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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[187]

No. 12.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Jetzt war die Reihe des Erröthens an der jungen Frau; aber sie bemeisterte schnell die aufsteigende Gluth und erwiderte fest: „Seit ich weiß, daß die Gefahr, die Du so entschieden ableugnetest, mit jedem Tage näher kommt. Weshalb täuschtest Du mich über die Tragweite dieses Streites und über seine möglichen Folgen?“

„Ich wollte Dich nicht beunruhigen.“

Sie machte eine ungeduldige Bewegung. „Ich bin kein furchtsames Kind, das man mit so ängstlicher Schonung umgeben muß, und wenn uns irgend etwas droht –“

„Uns?“ unterbrach sie Arthur. „Verzeih, aber die Gefahr droht doch höchstens mir allein. Ich habe nie daran gedacht, Dich als Kind zu behandeln; aber ich habe es für meine Pflicht gehalten, Baroneß Windeg nicht mit Dingen zu behelligen, die ihr wohl so gleichgültig sein müssen und in Kurzem so fremd sein werden, wie der Name, den sie jetzt noch trägt.“

Der Ton der Erwiderung war eiskalt, und es war ihr eigener Ton, den sie oft genug ihm gegenüber angewendet hatte, wenn sie es für nöthig fand, ihre Herkunft und das Gezwungene ihrer Vermählung geltend zu machen. Jetzt gab man ihr selber eine Lehre damit. In den dunkeln Augen der jungen Frau blitzte etwas wie Zorn, als sie dieselben auf ihren Gatten richtete.

„Und darauf hin verweigerst Du mir also jede Auskunft über Deine Angelegenheiten?“

„Wenn Du sie wünschest – nein.“

Eugenie schien einige Secunden lang mit sich zu kämpfen. „Du hast Deinen Bergleuten ihre Forderungen verweigert?“ fragte sie endlich.

„Was davon zu bewilligen war und was die Leute aus sich selbst verlangten, habe ich bewilligt. Mit Hartmann’s extremen Forderungen ist überhaupt nicht zu rechten; sie laufen in ihren nothwendigen Consequenzen auf Zerstörung aller Disciplin, auf Anarchie hinaus und sind geradezu beleidigend. Er hätte schwerlich gewagt, sie zu stellen, wüßte er nicht, was in diesem Kampfe für mich auf dem Spiele steht.“

„Und was steht auf dem Spiele?“ fragte Eugenie in athemloser Spannung. „Dein Vermögen?“

„Mehr noch – die Existenz!“

„Und Du wirst nicht nachgeben?“

„Nein!“

Die junge Frau blickte stumm auf ihren Mann, auf diesen Mann, der vor noch nicht drei Monaten keine „Scene“ mit ihr ertragen konnte, weil sie seine „Nerven“ angriff, und der jetzt mit dieser Ruhe einem Kampfe die Stirn bot, in dem es sich um seine Existenz handelte. War er wirklich noch derselbe? Es hatte einen eisernen Klang, dieses Nein, und sie fühlte, daß er es ebenso eisern auch der wildesten Drohung entgegensetzen würde.

„Ich fürchte, Hartmann treibt den Streit bis zum Aeußersten!“ entgegnete sie. „Er haßt Dich.“

Ein verächtliches Lächeln zuckte um Arthur’s Lippen. „Das weiß ich! Diese Empfindung ist durchaus gegenseitig.“

Eugenie dachte an die wild flammenden Augen oben auf der Höhe, als sie den Namen ihres Gatten nannte, und es überkam sie auf einmal eine jähe Angst.

„Du solltest den Haß dieses Mannes nicht unterschätzen Arthur. Er ist furchtbar in seinen Leidenschaften, wie in seiner Energie.“

Arthur richtete einen langen finsteren Blick auf sie. „Kennst Du ihn so genau? Freilich, Dir ist ja dieser Blousenheld von jeher bewundernswerth erschienen! Eine wohlfeile Energie, die auf Unmöglichkeiten trotzt und eher Hunderte mit sich in’s Unglück reißt, ehe sie ein Wort der Vernunft hört! Aber auch Hartmann könnte eine Mauer finden, an der sein starrer Eisenkopf sich vergebens versucht; von mir wenigstens wird er nichts erzwingen, und müßte ich den Kampf durchfechten bis zum eigenen Untergange.“

Er hielt plötzlich sein Pferd an, und Eugenie that in demselben Moment das Gleiche. Der Waldweg durchschnitt hier eine Windung der Fahrstraße, und in derselben sahen sie gerade das, was sie vermeiden wollten, eine Schaar von Bergleuten, die hier Halt gemacht hatte und auf irgend etwas zu warten schien. Arthur runzelte die Stirn.

„Es scheint, die Begegnung soll uns nun einmal nicht erspart bleiben!“

„Wollen wir umkehren?“ fragte Eugenie leise.

„Zu spät! Sie haben uns bereits bemerkt. Ausweichen läßt sich hier nicht und die Umkehr würde Flucht sein. Es ist schlimm, daß wir gerade zu Pferde sind; das wird sie noch mehr reizen, aber wir dürfen hier keine Schwäche zeigen; wir müssen vorwärts.“

„Und doch hast Du dieses Zusammentreffen gefürchtet?“

Arthur sah sie groß an. „Ich? Nur Du solltest ihnen nicht [188] begegnen. Jetzt läßt es sich freilich nicht vermeiden, aber wenigstens bist Du nicht mehr allein. Halte Afra fest im Zügel und bleibe dicht an meiner Seite! Vielleicht geht es dennoch ohne Conflict ab.“

All diese Worte wurden leise und rasch gewechselt, während sie kaum eine Minute lang still hielten. Jetzt ritten sie im langsamen Schritt wieder vorwärts und hinaus auf die Fahrstraße, wo man sie allerdings schon bemerkt hatte.

Arthur hatte Recht. Die Art der Begegnung konnte nicht schlimmer sein. Die Leute waren in aufgeregtem Zustande, erhitzt und erbittert durch die auf den Hütten vorgefallenen Scenen; sie fingen bereits an, schwer unter den Folgen ihres Widerstandes zu leiden, und jetzt sahen sie ihren Chef, der ihren Forderungen durchaus nicht nachgeben wollte, hoch zu Roß, an der Seite seiner vornehmen Gemahlin und, wie sie meinten, von einem Vergnügungsritt zurückkommend, – ein gefährlicher Anblick für Menschen, die bereits mit dem Mangel kämpften! Ein bedenkliches Murren wurde laut. Schon waren halblaute Drohungen, beleidigende Worte gefallen; sie verstummten zwar, als die Beiden die Chaussee erreichten, aber dafür bildete jetzt die ganze Schaar, wie auf Verabredung, eine fest geschlossene Masse, die bereit schien, den Reitern den Durchgang zu wehren.

Arthur’s Lippen zeigten wieder jenes leise nervöse Beben, das bei ihm das einzige äußere Zeichen der Erregung war, aber seine Hand bebte nicht im Geringsten, als er Afra’s Zügel ergriff, um das Thier auf alle Fälle dicht neben sich zu halten.

„Glück auf!“

Der Gruß blieb unbeantwortet. Nicht ein Einziger aus der ganzen Schaar erwiderte ihn. Statt dessen schossen feindselige Blicke von allen Seiten auf die Beiden, und die zunächst Stehenden drängten noch dichter heran.

„Wollt Ihr uns nicht durchlassen?“ fragte Arthur ernst. „Die Pferde werden unruhig, wenn Ihr so herandrängt. Gebt Raum!“

Trotz der Gefahr der Situation, die sie vollkommen begriff, blickte Eugenie doch überrascht auf ihren Gatten. Es war das erste Mal, daß sie diesen Ton von seinen Lippen hörte; er klang sehr ruhig, aber er hatte nichtsdestoweniger die volle Autorität des Herrn seinen Untergebenen gegenüber. Dieses Benehmen Arthur’s war immerhin ein Wagniß in solchem Moment, aber es wäre unbedingt geglückt, wäre die Schaar ohne Führer gewesen; sie hätte diesem Tone nachgegeben. Jetzt dagegen wendeten sich Aller Augen nach einer einzigen Richtung, als erwarteten sie von dort allein das Signal zur Nachgiebigkeit oder zum Widerstande. Dort drüben stand Ulrich Hartmann, der soeben von der Höhe herabgekommen war und den man wahrscheinlich hier erwartet hatte. Er stand unbeweglich, die Arme über einander geschlagen, die Augen fest auf Berkow und dessen Gattin gerichtet, aber es war nichts Gutes, was in diesen Augen geschrieben stand.

Arthur’s Blicke waren denjenigen der Uebrigen gefolgt. Er wandte sich jetzt vollends um.

„Hartmann, Sie sind auch heute der Führer? Nun, so sorgen Sie auch dafür, daß man uns durchläßt! Wir warten.“

Hätte in diesen Worten nur die leiseste Spur eines Befehls oder einer Bitte gelegen, gleichviel welches von beiden, es wäre der Funke im Pulverfaß gewesen, und Ulrich schien in der That nur auf diesen Funken zu warten. Aber dieses kühle Verlangen, er solle hier Ordnung schaffen, das dies als eine selbstverständliche Pflicht Hartmann’s voraussetzte und zugleich seine Autorität anerkannte, frappirte ihn doch, ohne ihn gleichwohl umzustimmen. Er kam langsam heran.

„Ja so, Sie möchten weiter reiten, Herr Berkow.“

„Gewiß! Sie sehen es ja, daß wir nach der anderen Seite hinüber wollen.“

Ein vernichtender Hohn blitzte in Ulrich’s Zügen auf. „Und dazu rufen Sie mich her? Sie sind ja der ‚Herr‘ Ihrer Werke und Ihrer Arbeiter; befehlen Sie doch, daß man Ihnen Platz macht! Oder“ – hier wurde seine Stimme wieder dumpf und drohend – „glauben Sie vielleicht jetzt, daß ich hier Herr bin und daß ich nur ein Wort zu sagen brauche, um Sie – um es Ihnen zu zeigen?“

Eugenie war bleich geworden, während sie ihr Pferd dichter an das ihres Gatten drängte. Sie wußte freilich, daß jene sprühenden Augen nicht sie bedrohten, aber für sich zitterte sie auch nicht. Jetzt fehlte ihr der Muth, die Macht geltend zu machen, der sich Ulrich vorhin gebeugt. Sie ahnte, daß jene Macht ihre Wirkung versagen würde, so lange er sie an der Seite ihres Mannes sah.

„Hundert sind immer Herr gegen Einen!“ sagte Arthur kalt. „Wenn es sich nämlich um ein Niederschlagen handelt, aber das meinten Sie doch wohl nicht, Hartmann? Oder würden Sie sich nicht sicher fühlen, wenn Sie jetzt zufällig allein unter meine Beamten geriethen? Ich denke, ich bin es hier, so gut wie in meinem Hause.“

Ulrich gab keine Antwort; er blickte finster empor zu dem jungen Manne, der mit so vollkommener Ruhe vor ihm hielt und ihn mit den klaren braunen Augen so fest anschaute wie damals, als der Streit zuerst ausbrach. Freilich damals hatte er in seinem Conferenzzimmer gestanden, umgeben und geschützt von seinen Beamten; jetzt befand er sich allein, inmitten einer aufgeregten Menge, die nur auf das Signal wartete, um mit Beleidigungen, vielleicht mit Gewaltthätigkeiten loszubrechen, und doch zuckte keine Muskel dieses Gesichtes, und doch war die Haltung so stolz und sicher, der Blick so furchtlos, als wisse und fühle er sich selbst hier als Herr.

Diese Ruhe und Sicherheit verfehlte nicht ihren Eindruck auf die an’s Gehorchen gewöhnte Menge. Es kam nur darauf an, wem sie diesmal gehorchte. Zum zweiten Male wendeten sich die Blicke fragend auf Ulrich, der noch immer stumm dastand. Er sah wieder empor, dann seitwärts auf das bleiche Antlitz Eugeniens. Auf einmal trat er zurück.

„Macht Platz, daß die Pferde durch können! Dort nach links hin!“

Dem Befehle wurde sofort Folge geleistet, mit einer Eile, daß es den Eindruck machte, als gehorchten die Leute nicht ungern. In weniger als einer Minute war eine breite Gasse geöffnet, durch die Berkow und seine Gattin ungehindert davonritten. Sie bogen jenseits der Chaussee wieder in den Waldweg ein und verschwanden gleich darauf zwischen den Bäumen.

„Höre, Ulrich!“ – Lorenz trat mit einer Art von gutmüthigem Vorwurf an seinen Cameraden heran – „vorhin hast Du mich angefahren, weil ich oben auf den Hütten zur Ruhe sprach – was hast Du denn jetzt gethan?“

Der Angeredete starrte noch immer nach den Bäumen hinüber; jetzt, wo die Persönlichkeit des jungen Chefs nicht mehr wirkte, schien er seine großmüthige Aufwallung schon wieder zu bereuen.

„‚Hundert gegen Einen!‘“ murmelte er bitter, „und ‚Ich bin sicher in Eurer Mitte!‘ Ja wohl, an schönen Redensarten fehlt’s ihnen nie, wenn sie sich fürchten, und Unsereiner beißt auch immer wieder auf den alten Köder.“

„Der sah nicht aus, als ob er sich fürchtete!“ sagte Lorenz bestimmt. „Er ist überhaupt nicht wie sein Vater. Ulrich, wir sollten doch –“

„Was sollten wir?“ unterbrach ihn Ulrich heftig. „Nachgeben, nicht wahr? Damit Ihr nur wieder Ruhe und Frieden habt, und er es nachher ärger treibt, als es der Vater je getrieben, wenn er erst merkt, daß ihm Alles glückt. Wenn ich ihn heute fortließ, so war es, weil er nicht allein war, weil er seine Frau bei sich hatte und weil –“ er brach plötzlich ab. Der stolze verschlossene Mann hätte sich eher die Zunge abgebissen, als seinen Cameraden gegenüber bekannt, welche Macht ihn hier allein zur Schonung gezwungen.

Arthur und Eugenie waren inzwischen schweigend weiter geritten. Ob die gemeinsam überstandene Gefahr sie näher aneinandergekettet, sie ließen, obgleich der nunmehr breitere Weg hinreichenden Raum gewährte, die Pferde noch immer Seite an Seite gehen und noch immer hielt Arthur Afra’s Zügel in der Hand, obwohl jetzt nichts mehr zu fürchten und die weitere Sorgfalt bei einer so kühnen Reiterin gänzlich überflüssig war.

„Begreifst Du jetzt die Gefahr Deines heutigen Ausfluges?“ fragte er endlich.

„Ja! Aber auch die Gefahr Deiner Lage.“

„Ich muß sie tragen. Du hast selbst gesehen, welchen blinden Gehorsam sich dieser Hartmann zu erzwingen weiß. Ein Wort von ihm, und man ließ uns ungehindert vorüberreiten; auch nicht ein Einziger wagte zu murren, und doch warteten sie allesammt nur auf sein Zeichen, um sich gegen uns zu wenden.“

[189] „Aber er gab dieses Zeichen nicht!“ sagte Eugenie, das letzte Wort schwer betonend.

Arthur richtete wieder den seltsam langen und düstern Blick auf sie. „Nein! Heute nicht! Er wird wohl am besten wissen, was ihn zurückhält. Aber er kann es morgen, übermorgen thun, wenn wir wieder einander begegnen; ich bin vollkommen gefaßt darauf.“

Beim Ausgange des Waldes, der jetzt vor ihnen lag, setzten sie die Pferde in schnelleren Trab und hielten eine Viertelstunde später auf der Terrasse des Landhauses. Arthur schwang sich aus dem Sattel – wie leicht und elastisch im Vergleich mit seinen ehemaligen trägen Bewegungen! Er streckte die Hand aus, um auch seiner Gattin herabzuhelfen; aber auf dem Antlitze der jungen Frau lag noch immer eine tiefe Blässe; sie bebte leise zusammen, als er den Arm um sie legte, und das Beben wurde noch heftiger, als dieser Arm sie eine Secunde länger hielt als sonst, wenn er ihr diesen Dienst leistete.

„Hast Du Dich geängstigt?“ fragte er leise, während er ihren Arm nahm, um sie in’s Haus zu führen.

Eugenie gab keine Antwort. Ja wohl, sie hatte Todesangst ausgestanden bei jener Scene; aber sie wollte es eher ertragen, von ihm für feig gehalten zu werden, als ihn ahnen lassen, daß sie um seinetwillen gezittert, und doch schien eine Ahnung davon in ihm aufzudämmern.

„Hast Du Dich geängstigt, Eugenie?“ wiederholte er. Seine Stimme klang so weich, so verschleiert, und dabei zog er ihren Arm fest und fester an seine Brust. Sie hob das Auge zu ihm empor; da war es wieder, das tiefe mächtige Aufleuchten in dem seinigen, aber heißer, verrätherischer, als sie es je gesehen, und er beugte sich tief herab zu ihr, wie um keinen Laut ihrer Antwort zu verlieren.

