Am 8. Mai zählten die beim Markgrafen wieder eingetroffenen Truppen 8000 Mann zu Fuß und 1500 Mann zu Pferd (es scheinen dieses nur Badenser gewesen zu sein).

Der zweite Bericht von einem ungenannten „Augenzeugen der Wimpfener Schlacht, Datum Heilbronn den 11. Mai 1622“, sagt beiläufig dasselbe; nur bezüglich der Stärke des Heeres hat er andere Angaben, was jedoch nicht hierher gehört. Bezüglich des Schlusses der Schlacht bemerkt er, die Feinde hätten 4 halbe Carthaunen genommen, „darzu denn ihnen sonderlich großen Muth gemacht, weil kurz zuvor dem Durlacher Lager von 5 Wagen mit Pulver, so angezündet worden, ein unaussprechlicher Schaden geschehen; denn das Pulver hat auf 2 Morgen Acker weit scheibenweiß herumb sowohl Menschen, Vieh und Wagen in die Luft gesprengt oder sonst verbrennet und versenget, welches eine jämmerliche Lücke in die Schlachtordnung und Wagenburg gemacht, ist Alles in Unordnung gebracht, erschlagen, gefangen genommen oder in die Flucht geschlagen worden. Der Oberst Helmstott (Helmstädt) hat sich mit [217] dem weißen Regiment gewehret bis auf den letzten Mann, hätte auch die Viktori erhalten, wo nur die Reiterei Stand gehalten hätte, welche sich aber gleich davon gemacht, weil sie gar keine Retirade hinter sich gehabt …“ Des verwundeten und verbrannten Oberst von Börslin erwähnt der Bericht auch mit dem Anfügen, daß er in Heilbronn Unterkunft gefunden habe. Den Verlust giebt er auf 5000 Mann an.

Der dritte Bericht, Datum Carlsburg (d. i. das Schloß in Durlach), den 13. Mai 1622, ist von dem Markgrafen Georg Friedrich selbst verfaßt und an den Markgrafen Joachim Ernst von Brandenburg gerichtet. Derselbe ist, wie der Markgraf bemerkt, acht Tage nach der Schlacht geschrieben, wo also schon eine bessere Uebersicht und Kenntniß des Ganzen möglich war. Er bemerkt, er hätte gehofft, sich noch verschanzen zu können, aber Cordova und Tilly hätten ihn so gedrängt, daß er das Feld habe räumen müssen, jedoch ohne großen Verlust, außer daß er Artillerie und Geld verloren. Schließlich gedenkt er des Todes des Herzogs Magnus von Württemberg und des Pfalzgrafen von Birkenfeld. – Ist es nun möglich, daß der Markgraf schreibt: „ohne großen Verlust“, wenn sich 400 Bürgerwehren für ihn opfern, damit er gerettet werde? Ist es möglich, daß eine solche That geschah, ohne daß derselben auch nur mit Einem Worte Erwähnung geschieht? Ja, nicht einmal des weißen Regiments erwähnt der Markgraf, und wenn es, wie man nach dem Berichte des ungenannten Augenzeugen annehmen dürfte, sich buchstäblich bis auf den letzten Mann gewehrt hätte, so wäre sicher der Markgraf am Schlusse seines Schreibens darauf zu reden gekommen, wo er bemerkt: „habe nicht unterlassen, unsere Truppen, weil möglich, wiederum zu sammeln, und sind Willens, Uns mit nächster Tage wiederum in’s Feld zu begeben.“

Die That des Einzelnen im Gefechte wird selten gleich im weiteren Kreise bekannt, aber die That einer ganzen Abtheilung thut sich sofort von selbst hervor, zumal wenn der Fürst und Feldherr ihr seine Rettung dankt wie hier. Doch weiter! Ein Jahr nach der Schlacht erschien von Jüngler eine Lebensbeschreibung des Markgrafen; aber auch sie erzählt uns nichts von den 400, so wenig wie die späteren Chroniken u. dergl., wie Crusius, Theckum, Schöpflin und Ziegler.

