Drei Jahre in einem preußischen Lehrerseminar

Textdaten
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Autor: Eduard Nitschke
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Titel: Drei Jahre in einem preußischen Lehrerseminar
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 243–246
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Entgegnungen in Die Gartenlaube 1873, Heft 19
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Drei Jahre in einem preußischen Lehrerseminar.


Von Eduard Nitschke.


Es war in den letzten Februartagen des Jahres 1865. Soeben hatte das Amtsblatt der königlichen Regierung in ein kleines Dorf mit einer Präparandenanstalt die längst erwartete Nachricht gebracht, daß die Aufnahmeprüfung für das königliche Seminar zu M. im März stattfinden solle. Mit erneuerter Hast stürzten sich die zu Prüfenden auf die Bücher, welche das Maß abgaben für das von den preußischen Regulativen geforderte Wissen. Die verborgensten Winkel wurden aufgesucht, um die aus dem Schutt verflossener Jahrhunderte hervorgezogenen geistlosen, aber um so längeren Kirchenlieder, die Unzahl von biblischen Geschichten, Psalmen, Gleichnissen, Prophezeiungen, Evangelien, Episteln, Bibelsprüchen dem widerspenstigen Gedächtnisse einzuverleiben; denn Bibel- und Gesangbuchsfestigkeit waren das Haupterforderniß für die Befähigung zur Aufnahme in das Seminar.

Für die diesmalige Prüfung hatten sich neunundvierzig Präparanden gemeldet, von denen nur achtundzwanzig aufgenommen werden konnten. Das Jahr vorher betrug die Zahl der Prüflinge noch achtundsechszig; zwei Jahre später nur neunundzwanzig; die schlagendste Verurtheilung der damaligen Leitung der Unterrichtsangelegenheiten. Dazu versuchte die Regierung jedes, nur nicht das nächste Mittel, um junge Leute für das Schulfach zu gewinnen. Da alle frommen Verheißungen und Verweisungen auf den jenseitigen Lohn für das verdienstvolle Werk der Präparandenbildung bei den Lehrern vergeblich waren, bezahlte die Regierung endlich jede in das Seminar abgelieferte Seele dem Präparandenbildner mit zehn Thalern.

Trotz dieser lockenden Summe nahm die Zahl der Lehrer immer mehr ab; in einer einzigen Provinz Preußens sind noch jetzt an hundert Lehrerstellen unbesetzt; an manchen Orten sind einer einzigen schwachen Kraft zwei- bis dreihundert Kinder übergeben. Um diesem Nothstande wenigstens nominell abzuhelfen, wurden nach beendigter Präparandenprüfung einem Theil der jungen siebenzehnjährigen Leute, welche man für die Aufnahme in das Seminar als nicht genügend vorgebildet befunden hatte, nichtsdestoweniger sofort von dem anwesenden Schulrathe Hülfslehrerstellen übertragen.

M. ist ein kleiner Ort. Die Bürger desselben nähren sich meist vom Ackerbau und sind, wie auch in der Umgegend, der großen Mehrzahl nach streng katholisch. Man sieht hier eine Unzahl Kreuze und Capellen; in einer derselben befindet sich die Abbildung einer Heiligen, welche eine Sichel gen Himmel geworfen, die noch bis heute nicht auf die Erde zurückgefallen ist. In diese Stadt hatte man vor ungefähr zwölf Jahren die Leuchte protestantischer Orthodoxie verlegt, ein evangelisches Regulativ-Seminar.

Früher befand sich dasselbe in der Hauptstadt der Provinz. Die Seminaristen hatten Gelegenheit, Vorlesungen der dortigen Universität zu hören, die Schätze der Bildergalerien, Bibliotheken, Museen, des botanischen Gartens waren ihnen geöffnet, sogar Concerte und Theater durften sie besuchen. Die Folgen dieser Freiheit waren entsetzlich; die Seminaristen erdreisteten sich einmal, über ihren „Herrn Director“ bei der Regierung Beschwerde zu führen, weil er seine „theuren Zöglinge“ mit dem väterlichen Du beehrte und Löcher in die Thüren der Arbeitszimmer schneiden ließ, um dieselben stets belauschen zu können. Bei der Untersuchung seitens der Regierung stellte sich neben manchen anderen Ungehörigkeiten auch heraus, daß der fromme Seminardirector, um sein glänzendes, unsittliches Leben fortführen zu können, die ihm anvertraute Casse bestohlen hatte.