„Arthur, ich –“

„Der Herr Baron Windeg und der älteste Herr Sohn sind vor einer halben Stunde angekommen!“ rapportirte ein eilig herantretender Diener, und die Meldung war kaum ausgesprochen, als auch schon der junge Baron, der wahrscheinlich vom Fenster aus die Ankommenden gesehen hatte, erschien und mit dem ganzen Feuer seiner achtzehn Jahre die Treppe herabstürzte, um die Schwester zu begrüßen, die er seit ihrer Vermählung noch nicht wieder gesehen hatte.

„Ah, Curt, Du bist es!“ Die junge Frau fühlte fast einen schmerzenden Stich bei dieser sonst so heiß ersehnten Ankunft des Vaters und Bruders. Arthur hatte ihre Hand in dem Moment fallen lassen, wo der Name Windeg genannt wurde. Sie sah, wie es sich eiskalt über seine Züge legte, und hörte, wie es eiskalt aus seiner Stimme klang, als er jetzt höflich fremd den jungen Schwager begrüßte.

„Du begleitest uns nicht hinauf?“ fragte sie, als er am Fuße der Treppe stehen blieb.

„Entschuldige, wenn ich Dich bitte, Deinen Vater vorläufig allein zu empfangen. Ich hatte etwas – vergessen und bin soeben daran erinnert worden. Ich werde möglichst bald dem Herrn Baron meine Aufwartung machen.“

Er trat zurück, während Eugenie und ihr Bruder allein die Stufen hinaufstiegen. Der Letztere schien etwas befremdet zu sein; aber ein Blick auf die bleichen Wangen seiner Schwester hieß ihn die Frage unterdrücken, die ihm bereits auf den Lippen schwebte. Freilich, er wußte ja, wie hier die Dinge standen. Hatte dieser „Parvenu“ sich vielleicht auf dem Spazierritte neue Kränkungen gegen seine Gemahlin erlaubt? Der junge Baron schickte einen drohenden Blick hinunter und wandte sich dann mit aufflammender Zärtlichkeit zu seiner Schwester.

„Eugenie, ich freue mich so sehr, Dich wiederzusehen, und Du –?“

Die junge Frau zwang sich zu einem Lächeln. „Ich freue mich ja auch, Curt, unendlich freue ich mich!“ Sie blickte gleichfalls hinunter in’s Vestibul, aber es war leer. Arthur mußte es bereits verlassen haben. Im beleidigten Stolze richtete sie sich plötzlich hoch auf. „Laß uns zum Vater gehen! Er wartet!“




Unter allen Bewohnern der Berkow’schen Besitzungen befand sich vielleicht nur ein Einziger, der den so jäh und heftig entbrannten Streit zwischen dem Chef und seinen Untergebenen noch von einer andern als der bedrohlichen Seite nahm, und dieser Eine war Herr Wilberg. In dem blonden Kopfe des jungen Beamten steckte so viel überspannte und unklare Romantik, daß er nicht umhin konnte, das Gefährliche der Situation und die dumpfe Gährung, die jeden Augenblick in eine Katastrophe ausbrechen konnte, höchst interessant zu finden. Freilich war seine Bewunderung von Ulrich Hartmann völlig auf den jungen Chef übergesprungen, seit dieser so plötzlich an die Spitze der Verwaltung getreten war und die Zügel mit einer Festigkeit ergriffen hatte, die Niemand dieser schwachen verweichlichten Hand zugetraut; aber die angestrengte Thätigkeit, mit der Arthur es versuchte, sich auf dem ihm fremden Felde heimisch zu machen und sich gegen die von allen Seiten herandrohenden Verluste und Gefahren zu stemmen, forderte höchstens die Theilnahme und Unterstützung der Oberbeamten; die jüngeren Herren des Personals genossen jetzt, wo ihre Functionen größtentheils ruhten, einer unfreiwilligen Muße, und Herr Wilberg seinerseits benutzte diese, um möglichst tief in seine sogenannte Leidenschaft für die gnädige Frau unterzutauchen und sich möglichst unglücklich darin zu fühlen.

Die Wahrheit zu sagen, wurde ihm letzteres etwas schwer, denn er befand sich im Grunde ganz behaglich bei der hoffnungslosen Leidenschaft; um ihm poetisch zu erscheinen, mußte eine Liebe nothgedrungen unglücklich sein; mit einer glücklichen hätte er wirklich nichts anzufangen gewußt. Diese Anbetung aus der Ferne genügte ihm vollkommen, und er fand hinreichende Gelegenheit, sich ihr hinzugeben, da er dem Gegenstande derselben jetzt nur selten oder niemals nahe kam. Seit jenem Tage, wo er die gnädige Frau durch den Park zurückbegleitete, hatte er sie nur ein einziges Mal gesprochen. Eugenie hatte bei einer zufälligen Begegnung von ihm Näheres über die Bedeutung des ausgebrochenen Strikes zu erfahren gesucht. Nun aber war von Seiten Berkow’s die strenge Weisung an sämmtliche Beamte ergangen, seine Gemahlin in keiner Art zu beunruhigen, und Wilberg kam dieser Weisung auch insofern nach, als er Alles verschwieg, was auf die augenblickliche Lage und die Verhältnisse Bezug hatte, dagegen konnte er nicht umhin, der jungen Frau die Scene, die im Conferenzzimmer zwischen ihrem Gemahl und Hartmann gespielt, möglichst getreu zu schildern, und da er nun einmal Alles in’s Romantische hinaufschrauben mußte, so nahm diese Scene in seinem Munde ein so dramatisches Gepräge an, und der junge Chef mit seiner plötzlich aufflammenden Energie wuchs zu einer solchen Heldenhaftigkeit empor, daß es unbegreiflich war, wie die Schilderung so ganz ihre Wirkung verfehlte.

Eugenie hatte zwar mit sichtbarer Spannung zugehört, aber sie war auffallend bleich und ungewöhnlich still dabei geworden, und der Erzähler wartete am Schluß vergebens auf irgend eine Aeußerung von ihren Lippen. Sie hatte ihm, ohne die Sache auch nur mit einen Worte weiter zu berühren, höflich kühl gedankt und ihn dann höflich kühl entlassen, und der junge Mann war davon gegangen, höchst befremdet und etwas beleidigt über diesen Mangel an Theilnahme. Also auch die gnädige Frau hatte kein Verständniß für die Poesie solcher Situationen! Oder hatte sie dieselbe vielleicht nur deshalb nicht, weil ihr Mann der Held derselben war? Ein Anderer würde wahrscheinlich triumphirt haben bei dem Gedanken, aber Wilberg’s Dichterphantasie zeichnete sich gewöhnlich dadurch aus, daß sie natürliche Empfindungen geradezu auf den Kopf stellte. Er fand sich gekränkt, daß der begeisterte Vortrag, sein Vortrag, so ganz die Wirkung verfehlt hatte; er fühlte überhaupt in der Nähe Eugeniens stets etwas von der „Gletscheratmosphäre“, die sie nach der Behauptung des Oberingenieurs umwehte. Sie war stets so fern, so hoch und unerreichbar und war es gerade dann am meisten, wenn sie sich voll Güte herabließ. Es blieb dieser Herablassung gegenüber wirklich keine andere Wahl, als entweder unbedingt anzubeten oder sich schrecklich unbedeutend und nichtig vorzukommen, und Herr Wilberg, dem Letzteres in keinem Falle passiren konnte, zog natürlich das Erstere vor.

In diese und ähnliche Gedanken versenkt, war er bis in die Nähe der Wohnung des Schichtmeisters gekommen, und da er wie gewöhnlich weder rechts noch links sah, traf er auf der Brücke so dicht mit einer jungen Dame zusammen, die eben von drüben herkam, daß diese sich mit einem leisen Schrei und einem Sprunge seitwärts vor dem stürmischen Anprall in Sicherheit brachte. Wilberg sah jetzt erst auf und stotterte eine verlegene Entschuldigung.

[190] „Verzeihen Sie, Fräulein Melanie! Ich sah Sie nicht. Ich war so in Gedanken versunken, daß ich gar nicht auf den Weg achtete.

Fräulein Melanie war die Tochter des Oberingenieurs, dessen Haus der junge Beamte zuweilen besuchte, aber seine Ideen nahmen bekanntlich einen so hohen Flug, daß er wenig auf ein sechszehnjähriges Mädchen achtete, das allerdings eine zierliche Gestalt, ein allerliebstes Gesicht und ein Paar schelmische Augen, sonst aber gar nichts Romantisches besaß. Dergleichen war ihm lange nicht poetisch genug, und die junge Dame ihrerseits hatte sich bisher auch nicht viel um den blonden Herrn Wilberg bekümmert, der ihr ziemlich langweilig vorkam, der es jetzt aber doch für nothwendig hielt, seine unfreiwillige Unart durch einige höfliche Worte wieder gut zu machen.

„Sie kommen jedenfalls von einem Spaziergange zurück, Fräulein Melanie? Waren Sie weit hinaus?“

„Ach nein, gar nicht weit. Papa hat mir alle größeren Spaziergänge verboten und sieht es überhaupt nicht gern, wenn ich jetzt allein ausgehe. Sagen Sie, Herr Wilberg, ist es denn wirklich so gefährlich mit unseren Bergleuten?“

„Gefährlich? Wie meinen Sie das? fragte Wilberg diplomatisch.

„Nun, ich weiß nicht, aber Papa ist bisweilen so ernst, daß mir angst und bange wird; er hat auch schon davon gesprochen, die Mama und mich zum Besuch in die Stadt zu schicken.“

Der junge Mann legte sein Gesicht in melancholische Falten. „Die Zeiten sind ernst, Fräulein Melanie, furchtbar ernst! Ich kann es Ihrem Herrn Vater nicht verargen, wenn er Gattin und Tochter in Sicherheit wissen will, wo wir Männer stehen und kämpfen müssen bis auf den letzten Mann.“

„Bis auf den letzten Mann?“ schrie die junge Dame entsetzt auf. „Um Gotteswillen! Mein armer Papa!“

„Nun, ich meinte das nur bildlich!“ beruhigte sie Wilberg. „Von einer persönlichen Gefahr ist keine Rede, und sollte es dennoch dazu kommen, so schließen den Herrn Oberingenieur ja seine Jahre, seine Pflichten als Gatte und Vater davon aus. Dann treten wir Jüngeren in die Bresche!“

„Sie auch?“ fragte Melanie mit einem etwas mißtrauischen Blick.

„Gewiß, Fräulein Melanie, ich zuerst!“

Herr Wilberg, der, um der Betheuerung noch mehr Nachdruck zu geben, die Hand feierlich auf die Brust gelegt hatte, machte urplötzlich einen Satz rückwärts und retirirte dann eiligst nach der anderen Seite hinüber, wohin ihm Melanie mit gleicher Schnelligkeit folgte. Dicht hinter ihnen stand die riesige Gestalt Hartmann’s, der unbemerkt über die Brücke gekommen war, und dessen Gesicht jetzt ein verächtliches Lächeln überflog, als er den sichtbaren Schreck der beiden jungen Leute gewahrte.

„Sie brauchen sich nicht so zu fürchten, Herr Wilberg!“ sagte er ruhig. „Ich thue Ihnen nichts zu Leide.“

Der junge Beamte schien doch die Lächerlichkeit seines Zurückweichens zu fühlen und einzusehen, daß er als Begleiter und Beschützer einer jungen Dame nothgedrungen ein anderes Benehmen zeigen müsse. Er raffte deshalb seinen Muth zusammen, stellte sich dicht vor die nicht minder ängstliche Melanie und entgegnete mit ziemlicher Festigkeit:

„Ich traue es Ihnen auch nicht zu, Hartmann, daß Sie uns hier auf offener Straße anfallen werden.“

„Die Herren Beamten scheinen doch so etwas zu glauben!“ spottete Ulrich. „Sie laufen allesammt davon, sobald ich mich nur blicken lasse, als wäre ich ein Straßenräuber. Nur Herr Berkow macht es anders,“ in Hartmann’s Stimme grollte es wieder, als könne er den gehaßten Namen nicht ruhig aussprechen. „Der bietet mir allein die Spitze, und wenn ich die ganze Knappschaft hinter mir habe!“

„Herr Berkow und die gnädige Frau sind auch die Einzigen auf den ganzen Werken, die nichts ahnen – –“ sagte Wilberg unvorsichtig.

„Die was nicht ahnen?“ fragte Ulrich, finster und langsam das Auge auf ihn richtend.

Ob der junge Beamte gereizt war durch den schonungslosen Spott über sich und seine Collegen, ob er es für nothwendig hielt, Melanie gegenüber den Helden zu spielen, genug, er bekam plötzlich einen Anfall von Wuth, wie er furchtsame Naturen nicht selten in’s Extrem treibt, und erwiderte rasch:

„Wir laufen nicht vor Ihnen, Hartmann, weil Sie uns die Leute aufwiegeln und jede Verständigung mit ihnen unmöglich machen, deshalb nicht! Aber wir gehen Ihnen aus dem Wege, weil,“ hier senkte er die Stimme, so daß das junge Mädchen seine Worte nicht verstehen konnte, „weil die Stricke gerissen sind, als Sie damals mit Herrn Berkow anfuhren – wenn Sie es denn doch wissen wollen, warum Ihnen Alles so scheu ausweicht.“

Die Worte waren sehr unbesonnen, sehr keck, zumal für einen Mann wie Wilberg, und er hatte auch in der That keine Ahnung von ihrer Wirkung gehabt. Ulrich zuckte auf, mit einem unterdrückten Wuthschrei, der Alles fürchten ließ, aber in demselben Moment wurde sein Gesicht leichenblaß. Die drohend geballte Faust sank nieder und umklammerte krampfhaft das Eisengitter der Brücke. Mit furchtbar arbeitender Brust, mit zusammengebissen Zähnen stand er da, und sein Blick flammte auf den vor ihm Stehenden nieder, als wolle er ihn zerschmettern.

Das war eine zu harte Probe für den Muth der beiden jungen Leute. Wer eigentlich zuerst davon gelaufen war und wer den Anderen mit sich fortgerissen hatte, das wußten sie nicht, aber sie liefen Beide in möglichster Eile, und erst als mehrere Häuser zwischen ihnen und dem Gefürchteten lagen und sie sich überzeugten, daß er ihnen nicht folge, mäßigten sie aufathmend ihre Schritte.

„Um Gotteswillen, was war das, Herr Wilberg?“ fragte Melanie angstvoll. „Was haben Sie denn dem schrecklichen Menschen, dem Hartmann, gesagt, daß er so auffuhr? Welche Verwegenheit, ihn noch zu reizen!“

Der junge Mann lächelte, wenn auch mit bleichen Lippen. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß ihm der Vorwurf der Verwegenheit gemacht wurde, und er war sich bewußt, ihn im vollsten Maße verdient zu haben. Jetzt erst sah er die ganze Größe seines Wagnisses ein.

„Der beleidigte Stolz!“ sagte er noch etwas athemlos. „Die Pflicht, Sie zu schützen, Fräulein – Sie sehen, er wagte sich trotzdem nicht an uns.“

„Nein, wir liefen noch zu rechter Zeit davon!“ meinte Melanie ganz naiv. „Und es war ein Glück, daß wir es thaten, es wäre uns sonst am Ende an’s Leben gegangen.“

„Ich lief nur um Ihretwillen!“ erklärte Wilberg empfindlich. „Ich allein hätte ihm jedenfalls stand gehalten und hätte es selbst mein Leben gegolten.“

„Das wäre aber doch traurig gewesen!“ bemerkte die junge Dame. „Sie machen so schöne Gedichte.“

Wilberg erröthete in angenehmster Ueberraschung. „Sie kennen meine Gedichte? Ich glaubte nicht, daß in Ihrem Hause – der Herr Oberingenieur ist etwas eingenommen gegen meine poetische Richtung.“

„Papa sprach neulich mit dem Director darüber!“ sagte Fräulein Melanie und stockte dann plötzlich. Sie konnte dem Dichter unmöglich sagen, daß ihr Vater die Verse, die ihrem sechszehnjährigen Geschmack so rührend erschienen, mit beißendem Spott und den allermalitiösesten Commentaren seinem Collegen vorgelesen und das Blatt endlich auf den Tisch geworfen hatte mit den Worten: „Und mit solchem Unsinn bringt der Mensch jetzt seine Zeit hin!“ Das war ihr schon damals höchst ungerecht und grausam gegen den jungen Mann erschienen, der ihr gar nicht mehr langweilig vorkam, seit er eine unglückliche Liebe hatte, wie sich ja sonnenklar aus seinen Gedichten ergab. Das erklärte und entschuldigte alle Absonderlichkeiten seines Wesens. Sie beeilte sich, ihm zu versichern, daß sie ihrerseits seine Verse sehr schön finde, und fing in aufrichtiger Theilnahme an, ihn, wenn auch noch etwas schüchtern, über sein vermeintliches Unglück zu trösten.

