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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

No. 1.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



An unsere Leser.

Die erhöhten Lohnforderungen der Arbeiter aller Art und die enorme Steigerung der Papier- und Druckpreise (allein für Papier jährlich an 20,000 Thaler mehr) zwingen uns nunmehr auch den Preis der Gartenlaube zu erhöhen. Um unseren Lesern indeß zu beweisen, daß wir dabei nur der Nothwendigkeit weichen und kein „Geschäft“ beabsichtigen, beschränken wir diese Erhöhung auf

Einen Silbergroschen pro Quartal.

Wird das unsere Liebe stören?

Die Redaction und Verlagshandlung.




Glück auf!
Von E. Werner, Verfasser von „Ein Held der Feder“ und „Am Altar“.

Die Hauptkirche der Residenz war trotz der späten Nachmittagsstunde noch dicht gefüllt. Die Menge der Anwesenden und der reiche Blumenschmuck des Altars drinnen, sowie die lange Reihe wartender eleganter Equipagen draußen ließen darauf schließen, daß die Trauung, welche hier vollzogen werden sollte, auch in weiteren Kreisen Interesse und Theilnahme erregte. Die Haltung der Zuhörer war die gewöhnliche bei solchem Anlaß, wo die Heiligkeit des Ortes jede lautere Aeußerung der Neugierde oder Theilnahme verbietet, eine erwartungsvolle Unruhe, ein Flüstern und Zusammenstecken der Köpfe in einzelnen Gruppen, und eine gespannte Aufmerksamkeit für alles, was in der Nähe der Sacristei vorging, endlich ein allgemeines Ah! der Befriedigung, als die Thüren derselben geöffnet wurden und mit den ersten Tönen der Orgel, die jetzt einfielen, der Brautzug erschien.

Es war eine zahlreiche und glänzende Versammlung, die sich hier um den Altar und das Brautpaar gruppirte. Reiche Uniformen, schwere Sammet- und Atlasroben, duftiges Spitzengewebe, Blumen und Diamanten, das alles schimmerte, wogte und rauschte durcheinander, in einer wahrhaft blendenden Pracht. Die Geburts- und die Geldaristokratie schienen in ihren hauptsächlichsten Vertretern anwesend zu sein, um der Ceremonie einen erhöhten Glanz zu verleihen.

Zur Rechten der Braut, als der Erste unter den Gästen, stand ein hoher stattlicher Officier, dessen Uniform und dessen zahlreiche Orden auf eine längere militärische Laufbahn deuteten. Seine Haltung war einfach und würdevoll, der bevorstehenden Feierlichkeit angemessen, und doch schien es, als berge sich hinter dem Ernste dieser Züge etwas, das nicht zu dem frohen Anlaß passen wollte. Es war ein eigenthümlich düsterer Blick, der auf dem Brautpaar ruhte, und als er, sich von diesem abwendend, die dicht gefüllte Kirche streifte, da zuckte es wie unterdrückter Schmerz oder Zorn durch die stolzen Züge, und die festgeschlossenen Lippen zitterten leise.

Ihm gegenüber, in unmittelbarer Nähe des Bräutigams, stand ein anderer Herr in Civiltracht, gleichfalls schon in vorgerücktem Alter, gleichfalls, wie es schien, zum nächsten Verwandtenkreise gehörig, aber weder die Brillantenverschwendung, die er in Uhr, Ringen und Tuchnadeln zur Schau trug, noch die ungeheuer selbstbewußte Haltung vermochten ihm auch nur einen Schimmer jener Vornehmheit zu geben, die sein Gegenüber in so hohem Maße besaß. Die ganze Erscheinung war entschieden gewöhnlich, um nicht zu sagen gemein, und selbst der Ausdruck unverhohlenen Triumphes, der jetzt darauf lag, war nicht im Stande, ihr ein anderes Gepräge zu geben. Es war in der That ein unendlicher Triumph, mit dem er das Brautpaar betrachtete und dann auf die glänzende Versammlung, auf die dicht besetzten Reihen der Kirchstühle schaute, eine Genugthuung, mit der man die Erreichung eines langerstrebten Zieles begrüßt und empfindet; ihm trübte sicher kein Schatten die Freude an der bevorstehenden Festlichkeit.

Diese beiden Männer schienen aber auch die einzigen zu sein, die ihr ein tieferes Interesse widmeten, das Brautpaar zum Mindesten that es nicht. Der fremdeste, unbetheiligtste der Gäste hätte keine vollendetere Gleichgültigkeit bei dem feierlichen Act zur Schau tragen können, als diese beiden Menschen, die in wenig Minuten einander für immer angehören sollten. Die etwa neunzehnjährige Braut war unleugbar ein schönes Mädchen, aber es wehte etwas wie ein eisiger Hauch um sie her, der wenig zu dem Ort und der Stunde paßte. Das Licht der Altarkerzen spielte in den schweren Falten des weißen Atlasgewandes, es blitzte in den Diamanten des kostbaren Schmuckes, aber es fiel auf ein Antlitz, das mit der Schönheit des Marmors auch dessen ganze Kälte und Starrheit empfangen zu haben schien, wenigstens für diese Stunde, die doch sonst selbst die kälteste Ruhe zu beleben pflegt. Das Aschblond der schweren Flechten, in denen der Myrthenkranz lag, contrastirte seltsam mit den dunklen Augenbrauen und den dunklen, fast schwarzen Augen, die sie kaum ein- oder zweimal während der ganzen Ceremonie zu dem Geistlichen emporhob. Das regelmäßige, etwas bleiche Gesicht, an dessen Seiten der Brautschleier niederfloß, trug den Ausdruck jener Vornehmheit, die wohl angeboren, aber nicht anerzogen werden kann. Vornehmheit war überhaupt das vorherrschende Element in dieser Erscheinung, sie verrieth sich nicht blos in den zart und [2] edel gezeichneten Linien der Züge, auch in der Haltung, in dem ganzen Wesen prägte sie sich so deutlich aus, daß jede andere, vielleicht charakteristischere Eigenschaft davor in den Hintergrund trat. Die junge Dame schien nur geschaffen, um auf den Höhen des Lebens einherzuschweben und nie mit dem in Berührung zu kommen, was sich etwa noch von Menschen und Verhältnissen da unten regte. Und trotz alledem lag in den dunklen Augen etwas, das mehr Energie und Charakter verrieth, als man bei einer Salondame zu finden pflegt, und vielleicht forderte gerade die jetzige Stunde diese Energie und diesen Charakter in die Schranken, denn die Blicke des Herrn in Uniform zu ihrer Rechten und der drei jüngeren Officiere, die hinter ihm standen, hafteten, je weiter die Ceremonie vorschritt, desto forschender, ängstlicher auf ihrem Gesichte, das indessen so kalt und ruhig blieb, wie es vom ersten Momente an gewesen.

Der Bräutigam an ihrer Seite war ein junger Mann von etwa achtundzwanzig Jahren, eine jener nicht eben seltenen Gestalten, die wie eigens geschaffen scheinen für den glänzenden Rahmen der Salons, die nur auf diesem Boden ihre Bedeutung finden, ihre Triumphe feiern und ihr Leben hinbringen. Von tadelloser Eleganz in Haltung und Toilette, verrieth sein ganzes Wesen gleichwohl den Höhepunkt der Blasirtheit. Die an sich feinen und anziehenden Züge trugen den Ausdruck einer so grenzenlosen Apathie, einer so tödtlichen Gleichgültigkeit gegen Alles und Jedes, daß sie jeden Reiz für den Beobachter verloren. Da war alles so matt, so farblos, auch nicht ein Hauch von Röthe auf den Wangen, auch nicht ein Schein von Leben in dem Gesichte, das da aussah, als könne es sich weder in Freude noch in Schmerz zu der mindesten Erregung mehr aufschwingen. Er hatte seine Braut zum Altare geführt, wie man in der Gesellschaft die Damen an ihren Platz geleitet, und jetzt stand er neben ihr und hielt ihre Hand in der seinen genau in derselben apathischen Weise. Weder die Wichtigkeit des Schrittes, den er zu thun im Begriff stand, noch die Schönheit der Frau, die ihm anvermählt werden sollte, schienen auch nur den geringsten Eindruck auf ihn zu machen.