Da man nicht den Mantel der christlichen Liebe um die öffentlich gewordene Thatsache hängen konnte, sandte man diesen „Seminardirector“ nach einer Festung, in der er einen strenggläubigen Katechismus schrieb. Dann aber beförderten ihn seine frommen Freunde nach Amerika, damit er als Missionär den Indianern sein Christenthum verkünde. Das großstädtische Seminar wurde kurz vor 1848 geschlossen; man verlegte es nach einem ganz kleinen Städtchen; und als dieses Eisenbahnstation wurde, suchte man lange nach einem Orte, wohin sich ein solcher Culturfortschritt nicht verirren würde. Endlich fand sich ein Krähwinkel, wo weder Kunstgenüsse noch liberale Zeitungen und Universitätswissen die Frömmigkeit gefährdeten und wo aus Mangel an gebildeten Evangelischen auch kein gottloser Protestantenverein entstehen konnte: das ultramontan-katholische M. wurde mit dem evangelischen Seminar beschenkt.

Das Seminargebäude ist ein großartiger Rohbau mit zwei hervorspringenden Flügeln, in dessen sich die Wohnungen der Seminarlehrer befinden. Die Lehrsäle liegen auf die Straße, die Arbeitszimmer der Seminaristen auf den Hof hinaus. Im zweiten Stock befinden sich die Räume für die Kleiderschränke und zwei Schlafsäle. Der wichtigste Theil und Mittelpunkt des Seminars ist der reich geschmückte Betsaal.

Wir schlafen die erste Nacht im großen Schlafsaale des Seminars. Die älteren Bewohner dieses Salons lassen ein durch alle Dur- und Molltonarten variirendes Schnarchen hören; wir Neulinge werfen uns auf dem Lager ruhelos umher.

Kaum hat uns ein freundlicher Traum die Bilder der Heimath vorgezaubert, so hören wir schon die Thür des Schlafsaal-Corridors aufschließen (Seminaristen sind auch in der Nacht eingesperrt), schwere Tritte nahen sich. Es ist fünf Uhr, und das Seminarglöcklein läßt seine dünnen Töne in die Dunkelheit hinausschallen. Dann kommt der Portier und befestigt mit der Linken die dunkle Schatten werfende Laterne an einem Haken in der Mitte des Saales, mit der andern Hand schwingt er eine riesige Schelle. Schlaftrunken fahren wir empor und greifen nach den unentbehrlichsten Kleidungsstücken am Rechen des Bettes. Binnen zwei Minuten müssen wir angekleidet sein. Schon tritt ein neuer Wächter des christlichen Hauses auf, der gestrenge Herr Hülfslehrer, der aber uns während der Nacht in unserm [244] Schlafsaale bewacht hat. Wehe dem jetzt Säumigen, denn er wird in’s „schwarze Buch“ notirt. Und nun geht’s hinab in den Keller, um Hände und Gesicht in das zinnerne Waschbecken zu tauchen, welches nach dem Gebrauche sorgfältig gereinigt und ausgetrocknet werden muß. Dann versammelt man sich in den Arbeitszimmern, welche je neun Seminaristen in ihre kahlen Wände aufnehmen. Einer derselben hat schon den Ofen gereinigt, Feuer angezündet und die Stube mit Besen und Gemülleschaufel behandelt. Qualmende Oellampen erhellen die düstere Zelle, denn vor fünf Jahren hatten in M. die Meisten noch keine Ahnung von einer Gasanstalt.