Herr Wilberg ließ sich trösten; er fand es so über alle Beschreibung wohlthuend, endlich ein Wesen anzutreffen, das ihn verstand, und noch weit wohlthuender, sich von diesem Wesen bemitleiden zu lassen. Es war ein rechtes Unglück, daß sie bereits die Wohnung des Oberingenieurs erreicht hatten und daß dieser Herr in höchsteigener Person am Fenster stand, mit verwunderten und etwas kritischen Blicken das junge Paar betrachtend; Wilberg hatte keine Lust, die unvermeidlichen Spottreden seines Vorgesetzten auszuhalten, wenn Melanie sich etwa beikommen ließ, die Begegnung mit Hartmann und ihren beiderseitigen Wettlauf zu erzählen. Er verabschiedete sich daher von der jungen Dame mit der Versicherung, daß sie Balsam in sein Herz geträufelt

[191]

Fünf Milliarden und – der Steuerzettel!
Nach dem Oelgemälde von F. Sonderland.

habe, und Fräulein Melanie stieg die Treppe hinauf indem sie sich den Kopf darüber zerbrach, wer denn eigentlich der Gegenstand dieser höchst interessanten unglücklichen Leidenschaft des jungen Beamten sei. –

In der Wohnung des Schichtmeisters Hartmann saß dieser am Tische, den Kopf in die Hand gestützt. Nicht weit von ihm am Fenster standen Lorenz und Martha, als Ulrich die Thür der Wohnstube öffnete. Das Gespräch der Drei verstummte bei seinem Eintritte so jäh und plötzlich, daß der junge Bergmann ohne große Mühe errathen konnte, es sei von ihm die Rede gewesen; indeß er schien nicht darauf zu achten, sondern schloß die Thür hinter sich, schleuderte seinen Hut auf den Tisch und warf sich ohne ein Wort oder einen Gruß in den großen Lehnstuhl am Ofen.

(Fortsetzung folgt.)


[192]
Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
IV.

Unseres jungen Adlers erster Ausflug in die Welt war demnach mißlungen: nicht zwar mit gebrochenen, aber doch mit halbgeknickten Schwingen ist er in’s elterliche Nest zurückgekehrt. Der Vater vermochte beim Willkomm eine beträchtliche Verlängerung seines Gesichtes, die Mutter den Ausdruck der Angst und Bekümmerniß nicht zu verhalten. Freude über das Wiedersehen des Bruders unter solchen Umständen zeigte nur die Schwester Cornelia; zunächst, weil sie, seit Wolfgang’s Entfernung der alleinige Gegenstand von Herrn Johann Kaspar’s Pädagogarchie, hoffen mochte, daß ihr daher rührender Schmerz jetzt wieder nur noch ein halber, weil getheilter, sein würde. Das Mädchen ist ein seltsames, zweifelsohne krankhaft, seelisch-krankhaft angelegtes Wesen gewesen: liebebedürftig, glücksuchend, aber nicht dazu angethan, weder glücklich zu machen noch glücklich zu sein. Dermalen voll Verbitterung gegen den Vater, den sie höchst ungerecht beurtheilte, und ohne innige Beziehung zur Mutter, wandte sie sich mit fast leidenschaftlicher Zärtlichkeit dem kranken Bruder zu, welcher, dieser Theilnahme froh, natürlich auch nichts that, um der Schwester ihre Grillenhaftigkeit abzugewöhnen.

Die Genesung des Leidenden zog sich lange hinaus, die mancherlei Rückfälle eingerechnet, bis in den Frühling 1770. Es war eine trübe Zeit für Wolfgang; nur dann und wann brach ein Lichtstrahl der Anregung, der Hoffnung, der Genugthuung durch das Gewölke körperlicher Leiden und geistigen Unbehagens. Die ernste Miene des Vaters war dem Sohne ein Vorwurf, die Sorge der Mutter ein Leid, das heftig bewegte Wesen der Schwester doch auch keine rechte Erquickung. Die Erinnerungen an die mannigfache geistige Reg- und Strebsamkeit Leipzigs machten den jungen Mann ungerecht gegen seine Vaterstadt, welcher er Bildungsmangel und deren Frauenwelt insbesondere er Anmuthslosigkeit vorwarf. Letzteres wohl nur, weil ihm die Anmuth des Leipziger Aennchen-Kätchens noch immer in der Seele umging. Auch dann noch und nur um so mehr, nachdem sich das geliebte Mädchen mit einem Andern verlobt hatte. In einem seiner Briefe an die also ihm Verlorene brach er in die Worte aus:

„Es ist eine gräßliche Empfindung, seine Liebe sterben zu sehen. Ein unerhörter Liebhaber ist lange nicht so unglücklich als ein verlassener; der erstere hat noch Hoffnung und fürchtet wenigstens keinen Haß, der Andere, ja der Andere – wer einmal gefühlt hat, was es ist, aus einem Herzen verstoßen zu werden, das sein war, der mag nicht gern daran denken, geschweige davon reden.“

Noch zu Ende des Jahres 1769 hatte er den Verlust nicht verschmerzt. Käthchen beantwortete im Freundschaftstone seine Briefe. Aber im December schrieb er:

„Ich mag Ihre Handschrift nicht mehr sehen, so wenig als ich Ihre Stimme hören möchte; es ist mir leid genug, daß meine Träume so geschäftig sind.“

Es bedurfte einer neuen, mächtigeren Liebe, um die Erinnerung an das reizende Käthchen aus seinem Wachen und Träumen wegzuwischen. Dermalen, in der seinem zweiten Ausfluge in die Welt vorhergehenden Zwischenzeit, war er auch als Wachender gar viel in träumerischer Stimmung. Das kam insonderheit daher, daß er, dem sanften Zwange von seiten seiner altjungferlich schönseligen Freundin Susanna Katharina Klettenberg nachgebend, angelegentlich mit religiösen Fragen sich zu schaffen machte, im Labyrinth der Theosophie und Mystik, der Kabbalistik und Alchymie herumdämmerte und, ohne es selbst zu wissen, gar nicht unbedeutende Vorstudien zum „Faust“ trieb. Glückskindern muß eben Alles förderlich sein, während Unglücklichen Alles zum Mißgeschicke sich wendet.

Sein Unbehagen am Vaterhause und an der Vaterstadt suchte unser langsam Genesender in der Beschäftigung mit physikalischen und chemischen Experimenten zu vergessen. Die dichterische Hervorbringung war wenig ausgiebig: an der Handschrift der beiden aus Leipzig mit heimgebrachten Lustspiele wurde herumgefeilt, dann und wann ein weltlich Lied – etwa ein Hochzeitlied für Käthchen – entworfen oder auch im Sinne der Freundin Susanna Katharina ein geistliches gedichtet. So eins ist uns erhalten und zeigt uns, wie der junge Poet die ihm überkommenen christlich-frommen Anschüttungen pantheistisch zu durchgeistigen und die Sehnsucht und den Schmerz der Creatur schon mit echt Goethe’scher Gefühlsinnigkeit auszusprechen wußte:

„O, laß doch immer hier und dort
Mich ewig Liebe fühlen!
und möcht’ der Schmerz nicht also fort
Durch Nerv und Adern wühlen.
Könnt’ ich doch ausgefüllt einmal
Von Dir, o Ew’ger, werden –
Ach, diese lange tiefe Qual
Wie dauert sie auf Erden!“

Wie ein heller und warmer Sonnenblick fiel in diese Frankfurter Wolkenzeit die Begegnung Wolfgang’s mit einem großen Manne. Pasquale Paoli, der Held und Ordner der corsischen Republik, kam, nachdem er seine geliebte Heimathinsel der Uebermacht französischer Eroberungsgier hatte erliegen sehen müssen, auf seinem Wege in’s Exil 1769 durch Frankfurt. Hier sah ihn Goethe im Bethmann’schen Hause und konnte den Eindruck gewinnen, daß groß sein unglücklich sein heißt. Nahezu vierzig Jahre später sollte er vor einen corsischen Heros von ganz anderem Schlage hintreten und einen nicht minder bedeutenden Eindruck machen, als empfangen. Denn von jenem 2. October von 1808 an, wo Napoleon, der corsische Schlachtenkaiser, zu Erfurt mit dem deutschen Dichterkaiser so scharfsinnig über dessen Werther verhandelte, beugte sich Goethe ehrfurchtsvoll vor dem Genie des großen Despoten, wie sich dieser vor dem Genie des Dichters gebeugt hatte, indem er auf den in Erfurt von ihm Weggehenden wies mit dem echt napoleonischen Wort an seine Marschälle und Minister. „Voilà un homme!“

An ihrem bekanntlich grundverschiedenen Urtheil über Napoleon kann man, beiläufig bemerkt, auch wieder den Unterschied zwischen Goethe und Schiller messen, welcher letztere dem Eroberer von Anfang an abgewandt war und abgewandt blieb, weil er in demselben die „reinmenschlichen Züge“ vermißte. Er faßte die Erscheinung Napoleon’s subjectiv und ethisch. Goethe dagegen objectiv und ästhetisch. Was Goethes Urtheil vornehmlich bestach, war zweifelsohne der kosmopolitische Schein, welchen sich der Kaiserkomödiant zu geben verstand. Der Kosmopolitik fühlte sich ja unseres Dichters eigenste Natur allzeit wahlverwandt; denn obzwar er beim wirklichen Beginne seiner Laufbahn einen nationalen Anlauf nahm – „Götz von Berlichingen“ – so ist doch bald die Weltbürgerei seine Politik geworden und bis zu seinem Ende geblieben, gerade wie in vollständiger Parallele der Pantheismus seine Religion ward und blieb. Schillers Weg ging in umgekehrter Richtung: er hob mit leidenschaftlicher Weltbürgerlichkeit an und endigte als glühender Patriot. Dem Auge des Sehers, welcher all seiner Subjectivität zum Trotze den geschichtlichen Gestalten und Ereignissen doch tiefer auf den Grund sah als Goethe, entging es nicht, daß der napoleonische Kosmopolitismus nur die einer grenzenlosen, weltverschlingungsgierigen Selbst- und Herrschsucht vorgesteckte Maske war, und je deutlicher Schiller das erkannte, um so stärker fühlte er sich getrieben, auf den Gedanken des Vaterlandes sich zu stellen, als auf den festen Boden, auf welchem allein die theuersten Güter der Nation gegen eine wie ein tolles Feuer um sich fressende Fremd- und Zwingherrschaft vertheidigt werden könnten. Das ist der Sinn jenes schönsten Testaments, welches jemals ein Prophet seinem Volke hinterlassen hat, der Sinn von Schillers „Tell“ …

Derweil hatte Herr Johann Kaspar immer deutlicher zu merken gegeben, daß ihm des Sohnes dichterische, künstlerische, theosophische und naturwissenschaftliche Anwandlungen, Neigungen und Strebungen schon recht seien, daß es aber denn doch an der Zeit wäre, auch für die Praxis des Lebens etwas Ernstlicheres zu thun und demzufolge die unterbrochene Juristerei wieder aufzunehmen. Der Wolfgang war, wenn auch [193] nicht gerade mit der Juristerei, so doch mit dem Gedanken einverstanden, seine Studien anderswo als im Vaterhause fortzusetzen, allwo es ihm gegen das Frühjahr von 1770 hin gar zu eng und immer, immer enger wurde. Sonderlich nach dem famosen Treppenstreit, welchen er mit dem Vater hatte, der über des Sohnes Rath, die Haustreppe nach Leipziger Manier aufzubauen, „in einen unglaublichen Zorn gerieth, der um so heftiger war, als ich kurz vorher einige schnörkelhafte Spiegelrahmen getadelt und gewisse chinesische Tapeten verworfen hatte“. Unter solchen Umständen kam der Sohn dem väterlichen Wunsche und Willen, nach Straßburg zu gehen, um an dortiger Universität die Jurisprudenz zu absolviren, unweigerlich nach. Die aus Leipzig eingetroffene Nachricht von Käthchens Hochzeit mag ihm das Bedürfniß nach einer physischen und moralischen Luftveränderung noch fühlbarer gemacht haben. Es trieb ihn fort. Am 2. (oder 4.) April langte er in Straßburg an, stieg im Gasthause „Zum Geist“ ab und eilte sofort zur Plattform des Münsters hinauf, um auf den gothischen Koloß, die herrliche Schöpfung Erwin von Steinbach’s, wie auf das schöne, zwischen die Vogesen und den Schwarzwald eingebettete allemannische Stück Erde einen ersten erstaunten und entzückten Blick zu werfen.

Es ist bekannt, daß der Straßburger Münster in unserem jungen Dichter jene heißauflodernde Begeisterung für altdeutsche Art und Kunst wachrief, die sich während seines Aufenthalts im Elsaß mündlich und schriftlich im Kraftgeniestil ausließ, aber nicht lange währte, sondern später geradezu in Abneigung umschlug, je mehr das Hellenische in Goethe’s Wesen zur Reife gedieh. Doch hat er noch in alten Tagen mit jugendlicher Wärme der Wirkung von Erwin’s „Wunderwerk“ gedacht, welches er „als ein Ungeheures gewahrte“, das ihn „hätte erschrecken müssen“, wenn es ihm „nicht zugleich als ein Geregeltes faßlich und als ein Ausgearbeitetes sogar angenehm vorgekommen wäre“.

Nachdem er ein „kleines, aber wohlgelegenes und anmuthiges“ Quartier an der Sommerseite des Fischmarktes – in dem Hause, welches heute die Nummer 80 führt – bezogen hatte, gab er seine Empfehlungsbriefe ab, deren Adressen, wie es scheint, vorzugsweise an „Fromme“ gerichtet waren. Unser junger Stürmer und Dränger – denn ein solcher wurde der Wolfgang in Straßburg so recht – hatte aber den Verkehr mit dieser Menschensorte bald satt, denn, schrieb er an die gute Klettenberg daheim, „sie sind so von Herzen langweilig, daß es meine Lebhaftigkeit nicht aushalten konnte“. Mit all der schön-seeligen Conventikelei war es jetzt überhaupt aus und vorbei für immer.

Straßburg ist zu jener Zeit noch eine im Grunde ganz deutsche Stadt gewesen. Der officielle französische Firniß haftete eben nur an der Oberfläche, während das Wesen der Bewohnerschaft in Sprache und Sitte als deutsch sich kundgab. Die Straßburger Bürgertöchter trugen auch zumeist noch die deutsch-elsässische Landestracht, welche draußen auf dem Lande noch ganz obenauf war. Die große Apostasie, welche die Straßburger nachmals an ihrer Nationalität begangen haben, hob erst mit der französischen Revolution an; ja, die systematisch und consequent betriebene Verwelschung der Elsässer begann sogar erst mit dem zweiten Empire schandbaren Andenkens. Wer damals, im Jahre 1770, hätte ahnen können, geschweige sagen wollen, daß gerade nach hundert Jahren die deutsche Fahne wieder von der Spitze, von Erwin’s wie versteinerte Himmelssehnsucht in die Lüfte steigendem Riesenthurme flattern würde!

Aber heute muthet es uns doch wie ein glückliches Vorzeichen an, daß von der Stadt aus, wo im Mittelalter Gottfried gedichtet und Erwin gebaut hatte, von der Stadt aus, welche dann mittelst schnödester französischer Tücke, mittelst ruchlosesten Verraths – bei welchem natürlich ein deutscher Bischof, Seine Hochwürden Gnaden der Herr Egon von Fürstenberg, ein Hauptmitspieler war – dem deutschen Reiche entrissen wurde, der deutscheste Dichter seinen Siegesgang in die Unsterblichkeit angetreten hat, und unschwer erhebt sich unsere Phantasie zu der Vorstellung, daß es ein Protest gegen die Verfranzosung gewesen, wenn Goethe seinen Namen auf der Plattform des Münsters in den Stein meißelte, und daß der Geist des Riesenbau’s die Berührung durch einen ebenbürtigen Genius gespürt habe, wie beim Uhland geschrieben steht:

„Einst klomm die luft’gen Schnecken
Ein Musensohn hinan,
Sah aus nach allen Ecken,
Hub dann zu meißeln an.
Von seinem Schlage knittern
Die hellen Funken auf,
Den Thurm durchfährt ein Zittern
Vom Grundstein bin zum Knauf.“

Also von Straßburg aus hätte unser Olympier seinen Siegesgang in die Unsterblichkeit angetreten? Ja, so that er. Nicht allein darum, weil der Aufenthalt in dieser Stadt den Abschluß der eigentlichen Lehrjahre Goethe’s brachte und er hier Anregungen empfing, welche sein jetzt anhebendes eigenartiges, Goethe’sches Schaffen bedeutsamst beeinflußten, sondern auch und mehr noch deßhalb, weil er draußen in Sesenheim jene Glückstage, wohl überhaupt die sonnigsten Fest- und Feiertage seines Daseins erlebte, welche ihn zum Dichter machten. Denn was macht den Dichter? Ein „warmschlagendes, von einer Empfindung ganz erfülltes Herz“, giebt er uns selber zur Antwort und, fürwahr, nie hat sein Herz wärmer geschlagen, nie ist es voller gewesen von einer Empfindung als damals, wo es für Friederike Brion schlug und voll war von dieser schönsten Liebe seines Lebens.