Die Rede des Geistlichen war zu Ende, und er schritt zur eigentlichen Ceremonie der Trauung. Laut und klar hallte seine Stimme durch die Kirche, als er Herrn Arthur Berkow und die Baroneß Eugenie Maria Anna von Windeg-Babenau fragte, ob sie einander als Gatten angehören wollten.

Wieder zuckte es durch das Antlitz des Officiers drüben, und ein Blick fast des Hasses sprühte nach der andern Seite hinüber – in der nächsten Minute schon war das zweifache Ja gesprochen, mit dem einer der ältesten, stolzesten Namen der Aristokratie gegen das einfach bürgerliche Berkow umgetauscht wurde.

Kaum war die Trauung zu Ende und das letzte Wort des Segens gesprochen, als der brillantengeschmückte Herr sich eilig vordrängte, augenscheinlich in der Absicht, die Neuvermählte mit großer Ostentation zu umarmen; doch noch ehe er diesen Entschluß ausführen konnte, stand bereits der Officier da. Ruhig, aber mit einer Miene, als nehme er ein unabweisbares Recht in Anspruch, trat er zwischen Beide und schloß, als der Erste, die junge Frau in seine Arme; doch die Lippen, welche ihre Stirn berührten, waren kalt, und sein Antlitz, das, zu ihr niedergebeugt, einige Secunden lang allen Uebrigen entzogen blieb, trug einen ganz andern Ausdruck als vorhin in seiner ruhigen stolzen Würde.

„Muth, mein Vater, es mußte sein!“

Die Worte, ihm nur allein verständlich, streiften leise, fast unhörbar an seinem Ohre hin; aber sie gaben ihm die Fassung wieder. Noch einmal preßte er die Tochter an sich; es lag fast etwas wie Abbitte in der Zärtlichkeit dieser Bewegung; dann ließ er sie frei und gab sie der nun unvermeidlichen Umarmung des andern Herrn preis, der bisher mit sichtlicher Ungeduld gewartet hatte und es sich nun nicht nehmen ließ, seine „theure Schwiegertochter“ zu begrüßen.

Diese machte allerdings keinen Versuch, sich ihm zu entziehen, denn die Augen der ganzen Kirche waren auf sie gerichtet. Sie stand unbeweglich, kein Zug des schönen Gesichtes veränderte sich, nur das Auge hatte sie emporgehoben, aber es lag in diesem Blicke ein unnahbarer Stolz, eine so eisige Zurückweisung dessen, was sie nicht verweigern durfte, daß sie selbst hier verstanden wurde. Etwas aus der Fassung gebracht, änderte der Schwiegervater seine stürmische Zärtlichkeit sofort in respectvolle Artigkeit um, und als in der nächsten Minute die Umarmung nun wirklich erfolgte, da war sie in der That nicht viel mehr als eine Form, bei der seine Arme eben nur die duftigen Wogen des Brautschleiers streiften. Das ganze wahrlich nicht geringe Selbstbewußtsein des neuen Verwandten hatte doch vor diesem Blicke nicht Stand gehalten.

Der junge Berkow machte seinem Schwiegervater die Sache nicht so schwer. Etwas, das wie ein Händedruck aussah und bei dem in Wirklichkeit kaum seine weißen Handschuhe mit denen des Barons in Berührung kamen, wurde zwischen ihnen gewechselt; es schien Beiden vollkommen zu genügen; dann reichte er seiner jungen Gattin den Arm, um sie hinauszuführen. Die Atlasschleppe der Braut rauschte über die Marmorstufen, hinter den Voranschreitenden schloß sich die schimmernde Woge der Gäste, die dem Paare folgten, und bald darauf hörte man auch die Equipagen draußen eine nach der andern fortrollen.

Auch die Kirche entleerte sich rasch; theils drängte man nach den Thüren, um die Einsteigenden noch einmal zu sehen; theils eilte man, draußen all den unendlich wichtigen Bemerkungen und Beobachtungen über Toilette, Haltung und Aussehen des Brautpaares und der zunächst Betheiligten Luft zu machen. In weniger als zehn Minuten war der weite Raum vollkommen leer und öde; nur das Abendroth blickte durch die hohen Fenster und überfluthete den Altar und das Altargemälde mit seinem rothen Lichte, so daß die Gestalten auf dem alten Goldgrunde zu leben schienen. Von einem Luftzuge bewegt, wehten die Flammen der Kerzen hin und her, und am Boden dufteten die Blumen, die man in verschwenderischer Fülle dorthin gestreut hatte. Die Schleppen der Damen waren darüber hingerauscht, der Fuß der Herren hatte sie zertreten. Zu was sollten die armen Blumen auch weiter dienen inmitten all der so reich entfalteten Diamantenpracht bei jenem Feste, mit dem die Verbindung zwischen der Tochter eines alten reichsfreiherrlichen Adelsgeschlechtes und dem Sohne eines der Millionäre der Residenz gefeiert wurde! Vor dem Windeg’schen Hause fuhren bereits die Wagen an, und drinnen in den festlich erleuchteten Räumen begann es lebendig zu werden. Im Empfangssaale, vom hellsten Kerzenglanze umflossen, stand die junge Frau am Arme ihres Gatten, so schön, so stolz und so eisig, wie sie eine Stunde zuvor am Altare gestanden hatte, und nahm die Glückwünsche der sie umdrängenden Gesellschaft entgegen. Ob es wirklich ein Glück war, was sie soeben mit ihrem Ja besiegelt – der düstere Schatten, der noch immer auf der stolzen Stirn ihres Vaters ruhte, gab vielleicht die Antwort darauf.




„Nun Gott sei Dank, jetzt endlich wären wir in Ordnung! Es war aber auch die höchste Zeit, in einer Viertelstunde können sie hier sein. Ich habe die Leute oben auf dem Hügel genau instruirt; sobald der Wagen auf der Höhe sichtbar wird, kracht der erste Böllerschuß.“

„Aber, Herr Director, Sie sind ja heute ganz Eifer und Aufgeregtheit!“

„Sparen Sie doch Ihre Kräfte für den wichtigen Moment des Empfanges!“

„In Ihrer heutigen Stellung freilich, als Ceremonienmeister und Oberhofmarschall – –!“

„Sparen Sie Ihre Witzeleien, meine Herren!“ unterbrach der Director ärgerlich die Spöttelnden. „Ich wollte, man hätte Einen von Ihnen mit diesem verwünschten Posten beehrt. Ich habe genug daran!“

Das ganze sehr zahlreiche Beamtenpersonal der großen Berkow’schen Gruben und Bergwerke war in vollster Gala am Fuße der Terrasse des Wohngebäudes versammelt. Das schloßartige, im modernsten und elegantesten Villenstile erbaute Landhaus mit seiner reichen Façade, seinen hohen Spiegelfenstern und dem prachtvollen Eingangsportale machte schon an sich einen großartigen Eindruck, der durch die weiten geschmackvollen Gartenanlagen, welche es von allen Seiten umgaben, noch mehr gehoben wurde, zumal heute, wo Alles im Festgewande erschien. Man hatte augenscheinlich die sämmtlichen Treibhäuser entleert, um Treppenflure, Balcons und Terrassen mit dem reichsten Blumenflore zu schmücken. Die kostbarsten und seltensten Gewächse, die sonst schwerlich mit der freien Luft in Berührung kamen, entfalteten hier ihre Farbenpracht und ihren Blüthenduft. Auf den [3] weiten Rasenplätzen warfen die Fontainen ihren schimmernden Strahl hoch in die Lüfte, umgeben von dem ganzen sorgfältig gepflegten Schmucke des heimischen Frühlings in seinem ersten Erwachen, und vorn am Eingange öffnete eine riesige Ehrenpforte, mit Guirlanden und Fahnen verschwenderisch decorirt, ihr blumengeschmücktes Thor.