Der Senior der Stube erhebt sich; um halb sechs Uhr früh wird das erste Mal gebetet und ein frommer Vers zur Stärkung für die Tagesarbeit gesungen. Besonders beliebt war als Morgendank: „Heut’, als die dunklen Schatten mich ganz umgeben hatten, hat Satan mein begehret; Gott aber hat’s gewehret.“ Und analog diesem lautete die Nachtbitte: „Will Satan mich verschlingen (wir gähnten immer recht sehr dabei), so laß die Englein singen: Dies Kind soll unverletzt sein!“ Beide Liedlein wurden auch stets von den Kindern der Seminarübungsschule mit „Furcht und Zittern“ im Herzen gesungen.[1] Nach dem Gebete wurde irgend eines der Lehrbücher vorgenommen, deren Unterrichtsstoff, mochte er sein, welcher er wollte, der unvermeidlichen Salbung unterzogen war. Kein Wort durfte gesprochen werden, denn mit Katzenschritten naht der Hülfslehrer, welcher die Frühinspection hat; er revidirt die vorliegenden Bücher und durchsucht sogar die Schubladen. Das Lehrbuch vor unseren Augen, welches auch nicht ein Jota mehr und in anderer Form enthält, als Herr v. Mühler für alle Seminaristen für gut befunden hatte, vermag uns nicht das geringste Interesse abzugewinnen, höchstens locken einige allem gesunden Menschenverstand und unbeeinflußter Lebensanschauung in’s Gesicht schlagende Sätze unser Hohnlächeln, wobei sich manchmal unwillkürlich die Faust unterm Tische ballt, heraus. Wir sind ja noch zu kurze Zeit im Seminar; wenn wir erst „ganz in Christo leben und die Zucht des heiligen Geistes empfinden“ werden, dann wird das Hohnlächeln schon aufhören, nur noch manche Augenblicke werden wir ohnmächtig und verzweifelnd an dem festen Gitter zu rütteln versuchen, hinter welches man unser Fühlen, Denken, Wollen und Handeln eingepfercht hat.

Endlich ist die Frühstücksstunde, acht Uhr, herangekommen. Der geräumige Speisesaal weist eine lange Tafel mit zinnernen Tellern und primitiven Bestecken auf; bestimmte Seminaristen holen die Schüsseln mit der Suppe vom Hauswart. Der unvermeidliche, beaufsichtigende Hülfslehrer faltet die Hände, um den Segen Gottes auf den Morgenimbiß herabzuflehen. Dieser ist auch sehr nöthig; die aufgezwungene Seminarkost ist zwar billig, für den Neuling aber ungenießbar. Allerhand Gewürm und Insecten sind mit verschimmelten Brodkrusten zusammengekocht und zuweilen mit den Ueberresten von Talglichtern angefettet. Da muß das väterliche Brod das Beste für die Sättigung des Körpers beitragen, und wohl denen, welche von den Eltern nahrhafte Brode und auch Butter bekommen, wiewohl ein Schulrath einst, gelegentlich einer Revision der Brodschränke, dem Besitzer frischer Gebirgsbutter entgegendonnerte: „Wie dürfen Sie sich dergleichen erlauben, ein Lehrer muß schon früh sparen (hungern!) lernen!“

Nach dem Genusse einiger Löffel sogenannter Suppe wird Gott im gedankenlosen Gebet für seine Gaben gedankt; uns war dieser Dank factisch nur eine privilegirte Gotteslästerung. Nachdem wir das dritte Mal gebetet, begeben sich bestimmte Seminaristen (der Reihe nach) zu den Seminarlehrern, um Botengänge für dieselben zu verrichten. Andere müssen im Keller das für den Küchengebrauch nöthige Wasser in das unter dem Dache befindliche Reservoir pumpen, „dreimal des Tages zweihundert Züge“. Dergleichen Arbeiten wären ein treffliches Erziehungsmittel zur christlichen Lebensgemeinschaft im Seminar gewesen, sie wurden nur dadurch erniedrigend, daß der Zweck derselben sich als eine Dienstverrichtung für den „Herrn Portier“ herausstellte, der über diese Kraftanstrengungen die Aufsicht führte. Derselbe war als Knecht in’s Militär eingetreten, hatte „auf Versorgung“ gedient und bekam eine Anstellung als Gefangenenaufseher in einem Zuchthause, von dieser wurde er zu der eines Seminar-Hauswarts befördert.