Wenden wir uns nun zu den Familiennotizen. Einen Theil davon haben wir schon im Eingange mitgetheilt; weiter wurde dem Verfasser des „Dreißigjährigen Krieges“ ein im Jahre 1823 gefertigter Stammbaum vorgelegt, auf welchem es heißt: „Berthold Deimling, Bürgermeister und Weißbäck, geboren 1586, vermählt mit Esther, Tochter des Special Faber von Markgröningen. Er war Chef und Commandeur jener 400 Pforzheimer, welche das weiße Regiment, genannt und als Garde des Markgrafen Georg Friedrich am 6. Mai 1622 in der Schlacht bei Wimpfen den Heldentod für Religion, Fürst und Vaterland gestorben sind.“

Für diese Notiz gab es aber keinen anderen Beleg, als die mündliche Ueberlieferung, immerhin aber gab sie Anhalt genug, um nach den Lebensereignissen des Berthold Deimling forschen zu können, welcher mit Esther Faber verheirathet war, und zwar deshalb, weil die städtischen Bücher der früheren Zeit noch einen Berthold Deimling enthalten. Es gelang nun dem damaligen Senior der Familie nachzuweisen, daß fragliche Ueberlieferung vier Unrichtigkeiten enthalte. 1) Berthold Deimling war 1622 nicht Bürgermeister in Pforzheim, 2) bildeten die vierhundert Pforzheimer weder die Garde, noch das weiße Regiment, 3) war der Commandeur des weißen Regiments Oberst von Helmstädt und 4) starben die 400 Pforzheimer nicht alle in der Schlacht.

Der Beweis wurde durch Folgendes geliefert:

Zu 1: Nach den städtischen Büchern war Bürgermeister in Pforzheim von 1613–1622 Jeremias Deschler, von 1622–1627 Wolf Karle.

Zu 2: Der Markgraf war einer der ersten Fürsten, welcher die geworbenen Truppen mit der allgemeinen Landesbewaffnung verband. Er hatte a. seine stehenden Truppen (Leibwache), nämlich: die Gardereiterei zu 154 Mann und das Gardefähnlein, 1 Compagnie zu etwa 300 Mann; b. 4 Fußregimenter, nämlich: 1) Unter-Baden, das weiße Regiment, 2) Ober-Baden, 3) Hochberg, 4) Kötteln; c. verschiedene Reiterfähnlein, von welchen immer eines aus mehreren Aemtern gestellt wurde; d. eine verhältnißmäßig sehr starke Anzahl von Geschützen.

Nach des Markgrafen eigenen Aufzeichnungen in der großherzoglichen Manuscriptensammlung sollte jedes Regiment aus 11 Compagnien zu je 300 Mann bestehen. 1622 zählte aber Unter-Baden, das weiße Regiment, nur 9 Compagnien oder Fähnlein und zwar stellten die Aemter Durlach 2, Graben 1, Mühlburg 1, Pforzheim 3, Kafforth mit einem Theile von Durlach 1, Stein und Langensteinbach 1 Compagnie. Davon traf Stadt Pforzheim 1 Compagnie oder 300 Mann, Amt Pforzheim, Stein und Langensteinbach stellten zusammen ein Reiterfähnlein von 100 Mann zu Pferd, was, weil Pforzheim den größten Theil lieferte, das „Pforzheimer“ genannt wurde. Somit kommen nicht ganz 400 Mann für Stadt Pforzheim heraus.

Zu 3: Es ist nachgewiesen, daß der Commandeur des weißen Regiments von Helmstädt hieß, auch nennen die Actenstücke der Manuscriptensammlung mehrere Hauptleute desselben, wie: von Liebenstein, Chr. von Helmstädt (der in der Schlacht fiel), von Danitz, von Steinfels, G. Ph. von Helmstädt, von Tannstein, woraus geschlossen werden könnte, daß die Anführer (Hauptleute) damals dem Adel angehörten.

Zu 4.: Berthold Deimling starb nicht auf dem Schlachtfelde. Es wird von ihm in den Taufbüchern nachgewiesen, daß er am 19. November 1622, 24. November 1627, 1. April 1629, 26. August 1631 und 20. Februar 1635 5 Kinder erhielt. – Er kommt 1624 (1. October) als Gevatter, 1630 und 1634 (wo er Bäckermeister genannt wird) gleichfalls als Gevatter vor und starb 1635 an der Pest.