„Ich habe genug daran!“ wiederholte der Director, indem er in den Kreis der übrigen Herren trat. „Da verlangt Herr Berkow einen möglichst glänzenden Empfang und glaubt Alles gethan zu haben, wenn er uns einen unbeschränkten Credit auf die Casse anweist, mit dem guten Willen der Leute rechnet er nie. Ja, wenn wir noch die Arbeiter von vor zwanzig Jahren hätten! Wenn es da einmal einen freien Tag gab, eine Festlichkeit und Abends Tanz, da brauchte man wegen des Vivatrufens nicht in Sorge zu sein, aber jetzt – passive Gleichgültigkeit auf der einen, offene Widersetzlichkeit auf der andern Seite; es fehlte nicht viel, so hätte man der jungen Herrschaft jeden Empfang überhaupt verweigert. Wenn Sie morgen nach der Residenz zurückkehren, Herr Schäffer, so könnte es nicht schaden, wenn Sie bei dem Bericht über unsere Festlichkeit gelegentlich einen Wink fallen ließen über das, was man dort nicht weiß oder nicht wissen will.“

„Ich werde mich hüten!“ entgegnete der Angeredete trocken. „Haben Sie etwa Lust, die Höflichkeiten unseres verehrten Chefs auszuhalten, wenn er etwas ihm Mißliebiges erfährt? Ich ziehe in solchem Falle eine möglichst weite Entfernung von seiner Person vor.“

Die übrigen Herren lachten; es schien gerade nicht, als erfreue sich der abwesende Chef einer besonderen Ehrerbietung in ihrem Kreise.

„Also hat er die vornehme Heirath doch wirklich durchgesetzt!“ nahm der Ober-Ingenieur das Wort. „Mühe genug hat er sich darum gegeben, und es ist doch wenigstens ein Ersatz für das Adelsdiplom, das man ihm bisher immer noch hartnäckig verweigerte, und worauf doch sein ganzes Dichten und Trachten gerichtet ist. Zum Mindesten hat er den Triumph zu sehen, daß der alte Adel keinen Anstoß mehr an seinem Bürgerthum nimmt; die Windegs verschwägern sich ja mit ihm.“

Herr Schäffer zuckte die Achseln. „Denen blieb wohl überhaupt keine Wahl mehr! Die derangirten Verhältnisse der Familie sind kein Geheimniß in der Residenz. Ob es dem stolzen Baron gerade leicht geworden ist, seine Tochter zu einer solchen Speculation herzugeben, bezweifle ich: die Windegs gehörten von jeher nicht blos zur ältesten, sondern auch zur hochmüthigsten Aristokratie. Nun schließlich beugt sich auch das einmal der bitteren Nothwendigkeit.“

„So viel steht fest, uns wird diese vornehme Verwandtschaft ein rasendes Geld kosten!“ sagte der Director kopfschüttelnd. „Der Baron hat jedenfalls seine Bedingungen gestellt. Uebrigens kann ich durchaus nicht den Zweck all dieser Opfer einsehen. Ja, wenn es noch eine Tochter wäre, der man Rang und Namen damit erkaufte, Herr Arthur aber bleibt nach wie vor bürgerlich, trotz des uralten Stammbaumes seiner Gemahlin.“

„Glauben Sie? Ich möchte für das Gegentheil bürgen. Solche Verwandtschaft thut früher oder später immer ihre Wirkung. Dem Gemahl der Baroneß Windeg-Babenau, dem Schwiegersohn des Barons wird man schließlich doch den Adel nicht versagen, den der Vater bisher vergebens erstrebte, und was diesen betrifft, so wird man es auch nicht hindern können, daß er im Salon seiner Schwiegertochter mit den Kreisen in Berührung kommt, die bis jetzt noch immer entschieden Front gegen ihn gemacht haben. Lehren Sie mich unsern Chef kennen! Er weiß sehr genau, was diese Heirath ihm einbringt, und deshalb kann er es sich auch etwas kosten lassen.“

Einer von den Verwaltungsbeamten, ein junger, sehr blonder Mann, mit etwas engem Frack und tadellos sitzenden Glacéhandschuhen, hielt es für passend, jetzt gleichfalls eine Bemerkung laut werden zu lassen.

„Ich begreife nur nicht, warum die Neuvermählten ihre Hochzeitsreise hierher in unsere Einsamkeit richten, und nicht nach dem Lande der Poesie, nach Italien –“

Der Ober-Ingenieur lachte laut auf. „Ich bitte Sie, Wilberg! Poesie bei dieser Heirath zwischen Geld und Name! Uebrigens sind die Hochzeitsreisen nach Italien jetzt so Mode geworden, daß sie Herrn Berkow wahrscheinlich auch schon zu bürgerlich erscheinen. Die Aristokratie geht in solchem Falle ‚auf ihre Güter‘, und man will doch nun vor allen Dingen aristokratisch und nur aristokratisch sein.“

„Ich fürchte, die Sache hat einen ernsteren Grund,“ sagte der Director. „Man argwöhnt, der junge Herr könnte es in Rom oder Neapel ebenso treiben, wie er es während der letzten Jahre in der Residenz getrieben hat, und der Wirthschaft ein Ende zu machen, war doch wohl die höchste Zeit. Die Verschwendung ging ja zuletzt in die Hunderttausende! Man kann einen Brunnen ausschöpfen, und Herr Arthur war auf dem besten Wege, seinem Vater dies Experiment vorzumachen.“

Die schmalen Lippen Schäffer’s verzogen sich sarkastisch. „Der Vater hat ihn ja von jeher dazu angehalten, er erntet nur, was er selbst gesäet! Uebrigens können Sie Recht haben, hier in der Einsamkeit lernt man vielleicht eher dem Zügel einer jungen Frau gehorchen. Ich fürchte nur, sie faßt ihre allerdings wenig beneidenswerthe Aufgabe mit sehr geringem Enthusiasmus auf.“

„Sie glauben, daß man sie gezwungen hat?“ fragte Wilberg eifrig.

„Warum nicht gar, gezwungen! So tragisch geht die Sache in unseren Tagen nicht mehr zu. Sie wird einfach vernünftigem Zureden und einem klaren Einblick in die Verhältnisse nachgegeben haben, und ich bin überzeugt, diese Convenienzehe wird wahrscheinlich eine ganz erträgliche werden, wie in den meisten derartigen Fällen.“

Der blonde Herr Wilberg, der augenscheinlich eine Leidenschaft für das Tragische hatte, schüttelte melancholisch den Kopf.