Bald ertönt wieder die bekannte Glocke, es folgt die Hauptmorgenandacht. Ein Bibelabschnitt wird vorgelesen; der Herr Director ermahnt uns, den „Unflath der Sünde am Fleisch“ abzuthun und uns unter „die Zuchtruthe des heiligen Geistes“ zu stellen, einige Regulativ-Lieder werden abgesungen, dann beginnen die Unterrichtsstunden, welche theilweise mit Gebet angefangen und beendet werden. (Fünftes und sechstes Gebet.)

Um zwölf Uhr wurde das schmale, oft widerlich zubereitete Mittagsbrod genossen und das siebente und achte Gebet gebetet. Die Stunde von ein bis zwei Uhr war Freizeit, in welcher es erlaubt war, ein Stück auf der Chaussee zu laufen, die der unvermeidlichen Controle wegen von den Seminarlehrern abpatrouillirt wurde. Es wären nun noch in dem stets sich gleichmäßig wiederholenden Tageslaufe Lehrstunden von zwei bis vier Uhr, Gartenarbeit von fünf bis sechs Uhr, Abendbrod um sieben Uhr mit zwei Gebeten (Nr. 8 und 9) zu erwähnen. Die grausigste Zeit war die abendliche Arbeitsstunde von acht bis neun Uhr, in welcher wir gewissermaßen die Bilanz des Tages ziehen konnten. Sie erwies, daß wir körperlich und geistig oft genug schamlos in den Staub getreten wurden, daß wir viel gebetet und wenig gelernt hatten, außer etwa neuen Gesichtspunkten für die Ertheilung des von „wahrhaft frommem Geist“ durchdrungenen Schulunterrichts. Als würdiger Tagesabschluß galt die große Abendandacht (unter günstigen Umständen nur das zehnte Gebet an einem Tage). Dann wurden wir vom Hülfslehrer und Hauswart in die Schlafsäle getrieben, deren Thür man hinter uns verschloß.

Werfen wir nun einen Blick auf die Leute, in deren Hand die Bildung der Lehrer lag. Der „Herr Director“ war, wie die meisten Leiter preußischer Seminare, Theologe von der Richtung Vilmar-Hengstenberg-Mühler. Ein Cultusminister in Duodez, war er äußerst vertraut auf einem Gebiete, das er Jugendsünden nannte. Noch nicht vierzig Jahre alt und ziemlich beleibt, versagten ihm die Wangenmuskeln schon den Dienst, und in Wülsten hing das Fleisch an denselben herunter. Die Augen, von großen Ringen umgeben, waren das einzig Lebendige an der großen schweren Gestalt, die von einem Rückenmarkleiden gekrümmt war. Gewöhnlich befand sich der „Herr Director“ in den Lehrstunden im Halbschlummer; nur die Hände zitterten nervös. So kam es, daß er einige Male vom Katheder herabfiel und regelmäßig beim Schlage der Uhr aufsprang mit den Worten: „Ach Gott, es schlägt man (!) schon wieder!“ und schleunigst das Zimmer verließ.