Für das geistige Wachsthum Wolfgang’s sind die anderthalb Straßburger Jahre von höchster Wichtigkeit gewesen. Namentlich in Folge der Einwirkung Herder’s, welcher im September 1770 nach Straßburg kam, zu längerem Aufenthalt, maßen er, an einer Thränenfistel leidend, sich dort einer Operation unterziehen wollte und wirklich unterzog. Das Verhältniß der Beiden ist vom Anfang bis zum Schluß ein seltsames gewesen: sie zogen sich gegenseitig kräftig an und stießen sich auch wieder heftig ab. Herder, der schon ursprünglich ein gut Theil theologischen Unfehlbarkeitbewußtseins in sich trug, hat es später nicht verwinden können, daß Goethe so hoch über ihn hinausgewachsen war. In Straßburg jedoch behandelte Herder den jungen Freund, der sich ihm vertrauensvoll-enthusiastisch genähert hatte, sehr von oben herab und stellte sich zu demselben durchweg als der Meister zum Schüler. Dies mit Grund. Denn Herder’s Wissen war viel reicher und reifer, und er hatte bereits einen geachteten Stand und Namen in der Literatur. Er war der Fortsetzer der großartigen kritischen Thätigkeit Lessing’s, aber der Herder’sche Kriticismus ging im Sturmschritt gegen die Schanzen und Burgen der deutschen Verzopfung an, um eine derselben nach der andern siegreich niederzuwerfen. So mächtig und wirkungsreich war Herder’s Kritik, weil sie das Feingefühl eines universalen Verständnisses und den Herzschlag der Poesie besaß, obzwar der Mann als Poet weit, weit unter seinem großen Vorgänger Lessing stand. Aber die Herder’sche Kritik verstand in Folge ihrer angedeuteten Eigenart nicht nur das Zerstören, das Niederreißen und Aufräumen, sondern sie wußte auch anzugeben, wie man schaffen und bauen müßte und könnte.

Herder ist recht eigentlich einer der wirksamsten Initiatoren jener Epoche unserer Nationalliteratur gewesen, welche man nach dem Titel von Friedrich Maximilian Klinger’s kraftgenialischem Schauspiel „Sturm und Drang“ ganz passend die Sturm- und Drangzeit benannt hat. Die Grundstimmung dieser Zeit, das heißt also der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, war durchweg revolutionär und rebellisch. Das jüngere Geschlecht war von einer grenzenlosen, von einer verzehrenden Unruhe ergriffen, der Bruch mit allem Verlebten und Veralteten die allgemeine Losung. Das Vorgefühl ungeheurer Umwälzungen hing in der Luft, ja die Reihe derselben hatte mit den ersten demokratisch-freiheitlichen Regungen und Strebungen in den englischen Colonien von Nordamerika bereits thatsächlich angehoben; Voltaire hatte den skeptischen Witz zu einer culturhistorischen Macht potenzirt, wie die Welt sie noch nie gesehen, und hatte, ein „trefflicher Minirer“, das ganze Fundament des Kirchenglaubens unterhöhlt. Die dadurch in den Gemüthern entstandene Leere füllte dann Rousseau aus mit den blendenden Illusionen seiner glühend beredsamen Natur- und Freiheitspredigt. Wie diese frohe, aber in innerster Seele hohle Botschaft zündete, ist allbekannt. Sie zündete so, daß in Frankreich schon alle die einzelnen Feuer aufloderten, welche so bald zu dem allgemeinen Brande einer politischen Revolution zusammenflammten, während dagegen in Deutschland, wo die gegebenen Verhältnisse einen [194] solchen gewaltsamen politischen Vorsprung rein unmöglich machten, eine geistige und moralische, eine literarische Revolution sich vollzog, welche, vollständig dem deutschen Nationalcharakter angemessen, auf die Erringung der Freiheit des Fühlens und Denkens abzielte, auf die Erlösung des Individuums aus den Fesseln des hergebrachten Wahns und der dogmatischen Satzung und demnach auf die Emancipation des Menschen ausging, an die Stelle des Theologismus den Humanismus, an die Stelle der literarischen Abhängigkeit, Convenienz und Nachahmung das Selbstgefühl, die geniale Kraft und die originale Hervorbringung setzte und die Deutschen über den Jammer ihrer staatlichen Zerrissenheit und Nullität in das idealische Wolkenkukuksheim des Weltbürgerthums emporhob, wo sie sich damit trösteten, daß

„Wer die Sache der Menschheit als seine eigne betrachtet,
Hat an der Götter Geschäft, hat am Verhängnisse Theil.“

Herder nun war wie eigens dazu geschaffen, zwischen dem kritischen Erkennen und dem originalen Hervorbringen den begeisterten und energischen Vermittler abzugeben. Hätte er auch weiter nichts gethan als so aufhellend und wegzeigend auf den jungen Goethe eingewirkt, wie er auf denselben in Straßburg einwirkte, schon das wäre ein unvergängliches Verdienst. Unser Springinsfeld von flottem Studenten merkte gar bald, wie befruchtend und fördernd für ihn dieser Umgang sei, und ließ sich deshalb die hypochondrischen Schroffheiten Herder’s, welcher gerade zu jener Zeit das gramschwere Wort sprach, sein Leben sei nur „eine wildverworrene Schattenfabel“, mit ziemlich guter Miene gefallen. Der herbe Lehrmeister brachte ihm das Gefühl bei, daß eigentlich doch Alles, was er bislang dichterisch versucht hatte, nur Quark und Trödel sei. Herder lehrte ihn mittelbar in die eigene Brust schauen, indem er ihn überall auf das Ursprüngliche, Eigenwüchsige, Naturfrische und Volksmäßige hinwies. Er that für Goethe im Besonderen, was er für die deutsche Literatur im Allgemeinen gethan hat, das heißt, er vollendete die Befreiung des jungen Dichters von der französischen Kunstregel. Er schloß ihm die Poesie der Bibel, die Welt Homer’s, Shakespeare’s und Ossian’s auf. Zwar der Geist der homerischen Gesänge ist erst später, in Italien, dem Vater der Dorothea so recht aufgegangen; aber Shakespeare ergriff ihn schon jetzt mit der Vollgewalt seines souveränen Zaubers.

Auch Ossian, dessen Sang von Selma er prächtig übersetzte und dessen epische Elegik eines der einflußreichsten poetischen Motive jener Zeit wurde, die nicht wußte, daß die angeblichen ossian’schen Gesänge von dem Herausgeber Macpherson selber gedichtet waren. Das gewaltige Ergriffensein Goethe’s von Shakespeare und von Ossian zeigen die beiden Manifeste, womit er sein Auftreten als Nationaldichter ankündigte, der Götz und der Werther. Zugleich mit der Wertherstimmung war dann auch der Ossian für ihn abgethan. Nicht so mit der Götz’schen Kraftgenielaune zugleich der Shakespeare. Zu diesem hat er, wie er bescheiden bekannte, sein Lebenlang emporgeblickt „wie zu einem Wesen höherer Art“, obzwar dem Schöpfer des Lear der Schöpfer des Faust vollberechtigt als Ebenbürtiger sich zur Seite stellen durfte.




Aus der algierischen Revolution von 1871.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.


Es widerspricht gewiß dem Geiste der Civilisation, wenn ein europäisches Culturvolk auf ein anderes, mit welchem es Krieg führt, eine Bande roher Barbaren hetzt, die alle Grausamkeiten eines fremden Welttheils und einer tieferen Culturstufe in den europäischen Krieg hineintragen und so dessen unvermeidliche Schrecken noch viel grauenvoller machen. Daß die Franzosen ein solcher Vorwurf trifft, das werden wohl Alle zugeben, welche deren afrikanische Söldlinge, die Turcos, in ihrer schaudervollen Thätigkeit gesehen haben. In einem vor zwei Jahren in der Gartenlaube erschienenen Artikel habe ich dieser Turcos gedacht und bei der Gelegenheit erwähnt, daß die Meisten derselben von Kabylen stammen und daß die Kabylen sich unter den Eingeborenen Algeriens durch Grausamkeit auszeichnen. Der eigentliche Araber ist zwar rachsüchtig, blutdürstig, aber, so viel ich beobachtet habe, gefällt er sich nicht in unnützen Grausamkeiten. Der Kabyle dagegen, obgleich im Frieden den Europäern weniger abgeneigt als der Araber, somit vielleicht civilisationsfähiger als dieser, ist im Kriege ein wildes Thier. Wie der Panther seiner Gebirge sich nicht damit begnügt, nur die Thiere, welche er verzehren will, umzubringen, sondern in der von ihm überfallenen Heerde hier eins erwürgt, dort ein anderes mit tödtlichem Tatzengriff trifft, und so viel mehr Opfer, als seine Nahrung erheischt, aus baarem Grausamkeitsinstinct schlachtet (ganz anders hierin, als der Löwe, der, wenn er nicht gereizt ist, nur aus Nothwendigkeit tödtet) – ähnlich der Kabyle im Kriege. Ihm genügt nicht das Tödten in offenen Kampfe; auch am Verwundeten und Gefangenen will er seine Blutgier auslassen. Das Abschneiden von Ohren, Nasen, Fingern, das Verstümmeln von Armen und Beinen, Zungenausreißen, Bauchaufschlitzen sind ihm eine Wollust. Menschen, mit solchen Instincten behaftet, wurden von den Franzosen unseren braven Kriegern entgegengestellt. Aber die Nemesis blieb nicht aus! Noch war kein Jahr vergangen, so sollten die Väter und Brüder ebenderselben Kabylen ihre grausame Wildheit an den Franzosen selbst auslassen und eine Reihe blutiger Schreckensthaten den afrikanischen Boden röthen.

Als im Jahre 1871 die französische Macht am tiefsten darniederlag, da machten auch die Eingeborenen Algeriens den Versuch, das Joch abzuschütteln, das bald ein halbes Jahrhundert auf ihnen gelastet. Aber ihre Revolution kam zu spät. Politischen Erfolg konnte sie nicht mehr haben, denn der Friede, der bereits zwischen Deutschland und Frankreich geschlossen war, machte es diesem möglich, wieder Truppen nach Afrika zu schicken. Der Kampf gegen die Commune von Paris hielt zwar größere Truppensendungen noch eine Zeitlang zurück, aber das Ende dieses Kampfes mußte jeder gewiegte Politiker als bald bevorstehend voraussehen. Zu ihrem Unglück glaubten jedoch die Algierer an einen möglichen Sieg der Commune oder wenigsten an eine längere Fortdauer des anarchischen Zustandes. Deshalb wählten sie gerade den Monat April (1871) zum Ausbruch ihrer Revolution.

Diese war lange vorbereitet gewesen und brach nun mit einer seltenen Einhelligkeit aus. Größere Erfolge konnten jedoch nicht mehr erreicht werden, denn bereits waren die wichtigsten Städte und Forts wieder mit Truppen besetzt. Nur die im Flachlande und auf den Bergen zerstreuten Niederlassungen fielen als Opfer der Rache der Einheimischen. Dabei kamen zahlreiche Tödtungen friedlicher Colonisten vor. Eigentliche Grausamkeiten fanden jedoch fast ausschließlich in den von Kabylen bewohnten Gegenden statt. Die Menge dieser blutigen Thaten, wer vermag sie zu schildern? Viele sind nie aufgehellt worden und können es auch nicht werden, weil es an europäischen Zeugen fehlt. Nur diejenigen Massenmorde, denen einige Europäer wie durch Wunder entgingen, während die Mehrzahl ihrer Gefährten ihnen zum Opfer fiel, sind nachweisbar. Einige derselben wurden in den letzten Monaten vom Geschwornengericht in Algier verhandelt und deren Urheber zur Rechenschaft gezogen. Dadurch wird auf einmal ein Zipfel vom Schleier gehoben, der das blutige Gemälde des Aufstandes von 1871 deckte.

Wenn wir hier einige dieser Gräuelthaten schildern, so geschieht es nicht, um Sensation zu erregen, sondern um unseren Landsleuten zu zeigen, welchem Schicksale sie durch die Tapferkeit unserer Truppen entgingen. Denn hätten diese nicht verhindert, daß die Franzosen nach Deutschland kamen, so wäre wohl manches deutsche Dorf einem ähnlichen Schicksale ausgesetzt gewesen, wie es die französischen Colonisten in Afrika traf. Man denke sich ein deutsches Dorf in Händen der Turcos! Wessen diese fähig waren, das wird man danach beurtheilen, was ihre Väter und Brüder in Afrika thaten.

In den Gebirgen Großkabyliens liegt ein kleines, meist von Italienern bewohntes Colonistendorf, dem man zur Erinnerung an die gleichnamige Schlacht den Namen Palestro gegeben hat. Es ist ziemlich weit von andern Colonistendörfern entfernt. Die Gegend rings herum ist ausschließlich noch in den Händen der Eingeborenen; das Gebirge gehört den Beni Chelfun, einem Kabylenstamm; [195] die Thäler bewohnt der arabische Stamm der Amenal. Mit diesen standen die Colonisten auf dem besten Fuße, so daß sie gar nicht an feindliche Absichten derselben glauben wollten, obgleich sich seit Ende 1870 die Anzeichen einer bald ausbrechenden Revolution täglich mehrten. Diese unglückliche Vertrauensseligkeit war um so unerklärlicher, als die Eingeborenen gar kein Blatt vor den Mund nahmen, stets vom Ausbruch der Rebellion sprachen und die Europäer bedrohten, einstweilen nur mit Worten. Selbst einzelne wohlmeinende Araber warnten die Colonisten, aber diese schlugen alle Warnungen in den Wind. Eines Tages überhörte ein junges Mädchen, die Tochter eines Rathes, ein Gespräch der Araber, worin einer derselben, auf sie hindeutend, zu seinem Vater, dem Scheich der Amenal, sagte:

„Wenn der Krieg ausbricht und wir die Christen alle todtschlagen, so will ich nicht, daß man auch dieses Mädchen tödtet; die habe ich mir schon lange für meinen Harem ausersehen!“

Das Mädchen, das durchaus keine Lust hatte, in ein arabisches Harem zu kommen, empfand einen leicht begreiflichen Schrecken vor dem Loose, mit dem sie bedacht schien. Als sie aber ihren Eltern sagte, was sie gehört hatte, nahmen diese es als bloßen Scherz und lachten sie aus. Dennoch bestand sie darauf, daß man ihr erlaube, nach Algier zu gehen. Dadurch rettete sie sich, denn bald darauf sollte Palestro der Schauplatz der blutigsten Auftritte werden.

Anfangs April 1871 konnte man täglich den Ausbruch des Aufruhrs erwarten. Die Anzeichen mehrten sich und waren unverkennbar. Dennoch blieben die Autoritäten von Palestro, der Maire Basetti und ein französischer Ingenieurofficier, Anger, voll blinden Vertrauens. Sie glaubten den Versicherungen der Scheichs, daß nichts zu fürchten sei; ja sie ließen ebendiese Scheichs, die doch die Anstifter der Rebellion waren, Recognoscirungen in der Umgegend machen, von welchen diese natürlich stets mit der Auskunft zurückkamen, daß überall die größte Sicherheit herrsche. Endlich, am 20. April, konnte niemand mehr an der Feindseligkeit der Eingeborenen zweifeln. Das ganze Dorf war von Bewaffneten umzingelt. An Flucht war nicht mehr zu denken, Hülfe nicht zu erwarten. Die Colonisten waren auf ihre eigenen Vertheidigungsmittel allein angewiesen. Das Dorf hatte nicht einmal eine Mauer, wie andere Dörfer Algeriens, denn gegen die Kriegsführung der Eingeborenen ist selbst eine Mauer schon ein Schutz. Es waren nur drei größere Steinhäuser da, die Gensdarmeriecaserne, das Pfarrhaus, das Cantonnementsgebäude. In diese flüchtete sich die Einwohnerschaft.

Kaum waren die Colonisten in vorläufiger (freilich sehr problematischer) Sicherheit, als der Einbruch in’s Dorf erfolgte. Zwölfhundert Mann überfielen es, nahmen Besitz von den leergelassenen Häusern, tödteten die Europäer, die nicht Zeit gehabt hatten, sich in die drei Häuser zu flüchten, und bereiteten Alles zum Angriff auf die Verschanzten vor.

Am zweiundzwanzigsten kam der Scheich der Beni Halfun mit seinen Kabylen. Man griff zuerst das Pfarrhaus, welches die schwächste Position war, an. Selbst in diesem Augenblick gab sich der Maire Basetti noch der Illusion hin, die Aufständischen würden nichts Ernstliches unternehmen, und verbot den mit ihm Verschanzten, auf die Häuptlinge zu schießen. Gegen Abend gelang es den Kabylen, die Thür des Pfarrhauses einzustoßen. Jetzt blieb keine Rettung, als durch einen bewaffneten Ausfall. Die Belagerten verließen das Gebäude, in dem sie sich nicht mehr halten konnten, und es gelang ihnen, bis zur Caserne zu dringen, alle bis auf vier Mann, die unterwegs gefallen waren. Gleich darauf wurde das Pfarrhaus ein Raub der Flammen. Die Helle des Feuers diente den Kabylen dazu, die anderen beiden Häuser zu überwachen, damit niemand entkäme.