„Vielleicht auch nicht! Wenn nun später in dem Herzen der jungen Frau die wahre Liebe erwacht, wenn ein Anderer – mein Gott, Hartmann, können Sie Ihren Zug denn nicht drüben entlang führen? Sie hüllen uns ja in eine förmliche Staubwolke mit Ihrer Colonne!“

Der junge Bergmann, an den diese Worte gerichtet waren, und der so eben an der Spitze von etwa fünfzig seiner Cameraden vorüberkam, warf einen ziemlich verächtlichen Blick auf den feinen Gesellschaftsanzug des Sprechenden, und dann einen zweiten auf den sandigen Fahrweg, wo die plumpen Schuhe der Bergleute allerdings einigen Staub aufwirbelten.

„Nach rechts hinüber!“ commandirte er, und mit einer fast militärischen Pünktlichkeit schwenkte die Schaar ab und schlug die angegebene Richtung ein.

„Ein Bär, dieser Hartmann!“ sagte Wilberg, sich mit dem Taschentuch den Staub vom Frack fächelnd. „Hat er wohl ein Wort der Entschuldigung für seine Ungeschicklichkeit? ‚Nach rechts hinüber!‘ Mit einem Commandotone, als wenn ein General seinen Truppen befiehlt. Und was er sich überhaupt alles herausnimmt! Hätte sich sein Vater nicht in’s Mittel gelegt, er hätte der Martha Ewas verboten, mein Gedicht zum Empfange der jungen gnädigen Frau herzusagen, mein Gedicht, das ich –“

„Nun bereits aller Welt vorgelesen habe!“ ergänzte der Ober-Ingenieur halblaut zum Director gewandt. „Wenn es nur etwas kürzer wäre! Uebrigens hat er Recht, es war eine Unverschämtheit von Hartmann, das verbieten zu wollen. Sie hätten ihn mit seinen Leuten auch nicht grade hier postiren sollen; von denen ist kein Empfang zu erwarten, es sind die widerspenstigsten Bursche der ganzen Werke.“

Der Director zuckte die Achseln. „Aber auch die stattlichsten! All’ die Uebrigen habe ich im Dorfe und auf dem Wege hierher aufgestellt, die Elite unserer Knappschaft gehört an die Ehrenpforte. Man will bei solcher Gelegenheit doch wenigstens Staat machen mit seinen Leuten.“

Der junge Bergmann, von dem soeben die Rede war, hatte inzwischen seine Cameraden rings um die Ehrenpforte postirt und sich an ihre Spitze gestellt. Der Director hatte Recht, es waren stattliche Bursche, aber sie blieben doch sämmtlich zurück hinter der Erscheinung ihres Führers, der sie alle fast um Kopfeslänge überragte. Es war eine mächtige, kraftvolle Gestalt, dieser Hartmann, der sich in der dunklen Bergmannstracht äußerst vortheilhaft ausnahm. Das Gesicht war nicht eigentlich schön zu nennen, wenn man die strengen Regeln der Schönheit darauf in Anwendung brachte, die Stirn erschien vielleicht etwas zu niedrig, die Lippen waren zu voll, die Linien nicht edel genug, aber sicher waren diese scharf und fest gezeichneten Züge nicht gewöhnlich. Das blonde Kraushaar legte sich dicht um die breite, wuchtige Stirn, während ein blonder, gleichfalls gekräuselter Bart den unteren [4] Theil des Gesichtes umgab, dessen kräftige, männlich braune Farbe nicht verrieth, daß es die Luft und den Sonnenschein so oft entbehren mußte. Die Lippen waren trotzig aufgeworfen und in den blauen, ziemlich finster blickenden Augen lag jenes Etwas, das sich nicht beschreiben läßt, das aber von gewöhnlichen Naturen sofort als Ueberlegenheit herausgefühlt und respectirt wird. Die ganze Erscheinung des Mannes war die verkörperte Energie, und so wenig Sympathie sie in ihrer starren Haltung auch erwecken mochte, so entschieden erzwang sie sich Bedeutung gleich beim ersten Anblick.

Ein älterer Mann, der, obgleich auch er die Bergmannskleidung trug, doch nicht zu den Arbeitern zu gehören schien, näherte sich jetzt in Begleitung eines jungen Mädchens und blieb dicht vor der Gruppe stehen.

„Glück auf! Da wären wir jetzt auch! Wie steht’s, Ulrich, seid Ihr in Ordnung?“

Ulrich bejahte kurz, während die Uebrigen den Gruß des Alten mit einem kräftigen „Glück auf, Herr Schichtmeister!“ beantworteten und die Blicke der Meisten sich auf dessen junge Begleiterin wandten.

Das etwa zwanzigjährige Mädchen konnte nun allerdings für sehr hübsch gelten und die dort übliche festliche Landestracht stand ihr ganz reizend. Eher klein als groß, reichte ihr Scheitel kaum bis zur Schulter des riesigen Hartmann, dichte dunkle Flechten umgaben ein frisches jugendliches Gesicht, leicht gebräunt von der Sonne, mit blühenden Wangen, klaren blauen Augen und kräftigen, aber dennoch anmuthigen Formen. Sie hatte eine Bewegung gemacht, wie um dem jungen Bergmanne die Hand zu reichen, als dieser aber mit verschränkten Armen stehen blieb, sank auch der ihrige schnell wieder herab; der Schichtmeister bemerke es und heftete einen scharfen Blick auf Beide.

„Wir sind wohl übler Laune, weil wir unseren Willen diesmal nicht durchgesetzt haben?“ fragte er. „Tröste Dich, Ulrich, es kommt selten genug vor, aber wenn Du es zu arg treibst, muß der Vater auch einmal ein Machtwort sprechen.“

„Wenn ich etwas über die Martha zu sagen hätte, dann hätte ich’s gesprochen!“ erklärte Ulrich entschieden, und ein finsterer Blick glitt über den prachtvollen, jedenfalls dem Treibhause entstammenden Blumenstrauß, den das Mädchen in der Hand hielt.

„Glaube ich Dir!“ sagte der Alte gleichmüthig, „sieht Dir ganz und gar ähnlich! Vorläufig ist sie mein Schwesterkind und hat sich nach mir zu richten. Aber was ist denn das mit Eurer Ehrenpforte da oben? Die große Flaggenstange hat sich ja gesenkt! Bindet sie wieder fest oder die ganze Kranzgeschichte fällt herunter.“

Ulrich, an den diese Mahnung hauptsächlich gerichtet war, warf einen gleichgültigen Blick hinauf zu den bedrohten Kränzen, machte aber keine Anstalt, ihnen zu Hülfe zu kommen.

„Hörst Du nicht?“ wiederholte der Vater ungeduldig.

„Ich dächte, ich stände bei den Gruben in Arbeit, nicht hier bei der Ehrenpforte. Ist’s nicht genug, daß wir hier oben Wache halten müssen? Wer das Ding gebaut hat, mag es auch wieder in Ordnung bringen.“

„Kannst Du denn das alte Lied nicht einmal heute lassen?“ fuhr der Schichtmeister ärgerlich auf. „Nun, so steige einer von Euch Anderen hinauf!“

Die Bergleute blickten auf Ulrich, als erwarteten sie von diesem ein Zeichen der Zustimmung, da dies aber nicht erfolgte, so rührte sich Keiner, nur Einer machte Miene, der Aufforderung Folge zu leisten; der junge Führer wandte sich schweigend um und sah ihn an. Es war nur ein einziger Blick der herrischen blauen Augen, aber er hatte die Wirkung eines Befehls, Jener trat sofort zurück, keine Hand regte sich mehr.