Und dieser Mann hat es vermocht, den Seminaristen auch die letzte Ahnung persönlicher und geistiger Freiheit zu rauben. Der Seminargarten war früher von einer lebendigen Hecke umgeben; Nachtigallen hatten sich dort eingenistet, und in dem Laubgange hinter dem Seminar konnte man die Spaziergänger gewahren. Sonntag Nachmittag sangen die Seminaristen im Garten Männerlieder; auch manchmal eines von der Freiheit und vom damals streng verpönten deutschen Vaterlande. Hinter den Sträuchern aber lauschten die Schönheiten von M., und manch freundliches Augenpaar suchte sich eine Lücke im Buschwerk, um einen mitleidigen Blick auf die Eingekerkerten zu werfen. Das war dem Herrn Director ein Dorn im Auge. Zahlreiche arme Zöglinge verloren aus Sparsamkeit der Seminarcasse ihre Freitische und das Cultusministerium, welches die Lehrer und ihre Wittwen darben ließ aus Mangel an Fonds, hatte sofort Geld bereit, um auch äußerlich eine Mauer um das Seminar zu bauen. Auch mußte dieselbe so hoch sein, daß ein ausgewachsener junger Mann ihren Rand nicht mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Nach dieser Heldenthat verbot der Herr Director den Besuch des unschuldigen kleinen Städtchens; selbst die Seminaristen, [245] deren Eltern in M. wohnten, durften ihre kindlichen Pflichten nur einmal in der Woche nach eingeholter specieller Erlaubniß ausüben. Der Umgang mit Familien der Stadt war untersagt; sogar die Handwerker und Kaufleute, bei denen wir arbeiten lassen und kaufen mußten, waren genau bestimmt.

Das M.’sche Seminar galt als ein mustergültiges; die Directoren und Lehrer wurden immer sehr schnell zu Schulräthen nach anderen Provinzen beordert, um auch dort das neue dunkle Evangelium zu verkünden. Sogar der frühere Augapfel deutscher Bestrebungen blieb von diesen schwarzen Sendboten nicht verschont: Schleswig-Holstein wurde zu allernächst mit Regulativlehrern bedacht.

Der „Herr Seminardirector“ hatte es verstanden, das Wort des preußischen Regulativs auf seine Weise zur Geltung zu bringen. „Daß sich das ganze Leben im Seminar unter die Zucht des Wortes und Geistes (welches Geistes?) stellt, daß aus der Fülle der Gnadenmittel von Lehrern und Schülern fleißig und treu geschöpft, im Ganzen eine evangelisch-christliche Lebensgemeinschaft dargestellt werden. Wie trefflich wiederholte er uns Sonntags in der Seminarandacht stets, wie verworfen wir wären; wir wanden uns wie ein wehrloses Insect an der Nadel unter seinen Worten, die wir Montags noch dazu selbst wiedergeben mußten.

Unter den Strafen war die Aufnahme eines Protokolls über irgend ein Verbrechen, z. B. den Besuch eines Gasthauses, die beliebteste. War der Seminarist so verstockt, daß er in dem Trinken eines Glases Bier nach einem Spaziergange noch kein Verbrechen finden konnte, und leistete er dem Seminardirector nicht demüthige Abbitte, so erfolgte nie mehr eine restitutio in integrum; der Sünder wurde z. B. mit folgendem Abgangszeugnisse den Stadt- und Landgemeinden empfohlen: „Während seiner Seminarzeit hat er wegen gröblicher Uebertretung der Anstaltsordnungen ein Strafprotokoll unterschreiben müssen. Den Beruf eines christlichen Lehrers nach Gottes Wort und Gebot zu verstehen, wird er sich als Aufgabe für sein ferneres Lehen unverrückbar vorzustellen haben; nur dann, wenn er sich unter die Zucht des heiligen Geistes beugen gelernt und für seinen Beruf an innerer Wärme gewonnen haben wird, kann er hoffen, die Kraft Gottes zur Erziehung der Jugend an sich zu erfahren. Durch sein Verhalten vermochte er nicht, sich das Vertrauen seiner Lehrer zu erwerben.“ Letzteres ließ sich sehr oft dadurch thun, daß man den Angeber abgab; nur durch das Mißtrauen der Seminaristen unter sich war es überhaupt möglich, daß sich achtzig zusammenwohnende junge Leute mit theilweise vorzüglichen Anlagen in dem naturgemäß frischen, kräftigen, strebenden Alter von siebenzehn bis zwanzig Jahren derartig nichtswürdig behandeln ließen. Aufrichtige, hingebende Freundschaft war eine äußerste Seltenheit.