Es wäre nun auch noch nachzuweisen, daß alle Pforzheimer unmöglich in der Schlacht geblieben sein können. Da die Todtenbücher in dem Orleansschen Kriege zerstört wurden, so muß der Beweis aus den vorhandenen Geburtsbüchern geliefert werden, weil klar ist, daß, wenn die damalige kleine Stadt Pforzheim auf einen Schlag nahezu 400 Bürger verloren hätte, eine Abnahme der Geburten sich gezeigt haben würde. Die Geburtslisten geben nun an: 1613 wurden geboren 126, 1614 124, 1615 132, 1616 126, 1617 124, 1618 124, 1619 114, 1620 137, 1621 127, 1622 114, 1623 121, 1624 143, 1625 141, 1626 124, 1627 103, 1628 140, 1629 122, 1630 138, 1631 124, 1632 141, 1633 124, 1635 82, 1636 80, 1637 79 Kinder. Die minder zahlreichen Geburten in den Jahren 1535–1637 waren eine Folge der Nördlinger Schlacht und der dadurch nöthig gewordenen Flucht. Nach 1622 dagegen fand eine Abnahme der Geburten nicht statt. Gehres in seiner Chronik nennt mehrere Namen von Gefallenen, aber es ist nicht möglich, sie Alle zu verfolgen, und Viele davon werden auch wohl auf dem Schlachtfelde geblieben sein. Er nennt auch einen Mann Namens Maler. Der verstorbene Geheime Rath Maler sagt aber Seite 13 in seiner Schrift über seine Familie: „Die von dem damaligen Amtskellerer Maler geschriebene Chronik dieser Familie weiß nichts davon.“

Das Hauptresultat ist nun kurz folgendes:

a. Nur ein gleichzeitiger Bericht eines ungenannten Augenzeugen erwähnt der besonderen Tapferkeit des weißen Regiments. Der von Abel sowie der vom Markgrafen selbst verfaßte schweigen völlig darüber.

b. Die Pforzheimer werden besonders gar nie erwähnt; im weißen Regimente standen nur 300 Bürger der Stadt.

c. Da die Reiterei anfänglich schon floh, so wird wohl das Pforzheimer Fähnlein auch dabei gewesen sein, wenigstens wird nicht das Gegentheil gesagt.

d. Berthold Deimling führte nicht die Pforzheimer, noch weniger das weiße Regiment. Er starb auch nicht auf dem Schlachtfelde.

e. Alle 400 Pforzheimer Bürger können unmöglich auf der Wahlstatt geblieben sein, das beweist die spätere Zahl der Geburten.

f. Die 166 Jahre nach der Schlacht entstandene Sage wurde ohne genaue Prüfung in die Welt geschickt und dürfte nun klar gemacht sein.



[218]
Blätter und Blüthen.

Rescript des Königs von Preußen an den Minister von Wöllner, welches auch wohl zum Theil noch jetzt passen dürfte. „Die Deutung, welche Ihr meiner Order vom 23. November v. J. in Eurem unterm 5. December an die Consistorien erlassenen Rescripte gegeben habt, ist sehr willkürlich, indem in jener Order auch nicht ein Wort vorhanden ist, welches nach gesunder Logik zur Einschärfung des religiösen Edicts hätte Anlaß geben können. Ihr sehet hieraus, wie gut es sein wird, wenn Ihr bei Euren Verordnungen künftig nicht ohne vorherige Berathschlagung mit den geschäftskundigen und wohlmeinenden Männern, an denen in Eurem Departement kein Mangel ist, zu Werte geht, und hierinn dem Beispiel des verewigten Münchhausen folget, der denn doch mehr, wie viele Andere, Ursache gehabt hätte, sich auf sein eigenes Urtheil zu verlassen. Zu seiner Zeit war kein religiöses Edict, aber gewiß mehr Religion und weniger Heuchelei, wie jetzt, und das geistliche Departement stand bei Einländern und Ausländern in der größten Achtung.

Ich selbst ehre die Religion; folge gern ihren beglückenden Vorstellungen, und möchte um Vieles nicht über ein Volk herrschen, welches keine Religion hätte, aber ich weiß auch, daß sie Ruhe des Herzens, des Gefühls und der eigenen Ueberzeugung seyn und bleiben muß, und nicht durch methodischen Zwang zu einem gedankenlosen Plapperwerk herabgewürdigt werden darf, wenn sie Tugend und Rechtschaffenheit befördern soll. Vernunft und Philosophie müssen ihre unzertrennlichen Gefährten sein; dann wird sie durch sich selbst fest stehen, ohne die Autorität Derer zu bedürfen, die es sich anmaßen wollen, ihre Lehrsätze künftigen Jahrhunderten aufzudringen, und den Nachkommen vorzuschreiben, wie sie zu jeder Zeit denken sollen.