Am anderen Morgen forderten die Eingeborenen die Belagerten auf, sich zu ergeben. Nach langen Verhandlungen kommt eine Capitulation zu Stande, wonach die in der Caserne Verschanzten frei abziehen und sogar ihre Waffen behalten dürfen. Der Scheich der Beni Halfun, Said ben Ali, giebt sein Wort, daß die Capitulation gehalten werden soll. Aber kaum haben die Belagerten die Caserne verlassen, so versucht man, ihnen dennoch ihre Waffen zu nehmen. Ein Colonist hält das Bajonnet vor. Man umringt ihn, will ihn entwaffnen. Er leistet Widerstand. Da trifft ihn eine Salve und streckt ihn todt nieder. Dies ist das Signal zu einem allgemeinen Gemetzel. Es ist unmöglich, alle Schauderthaten zu schildern, welche nun folgten. Einige wenige Scenen mögen von ihnen einen Begriff geben!

Vier Kabylen bemächtigten sich des Pfarrers. Umsonst fleht er um sein Leben. Sie reißen ihn nieder und schlitzen ihm den Bauch auf. Drei andere fassen einen Officier; man enthauptet ihn. Ein gewisser Sliman packt einen Colonisten, dem er Geld schuldig ist. Er wirft ihn zu Boden und schneidet ihm Brust und Leib auf; dessen Sohn, ein Kind, der für seinen Vater um Gnade fleht, wird mit einem Bajonnetstich ermordet. Andere fallen nach gräßlicheren Martern. Man schneidet ihnen Ohren und Nase ab, reißt die Zungen, sticht die Augen aus und läßt sie sterbend liegen. Der Raub ist überall mit dem Mord gepaart. Den Frauen zerreißt man die Ohren und schneidet ihnen die Finger ab, um schneller die Ohrgehänge und Ringe zu bekommen. Dann tödtet man auch sie. Im Ganzen werden von den in die Caserne Geflüchteten einundvierzig getödtet, das heißt Alle, bis auf zwei. Die Geretteten sind der Genieofficier, den man als Geisel behalten will, und ein Knabe, der Sohn des Maire; dieser hatte sich nicht von seinem Vater trennen wollen. Die Kabylen reißen ihn mit Gewalt von ihm los; eben wollen sie ihn erschlagen; da gelingt es ihm, einen Schlupfwinkel zu finden. Aber auch hier wird er bald entdeckt. Nun verfällt er auf ein seltsames Mittel, sein Leben zu erkaufen. Er reißt seine goldene Uhrkette in Stücke und giebt Jedem, der an sein Asyl kommt und ihn herausziehen will, einen Theil, so sein Leben stückweise erkaufend. Endlich aber wird er doch herausgerissen. Ein Araber nöthigt ihn, sich auf die Leiche des Pfarrers zu setzen, und zieht ihm die Schuhe aus, um zu sehen, ob er dort nichts versteckt habe. In diesem Augenblick reitet der Scheich vorbei. Der Knabe läuft mit ausgestreckten Armen auf ihn zu und bittet um Rettung. Der Scheich nimmt ihn auf sein Pferd und entreißt ihn so seinen Verfolgern. Dies ist das einzige Beispiel einer menschlicheren Regung inmitten dieses grausigen Gemäldes. Noch war der Vater des Knaben am Leben. Dieser erblickt ihn von Weitem und bittet den Scheich, auch ihn zu retten. Der aber erwidert nur: „Ich komme später wieder.“ Natürlich war dann der Maire erschlagen. Indeß behauptet man vielfach, der Scheich habe nicht die Macht gehabt, die Morde zu verhindern.

Jetzt blieb nur noch das Cantonnementsgebäude übrig. Auf dieses stürzen sich nun die Kabylen. Durch ein unbegreifliches Versehen war dessen Thür offen geblieben. Der Feind dringt ein. Die Belagerten flüchten auf eine kleine Terrasse im ersten Stock, wohin ihnen die Angreifer nicht folgen können, da sie die Treppe zerstört haben. Bald steht das ganze Haus in Brand. Da aber die Terrasse eine eiserne Stütze hat, so bleibt sie stehen. Aber in welch’ elender Lage befinden sich die dorthin Geflüchteten! Die Terrasse hat nur zwölf Quadratmeter Flächeninhalt und auf diesem stehen fünfundvierzig Menschen, die sich noch dazu meist in liegender Stellung halten müssen, denn die Brüstung ist nur vierzig Centimeter hoch. Wer sich aufrichtet, wird augenblicklich von den untenstehenden Feinden erschossen. Die Liegenden trifft ein Hagel von Backsteinen. Dabei brennt die glühende afrikanische Sonne auf die Scheitel der Unglücklichen und das Feuer unter ihnen macht schon die eiserne Stütze der Terrasse erglühen. Kein Tropfen Wasser, um den versengenden Durst zu löschen! In dieser unsäglichen Qual enden einige der Belagerten ihr Leben durch Selbstmord. Die Frauen bitten ihre Männer, sie zu tödten; dennoch will noch keiner sich ergeben. Das Loos der Belagerten der Caserne steht noch Allen vor Augen. Sie wollen lieber im Rauch, der immer dichter wird, ersticken, als den Eingeborenen in die Hände fallen. Endlich beginnt doch das Gewölbe zu krachen. Der oberste Scheich macht den Belagerten Versprechungen, daß er ihr Leben retten wolle. Sie lassen sich bereden zu capituliren, und siehe da – so unberechenbar sind die Schicksale bei solchen Aufständen – diesmal wird die Capitulation wirklich gehalten, und so entgehen diese Belagerten dem Tode Nach wenigen Tagen schon befreit sie eine französische Colonne aus der Gefangenschaft.

Das französische Gericht ist bei Aburtheilung dieser Metzeleien von dem Grundsatz ausgegangen, daß die Scheichs vor Allem schuldig seien, da sie die Morde verhindern konnten und nicht verhinderten. Demgemäß wurden acht Eingeborne, worunter die [196] Vornehmsten der beiden Stämme, zum Tode verurtheilt. Ob die Schuld der Scheichs wirklich so groß war, das heißt ob sie die Macht hatten, die Massenmorde zu verhindern, ist übrigens keineswegs constatirt. Es scheint uns, man hätte wenigstens den Retter des Knaben verschonen sollen. Aber er ist gerade der Erste unter den zum Tode Verurtheilten.

Zur selben Zeit, als Palestro fiel, hatte ein anderes kleines Colonistendorf, das ebenfalls einen Schlachtennamen führt, es heißt nämlich Alma, einen blutigen Kampf gegen die Kabylen zu bestehen; Dank rechtzeitiger Truppensendung, wurde Alma gerettet. Aber ein Dutzend zerstreut wohnender Franzosen fiel doch auch hier als Opfer der Eingebornen. Vier derselben, zwei Männer und zwei Frauen, hatten sich einem Scheich ergeben, der sie zu schützen versprach. Dieser Scheich galt für einen Franzosenfreund. Das war das Unglück der Gefangenen, denn, um sich von dem Verdacht zu reinigen, der ihn als einen Parteigänger der Fremdherrschaft bezeichnete, und seine Feindschaft gegen die Franzosen recht offen zu zeigen, brach er sein Wort. Er führte die Gefangenen mitten in’s Lager. Dort fragte er das Volk: „Was soll ich nun mit den Christenhunden machen?“ Man antwortete ihm, man glaube, daß er sie in Sicherheit bringen wolle. Da schulterte er sein Gewehr und rief: „Ihr sollt sehen, wie ich sie in Sicherheit bringen will.“ In dem Augenblicke schoß er auf seine Schützlinge und gab so das Signal zur Metzelei, der sie zum Opfer fielen, nur eine Frau hatte sich gerettet. Ein Kabyle nahm sie gefangen, führte sie in sein Haus, um sie dort – zu ermorden. Auch diese Angelegenheit wurde im Januar 1873 vor den Assisen Algiers verhandelt und endete mit drei Todesurtheilen.

Ein schreckliches Drama ist das, welches sich genau zur selben Zeit in Ued Chaba bei Batna (Provinz Constantine) abspielte. Hier lebten achtzehn Europäer, fern von andern Colonisten, mitten unter Eingebornen in einer Sägemühle. Auch sie hielten ihre Nachbarn für Freunde und diese versicherten sie ihres Schutzes. Als aber der Aufstand ausbrach, wurden auch sie belagert; man legte Holz und Stroh um die Mühle, und bald loderten die Brandfackeln auf und die Belagerten sahen sich genöthigt, ihre Zufluchtsstätte zu verlassen. Kaum hatten sie dies gethan, als sie unter den Streichen der Feinde fielen. Alle kamen um; nur eine einzige Frau, welche gleichfalls als anscheinende Leiche auf dem Platz liegen gelassen worden war, lebte noch. Als sie wieder zu sich kam, sah sie sich, von Wunden bedeckt, aller Kleider beraubt, mitten unter Leichen, ohne Lebensmittel und fern von aller Hülfe. Die nächste Niederlassung war vierzehn Stunden Weges entfernt, dennoch gelang es ihr, sich zu retten. Aber sie brauchte in ihrem erschöpften Zustande und bei der steten Gefahr, die sie zwang, nur Nachts zu gehen, drei Tage, bis sie das nächste Städtchen erreichte. Sie nährte sich von Wurzeln, bedeckte ihre Blöße mit Blättern, und in diesem Zustande kam sie in Batna an. Dieser Criminalproceß endete mit acht Todesurtheilen.

Die Leser der Gartenlaube werden diese Gräuelscenen lebhaft an den in Nr. 6, 7 und 10 dieses Jahrganges geschilderten Indianeraufstand in Minnesota erinnern. In Amerika, wie in Afrika, unter allen sogenannten Naturvölkern dieselbe Grausamkeit und Rohheit, derselbe Blutdurst! Nur daß wir es in Afrika mit einem Volke zu thun haben, das einst civilisirt war und jetzt in einen so tiefen Zustand zurückgesunken ist, daß es den Wilden nahe steht. Natürlich können wir in beiden Fällen nicht unsern europäischen Maßstab anlegen, um den Grad der Schuld zu ermessen.

Hoffen wir aber, daß die Franzosen, nachdem sie die Wildheit der Kabylen wieder einmal zu ihrem eigenen Schaden erfahren haben, in Zukunft dieses ungesittete Element vom europäischen Kriegsschauplatz verbannen werden.




Deutsche Hausindustrie.
1. Die Besenbinder.


Es ist ein längst allgemein anerkannter Satz, daß das deutsche Haus eine Hauptstätte heutiger Industrie ist und daß die Producte, welche in dem engen Stübchen des Dörflers oder der kleinen Mansarde des Städters das Licht der Welt erblicken, in vielen Fällen mit den glänzenderen Erzeugnissen stolzer Fabriken den Vergleich wagen dürfen. Um nun die Bekanntschaft mit diesen Producten der deutschen Hausindustrie größeren Kreisen zu vermitteln, eröffnet die Gartenlaube mit dem nachfolgenden Artikel eine Serie von Aufsätzen aus diesem Bereiche menschlicher Thätigkeit. In der Absicht vom Kleinen zum Größeren aufzusteigen, stellt sie gerade den allerunscheinbarsten Zweig der deutschen Hausindustrie an die Spitze dieser Serie – die Besenbinderei.


Unsere Vorfahren verbanden mit dem Worte Besen zweierlei Begriffe. Einmal war er ein Strafwerkzeug gleich unserer „Ruthe“, hieß als solcher auch besonders Staupbesen. Diesen meint das Sprüchwort: „Wer den Besen scheut, versäumt den Sohn.“ Besenmarkt hieß in alter Zeit der Platz, auf welchem die Verbrecher öffentlich gestäupt wurden. Anderntheils wurde mit dem Worte Besen dasselbe angedeutet, was wir noch heutigen Tages darunter verstehen. Er ist das Werkzeug der Reinlichkeit. Von ihm spricht in diesem Sinne das alte Wort: „Neue Besen kehren gut, aber die alten fegen das Haus rein.“

Da er meist in den Händen des weiblichen Geschlechtes, dem die Reinhaltung des Hauses obliegt, zu finden ist, ward er mit der Zeit als das Attribut der Weiblichkeit angesehen, ja sein Name wurde zuletzt dem weiblichen Wesen selbst beigelegt. Besonders verschmolz das Wort Besen und Frauenzimmer in der Studentensprache zu einem Begriffe. Ja der Bursch kommt gar nicht in Zweifel, wenn es heißt: „das ist ein flotter, ein strammer Besen.“ Er weiß, daß damit ein Mädchen, nicht aber ein wirklicher Besen gemeint ist.

Selbst unser großer Goethe eignete sich diesen Begriff in seinem Faust an, denn er läßt den Mephistopheles sprechen: „O weh mir! Welch ein dürrer Besen!“ Auch sonst hat er sich des Ausdrucks häufig bedient. Bekannt ist ja sein Zauberlehrling, in welchem der Besen eine so große Rolle spielt. Ebenso der Vers: „Die Hand, die Samstags ihren Besen führt, wird Sonntags dich am besten caressiren.“

Vom Volke wird der Besen freilich mehr den älteren Repräsentantinnen des weiblichen Geschlechts beigelegt, ist sogar der fast unzertrennliche Begleiter der Hexen, welche bekanntlich auch darauf nach dem Blocksberge reiten. Ja, es gilt der Glaube, daß über einen in den Weg gelegten Besen alle Diejenigen, welche Hexen sind, springen müssen. Nur Eine, welche keine Hexe ist, kann ihn aufheben.

Da der Besen in keinem geordneten Hauswesen fehlen darf und bei täglichem Gebrauche eine öftere Erneuerung nothwendig macht, so ist es begreiflich, daß dieses Werkzeug in großen Mengen geschaffen werden muß. Wenn wir uns nun hier mit den Verfertigern desselben beschäftigen, so sehen wir ab von Denen, welche die sogenannten Borstbesen mittelst Schweinsborsten herstellen. Wir haben nur die Besenbinder im Auge, welche ihre Materialien aus der Pflanzenwelt beziehen.

Die Besenbinderei ist in manchen Orten Thüringens ein Hauptindustriezweig, hauptsächlich zur Winterszeit, wo andere Erwerbsmittel fehlen. Es wird dieselbe besonders da betrieben, wo keine andere Industrie vorhanden ist und auch der Ackerbau wegen ungünstiger klimatischer Verhältnisse nicht genug abwirft, um die Einwohner zu ernähren.

Das Material, aus welchem in diesen thüringischen Ortschaften Besen gebunden werden, ist zum kleinen Theile Ginster und die daraus gefertigten Besen haben eine schöne grüne Farbe, zum größten Theile aber wird Birkenreis dazu verwendet. Da diese Pflanzen auf der Höhe des Thüringer Waldes nicht gedeihen, ist die Besenbinderei mehr in den niedriger gelegenen Ortschaften zu Hause; auf dem hohen Walde wird statt derselben die Schachtelmacherei betrieben, von der wir einmal später sprechen werden. Die Birkenreiser müssen im Spätherbst oder im Winter geschnitten werden, wo die Blätter abgefallen sind und die Saftcirculation, welche bei der Birke im Frühjahr und Sommer sehr stark ist, stockt. In früheren Zeiten wurden die [197] wenigsten Reiser von den Besenbindern angekauft, sondern sie nahmen dieselben eben, wo sie deren fanden. Expeditionen danach wurden deshalb, um unangenehmen und zudringlichen Fragen, woher das Reisig sei, möglichst zu entgehen, zur Nachtzeit unternommen, am liebsten mit dem Schlitten, wenn Schnee lag, da dieser weniger Geräusch verursacht, als der Schiebekarren. Daß es gebräuchlich gewesen sein mag, das Rad des Schiebekarrens mit Filz zu umgeben, um unnötiges Geräusch zu verhüten, ersehen wir aus der später zu besprechenden Besenbinderzunftordnung. Daß die Besitzer der Birkenhölzer nicht darüber entzückt gewesen sein mögen, wenn ihnen die Reiser gestohlen wurden, läßt sich denken. Im Anfange dieses Jahrhunderts gab ein zu Blankenburg lebender Pfarrer, welcher selbst Birkenhölzer am sogenannten Hainberge besaß, seinem Unwillen über das Reiserstehlen auf der Kanzel Ausdruck. Er fügte einer Predigt, welche er in dem benachbarten Wirbach, seiner Filiale, wo es viele Besenbinder gab, vorzutragen hatte, folgenden Vers an, der sich bis heute erhalten hat:

Wer in Wirbach sich will nähren,
Der muß suchen Heidelbeeren.
Kann er sich darein nicht finden,
Muß er lernen Besen binden.
Wer dazu besitzt kein Reis,
Stiehlt es im Hainberg. Kyrie Eleis’!