Der „Herr Director“ machte ein erbauliches, sonntägliches Bibellesen zur gesetzlichen Pflicht. Nie ist wohl das Buch, das Juden und Christen das heilige nennen, so entsetzlich profanirt worden wie bei dieser vom Director überwachten Schriftfütterung. Außerdem waren wir gezwungen, wöchentlich einige Missionsschriften, namentlich die Blätter des „Rauhen Hauses“, zu studiren. Sonnabend Abend wurde von einem Seminaristen ein halbstündiger Missionsvortrag nach irgend einer Missionsschrift gehalten.

Die armen Seminaristen waren genöthigt, monatlich einen Missionsbeitrag abzuliefern; dafür erhielt der Herr Seminardirector manchmal ein Lesezeichen, gefertigt von einem langzöpfigen, getauften Chinesenkinde, oder eine Fischgräte, an der ein frommer Eskimo erstickt war. Ganz natürlich, daß einige „fromme Jünglinge“ sich äußerlich vollständig den Maßnahmen des Seminardirectors anzupassen wußten; diese waren die „Frommen im Lande“, die „Starken in Israel“, wie sich der Leiter des christlichen Hauses stets alttestamentarisch ausdrückte. Sie erhielten reichliche Stipendien und oft ungerechter Weise auch die besten Abgangszeugnisse.

Unter den übrigen Seminarlehrern war nur ein einziger, der unsere Achtung und Liebe genoß, wiewohl auch er nichts that und thun konnte, um unsere traurige Lage zu verbessern. Eine Aeußerung, welche sowohl den Seminarlehrer, als auch unsere Schulverhältnisse charakterisirt, mag hier folgen. In der Nähe der Stadt M. hatte ein Lehrer eine äußerst gering dotirte Stellung und mußte durch den Betrieb des Ackerbaues sein Leben fristen. Die Erzeugnisse des Feldes brachte er, wie ein echter Bauer bekleidet, mit einer kurzen Pfeife auf dem mit Kühen bespannten Wagen sitzend, selbst auf den Markt. Dieser Anblick ärgerte den Herrn Seminardirector nicht wenig, indem er den Mann eine Schande für den Lehrerstand nannte, da er auch die Schule über seinem Nebengeschäfte vernachlässige. „Was wollen Sie?“ bemerkte der eben erwähnte Seminarlehrer. „Für sein Gehalt thut der Mann noch viel zu viel für die Schule.“

Der jüngste Lehrer an der Anstalt übte trotz seiner Unfähigkeit einen ungemein großen, ungünstigen Einfluß auf uns aus, so daß wir z. B. stets unwillkürlich nach seinem Fenster blickten, an dem er diejenigen notirte, welche die Freizeit zu einem kleinen Spaziergange benutzt hatten. Diese Verbrecher beehrte er mit dem Namen Bummler und ließ sie in seinen Lehrstunden ihr kühnes Unterfangen reichlich entgelten. Ihm war die Pflege der deutschen Sprache, Literatur und Geschichte anvertraut. Deutsche Literatur in einem Seminar! Ohne jede Reflexion können wir constatiren, daß der bezügliche Regulativsatz stricte befolgt wurde: „Ausgeschlossen muß die sogenannte classische Literatur (sic!) bleiben; dagegen findet Aufnahme, was nach Inhalt und Tendenz kirchliches Leben, christliche Sitte, Patriotismus und sinnige Betrachtung der Natur – zu fördern geeignet ist. Im Allgemeinen wird sie sich (die Auswahl von literarischen Erzeugnissen) überall zweckmäßig innerhalb der Lebensbeschreibungen Luther’s von M…[2] und W…, Melanchthon und Valerius Herberger, Paul Gerhardt und Jacob Spener von W…, Oberlin von Sch…, des evangelischen Jahrbuchs von P…, des Beiblatts zu den fliegenden Blätter des Rauhen Hauses u. s. w. treffen lassen.“ – – Das Seminar besaß auch einige bessere Werke; mit diesen ging es uns jedoch, wie Luther mit der Bibel im Kloster; sie waren an Ketten angeschlossen. Unsere historischen Studien bestanden einzig und allein in frommen Zerrbildern aus der preußischen Geschichte, für die ein von dem betreffenden Seminarlehrer mühsam zusammengestoppeltes Plagiat maßgebend war. Keiner unserer Lehrer hat den Muth gehabt, das Bewußtsein des mit allem Fühlen unseres Herzens verbundenen einigen Deutschlands in uns wach zu halten; und doch sonnen und brüsten sich diese Creaturen jetzt wohlgefällig im Glanze des neuhergestellten Vaterlands. Nicht der finstere, engherzige Geist der Regulative hat unsere Heere beseelt, sondern trotz desselben hat die gesunde deutsche Volkskraft die herrlichen Siege erfochten.