Wenn Ihr bei Leitung Eures Departements nach echt lutherischen Grundsätzen verfahret, welche so ganz dem Geist und der Lehre des Stifters unserer Religion angemessen sind, wenn Ihr dafür sorget, daß Prediger- und Schulämter mit rechtschaffenen und geschickten Männern besetzt werden, die mit den Kenntnissen der Zeit, und besonders der Exegese fortgeschritten sind, ohne sich an dogmatische Subtilität zu kehren, so werdet Ihr es bald einsehen können, daß weder Zwangsgesetze noch deren Erinnerung nöthig sind, um wahre Religion im Lande aufrecht zu erhalten, und ihren wohlthätigen Einfluß auf das Glück und die Moralität aller Volksclassen zu verbreiten. Ich habe Euch meine Meinung auf Euren Bericht vom 10. Januar nicht vorenthalten wollen.

Berlin, den 12. Januar 1798.
F. W.“


Bock’s Briefkasten.

An die Dummen, welche nicht alle werden. (Fortsetzung.) Mit der Dummheit – mit welcher, wie bekannt, Götter selbst vergebens kämpfen –, mit ihr hat der Unterzeichnete kürzlich doch nicht so ganz umsonst gekämpft, denn es kostet ihm dieser Kampf zehn Thaler Strafe und noch ein Sümmchen Gerichtskosten (welche aber die Gartenlaube im Interesse der guten Sache mit Freuden trägt). Dies ging aber so zu: Verfasser bezeichnete (in Nr. 45 der Gartenlaube, Jahrg. 1871) den Besitzer der Pönicke’schen Schulbuchhandlung in Leipzig, Herrn Bierey, als einen „gewissenlosen Geldsauger, einen Unhold und einen Schundbuchverleger“. Er that dies deshalb, weil dieser Verleger durch eine Schrift („Die Selbstbewahrung, von Retau“) Kranke, und vorzugsweise Gemüthskranke, die wegen früherer geschlechtlicher Unarten ihr Körper- und Seelenheil verloren zu haben glauben, ganz unnützer Weise in die gräßlichste Angst und in Schrecken versetzt und zwar blos darum, um ihnen dann verschiedene Thaler durch nichtsnutzige Arzneien abzutreiben. Obige Bezeichnungen hielt Herr Bierey für beleidigend, und so geschah, was Verfasser gewünscht hatte, er wurde von Herrn Bierey verklagt und, was Verfasser aber nicht erwartet hatte, vom Gerichte in Strafe genommen. – – Die Gerichtsverhandlung hat nun das Gute gehabt, daß die ganze Procedur zu Tage gekommen ist, welche die Schulbuchhandlung einschlägt, um eingebildete leichtgläubige Kranke von ihrer Dummheit und ihren Thalern zu befreien. Sind dieselben nämlich nach Lesung der „Selbstbewahrung“ in die nöthige moralische Gruselung versetzt und dadurch zur Schulbuchhandlungscur herangeködert worden, so haben sie zuvörderst sechs Thaler (!) nebst einer Beschreibung ihrer Beschwerden an die Schulbuchhandlung einzuschicken. Selbige übergibt dann diese Beschreibung nicht, wie sie verspricht, der gemeinsamen Berathung eines aus mehreren Aerzten bestehenden Bureaus, sondern nur einem einzigen Arzte, welcher gegen ein Salair von zwanzig Groschen ein Recept (fast stets mit Chinin und Eisen) verschreibt, welches in der „königlichen Hofapotheke zum weißen Adler“ gemacht wird und etwa zwanzig Groschen oder wegen des hohen Rabattes, welchen die Apotheke dem Herrn Bierey gewährt, noch weit weniger kostet. Die Arznei gelangt dann, angeblich im Auftrage des nicht existirenden ärztlichen Bureaus, durch die Hände des Herrn Bierey in die des Kranken, welcher dadurch bald früher, bald später von dem Schwindel der Schulbuchhandlung überzeugt wird. Von den eingeschickten sechs Thalern fließen demnach vier Thaler zwanzig Groschen in die Tasche der Schulbuchhandlung, bisweilen aber auch noch mehr, wenn das ärztliche Salair durch Repetition der Arznei erspart wurde. So braucht man sich also nicht zu wundern, wenn unser Mitbürger Bierey, der noch vor wenig Jahren ein ganz armer Mann war, zur Zeit ein reicher Mann (mit Haus und Equipage) ist.