„Ich wollte, sie fiele Euch auf die harten Köpfe!“ rief der Schichtmeister heftig, indem er mit jugendlicher Rüstigkeit selbst hinaufstieg und die Flaggenstange festband. „Vielleicht lerntet Ihr dann, wie man sich bei einem Feste zu benehmen hat. Den Lorenz habt Ihr auch schon verdorben, der war bisher noch der Beste unter Euch, aber der freilich thut ja nur, was sein Herr und Meister, der Ulrich, ihm befiehlt!“

„Sollen wir uns vielleicht freuen, daß nun noch ein neues vornehmes Regiment hier angeht?“ fragte Ulrich halblaut. „Ich dächte, wir hätten an dem alten genug!“

Der Schichtmeister, mit der Fahne beschäftigt, hörte zum Glück diese Aeußerung nicht, das junge Mädchen aber, das bisher stumm seitwärts gestanden hatte, wandte sich hastig um und warf einen besorgten Blick nach oben.

„Ulrich, ich bitte Dich!“

Der trotzige junge Bergmann schwieg nun zwar auf diese Mahnung, aber seine Züge wurden um keinen Schein milder und nachgiebiger dabei. Das Mädchen war vor ihm stehen geblieben, es schien ihm schwer zu werden, etwas auszusprechen, das halb wie eine Frage und doch auch halb wie eine Bitte klang, endlich sagte sie leise:

„Und Du willst heute Abend wirklich nicht zum Feste kommen?“

„Nein.“

„Ulrich –“

„Laß mich in Ruhe, Martha, Du weißt, ich mag Eure Tanzgeschichten nicht.“

Martha trat rasch zurück, ihre rothen Lippen warfen sich jetzt auch trotzig auf und der feuchte Schimmer in ihrem Auge war wohl mehr eine Thräne des Zornes als der Kränkung bei diesem unfreundlichen Bescheide. Ulrich bemerkte das nicht, oder achtete nicht darauf, wie er sich denn überhaupt nicht viel um sie zu kümmern schien. Ohne ein Wort weiter zu verlieren, wandte ihn das Mädchen den Rücken und ging hinüber nach der andern Seite. Die Augen des jungen Bergmannes, der vorhin bei der Fahne hatte helfen wollen, folgten ihr unverwandt, er hätte augenscheinlich viel darum gegeben, wenn die Aufforderung an ihn gerichtet gewesen wäre, er hätte sie sicher nicht so gleichgültig zurückgewiesen.

Der Schichtmeister war inzwischen wieder heruntergekommen und betrachtete eben mit großer Befriedigung sein Werk, als vom Hügel drüben der erste Böllerschuß krachte, dem in kurzen Zwischenräumen ein zweiter und dritter folgte. Dies Zeichen von der endlichen Ankunft der Erwarteten rief begreiflicher Weise einige Aufregung hervor. Die Herren drüben geriethen in lebhafte Bewegung. Der Director musterte in der Eile noch einmal sämmtliche Empfangsanstalten, der Ober-Ingenieur und Herr Schäffer knöpften ihre Handschuhe zu, und Wilberg eilte zu Martha hinüber, um sie vielleicht zum zwanzigsten Male zu fragen, ob sie seiner Verse auch sicher sei und nicht etwa durch unzeitige Befangenheit seinen ganzen Dichtertriumph auf’s Spiel setze. Selbst die Bergleute verriethen einiges Interesse, die, wie es hieß, junge und schöne Frau ihres künftigen Herrn kennen zu lernen. Mehr als einer zog den Ledergurt fester und drückte den Hut tiefer in die Stirn. Ulrich allein stand völlig unberührt da, ebenso starr, ebenso verächtlich wie vorhin, und warf auch nicht einmal einen Blick nach jener Seite.

Aber der mit so vieler Mühe und Sorgfalt vorbereitete Empfang sollte ganz anders ausfallen, als man erwartet und gehofft hatte. Ein Schreckensruf des Schichtmeisters, der jetzt außerhalb der Ehrenpforte stand, lenkte Aller Blicke dorthin, und was sie jetzt sahen, war allerdings entsetzlich genug.

(Fortsetzung folgt.)




Erzählung der Mutter.[1]

Ach, liebe Frau, der Augen Licht
Ist sicher hohe Himmelsgabe,
Jedoch die höchste ist es nicht;
Es sind acht Jahre, seit ich habe

5
In dieser Stube blind gesessen –

Ich hatte, daß ich blind, vergessen.
Denn seht, sobald der Abend kam,
Ich einen raschen Schritt vernahm –

Ich kannte ihn von Weitem schon –

10
Da trat mein guter, treuer Sohn

Zu mir mit liebem Gruße schnell,
Und o, dann ward es um mich hell,
Als sähe ich des Himmels Licht;
Ich fühlte meine Blindheit nicht,

15
Wie Sonnenwärme mich durchdrang

Der trauten, treuen Stimme Klang.

Ich saß und harrte Tag für Tag
Getrost auf jener Stunde Schlag
Und dachte oft an einen Baum,

20
Den ich, als ich noch sehend war,

Geschaut vor manchem langen Jahr;
Der stand in einem engen Raum,
Den man mit Häusern ganz umbaute
Daß nicht hinein die Sonne schaute,

[5]

Wieder bei der blinden Mutter.
Originalzeichnung von Berthold Woltze in Weimar.

[6]

25
Nur eine Spalt’ in Mannesbreite

Blieb offen an der Abendseite,
Durch die, wenn sie zur Neige ging,
Ihr Strahl den alten Baum umfing;
Der schien dann neu sich zu beleben,

30
Denn seine Blätter, die noch eben

Hernieder hingen, farblos ganz,
Erschienen nun in grünem Glanz.
Oft stand ich damals in dem Raum
Und schaute sinnend auf den Baum –

35
Nun saß ich selbst so Tag für Tag

Und harrte auf der Stunde Schlag,
Wo auch zu mir kam meine Sonne,
Zu bringen Wärme mir und Wonne.

Da kam der Krieg – und Kampfeslust

40
Zog auch in meines Sohnes Brust.

Er freute sich auf diesen Krieg
Und träumte hoch von Ruhm und Sieg,
Ich glaub’, er hätt’ nicht mit gemußt,
Wenn meine Lage man gewußt,

45
Doch ach, ich konnt’ ihm Nichts versagen,

Ich hab’ ihn gar nicht drum befragt
Und ihn zu stören nicht gewagt,
Ich ließ ihn ziehen ohne Klagen.
Mir war das Herz von Weh so voll,

50
Doch seins in Muth und Hoffnung schwoll:

„Als Sieger kehr’ ich bald zurück,
O Mutter, denk’ an solches Glück!“
Ich fühlte seiner Küsse Flammen,
Ich nahm all’ meine Kraft zusammen,

55
Und ließ ihn. Als sein Schritt verhallt,

Da sank ich nieder. Die Gewalt,
Womit ich selber mich bezwang,
War nun zu End’. So lag ich lang’
Und langsam bin ich aufgewacht

60
Aus meiner Ohnmacht tiefer Nacht.

Und wieder saß ich Tag für Tag,
Und kam der Abendstunde Schlag,
Dann hob ich leis mein Haupt empor – –
Es horcht’ auf seinen Schritt mein Ohr;

65
Obwohl, daß er nicht kam, ich wußte,

Ich dennoch wieder lauschen mußte.
Und wieder dacht’ ich an den Baum
In jenem engen, dunkeln Raum,
Dem schien ja auch nicht jeden Abend

70
Die Sonne, ihn mit Wärme labend,

Mit Wolken war ja oft bedeckt
Der Himmel und die Sonn’ versteckt,
Dann kam sie später doppelt labend
Dem Baum, wenn wieder hell der Abend.