Bei all den vielen Arbeitsstunden von Morgens fünf Uhr bis Abends neun Uhr durfte im Seminar mit zwanzigjährigen jungen Leuten nicht das geleistet werden, was eine gute städtische Schule mit zwolfjährigen Kindern erzielt. So bilden z. B. „das eigentliche Gebiet des Seminarunterrichts die vier Grundrechnungsarten in ganzen, gebrochenen und benannten Zahlen.“ Eine weitere Ausbildung kann ausnahmsweise gestattet werden, „etwa bis zu den Decimalbrüchen“, was bei anderen, „sittlichen Inhalt habenden Disciplinen nicht zulässig ist“, wie äußerst naiv die Regulative bemerken. Unter letzteren versteht man auch Physik, Naturgeschichte und mathematische Geographie, für welche „religiöse Richtung und Haltung nothwendige Bedingung ist“. Denn es giebt böse Menschen, welche die Wissenschaft nicht nach der Bibel verdrehen wollen, wie Copernicus, Laplace, Darwin etc. Selbstständige Weiterbildung war streng untersagt; allwöchentlich stellte der Seminardirector eine Jagd nach solchen Büchern in unsern Schränken an, welche den Regulativen keinen Tribut abgestattet hatten. –

So waren wir drei Jahre eingeschlossen und abgesondert [246] von der Welt, systematisch zur Dummheit und Geistesträgheit angeleitet, den stets unfehlbaren Seminarlehrern gegenüber vollständig meinungslos, willenslos, machtlos, rechtlos und – ehrlos, eine Leiche in ihrer Hand. Wie viel tüchtige Kraft ist bei der Einzwängung in das Prokrustesbett der Seminaranschauungen zu Grunde gegangen; wie Mancher hat vollständig verlernt, Mensch zu sein, da die einzelne Individualität im religiösen Urbrei des Unterrichts und der Erziehung vollständig unterging! Gewöhnlich zeigten sich neben der Abnahme des geistigen Vermögens im jugendlichsten Alter Unterleibskrankheiten, hypochondrische Verstimmungen und widernatürliche Geschlechtsverhältnisse in ihrem Gefolge.

Nie zum Prüfen, sondern nur zum Glauben angeleitet, die Schwungkraft des Geistes gelähmt, haben nur wenige junge Lehrer die Kraft, sich mit den hohen sittlichen Bestrebungen unserer Literatur bekannt zu machen und fortzuschreiten mit der Wissenschaft. Vielmehr sind sie vortrefflich erzogen, der Spielball pietistischer, hierarchischer und reactionärer Bestrebungen zu werden oder im Schlamme der Alltäglichkeit unterzugehen.