Aus der Gerichtsverhandlung dürften noch die folgenden Thatsachen einiges Interesse erregen. 1) Der Verlag der Schulbuchhandlung besteht nicht etwa aus Schulbüchern, sondern fast nur aus Schriften, durch deren Inhalt nichtsnutzige Arzneien und Geheimmittel für einen unverhältnißmäßig hohen Preis an den Mann gebracht werden sollen. Sachverständige Buchhändler erklärten, daß es unter Buchhändlern nicht für ehrenhaft gelte, solche Bücher zu verlegen. Das Gericht that aber den Ausspruch: „außer allem Zweifel beruht, daß Bierey sich mit dem Handel und Vertriebe von Geheimmitteln mit unverhältnißmäßigem Gewinne befaßt, hierin aber sowohl vom Standpunkte der Wissenschaft aus, als auch nach allgemeinen Begriffen in der That ein schwindelhaftes Verfahren zu befinden ist.“ – 2) Die Schrift „Die Selbstbewahrung“ von Retau ist eine Uebersetzung aus dem Englischen und zwar des La Mert’schen Buches, welches früher auch Herr Laurentius übersetzt und unter dem Titel „Der persönliche Schutz“ verkauft hat. Von diesem Buche machte die königlich bayerische Regierung von Schwaben-Neuburg, welche die Ankündigung desselben in öffentlichen Blättern bei Strafe verbot, bekannt, „daß dasselbe lediglich darauf berechnet sei, die an sexuellen Krankheiten leidenden Kranken in die größte Angst zu versetzen, ihnen die Folgen dieser Krankheiten als schrecklich darzustellen, ihnen eine schauderhafte Zukunft vorzumalen, das Vertrauen zu den gewöhnlichen Aerzten und Curmethoden zu untergraben und zuletzt die einzige Rettung in der theueren Behandlung durch den Verleger des Buches zu verheißen.“ – Daß sich die Retau’sche Schrift übertriebene Malereien zu Schulden kommen läßt, gab selbst der Schulbuchhandlungsarzt vor Gericht zu und meinte, daß die Stelle: „die Kranken brüten stumpfsinnig vor sich hin, bis ihr Zustand mit vollständigem Blödsinn oder Wahnsinn endet oder die Verzweiflung ihnen ein Mordgewehr in die Hand drückt,“ doch etwas zu stark wäre. Nach Laurentius und Bierey kann man jedoch dem Wahnsinn und dem Selbstmordgewehr entgehen, wenn man sich ihrer Arzneien bedient. Weil nun Laurentius gleich vierzig Thaler für seine Cur beansprucht, Bierey aber erst mit sechs Thalern anfängt und seine Curkosten nur nach und nach fünfzig Thaler erreichen, so läßt Letzterer von Ersterem drucken: „Wir haben Einblick in den schamlosen Wucher; für ein Gebräu, zusammengesetzt von einem Ignoranten, werden nicht weniger als vierzig Thaler gefordert, und obschon das sogenannte Medicament völlig nutzlos und der geforderte Preis ein geradezu unvernünftiger ist, hat dieser Schwindler doch Viele damit betrogen. Wir hoffen zwar, daß dieser Schwindler sowohl als sein Buch hinreichend gebrandmarkt und jetzt ziemlich unschädlich sein mögen, für alle Fälle aber wollen wir unser Buch vor der Verwechselung und Gleichstellung mit diesem Machwerke schützen.“ Und dies veröffentlicht Herr Bierey, welcher ganz dasselbe Buch (die Uebersetzung des Dr. La Mert’schen Buches) und so ziemlich ganz dieselbe Arznei (aus Chinin und Eisen) verkauft, wie Herr Laurentius. Par nobile fratrum! – 3) In Bezug auf die briefliche Behandlung von Kranken sagten die Sachverständigen (medicinische Professoren) aus: „Daß es vom ärztlichen Standpunk aus durchaus verwerflich sei, Kranke nur auf Grund ihrer eigenen brieflichen Mittheilungen und ohne Untersuchung ihres Körpers ärztlich zu behandeln; daß es ferner auch verwerflich und gemeinschädlich sei, Kranke durch Bücher aufzufordern, sich brieflich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen.“ – 4) Um die Bücher, durch welche Herr Bierey seine nichtsnutzigen theuren Arzneien loszuwerden sucht, in’s große Publicum zu bringen, giebt derselbe jährlich gegen viertausend Thaler aus.

Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, daß das Gericht zur Gemüthsberuhigung des Unterzeichneten erklärte: „daß die Handlungsweise des Angeklagten zuerst und hauptsächlich aus der lobenswerthen Absicht, gemeinnützig zu wirken, hervorgegangen sei“ und „daß der Geschäftsbetrieb des Herrn Bierey als tadelnswerth zu bezeichnen sei“. – Auf die Veröffentlichung der Bestrafung des Unterzeichneten hat Herr Bierey expreß verzichtet. Wir wollen nun aber zur Veröffentlichung desjenigen Geschäftsbetriebes des Herrn Bierey übergehen, welcher in das Bereich des Herrn Staatsanwaltes und Gerichtsarztes gehört, weil hierbei nicht der Schulbuchhandlung affiliirte Aerzte lege artis mitmachen.
Bock.

Berichtigung. In dem Artikel „Nur eine Hausfrau“ von Johannes Scherr (Nr. 10, Seite 158) ist in der vierten Zeile vor dem Schluß statt „erwarten“ zu lesen: „erwerben“.



Kleiner Briefkasten.

K. in B. Lassen Sie uns doch zufrieden mit Ihren „indeß – vorausgesetzt – angenommen – nicht zu weit gehen – ruhmreiche Traditionen etc. etc.“ und beherzigen Sie das Wort des Dichters:

Das sind der Freiheit schlimmste Feinde nicht,
Die zu dem Dienst der Knechtschaft sich bekennen
Und stolz sich rühmen der betreßten Pflicht.
Nein, Jene sind es, welche frei sich nennen,

5
Und insgeheim in tiefster Seele doch

Voll ekler Gier, ein Sclav zu sein, entbrennen.
Mit Blumen schmücken Sie das feile Joch,
Darunter sie den Nacken willig neigen,
Und rühmen sich erlog’ner Kränze noch.

L. O. in Lpz. Die Bezeichnung „geflügelte Worte“ rührt weder von Büchmann noch von Gust. Freytag, sondern vom alten Homer her, der dieselbe (Έπεα πτεσόεντα) oft, nur nicht ganz im modernen Sinne, gebraucht.

An Frau Minna Schreiber und Fräulein Thekla Schmidt in Cedarcroft, U. St. of A. Recht vermuthet! Der Verfasser jenes Aufsatzes: „Kommt, laßt uns etc.“ ist Ihr ehemaliger Lehrer und noch in Leipzig.

O. S. Acceptirt.




Zur Beachtung!
Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir hatten bisher nicht Veranlassung, die Vorarbeiten zur Wiener Weltausstellung unsern Lesern in Bild und Text darzustellen. Dagegen wurden unsererseits Anordnungen getroffen, nach Eröffnung der Ausstellung, wenn auch nicht regelmäßig wiederkehrende Referate, so doch zwanglos erscheinende und lebendig hingeworfene Skizzen über Aussteller, Ausgestelltes, Besucher und Ausstellungs-Freuden und Leiden in den Spalten unseres Blattes zu veröffentlichen.
    Die Redaction der Gartenlaube.
  2. Das ist auch unrichtig. Im Feldzuge 1610 führte der Markgraf seine Leibwache (Garde) in der Stärke von hundert Mann zu Pferde und fünfzig Harkebusieren mit. Im Jahre 1618 und 1620 scheint der Markgraf vorzugsweise mit gewordenen Truppen agirt zu haben, deren er seinerseits nur einige Tausend stellte.
  3. Der Dreißigjährige Krieg, vom militärischen Standpunke beleuchtet von dem großherzoglich badischen Hauptmann – nunmehrigen Generallieutenant a. D. Karl Du Jarrys Freiherrn von La Roche, drei Bände, bei Hurter in Schaffhausen. Ferner von demselben Verfasser: Die Kriegszüge des Markgrafen Georg Friedrich von Baden-Durlach, in der Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft und Geschichte des Krieges, Jahrgang 1848, wobei eine Einzelbeschreibung der Schlacht bei Wimpfen.