75
Und sieh, es kam ein Hoffnungsstrahl,

Zu mindern meine Angst und Qual:
Es kam ein Brief, von ihm geschrieben
– Der Bote hat ihn mir gelesen –
Mein Sohn war in der Schlacht gewesen

80
Bei Wörth und unversehrt geblieben.

Da bin ich in die Kirch gewankt,
Von einer Nachbarsfrau geleitet,
Und habe innig Gott gedankt,
Daß er mir diese Freud’ bereitet.

85
Dann saß ich wieder Monden lang,

Da – wieder neigte sich ein Tag
Und nah war jener Stunde Schlag –
Vernahm ich eines Mannes Gang.
Der Mann blieb an der Thüre stehen,

90
Als scheut’ er sich, herein zu gehen,

Doch öffnet er sie endlich leise
Und leise, leise tritt er ein.
Befremdlich war des Mannes Weise –
Was will er wohl, wer mag er sein?

95
Nach einer Weil’, als Nichts er sagt,

Hab’ leis ich, wer er sei, gefragt,
Jedoch kein Wort bringt er hervor,
Ein Schluchzen trifft mein lauschend Ohr.
Ein Mann, der weint?! Ich saß erstarrt

100
Und habe athemlos geharrt – –

Da hör’ ich draußen Viele kommen,
Die scheinen etwas herzutragen,
Und wie, wenn Weiber, Kinder klagen,
Hab’ ein Getöse ich vernommen.

105
Und jetzt sind sie hereingetreten

Geheimnißvoll mit Schlurfen, Schleichen –
Und mein Erstarren will nicht weichen;
Ich kann nicht sprechen, kann nicht beten,
Ich sitze, wie von Bann umfangen,

110
Bewegungslos, in Todesbangen.

Da hör’ ich wunderbarer Weise
Wie Kindeslallen einen Ton.

„Lieb’ Mutter!“ tönt es leise, leise –
Allmächt’ger Gott! Das war mein Sohn!

115
Und plötzlich, wie mit Blitzesschlag,

Als schaute ich’s im lichten Tag,
War nun mir Alles, Alles klar:
Es war mein Sohn, o Gott! er war
Verwundet, sterbend. O, und hier

120
Nur wollt’ er sterben, nur bei mir!

Cam’raden hatten ihn gebracht,
Und der zuerst erschien so sacht,
Der wollt’ mir bringen den Bericht,
Und konnt’s vor Schmerz und Rührung nicht.

125
Jetzt stand ich auf, befreit vom Bann,

Und meinen Arm ergriff ein Mann,
Der führte stumm mich zu dem Sohn.
Ich kniete an des Lagers Rand,
Fand seinen Mund und seine Hand,

130
Und wieder kam der Kindeston

„Lieb’ Mutter“ leise, leise; schwach
Und schwer ging schon sein Athem, – ach!
Nun ging’s zum Ende gar geschwind.
Ich glaube fest, das treue Kind

135
Hat liebestark den Tod gezwungen,

So lange noch bei Seit’ zu stehen.
Bis das Ersehnte ihm gelungen.
Die blinde Mutter noch zu sehen.
Und um so mehr nun ging’s in Eile:

140
Schon stockt der Athem eine Weile,

Es zuckt die Hand ihm in der meinen,
Die ringsum stehn, die schluchzen, weinen,
Ich nicht; ich mußte stark erscheinen,
Fest mußt’ ich seine Hand umfassen,

145
Damit er sich nicht fühlt’ verlassen.

Jetzt stockt der schwache Athem wieder
Und länger, kommt dann schwächer wieder,
Wird schwächer, schwächer – leiser – – still.
– – – – – – – – –
Ach, liebe Frau, ich kann nicht sagen,

150
Was sich mit mir dann zugetragen.

Ich lag wohl lange krank darnieder,
Ach, mir zum Leid genas ich wieder.
Als zum Bewußtsein ich erwacht,
Da war und blieb es um mich Nacht,

155
Die Sonn’ kam nimmer warm und lind,

Nun wußt’ ich, daß ich arm und blind.

Gustav Duill.




Die würtembergische Bastille.
Ein Stück aus der guten alten Zeit.

In einem großen Bogen umzieht die von Norden nach Stuttgart einmündende Eisenbahn etliche Stunden vor dieser Hauptstadt einen Bergkegel, welcher einsam aus dem hier sehr weiten Neckarthal aufragt. Mit seinen abgeplatteten, schräg niederfallenden Wänden macht er den Eindruck einer mächtigen Schanze, gekrönt von einem Fort. Ringsum bis zu stundenweiter Entfernung kein Höhenzug, der diesen Kegel überragte; als ein König beherrscht er die unter ihm liegende Ebene mit ihren Dörfern und Städten, mit Ludwigsburg, dem würtembergischen Potsdam, mit Markgröningen, dem alten Wachtposten der deutschen Reichssturmfahne, mit Bietigheim, dem Knotenpunkt der nach Baden und Baiern führenden Schienenwege.

Auf dieser einsamen Höhe liegt, ähnlich dem sächsischen Königstein, die Veste Hohenasperg. Niemand wohl, der ihren Namen noch nicht in Verbindung mit andern Zwingburgen der Geister gehört hätte; Niemand, der sie auf dem Schienenstrang umkreist und nicht sinnend seine Blicke zu ihr hinaufrichtete. Der Würtemberger zumal hat eine gewisse mit scheuem Ernst gemischte Zärtlichkeit für den Hohenasperg; denn er weiß am besten, was derselbe für seine Heimath zu bedeuten hatte.

Mählich ansteigend wie durch Gärten führt von dem Dorfe Asperg ein schmaler Weg, das „Schmerzensgäßle“ noch heute genannt, auf den Felsen hinauf und längs seines Randes bis zur Veste. Die Bergwand selbst ist bis oben hinauf mit Rebstöcken besetzt und es ist der nicht geringste würtembergische Wein, welcher von ihnen gewonnen wird. Kokett ist jüngst auch ein erstes elegantes Sommerhäuschen an den Fels in stolzer Höhe geklebt worden; denn sowohl als Festung wie nun auch als Staatsgefängniß ist Hohenasperg eingegangen. Die alten vorderen Burgmauern sind schon in Verfall; die unterirdischen Gänge sind verschüttet. Nur der eigentliche Kern innerhalb des schmalen und gemauerten Grabens ist noch in seinem früheren Zustande.