Die vorstehende Darstellung wird nicht nach Zeugen ihrer Wahrhaftigkeit erst zu suchen haben; sie werden sich zu Tausenden finden. Und wenn bis heute noch nicht so offenherzig „aus der Schule geplaudert“ worden ist, so fehlte es nicht an den „Thatsachen“, sondern am Muthe dazu, ein Mangel, den wir am wenigsten den armen gedrückten Lehrern zum Vorwurf machen wollen. Dem Verfasser sind wir aber die Erklärung schuldig, daß sein Artikel lange vor der Abdankung des Herrn v. Mühler vom preußischen Cultusministerposten in unseren Händen war und daß nicht irgendwelche Bedenken, sondern der durch den großen Krieg und seine Nachklänge vermochte Mangel an Raum die Veröffentlichung verzögerte. Wir sind diesem Zufall Dank schuldig, denn wir hoffen, daß der Inhalt dieses Artikels jetzt nicht blos zur aufregenden Lectüre dienen, sondern an maßgebender Stelle zu der Ueberzeugung führen möge: daß die Rückkehr zu den glänzendsten preußischen Schulzeiten, – die sich an die Namen eines Dinter, Rochow, Diesterweg knüpfen, so lange eine Unmöglichkeit bleibt, als solche Seminardirectoren, wie der Artikel sie schildert, und vor Allem die Väter der Regulative sammt ihrer Zuchtgenossenschaft noch in ihren Aemtern bleiben. Die Sünden einer zwanzigjährigen Mißleitung der Volksbildung sind nicht mit einem Landtags- oder Herrenhaussieg wieder gut zu machen: man muß einen Anfang wirklicher Umgestaltung sehen, wenn man mit freudigem Vertrauen in die Zukunft blicken soll.




  1. Wie widerlich die Frömmigkeit ist, die einem großen Theile des deutschen Volkes aufgedrungen werden sollte, mag ein kleines Geschichtchen aus dem „Münsterberger Lesebuche“, das mit allen der Regierung Mühler’s zustehenden Mitteln eingeführt wurde, beweisen: „Das Fieber, ein lieber Hausgast. Ein frommer Vater der alten Kirche, der alljährlich vom Fieber geplagt ward, nannte dieses Fieber seinen lieben Hausgast, der ihn jährlich an die Liebe Gottes erinnere. Und als es einst ausblieb, trauerte er darüber, daß sein lieber Hausgast ausgeblieben sei. Er fürchtete, Gott habe ihn nicht mehr so lieb, weil er ihm dies Jahr keinen Boten gesandt habe, ihn zu sich zu ziehen.“ Dieses Jugendbuch enthält zum großen Theil Geifereien aus den Blättern des „Rauhen Hauses“ von Dr. Wichern, schmutzige Redensarten u. dergl. Gott sei Dank lebt im deutschen Volke so viel Achtung vor dem Anstande, daß das Buch nach dem Rücktritte Mühler’s wohl bald ausgemerzt sein wird.
  2. Es wäre ungerechtfertigt, dergleichen dunkle Namen an dieser Stelle anzuführen. Dagegen dürfen wir nicht verschweigen, daß uns Namen von Reformatoren der Pädagogik, wie v. Rochow, Dinter, Diesterweg nie, selbst nicht im absprechenden Sinne, zu Ohren gekommen sind. Die Ursache dafür finden wir bestimmt ausgesprochen in der Schulkunde von Bormann, welche in den Regulativ-Seminaren benutzt werden mußte. Nachdem Rousseau, Basedow, Campe, Salzmann abgeurtheilt worden sind, endet der Artikel über Pestalozzi, welcher füglich nicht übergangen werden konnte, folgendermaßen: „Aber ebensowenig darf verhehlt werden, daß in dem von Pestalozzi gewiesenen Unterrichtsverfahren die religiöse Erziehung hinter der Bildung der geistigen Kraft überhaupt zurücktritt, und daß also dadurch der Irrthum erzeugt ward, es bestehe das Ziel der Erziehung darin, daß alle in dem Menschen vorhandenen Anlagen so viel als möglich entfaltet werden, während es doch nur darin zu suchen ist, daß alle Kräfte sich in den Dienst Christi stellen und dadurch geheiligt werden.“