War der Zug in die Reiser geglückt und das damit beladene Fahrzeug wohlbehalten und ungesehen in das Haus gebracht, so begann man sofort aus dem angenehm duftenden Vorrathe die Besen zu verfertigen. Großer Instrumentenreichtum ist nicht dazu notwendig. Scharf schneidende Schnitzer und Klopfhölzer, welche letztere den Zweck haben die Besen damit fein, rund und zierlich zu klopfen, sind die ganzen Erfordernisse. Die Reiser werden sortirt und je nach ihrer Brauchbarkeit zurechtgelegt. Einige gehen durch den ganzen Besen und bilden den Stiel, an welchem die Rinde abgeschabt wird. In den kehrenden Theil aber wird ein aus kürzeren Reisern bestehender kleinerer Besen gesteckt und das Ganze durch zu Ringen in einander gedrehte Aestchen zusammengehalten. Als man die Reiser noch nicht zu kaufen pflegte, hatten die Besen einen sehr niedrigen Preis, jetzt wird das Stück mit vier bis fünf Kreuzern verkauft. Die Besitzer der Birkenhölzer üben jetzt strengere Polizei aus, so daß das Reiserstehlen nicht mehr so leicht ist, wie früher.

Die Birkenhölzer, meist an Berglehnen wachsend, werden jetzt, sobald sie das gehörige Alter erreicht haben, auctionsweise und zwar stehend verkauft und dann von den Besenbindern selbst abgeschnitten. Die Birke erlangt die geeignete Größe in einem Zeitraum von fünfzehn Jahren, und da die Stöcke immer wieder von selbst austreiben, also keine Kosten für Anpflanzungen in Anspruch genommen werden, so bildet ein solches Birkengehölz eine sicher wiederkehrende und angenehme Einnahme für den Besitzer. Nachdem die Birken abgehauen sind, werden die Aeste abgetrennt, die Stämmchen aber werden ganz gelassen und zu Faßreifen verwendet.

Es giebt Händler, welche die Besen von den Besenbindern aufkaufen und dann in Wagenladungen nach der nächst gelegenen größeren Stadt vertreiben. Viele Besenbinder schicken ihre Frauen mit der fertigen Waare in die benachbarten Städte, wo sie das für jeden Haushalt so notwendige Werkzeug in die Häuser verkaufen und ihre Bedürfnisse für das Gelöste eintauschen. Daß übrigens Niemand vom Besenbinden reich werden kann, wird Jeder begreiflich finden. Diejenigen, welche das Besenbinden betreiben, sind gewöhnlich die Aermsten im Orte. Doch wirft es wenigstens so viel ab, daß sie sich kümmerlich damit den Winter hindurch behelfen können. Kommt das Frühjahr heran, so kehren sie wieder zu ihrer gewöhnlichen Beschäftigung als Tagelöhner, Holzmacher und dergleichen zurück. Der dem thüringischen Volksstamm eigene leichte, zufriedene Sinn hat jedoch verstanden, dem Besenbinden eine heitere Seite abzugewinnen, trotzdem dasselbe nicht im Stande ist, Reichtümer zu verschaffen. In dem durch seine schöne Lage berühmten, von vielen Tausend Touristen besuchten, aber sehr armen Dörfchen Schwarzburg pflegten die Einwohner, meist arme Tagelöhner, da ihnen der sie rings umschließende fürstliche Thiergarten nicht gestattet, Ackerbau zu treiben, seit uralten Zeiten die Besenbinderei. Mit einem beneidenswerthen, heitern Humor hatten sie sich zu einer Innung mit Obermeistern, Meistern, Gesellen und Lehrlingen zusammengethan und Statuten entworfen, welche als Ironie auf das ganze Innungswesen gelten können. Sie führen den Titel:

„Erneuerte Ordnung, wie sich künftig alle ehrlichen Handwerksgenossen der weit und breit berühmten, sehr nützlichen Besenbinderzunft verhalten und für harter Strafe hüten und in Acht nehmen sollen.“

Sie beginnen folgendermaßen:

„Wir Endesunterschriebene Vorsteher der Stadt Birkenhausen (das heißt Schwarzburg) thun auf inständiges Angehn etlicher Meister des uralten Handwerks der Besenbinder kund und zu wissen, daß lange Jahre her sehr große Mißbräuche mit untergelaufen sein, sintemal ein Jeder, der in dieser Kunst ein wenig erfahren, darin arbeitet und einem anderen redlichen Meister, der seine Anlage auf seine Kunst gegeben, sein Stückchen Brod aus dem Munde genommen und entzogen wird. Solchem Uebel aber vorzukommen und abzuschaffen sind wir entschlossen, eine richtige Ordnung zu machen, wie alle jungen Meister inskünftige nach Handwerks Gebrauch und alter, wohl hergebrachter Gewohnheit sich zu verhalten haben. So ist denn auch für rathsam erachtet worden, daß alle Jahr auf Herrn Herrn Fastnacht Quartal gehalten und zwei Obermeister und zwei Beisitzer erwählet werden sollen; da denn ein jeder Meister verbunden wird, vier Groschen in die Handwerkslade zu erlegen, die Gesellen aber, wo es gebräuchlich ist, daß sie mit den Meistern zur Lade gehn, auch vier Groschen geben und sollen das Geld fein zu Rate halten, nicht versaufen oder verthun, sondern wo etwa verdorbene Meister und Gesellen müßig gehn und weder zu beißen, noch zu brechen haben, so sollen die Herren Obermeister und Beisitzer von dem Gelde ihnen etwas zur Steuer geben, damit das Armuth auch erhalten werde.“

Es folgen nun einundzwanzig Artikel, in denen bestimmt wird, daß die Besenbinder, wenn sie mit anderen Meistern auf großen Messen oder Jahrmärkten zusammenkommen, die Waare der Anderen nicht verachten oder tadeln sollen. Pfuscher und Störer in den Dorfschaften und umliegenden Kreisen sollen nicht gelitten werden, sondern soll denselben das Werkzeug durch den Gerichtsdiener weggenommen werden. Auch soll man dieselben gefangen setzen lassen und mit gebührender Strafe belegen, wovon die Hälfte der Stadt Birkenhausen, die andere Hälfte der Lade verfallen soll. Wer Meister werden will, soll im Beisein aller ehrlichen alten Meister sein Meisterstück, einen Besen, verfertigen. Ist das Meisterstück fertig und gut, wie es die Meister haben wollen, so wird er für zunftmäßig erkannt. Hat er aber Fehler gemacht, so soll er noch drei Jahre wandern, oder sich mit Geld loskaufen, wenn ihm die Meister günstig sind. Auch Bestimmungen darüber, was die Lehrlinge, wenn sie bei einem Meister lernen wollen, zu geben haben, finden sich darin. Sie sollen sieben Jahre lernen und nach bestandener Lehrzeit sieben Jahre wandern. Degen sollen nur die Meister tragen dürfen. Die Gesellen sollen nicht mit einem Jeden saufen, doppeln, oder spielen, da ihre Zunft uralt sei und Anderen weit vorgezogen werde, möge Letzteres auch glauben, wer da wolle. Originell sind die Bestimmungen, nach denen sich Keiner von dem Holzförster ertappen lassen soll, wenn er in den Wald Reiser schneiden geht, und daß sich Keiner gelüsten lassen soll, mit einem Schiebekarren, dessen Rad nicht mit Filz beschlagen ist, in das Holz zu fahren. – Den Schluß bildet der Vers:

Wer sich will in Birkenhausen nähren,
Der muß gehn nach Schwamm und Heidelbeeren.
Wenn er die nicht mehr kann finden,
Muß er lernen Besenbinden.
Und wenn er mit diesen auch verdirbt,
Kann er betteln gehen, bis er stirbt.

Daß Keiner in der That als Lehrling bei einem Meister das Besenbinden zu erlernen brauchte und erlernte, versteht sich wohl von selbst, da ein jeder im Stande ist, diese Kunst in einem Tage sich anzueignen. Am allerwenigsten aber brauchte ein Besenbinder auf die Wanderschaft zu gehen. Gleichwohl gab es Lehrbriefe und Wanderbücher für die Schwarzburger oder, wie sie sich nannten, Birkenhausener Besenbinder, ausgefertigt von dem ebenfalls fingirten fürstlichen Amte zu Birkengrün. In [198] einem solchen Wanderbuche, welches uns vorgelegen, waren auch allerlei scherzhafte Visa enthalten.

Wann diese humoristische Besenbinderzunft zu Schwarzburg gegründet und die oben erwähnte Ordnung entworfen worden ist, kann nicht nachgewiesen werden. Die Innungstage auf „Herrn Herrn Fastnacht“ wurden, wie sich alte Leute zu erinnern wissen, schon am Ende des vorigen Jahrhunderts abgehalten. Ein „Ehrbarer Lehrbrief“ eines Besenbinders, den wir eingesehen haben, ist aus dem Jahre 1798 datirt. Die Innungstage der Besenbinder waren Festtage für das ganze Dorf Schwarzburg und wurde der letzte im Jahre 1849 abgehalten. Sämmtliche Besenbinder zogen aus dem im Thale gelegenen Dorfe mit Musik nach dem Schloßberge hinauf in das dort befindliche Gasthaus. Voraus gingen die Obermeister mit Kronen aus Birkenreisern und Brillen von demselben Material. Dann folgten vier Meister, welche die mit Besenreisern umflochtene Innungslade auf Besen trugen. Jeder Innungsgenosse führte einen Besen. Im Gasthause angekommen, wurde zur Abhaltung der Zunftsitzung geschritten. Der Innungsschreiber verlas die Artikel der Zunftordnung, und Solche, welche Meister werden wollten, mußten ihr Meisterstück fertigen. Einer und der Andere kam wohl auch als wandernder Besenbinder aus der Fremde zugereist und mußte seine Kunstfertigkeit beweisen. Kurz, man suchte durch allerlei Schwänke, die oft derb genug ausfielen, die Heiterkeit der Anwesenden zu erregen und die nöthigen Geldmittel zu einem Trunke beizutreiben. Die Wohlhabenderen im Orte erkauften sich auch gern durch ein Geldgeschenk die Erlaubniß, dem originellen Feste beiwohnen zu dürfen. Ein Tanz beschloß endlich den großen Tag.

Wir hoffen hierdurch gezeigt zu haben, daß selbst ein so geringfügiger Gegenstand, wie der Besen ist, da er aus Menschenhand hervorgegangen, seine Geschichte hat, die der Beachtung werth ist. Wir wünschten nur, daß in jedem Stande und Gewerbe sich so viel fröhlicher Sinn, so viel gesunde Lebenslust fände wie bei den armen Besenbindern. Vielleicht tragen diese Zeilen dazu bei, daß die Hausfrauen die wenigen Kreuzer für die so nothwendigen Besen viel lieber zahlen, seit sie wissen, wie und von wem sie verfertigt werden.
R. Sigismund.


Ein Denkmal treuer Liebe.

Es war ein sonnig klarer Septembernachmittag, als der Dampfwagen uns keuchend und stöhnend die steile Steigung zu der Höhe des Aachener Waldes hinanführte. Immer weiter und prächtiger breitet die Landschaft zu beiden Seiten sich aus. Tief unten beginnt jetzt die alte Kaiserstadt mit ihren Thürmen und Häusermassen im Dufte der Ferne zu verschwinden; noch ein letzter Blick hinab auf das herrliche, im warmen, goldigen Sonnenscheine daliegende Thal, dann dringt der Zug donnernd in die Tiefe des Berges ein und die Nacht der Unterwelt breitet ihren Mantel über uns aus.

Als wir nach einigen Minuten das Licht des Tages auf’s Neue erblicken, befinden wir uns in einer einsamen, wilden Gebirgslandschaft. Es ist das ehemalige Jagdrevier jenes alten Riesen, der, wie die Sage erzählt, mit seinem Wunderschilde hier „tief im Ardennerwalde“ hauste, bis jung Roland sich durch seine Besiegung die Rittersporen verdiente.

Auf den Flügeln des Dampfes geht’s nun durch den stillen Forst dahin, den einst bei Sonnenschein und Mondenlicht die kühnen Degen von der Tafelrunde des großen Karl bei der Verfolgung des Riesen durchstreiften. Zum zweiten Male bahnt unser Zug sich den Weg durch die Tiefe des Berges, eilt dann über Thäler und Schluchten dahin und bringt uns rasch zu dem Dörfchen Astenet, wo wir ihn verlassen, um von hier zu Fuß einen Streifzug in die Berge zu unternehmen.

Ein bequemer Fußpfad führt von dem Stationsgebäude dem nahen Walde zu, und nachdem wir hier etwa eine Viertelstunde weitergeschritten sind, sehen wir, aus dem unter den Bäumen herrschenden grünen Dämmerlichte in’s Freie hinaustretend, ein herrliches Bergpanorama vor uns aufgerollt: steile Gebirgskuppen wechseln mit reich bewaldeten Höhenzügen, und zur Rechten schaut, von einer jäh in die enge Waldschlucht abfallenden Bergwand halb zwischen dunkeln Tannenwipfeln versteckt, das graue Gemäuer eines alten Burgbaues in das Land hinaus.

Dieses urkundlich erst gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts unter dem Namen „Eyneburg“ erwähnte, im Volksmunde als „Emmaburg“ bekannte Schloß wird von der Sage mit Karl dem Großen und dessen Tochter Emma in Verbindung gebracht.

Die schöne Kaisertochter hatte dem stattlichen, ritterlichen und klugen Eginhard, dem Geheimschreiber und Rath des Vaters, wie alle Welt weiß, ihr junges Herz geschenkt. Wohl wußten Beide, daß eine weite, unübersteigliche Kluft ihre Wege trennte; dennoch vermochten sie nicht mehr von einander zu lassen, und da am Tage das strenge Hofceremoniell ihren Verkehr und ihre Blicke bewachte, so gestattete Emma dem Geliebten von Zeit zu Zeit, daß er sie nächtlicher Weile in ihrem Gemach in der alten Kaiserburg zu Aachen besuchte und dort in allen Ehren ein Stündchen mit ihr plauderte.

So hatten sie auch einst eine Herbstnacht in seliger Liebe miteinander verbracht, und der dämmernde Tag mahnte Eginhard daran, daß es Zeit sei, den Heimweg anzutreten; mit Schrecken gewahrte er aber, daß über Nacht Schnee gefallen war, der seine Fußstapfen dem Schloßgesinde sogleich verrathen und einen argen Verdacht rege machen mußte. Doch wo selbst der kaiserliche Rath einen Ausweg zu finden verzweifelte, wußte Emma’s kluger Frauensinn bald das Rettungsmittel zu finden, indem sie den Geliebten auf ihren Schultern über den Schloßhof trug. Zum Unglück für die beiden Liebenden hatte der Kaiser sich schon früh von seinem Lager erhoben und sah nun, am Fenster stehend, mit Erstaunen und Zorn auf das seltsame Paar hinab. Wohl liebte auch er den trefflichen Jüngling, der das Herz der Tochter gewonnen, doch solcher Frevel mußte gestraft und gesühnt werden. Noch an demselben Morgen ließ Karl seine Räthe versammeln; legte ihnen, ohne Namen zu nennen, den Fall vor und verlangte ein Urtheil über eine Königstochter, welche nächtlicher Weile ihrem Buhlen Einlaß zu ihrem Gemache gestatte. Die Räthe waren der Ansicht, daß man in Sachen der Liebe milde urtheilen und Verzeihung gewähren müsse. Auch dem Brecher der Hausehre waren sie geneigt Vergebung angedeihen zu lassen. Nur Eginhard, der als der jüngste von ihnen zuletzt seine Meinung abzugeben hatte, stimmte dafür, daß ein solcher den Tod verdient habe.

„Sie haben beide den Tod verdient,“ entschied der Kaiser; „doch anstatt des Rechtes will auch ich Milde walten lassen; aber nimmer will ich die Schuldigen vor meinen Augen sehen; für immer seien sie aus meiner Nähe verbannt!“ Mit blutendem Herzen fügte sich Emma in den harten Spruch und wanderte in geringer Kleidung, damit Niemand sie erkenne, aus der Kaiserburg in den Wald hinaus, wo sie nach längerem Umherirren mit einem einsamen Pilger zusammentraf, in welchem sie alsbald Eginhard erkannte. Nachdem das Schicksal so die Liebenden ohne ihren Willen wieder zusammengeführt hatte, vermochten sie sich nicht mehr von einander zu trennen. Gemeinsam wanderten sie tiefer in den Wald hinein und unweit eines Baches, an welchem Emma kraftlos zu Boden gesunken war, erbauten sie sich eine Hütte.

„Er hieb die Aest’ und Zweige, sie sammelte und trug,
Und sieh, ein Dach war fertig, für zweie groß genug.“

Rasch schwanden ihnen hier im Genusse stillen Glücks die Tage und Jahre dahin, während der Kaiser einsam zu Aachen in seiner Hofburg weilte und mit Wehmuth seines verschollenen Kindes gedachte, welches sein Zorn aus dem Vaterhause in die Ferne getrieben.