An einem lauen Novembertag besuchte ich mit einem kundigen Begleiter die Veste. Nachdem man das lange Eingangsthor, in dem die Wachmannschaft sich befindet, durchschritten, gelangt man auf den großen viereckigen Hof, welcher die ganze Höhe des Kegels umfaßt. Von drei Seiten umgeben ihn schmucklose Gebäude älterer Bauart, welche theils für die Wohnungen der Garnison, theils für Gefängnisse bestimmt waren. Auf einem Theil des Hofes exercirten ein paar Züge Infanterie, auf einem anderen übten sich Mannschaften im Bajonnetfechten; eine Ecke bildete die Reitbahn, in der ein Officier sein Roß aus Langeweile tummelte. In der Mitte steht eine alte Linde, in deren Schatten einst die Barbarei einer entschwundenen Zeit ihre Marterkunst an den Opfern geübt. Von den drei Wirthschaften, die sonst hier oben Bäcker, Metzger und Profoß hielten, ist die letztere jetzt als überflüssig eingegangen. Es giebt eben keine Gefangenen mehr hier oben; nur noch zwei erfreuten sich des Vorzugs dieses Aufenthalts – des Vorzugs, denn, mußte man schon die Freiheit entbehren, so ertrug man dies Unglück auf dem Hohenasperg in neuerer Zeit mit dem geringsten Ungemach. Einst die Schreckensorte der Despotie, waren diese Gefängnisse seit dem Sieg einer verfassungstreuen Regierung in Würtemberg nur noch für eine humane Festungshaft bestimmt. Hunderte haben sie kennen gelernt, als die Zeiten der Demagogenverfolgung und der nachmärzlichen Reaction auch in Würtemberg ihre Opfer forderten, und Viele von diesen genießen ihr Dasein jetzt noch in Rang und Ehren. Die Zeitungsredacteure Stuttgarts zumal erfreuten sich nur zu oft der Ehre, die Gäste dieses Prytaneums zu sein, und in ihren Reihen ist seufzend beklagt worden, daß die Zeiten von Hohenasperg nun vorüber sein sollen, da gelegentlich doch einmal die Preßfreiheit einem oder dem anderen von ihnen wieder zu unfreiwilliger Muße verhilft. Mein freundlicher Cicerone, Bäckermeister Schwarz aus Stuttgart, suchte mit wahrer Herzensrührung das Zimmer auf, in welchem er ein paar Mal dafür hatte büßen müssen, daß er auch zugleich[2] der populäre Herausgeber der „Bürgerzeitung“ ist. Und in der That, es war ein freundliches

[7] Gemach mit Aussicht auf die Landschaft, mit Bett und Tisch und Stuhl, mit Ofen und einem besonderen Nebencabinet. In der Wirthschaft des Festungsbäckers rief er sich mit dessen junger Frau in heiteren Erinnerungen die Zeit zurück, da er bei ihr in Gemeinschaft mit Karl Meier vom „Beobachter“, mit anderen edlen Gästen des Hohenasperg und den Officieren der Garnison bis zum späten Abend sein Schöppchen getrunken. Die Kinder kannten ihn; den Hauptmann begrüßte er als werthen Gönner aus jenen Tagen. Noch war die Hausordnung an der Wand des Korridors jener allerdings besten Haftlocale angeschlagen und sie belehrte, daß der Gefangene hier oben als Gast des würtembergischen Staats alle Freiheiten hatte, außer der Freiheit.

Wir stiegen auf den Wall. Von ihm überschaut man ein prächtiges Stück des schwäbischen Landes. Weingelände umschließen das sieben Stunden lange Thal, welches sich mit seinen Feldern und Wiesen, mit seinen volkreichen Ortschaften und der gewundenen Eisenbahn zu unseren Füßen ausbreitet. Von den Höhen herüber leuchtet manch weißes Schloß und mancher Kirchthurm, und im Süden ruht der Blick auf den Wäldern von Schloß Solitude und dahinter in blauer Ferne auf der scharfen Kante der schwäbischen Alp mit der Bergveste Hohenneuffen. Auf der gegen Ludwigsburg und Heilbronn gekehrten Seite steht die einzige große Kanone des jetzigen Hohenasperg, die ihr dumpfes Gebrüll nur noch zum Alarm bei Feuersbrünsten ertönen läßt. Unweit davon ist die hervorspringende Stelle des Walles, von welcher Rösler aus Oels, der als „Reichscanarienvogel“ bekannte Abgeordnete zum deutschen Parlamente und Mitglied von dessen hochverrätherischem Rumpf, durch die kühne Hülfe eines Gesinnungsgenossen aus Stuttgart seine glückliche Flucht bewerkstelligte, wie das im Jahrgang 1862 der Gartenlaube (Nr. 49) ausführlich geschildert ist.

Gegen die Geschichte Hohenaspergs als Staatsgefängniß ist die militärische der Festung seit dem dreißigjährigen Kriege sehr unbedeutend, und wir lassen die letztere daher hier unberücksichtigt. Der Hohenasperg errang sich seitdem seinen Ruf nur als würtembergische Bastille und hat als solche eine der interessantesten Vergangenheiten, aus welcher die grellsten Streiflichter auf die Zustände fallen, denen nur zu lange das Land des wackeren Eberhard im Barte zum Opfer gewesen. Eine große Reihe berühmter und berüchtigter Namen steht mit der Geschichte dieser schwäbischen Zwingburg in Zusammenhang. Wir knüpfen im Folgenden nur an die hervorstechendsten unter denselben an.

Im Sommer 1737 brachte man mit Schimpf und Schande den Juden Süß Oppenheimer in einen der Kellerkerker der Veste. Jahr und Tag hatte er die höchste Macht im Lande gehabt, im Bunde mit fluchwürdigen Höflingen und Jesuiten den bestimmenden Einfluß auf den Herzog Karl Alexander geübt und mit unerhörter Willkür über die Finanzen des Staates geschaltet, sich selbst aber damit auf’s Frechste bereichert. Weil Süß für die Bedürfnisse des Herzogs immer Geld anzuschaffen wußte, hatte ihn dieser vom Mäkler zum geheimen Finanzrath und Minister gemacht und am 12. Februar 1737 ihm sogar ein Schutzdecret ausgestellt, welches ihn aller Verantwortlichkeit seiner Handlungen überheben sollte. Mit schamlosem Hohn wurden von ihm und seinen Helfershelfern die Rechte der Stände, die Grundgesetze des Landes mit Füßen getreten und ein System nichtswürdiger Erpressungen in Scene gesetzt. „Was Rechte!“ pflegte er zu sagen. „Was Landstände! Der Herzog ist Herr und Alles ist sein.“ Um das Maß seiner Unthaten voll zu machen, gab sich Süß noch sogar her, eine Art von Bartholomäusnacht über Würtemberg zu bringen. Im Bunde mit dem Bischof von Würzburg und der katholischen Partei im Lande, zu welcher der vom Protestantismus abgefallene Herzog selbst gehörte, sollte der evangelischen Kirchenverfassung mit einem Schlage ein Ende bereitet werden, da auch der Herzog der Meinung war, daß sich der Katholicismus besser mit der von ihm beliebten Despotenregierurg vertrage. Schon war den evangelischen Geistlichen ein Circular zugestellt worden, welches sie zum Abfall zu verleiten suchte; General Remchingen ließ überall in den Dörfern die Waffen wegnehmen und hatte seine Truppen zum Angriff vorbereitet. Die Vornehmsten des Hofes, die nicht zur Partei gehörten, die Prälaten und Landschaftsherren sollten verhaftet und, wenn sie nicht beitreten wollten, aus dem Lande getrieben werden. Die eifrigsten Consistorialräthe, Prediger und Beamten wollte man auf den Asperg setzen. In Zeit von vierundzwanzig Stunden sollte die katholische Religion eingeführt, die Stifts- und Spitalkirche in Stuttgart in Kapuzinerklöster, die Hofcapelle und das Waisenhaus in katholische Kirchen verwandelt werden. Der Tag des heiligen Joseph war zum Ausbruch dieses Streichs bestimmt, welchem der Herzog vom Auslande zusehen wollte. Eben hatte er sich deshalb auf die Reise begeben, als ihn am 11. März 1737 jählings durch einen Schlagfluß der Tod erreichte. Und damit vollzog sich auch der Wahrspruch der sittlichen Rächerin an seiner unwürdigen Camarilla. Die für den jungen Erbherzog Karl eintretende Vormundschaft ließ sofort die Häupter der Verschwörung verhaften. Noch in derselben Nacht, da sein Gönner gestorben, packte Oberst von Reischach den Juden Süß im Stuttgarter Schlosse mit den Worten an: „Schändlicher Vaterlandsverräther! Weißt Du, daß Du sogleich in Arrest gehen sollst?“