„Der Becher, den er leerte, er mundete ihm nicht,
Er that nichts recht aus Freude, er that es nur aus Pflicht.
Und selbst das frohe Jagen, das sonst war seine Lust,
Erlabte nicht wie ehmals des alten Kaisers Brust.
Er ließ die Hunde jagen, weitab wohl durch den Tann,
Er selbst ging trüb’ und einsam, der kaiserliche Mann.“

So hatte er sich, seinen schwermüthigen Gedanken nachhängend, eines Tages wiederum von seinem Jagdgefolge entfernt [199] und weitab in den stillen Forst verloren, wo er sich ermüdet unter einem Baume in’s weiche Moos streckte und die Augen zum Schlummer schloß. Als er erwachte, erblickte er einen in schlichte Kleider gehüllten, hübschen blondlockigen Knaben, der sich während des Schlafes seines Schwertes als eines guten Spielzeuges bemächtigt hatte. Auf den Ruf des Kaisers floh der Knabe mit der schweren Waffe, um daheim bei der Mutter Schutz zu suchen. Karl folgte ihm bis zu jener Hütte, in welcher er eine wunderschöne junge Frau mit einem Säugling an der Brust fand. Als bald darauf der Besitzer des kleinen Waldhauses, mit reicher Jagdbeute beladen, heimkehrte, lud dieser den Fremden ein, an dem Familienmahle theilzunehmen. Man tischte dem Gaste auf, was der Wald und der Bach an Gaben nur spendete.

Die Emmaburg im Ardennerwalde.
Nach einer Skizze von K. S.

„– und Emma schnitt das Wildpret, kunstrecht, wie sich’s gehört,
Und wie es einst der Vater zu Aachen sie gelehrt.
Er schaute zu und freute sich über jeden Schnitt. –
Doch plötzlich eine Thräne des Kaisers Aug’ entglitt.“

Karl hatte die lange verloren geglaubte Tochter erkannt und zog nun die Wiedergefundene, der er im Herzen längst verziehen, freudig bewegt an seine Brust. Auch dem Eidam, dem alten Freunde, wurde volle Vergebung zu Theil, und nachdem der Kaiser seine lieblichen Enkel sattsam geherzt und geküßt, brachen Alle mit ihm auf gen Aachen, um hinfort wieder bei dem Vater in der Kaiserburg zu wohnen. An der Stelle jener Hütte aber ließ Eginhard zur Erinnerung an die hier verlebten glücklichen Tage ein festes Schloß erbauen.

Ein steiler Fußpfad führt den Wanderer hinauf zu der Burg, aus deren Fenstern man einen herrlichen Blick über das Geulthal und die dasselbe einschließenden Höhenzüge genießt. Das Innere der Burg mit ihren engen Kammern und Gemächern, in denen jetzt ein schlichter Landmann als Pächter waltet, macht es dem Beschauer leicht, sich um eine Reihe von Jahrhunderten zurückzuversetzen. Die kleinen alterthümlichen Fenster mit den mächtigen Steinkreuzen, der einfache aus einem Holztisch und einigen altmodischen Stühlen bestehende Hausrath, der trauliche Kamin, Alles erinnert an eine ferne Zeit.

Leider weiß uns die Chronik aus der früheren Geschichte der Burg nichts Näheres zu berichten. Sie beginnt erst mit dem Ritter Johann von Eyneburg, welcher um 1280 hier hauste, und zählt dann durch mehrere Jahrhunderte dessen Nachkommen auf, von denen sie jedoch wenig mehr zu erzählen vermag, als daß sie lebten, heiratheten und starben.

Ein Blick durch das Fenster führt uns aus der Vergangenheit rasch in die Gegenwart zurück. Er zeigt uns am Ausgang der von dem Geulbach durchrauschten Waldschlucht die modernen Bauten eines ausgedehnten Berg- und Hüttenwerkes und dahinter ein augenscheinlich zum größten Theil der jüngsten Zeit angehörendes belebtes Oertchen – Vieille Montagne, Altenberg, auch Kelmis oder Neutral-Moresnet genannt.

Außer durch seine reichen Galmeigruben und seine zahlreichen Namen ist dieser Ort dadurch merkwürdig, daß er bis heute noch keinen Herrn hat. Das Dorf, nebst der dazu gehörigen Feldmark ist, so seltsam es klingen mag, ein vergessenes Stück Land und die glücklichen Bewohner desselben, etwa dreitausend an der Zahl, können, so lange sie nicht selbst irgend einer Macht den Krieg erklären, ruhig von ihrem neutralen Boden in die Welt hinaussehen. Mögen Deutsche, Franzosen, oder wer es sonst sein mag, in blutigem Kampfe ihrem Gegner gegenüberstehen, den Bewohner des neutralen Landes stört das nicht; er gräbt und schmilzt sein Zink, welches die Tiefe der Erde in reichem Maße ihm spendet, und wartet ruhig ab, bis man es für gut hält, wieder Frieden zu machen.

Dieser kleine, von einem Bürgermeister regierte Freistaat hat seine Unabhängigkeit einer unklar gefaßten Stelle des Wiener Friedensvertrages zu verdanken, welche derart unbestimmt gehalten war, daß sowohl Preußen als Holland sich darauf hin als Herren von Altenberg betrachteten. Da man zur Zeit nicht die nöthige [200] Muße hatte, um die Sache zu entscheiden, so wurde die Grenzregulirung einstweilen vertagt, bis im Jahre 1816 beide betheiligte Staaten Commissare ernannten, welche den Streit schlichten sollten. Doch auch diese vermochten sich nicht zu einigen, und so blieb der Ort nach wie vor unabhängig.

Um jedoch die biederen Altenberger vor dem Neide der Götter zu bewahren, mußten dieselben es sich gefallen lassen, daß ihnen, wie allen übrigen Menschenkindern, Steuern auferlegt wurden, in deren Ertrag die beiden Nachbarstaaten sich brüderlich theilten. Das einzige Vorrecht, welches man ihnen ließ und welches sie noch heute besitzen, ist die Befreiung vom Militärdienst, die sich jedoch nur auf diejenigen jungen Männer erstreckt, deren Eltern auf neutralem Boden geboren sind, während solche, deren Eltern aus Preußen oder Holland, jetzt Belgien, dorthin ziehen, in dem betreffenden Staate militärpflichtig sind, was erst bei ihren Kindern wieder erlischt.

Bis vor etwa zwanzig Jahren war das „neutrale Land“ das Paradies aller Derer, welche in irgend einem Nachbarstaate mit den Strafgesetzen in Berührung gekommen waren, und der Ort stand deshalb in einem etwas zweifelhaften Rufe. Doch auch dieses hat aufgehört und sowohl Preußen als Belgien weiß heute, wenn ihm irgend ein „theures Haupt“ abhanden gekommen ist, dieses auch auf neutralem Boden schon bald wieder zu finden. Dagegen können auch die Bewohner des neutralen Landes, bei den preußischen wie bei den belgischen Gerichten Recht suchen. Daß ein derartiger Zustand zu endlosen Verwirrungen und Weitläufigkeiten Anlaß giebt, liegt auf der Hand, und da nebenbei auch die von beiden Ländern geübte strenge Grenzsperre dem Aufblühen des betriebsamen Ortes in gewerblicher Beziehung überaus nachtheilig ist, so würden die Altenberger, unter denen das deutsche Element vorwiegt, sich bereitwilligst von Preußen annectiren lassen. Auch bei ihnen gilt der Spruch:

„Mein Vaterland muß größer sein.“

Der Blick durch die Fenster der alten Burg hat uns von dieser hinweggeführt zu einem ihr, wenn auch räumlich nahen, so doch dem Wesen nach um so ferner liegenden Gegenstande. Man kann sich in der That nicht wohl größere Gegensätze denken, als hier, inmitten des stillen duftigen Waldes, die von dunkeln Tannen umrauschte alte Burg mit ihrem romantischen Sagenkreise, und dort drüben, von grünlich-gelben, qualmenden Galmeidämpfen eingehüllt, die modernen Ziegelsteinbauten der Hüttenwerke mit ihren lärmenden Maschinen und ihrer dem Leben eines Ameisenhaufens zu vergleichenden Betriebsamkeit. – Es ist das treue Bild der alten und der neuen Zeit.

Rudolf Scipio.



Beruhigung nach der Gefahr.

Gegen die preußischen Regulativ-Seminare sind zwei Artikel der Gartenlaube des vorigen Jahrgangs gerichtet gewesen, ein angreifender, von einem genannten Verfasser (Nr. 15, „Drei Jahre in einem preußischen Lehrerseminar“, von Ed. Nitschke) und ein diesem beistimmender, ihn mit neuen Belegen bekräftigender (Nr. 19). Gegen beide sind der Redaction drei Entgegnungen zugegangen. Die erste von dem Küster und Lehrer Klinkott in Schönwalde, die zweite von F. Kiesel im Namen des Schlesischen Provincial-Lehrervereins zu Breslau mit siebzehn Lehrerunterschriften und die dritte durch das Königliche Provincial-Schul-Collegium zu Breslau in einem mit R. unterzeichneten Aufsatze des „Schulblatts der evangelischen Seminare Schlesiens“, 1872, 3. Heft.

Da der von allen drei Seiten gewünschte wörtliche Abdruck ihrer Entgegnungen in der Gartenlaube den Raum von mindestens sieben Spalten beanspruchen würde, so müssen wir, wie gern wir auch zu jeder Berichtigung und Vertheidigung gegen Irrthum und Unrecht die Hand bieten, dennoch vorziehen, nur diejenigen Stellen, welche von besonderem Gewicht, und auch solche, in welchen alle Drei übereinstimmen, hier mitzuteilen. Wir werden nie einen Mitarbeiter in Schutz nehmen, wenn er gegen die Wahrheit gefehlt hat; aber ebensowenig können wir uns verletzter Vorurtheile und Parteineigungen annehmen, welche der bestimmten und festen Richtung der Gartenlaube entgegenstehen.

Daß letztere Zumuthung nicht fern liege, zu dieser Annahme mußte ein Blick in das genannte Schulblatt uns führen. Beim Herumblättern darin stießen wir auf einen Aufsatz „Adolph Diesterweg, ein moderner Pädagog“ und fanden darin u. A. folgende Stellen:

Diesterweg ist nie über das, was wir natürliche Religion nennen, hinausgekommen: die geoffenbarte Religion war ihm verschlossen. In Gott sieht er den allmächtigen, liebevollen Vater; aber daß er dies nur durch Christum sein könne, ist ihm verborgen geblieben.“ Ferner: „Seine Zucht etc. war wohl eine straffe etc. – aber doch war seine Zucht keine wirklich evangelische, d. h. auf das Evangelium gegründete ..... Was wir evangelischen Glauben nennen, hat in seinem Ideenkreise keine Stelle gefunden. Er spricht wohl vom Glauben an die Heiligkeit des Lehrerberufs, vom Glauben an unsere Menschenwürde; aber was die Schrift mit dem Gefangennehmen der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens fordert, versteht er nicht; er nennt dies: Sichselbsttödten oder -Verstümmeln.“ –

Wie früher in den Rheinlanden, so rühmten es seit 1832 in Berlin auch Diesterweg’s Schüler, „daß er mit seiner heuristischen Methode ihre geistigen Kräfte anzuregen, ihre Selbsttätigkeit zu entwickeln und sie in unablässige Arbeit hineinzuziehen verstanden habe ..... Wer den Prüfungen in der Seminarschule beiwohnte, konnte merken, daß die Kinder nicht hersagten, was sie gelernt hatten, sondern daß ihre Antworten der unmittelbare Ausdruck ihrer geistigen Thätigkeit waren.“ Aber – „er eifert gegen jeglichen confessionellen Religionsunterricht, er will nicht nur den Katechismus, sondern auch das Gesangbuch, sintemal dies auch eine confessionelle Schrift sei und Hadersachen nicht in die Volksschule gehörten, vom Religionsunterrichte ausgeschlossen wissen, giebt der Naturreligion, d. h. derjenigen religiösen Erkenntniß, deren Quelle die Naturbetrachtung sei, den Vorzug und erklärt, das Christenthum, der echte Glaube, bestehe nur darin, daß man den Geist lieber habe als die Welt.“ Kein Wunder, daß als Gipfelpunkt seiner Ketzerei sein Ausspruch hingestellt wird: „Es komme beim Lehrer nicht hauptsächlich auf Demuth an, sondern auf Muth“.

Nach diesem Einblick schien der Standpunkt der Entgegner nicht mehr zweifelhaft; indeß freuen wir uns, im Voraus sagen zu können, daß wir uns darin wenigstens in einer Beziehung denn doch täuschten. Wir geben den drei Berichtigern in aufsteigender Reihe das Wort.

Herr Klinkott wendet sich hauptsächlich gegen Nr. 19: „Der Geist der preußischen Schulregulative“. Er weiß, daß mit dem dort geschilderten Schullehrerseminar das zu Neuzelle (im Kreise Guben der Provinz Brandenburg) in den Gebäuden der ehemaligen Cisterzienserabtei gemeint sei, und nimmt die getadelten Baulichkeiten und Einrichtungen ebenso warm als den Director (Weymann) namentlich gegen den ihm gemachten Vorwurf der Unduldsamkeit in Schutz. Die vor ihm versteckten Bücher, sagt er, seien jedenfalls Romane „anrüchigen Inhalts gewesen, etwa ‚Vier Frauenabenteuer‘, wie solche damals viele im Seminar unter den Zöglingen cursirten.“ Das ist freilich ein trauriges Geständniß, wie wenig die Strengreligiosität gegen solch eine Entsittlichung schützte. Der Unterricht in Geschichte, Naturgeschichte und Geometrie wird ebenfalls gerühmt, dagegen eingestanden, daß es unter den Zöglingen sogenannte „Zupfer“ gegeben habe, das heißt solche, welche alle Morgen aus einer Anzahl mit Bibelsprüchen bedruckter Zettel ihren Tageswahlspruch herausgezogen hätten. Damit wird eine sehr beklagenswerthe Scheinfrömmigkeit verrathen, die ganz zu obigem geheimen Romanlesen paßt. An die Seminarschilderung in Nr. 15 kann Herr Klinkott deshalb nicht glauben, weil „unsere hohen Schulaufseher, die doch früheren Decennien, als dem der Regulative, ihre Ausbildung verdanken“, dies wohl erkannt hätten. Spricht das nicht deutlich gegen die durch die Regulative geleitete Ausbildung? – So gehen die Widersprüche

[201] sechs große Schreibseiten lang durcheinander, daß wir uns schließlich gar nicht wundern, wenn Herr Klinkott seine Gegner mit dem Trumpfe niederzuschlagen denkt: „Freundlich und hell waren alle Räume (des Seminars), und diese Umwandelung verdankt das Seminar einem Dunkelmanne? Nein, das war der Director nicht! Das ist überhaupt kein Christ!“ – O heilige Einfalt, daß du doch Recht hättest!

Das königliche Provincialschulcollegium in Breslau hatte in dem Nitschke’schen Aufsatze „vielfache Unrichtigkeiten und Entstellungen“ gefunden, gegen welche dasselbe in dem genannten Hefte des Schlesischen Schulblattes „eine sachgemäße Berichtigung“ einsandte. Der Verfasser erklärt von vornherein, daß er die Regulativ-Seminare nicht für unfehlbar, sondern für reformbedürftig erachte. Er sagt: „Ich zähle mich zu Denen, welche der Ansicht sind: der Buchstabe (des Regulativs) tödtet, aber der Geist macht lebendig.“

In das Einzelne eingehend, sagt er: „Daß jede in jenes Seminar abgelieferte Seele mit zehn Thalern bezahlt wurde, stimmt meines Wissens mit dem wahren Sachverhalt nicht überein; daß Jeder, der nicht in zwei Minuten mit dem Ankleiden fertig, in’s schwarze Buch notirt wurde, ist eine Unwahrheit.“ – Hinsichtlich des von Nitschke besprochenen vielen Singens bei der Frühandacht ist Herr R. nicht ganz klar. Erst behauptet er, er habe in seiner Stube sehr selten früh gesungen; dann giebt er als Wortlaut der Seminar-Bestimmung daneben an: „Der Senior hat in seiner Stube früh mit den Andern den Tag mit Gesang oder Gebet anzufangen“ und fügt die Frage hinzu: „Ist das nicht Pflicht eines jeden Christen?“ – und schließlich berichtigt er, daß nicht „einige Regulativ-Lieder“, sondern stets vor und nach der Morgenandacht nur ein Vers gesungen worden sei. – Hinsichtlich der Unterrichtsbücher und des Unterrichts selbst wird Herrn Nitschke allerdings nachgewiesen, daß seine Behauptung, „daß mit zwanzigjährigen Seminaristen nicht das geleistet werde, was eine gute städtische Schule mit zwölfjährigen Kindern erzielte“, an Uebertreibung leidet. – Zugestanden wird die starke Beschränkung der persönlichen Freiheit, daß zum Beispiel wegen Cigarrenrauchens und Besuchens von Conditoreien Freitische entzogen, und daß alle Besuche in der Stadt verboten wurden, weil die Seminaristen den durch die Seminarmauer ihnen verschlossenen Anblick der „Schönen“ sich im elterlichen Hause zu verschaffen suchten. Nach den Bemerkungen: „Daß das Bibellesen, Sonntags von fünf bis sechs Uhr, ein Fehlgriff war, gebe ich nach eigener Erfahrung zu. Die Schilderung der Persönlichkeit des Directors zu widerlegen, daraus lasse ich mich aus Schicklichkeitsrücksichten nicht ein“ – schließt Herr R. mit den Worten: „Daß die Redaction der Gartenlaube diesen Artikel ohne Weiteres aufgenommen hat, entzieht ihr ohne Zweifel sehr viele Leser aus dem Lehrerstande, welche sie bisher wegen ihrer Billigkeit und Vielseitigkeit schätzten.“

Wir können nicht verschweigen, daß wir dieser „Berichtigung“, eben weil sie von einer königlichen Behörde empfohlen ist, eine ruhigere Haltung gewünscht hätten.

Mit Dank und Anerkennung müssen wir dagegen die Zuschrift der Mitglieder des Schlesischen Provincial-Lehrervereins in Breslau begrüßen. Ebenso würdig als einfach und klar stellen sie das Thatsächliche zur Berichtigung des Irrthümlichen und Uebertriebenen im Nitschke’schen Artikel dar, ohne pharisäische Bedauerniß, sondern offen und ehrlich. Nicht in dem für die Öffentlichkeit bestimmten Schriftstück, sondern in dem von sämmtlichen Lehrern unterschriebenen Begleitbriefe sagen sie, daß die Redaction jene Nitschke’schen Mittheilungen jedenfalls in viel wohlmeinenderer Absicht gedruckt, als der Verfasser sie geschrieben habe, und geben uns über den Verfasser des Artikels Andeutungen, welche allerdings den von uns nach unserer Redactionspflicht über denselben eingezogenen Nachrichten widersprechen und uns bedauern lassen, daß wir in jenem Artikel nicht noch weit mehr gestrichen haben, als ohnedies geschehen ist.

Auch diese Entgegnung richtet sich am schärfsten gegen den von Nitschke ausgestellten Bildungsgrad der Seminaristen und die Unterrichtsziele des Seminars. Es wird dargethan, daß die Bestimmungen des Regulativs vom ersten October 1854 durch spätere Ministerialrescripte mehrfach geändert und gebessert seien. „Es ist überhaupt falsch,“ sagt der Schluß der Entgegnung, „von den Regulativbestimmungen auf einen Schluß auf den gegenwärtigen Stand der Lehrerbildung zu ziehen. Die Regulative haben durch spätere Erlasse mannigfache Erläuterungen resp. Erweiterungen erfahren, auch sind in keinem der Seminare unserer Provinz Verhältnisse gewesen, wie sie das Regulativ vom 1. October voraussetzt, so daß nicht hätte über die dort bezeichneten Ziele hinausgegangen werden können. Wir machen auf die in Fachblättern oft veröffentlichten Aufgaben bei Seminarprüfungen aufmerksam und verweisen Die, welche sich für den Gegenstand interessiren, auf den erst kürzlich in der ‚Allgemeinen deutschen Lehrerzeitung‘ erschienenen Reisebericht und das darin über preußische Seminare abgegebene Urtheil des Seminardirectors Kehr aus Gotha – eines allseitig als tüchtig anerkannten Fachmannes. – Um jedem Mißverständniß vorzubeugen, sprechen wir es schließlich nochmals ausdrücklich aus: Wir erkennen an, daß die gegenwärtige Lehrerbildung eine nicht der Zeit entsprechende ist; wir tadeln die dieselbe beeinflussende kirchlich-pietistische Richtung und wünschen von ganzem Herzen höhere Bildungsziele; aber wir protestiren ebenso entschieden gegen jede unwahre Behauptung und gegen Entstellung von Thatsachen, da dadurch die regulativmäßig gebildeten Lehrer hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Bildung und ihres Charakters, namentlich bei einem Vergleich mit den älteren Collegen, in der öffentlichen Meinung herabgesetzt werden.“

Diese Zuschrift ist lange vor den jüngsten Schritten des preußischen Cultusministeriums erlassen. Seitdem sind die Regulative aufgehoben und andere Zeiten in Preußen und hoffentlich für ganz Deutschland aufgegangen. Wir hätten jenen Artikel sammt den Entgegnungen für von den Ereignissen beseitigt erklären können. Da wir aber den Mitgliedern des Schlesischen Lehrervereins die Genugthuung schuldig sind, ihren Lehrerruf nicht in der öffentlichen Meinung schädigen zu lassen, so mögen auch sie diesen Artikel hinnehmen als ein Zeichen unserer Anerkennung und als eine Beruhigung nach der Gefahr.



Blätter und Blüthen.

Eine Sylvesterabendidee. Es war Sylvesterabend. Wir saßen, unser Sechs, gemüthlich am Kneiptische – zum letzten Male; denn es galt den Abschied von den schönsten Lebensjahren, den Universitätsjahren. Zum letzten Male funkelte der goldene Wein im hellen Römer; tapfer wurde gezecht, und Scherz und Wein kreisten fröhlich am runden Tische des doppelten Kleeblattes, wie man den Kreis der Sechs oft scherzhaft genannt hatte.

Der lange Wilhelm – er war so lang und hager, daß er eigentlich auch noch als Stiel des doppelten Dreiblattes dienen konnte – gedachte wehmüthig der bevorstehenden Trennung, und – muß der Deutsche zu seinem Jubel die Zähre der Wehmuth als Beigabe haben, so wird sie ihm auch wieder das Motiv zu neuer Lust – darum ließ er uns anklingen auf das schöne Jetzt und hieß uns das ungebundene Leben genießen, so lange noch ein Tröpflein davon in unserem Dasein schimmerte. Lustig klangen die Gläser wieder und wieder zusammen.

Fleißiges Correspondiren sollte von nun ab, da uns unser Beruf in alle Welt zerstreute, das gegenseitige Andenken stets frisch erhalten und uns im lebhaftem Geistesverkehr fesseln. „Gewiß,“ tönte es voll allen Seiten, „gewiß, Jeder muß ein paar Mal im Jahre an Alle schreiben.“ Ja, wie oft ist dieses Versprechen nicht schon gegeben und wie selten gehalten worden! Frage sich Jeber selbst, wie im Laufe der Jahre solche Briefe immer seltener geworden, bis sie schließlich zu einer womöglich gedruckten Anzeige zusammenschrumpfen, wenn ganz besondere Familienereignisse das Andenken an den „besten“ Freund wachriefen.

Jahre sind seitdem verflossen; das doppelte Kleeblatt ist in alle Richtungen der Windrose auseinandergesprengt; wir haben uns seit Jahren nicht mehr zusammengefunden, aber – Jeder von uns erhält pünktlich alle sechs bis sieben Wochen einen Brief von seinen fünf Freunden. Es klingt fast wunderbar, und doch ist die Sache sehr einfach und ermöglicht sich durch eine Idee, die an jenem Silvesterabend die Weinkanne geschaffen, und die sich in der Praxis trefflich bewährt hat.

Es macht nämlich zwischen uns in festgesetzter Reihenfolge ein Correspondenzbuch die Runde. Ein zweifingerdicker, fester Band von Schreibpapier in Quartformat wandert als Postpaket von Einem zum Andern. Jeder behält das Buch acht Tage, liest die Briefe seiner Freunde und schreibt selbst einen neuen dazu, um das Buch dann weiter zu senden. Es ist mir nicht möglich, das Vergnügen zu schildern, mit dem ich jedes Mal die 6 Sgr. Porto bezahle, wenn mir der Briefträger das kleine, bekannte Paketchen in’s Haus bringt, mit welcher Genugthuung ich die fünf Briefe durchlese oder in den alten hie und da herumblättere und meinen Brief

[202] dazu schreibe. Hier zeigt ein glücklicher Vater die Geburt eines kräftigen Jungen oder eines zarten Töchterleins an, und blättert man ein Jährchen zurück, so findet man das Glück seines jungen Ehestandes geschildert. Dort findet sich eingeklebt die Photographie eines in seliger Wonne schwimmenden Pärchens; ein alter Freund, der bis jetzt noch den Hagestolz gespielt, ist in den Netzen der Liebe gefangen; er weiht diesem fröhlichen Ereigniß eine mit der schönsten Fracturschrift ausgeführte Anzeige auf einer Extraseite und „stiftet“ des Brautpaares Conterfei dazu.

Die viele Freude, welche mir das Correspondenzbuch gemacht, veranlaßt mich, seine Entstehungsgeschichte am Sylvesterabend mitzutheilen; vielleicht findet die Idee Nachahmer, welche wie wir die Banden der Jugendfreundschaft nicht gern von der Zeit gelockert sehen möchten. Die Idee ist gut; die Praxis hat sie als trefflich bewährt; dem langen Wilhelm gebührt der Ruhm, sie in’s Leben gerufen zu haben, als seine wehmuthsvolle Sylvesterbetrachtung den Wunsch nach einem Ersatz für das langjährige Zusammenleben wachrief.

Berlin, im März 1873.

L. S.


Auf ewig!

Ich weiß ein Grab, vergessen und allein –
Aus alter Zeit ist es zurückgeblieben –
Verwittert – moosbedeckt der schwere Stein.

Und eine Schrift ist in den Stein getrieben:

5
„Auf ewig ist dies Grab erkauft, und nimmer

Darf man es öffnen!“ also steht’s geschrieben.

Ich fand es jüngst, als ich im Abendschimmer
Einherging träumend in der Stille dort,
Nachsinnend dem vergänglich eitlen Flimmer.

10
Der du da ruhst an dem vergessenen Ort,

Muß noch dein Stein von deiner Thorheit sagen?
Was dachtest du bei dem vermeßnen Wort?

Du wußtest doch, daß, wo nun Bäume ragen,
Einst Göttertempel schimmernd sind gestanden,

15
Bis sie ein Gottesblitz in Staub zerschlagen.


Gewalt’ge Städte, die in allen Landen
Mit Ruhm geherrscht – sie sind dahingeschieden –
Es weiden Heerden dort, wo sie verschwanden.

Und die geruht in mächt’gen Pyramiden,

20
In Sarkophagen, jene Königsleichen,

Wo sind sie hin?! Sie sind zerstreut hienieden.

Du dachtest wohl, dich würd’ es nicht erreichen,
Und hast dein „Ewig“ auf den Stein geschrieben,
Doch einem Samenkorne mußt’ es weichen!

25
Ein Samenkorn, einst dort zurückgeblieben,

Hat zwischen Stein und Sockel leise nieder
Die Wurzeln in das feuchte Land getrieben.

Es wuchs empor und wiegte sein Gefieder,
Sein Blätterwerk, in den durchsonnten Lüften –

30
Es wuchs – und Frühling kam auf Frühling wieder.


Und Frühling kam und ging mit seinen Düften
Und nährt das Samenkorn zum Riesenbaume –
Vom Drang der Wurzeln muß der Stein zerklüften!

Halb abgewälzt liegt er am Grabessaume,

35
Und durch das „Ewig“ ist ein Riß gesprungen.

So ging’s zu Ende mit dem kurzen Traume.

Doch in den Zweigen hat es leis’ geklungen,
Als ich dort stand in sanfter Abendstunde,
Und flüsternd haben sie mir zugesungen:

40
„Auf ewig! armes Wort im Menschenmunde!“


Heinrich Seidel.


„Die zweite deutsche Nordpolfahrt 1869–1870 unter Führung des Capitän K. Koldewey“ lautet der Titel eines längst mit Spannung erwarteten Werkes, welches von dem „Verein für die deutsche Nordpolfahrt in Bremen“ herausgegeben und von den Herren Doctoren Lindemann, Hartlaub und Finsch daselbst redigirt wird.

Die in Deutschlands Entwickelung so mächtig eingreifenden Kriegsereignisse ließen die durch Dr. A. Petermann’s unablässige Bemühungen erfolgreich angeregte Betheiligung der deutschen Nation an der Erforschung der Polarregionen in den Hintergrund treten und lenkten die Aufmerksamkeit ab von den kühnen Männern, welche ausgesandt waren, die deutsche Flagge im Dienste der Wissenschaft nach dem hohen Norden zu führen. Was dieselben geleistet haben, ist längst anerkannt worden; wie sie das Unternehmen durchführten, ist in lebendigster Weise in obengenanntem Werke geschildert.

Die bis jetzt erschienene erste Abtheilung des ersten (erzählenden) Theiles ist mit zahlreichen Illustrationen ausgestattet. Sie enthält die Fahrt der beiden Fahrzeuge bis zu ihrer Trennung, die Zerstörung der „Hansa“ durch das Eis, die höchst abenteuerliche, ohne Gleichen dastehende unfreiwillige Reise der Besatzung auf und mit dem Treibeis nach Süden und deren endliche Rettung nach der Missionsstation Friedrichsthal. Die Erzählung gewinnt dadurch außerordentlich an Frische und Lebenswahrheit, daß alle diese Begebenheiten von den Betheiligten selbst geschildert werden. Eine sehr werthvolle Bereicherung dieser Abtheilung ist eine kurze „Geschichte der Entdeckung und Besiedelung Grönlands“ von Professor Dr. Maurer in München.

Die zweite Abtheilung des ersten Bandes wird die Reise der „Germania“ schildern und ebenfalls noch im Laufe dieses Jahres erscheinen. Der zweite Band, welcher die wissenschaftlichen Resultate enthalten wird, an deren Bearbeitung sich die ersten Gelehrten betheiligen, ist mit richtigem Tacte von dem erzählenden Theil getrennt worden.




Wilhelm Bauer, der wegen seiner kühnen Unternehmungen und Erfindungen so Gefeierte, dessen Schiffhebung auf dem Bodensee und dessen Fahrten und Schießen unter Wasser etc. Thatsachen sind, die einer späteren Zeit Ausbeute und Lohn sichern, hat selbst vom Unglück Schlag um Schlag zu erfahren. Während seiner Schießproben auf dem Starnberger See starb sein hoffnungsvoller ältester Knabe Wilhelm; dann warf ihn, in Folge seiner Strapazen in Hitze und Frost, am Glühofen, wie in winterlicher Meerestiefe, die Gicht unheilbar auf’s Krankenlager. Und nun ist in diesen Tagen auch sein noch einziger jüngster Knabe gestorben. Fast zu gleicher Zeit verlor er unverschuldet den Rest seines Vermögens und damit die Hoffnung, seine letzte Erfindung wenigstens im Modell ausgeführt zu hinterlassen.

Die Zeit der Aufrufe für solche Unternehmen ist vorüber. Da aber Wilhelm Bauer einst seine Verehrer und Gönner nach Tausenden zählen konnte, so ist Vielen derselben ein Andenken an den hinsterbenden Mann von Werth, das in seiner Photographie mit Namenszeichen besteht. Es wäre wohl möglich, ihm die bittersten Sorgen aus dem letzten Wege zu rücken, wenn recht Viele sich direct diese Photographie bestellen und in ihren Briefen ihre Theilnahme für den Mann und seine Leistungen in entsprechender Weise bethätigen wollten. Sie adressiren: Herrn Submarine-Ingenieur Wilhelm Bauer, Theresienstraße Nr. 69 in München.




Wiederholte Erklärung. Gegenüber den zahllosen Einsendungen von Gedichten erklären wir auf’s Neue, daß wir zu einer kritischen Würdigung oder auch nur einfachen Rücksendung derselben an die Verfasser bei unseren mannigfachen anderen redactionellen Geschäften keine Veranlassung haben.




Kleiner Briefkasten.


An den Antipoden in Oregon. Sie werden wohl daran thun, eiligst an eine entsprechende Ausbeute Ihres Reichthums an Stören zu gehen. Soeben kommt uns durch russische Zeitungen die Nachricht zu, daß die bisherige Hauptbezugsquelle des Caviar immer spärlicher fließe und zu versiechen drohe. Es ist am kaspischen Meere und in der Wolga eine so rücksichtslose Fischerei auf Störe betrieben worden, man hat dort so wenig an Nachzucht und Schonung gedacht, daß von den ehemaligen Riesenfischen von vierzig bis fünfzig Pud[WS 1] keine Spur mehr vorhanden und der Fang auf immer kleinere Fische herabgekommen ist. Da wäre es gerade an der rechten Zeit, mit amerikanischer Rührigkeit in die Lücke einzutreten. Ueber Caviarbereitung kann die Gartenlaube keine Belehrung, namentlich für praktische Ausführung, geben; vielleicht finden Sie schon in Hirzel’s „Hauslexikon“ für Ihren Zweck Genügendes. Da auch an den deutschen Ostseeküsten Caviar bereitet wird, so würden Sie am besten thun, von dort her sich einen mit dieser Arbeit vertrauten Mann zu verschaffen.


Den unbekannten Damen in der güldnen Au.

Ihr Lieben in der güldnen Au,
Hegt starke Wißbegierden:
Wer? Wo? Und ob ihn schon – wie schlau! –
Des Altars Kränze zierten?

Am Altar stand er selbst noch nicht.
Kann Euch die Aussicht laben,
So wißt: er ist mit Zuversicht
Noch alleweil zu haben.


E. H. in Königsberg i. P. Ihr Manuscript liegt auf der Post.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. 1 Pud = ca. 16,4 kg

Anmerkungen (Wikisource)