Er kam zuerst nach Hohenneuffen, dann nach dem Asperg, wo man ihm den Proceß machte. Süß trotzte allen Anklagen, die gegen ihn aufgehäuft wurden, mit dem Hinweis auf sein Schutzdecret. Es half ihm nichts; das Volk forderte seinen Tod, und seine Richter verurtheilten ihn einstimmig dazu. Die orthodoxe evangelische Geistlichkeit quälte ihn bis zu seinem Sterbestündlein, daß er sich zu ihrem Glauben bekehren solle. Aber Süß wies alle diese Versuche mit Zorn und einer gewissen philosophischen Würde ab. Er war Jude mit Leib und Seele und wollte es bleiben. Bis zum letzten Moment glaubte er immer noch nicht an sein Schicksal. Es vollzog sich jedoch mit all der Henkersbarbarei des vorigen Jahrhunderts. Süß wurde am Hochgerichte rücklings eine achtundvierzig Schuh hohe Leiter, den Strick um den Hals, hinaufgezerrt, indeß er mit gräßlicher Stimme immerfort sein Adonai (Herr Gott!) wiederholte.

Der Vicar, nachdem er nochmals wegen der Bekehrung in ihn gedrungen, rief ihm echt christlich nach: „Du verstockter Jude, wenn Du nicht anders willst, so fahre hin!“ Oben auf der Leiter wurde er in einem großen Käfige von Eisenstangen, den man eigens für ihn von der gesammten Stuttgarter Schlosserzunft hatte anfertigen lassen, an einem Haken aufgehängt.

Unter Herzog Karl wurde der Despotismus noch mehr in das System Ludwig des Vierzehnten gebracht, der für die kleinen Potentaten in Deutschland das verehrte Muster bildete. Herzog Karl, mehrere Jahre am Hofe Friedrich des Großen erzogen, spielte außerdem noch den Soldatenkönig. Er hielt eine große Armee, organisirte Alles, auch die Karlsschule, militärisch und verkaufte seine Landeskinder, wie der Hessenfürst, nach Amerika. Unter seinem Richelieu, dem französischen Emigranten Montmartin, kamen die traurigsten Tage über das bis zur Leibeigenschaft erniedrigte Volk. Montmartin machte es noch ärger als Süß. Er verkaufte Aemter und Stellen; er ließ zuweilen alle Männer, wenn sie aus der Kirche kamen, von seiner Soldateska aufgreifen, einkleiden und als verkaufte Soldaten nach England transportiren. Wer nicht zu seinem Willen war, kam nach Hohenasperg. So ging es auch seinem eigenen Helfershelfer, dem Obrist Rieger, der allerdings als Gefangener von Hohentwiel den Unbestand der Despotengunst erfuhr, aber, wieder zu Gnaden gekommen, lange Jahre General-Commandant des Hohenasperg und als solcher auch der rohe Quälgeist Schubart’s, von dem wir später sprechen, war. Rieger war der Geldbesorger des Herzogs Karl gewesen und diesem wegen der Leichtigkeit, mit welcher er immer wieder Mittel anzuschaffen wußte, unentbehrlich geworden. Montmartin entledigte sich dieses Nebenbuhlers in der Gunst seines Allergnädigsten durch einen infamen Hallunkenstreich. Er ließ Briefe fälschen, die dem Herzog beweisen sollten, daß Rieger mit dem im Jahre 1762 nach Franken eingerückten preußischen General von Kleist feierlich im Einverständniß stehe, um diesem Würtemberg in die Hände zu spielen. Daraufhin ließ der Herzog den schmählich verleumdeten Mann ohne Weiteres auf die Festung bringen. Erst nach fünf fahren gab er ihm die Freiheit zurück und als er endlich das Unrecht eingesehen, welches er diesem treuen Fürstendiener, aber sonst wenig rühmenswerthen Mann angethan, ließ er wieder die Sonne seiner alten Huld auf ihn scheinen. Interessant ist auch, daß Rieger diese Wiederherstellung der herzoglichen Gnade einem Verein zu danken hatte, der aus Anlaß seines Schicksals sich gebildet. Es waren meist Officiere und angesehene, hohe Beamte, welche sich zu einer Gesellschaft verbunden hatten, um sich gegenseitig bei Willküracten des Herzogs [8] Schutz zu geben. Dieser Verein verbreitete sich in der Folge durch alle Stände, umgab den Herzog Karl unsichtbar mit seinem Einfluß und trug dadurch sehr viel bei, daß dieser in der letzten Zeit seiner Regierung eine bessere Meinung von seinem Charakter aufrief. Um auf Rieger zurückzukommen, so regierte er auf Hohenasperg, ähnlich wie Herzog Karl in seinem Staate. Er war ein strammer Despot, der das ihm selbst widerfahrene Leid seinen Gefangenen reichlich entgelten ließ. Sein Jähzorn kostete ihm im Jahre 1783 das Leben. Gelegentlich eines Besuchs im Spital des Hohenasperg fand er dort einen Soldaten, den er nur zu viel schon gequält.

„Gelt, Kerl!“ sagte er spöttisch zu ihm; „da liegst Du jetzt!“

Der Soldat, der nichts mehr zu verlieren hatte, drehte sich um und gab ihm eine Götz-von-Berlichingensche Antwort. Darüber erfaßte den General Rieger eine solche Wuth, daß er auf dem Rückweg im Festungshof plötzlich vom Schlag getroffen niederstürzte. Als später der Sarg vor dem Leichenbegängniß auf dem Hofe stand, kroch jener Soldat mit seinen letzten Kräften zum Fenster und sagte: „Gelt, Kerl! da liegst Du nun auch!“ worauf er sich zufrieden auf seine Matratze zurücklegte und starb.

Man kennt die Leidensgeschichte Masers’ de Latude, der zwanzig Jahre lang als Opfer der Maitressenwillkür in der Bastille schmachtete. Auch der Hohenasperg hat seine Latudes gehabt, so den Herrn von Scheidlin. Achtundzwanzig Jahre lang nahm ihm eine lettre de cachet des Herzogs von Würtemberg die Freiheit, weil die leiblichen Brüder des Herrn von Scheidlin ihn wegen seines Jugendleichtsinns mit „Lebendig Begrabenwerden“ bestraft wissen wollten. Schiller fand in dem Schicksal dieses Mannes die Rolle für Karl Moor.

Man fühlt sich von dem Geiste angeweht, in dem Schiller seine Räuber geschrieben, wenn man das rohe, viereckige, wie ein alter Burgthurm gestaltete Gemäuer betrachtet, welches sich aus dem Hofraume des Hohenasperg hoch über den Wall erhebt. Hier fand Schiller die Anregung zu seinen „Räubern“. Denn in einem der Grabeskerker, welche der Bau in seinem Innern birgt, hat vor nun bald einem Jahrhundert ein so reiches Menschen- und Dichtergemüth wie Schubart aus bloßer Despotenlaune schmachten müssen. Hier wird der Geist des Besuchers in die Zeiten versetzt, auf denen so viel Fluch und Elend ruht. Hier ist das Wahrzeichen der alten würtembergischen Tyrannei, der Thurm der schwäbischen Bastille, welche einst denselben Dienst leisten mußte, wie die zu Paris.

Das sogenannte Schubartsloch ist ein ziemlich großer und nicht hoher Raum innerhalb der dicken Mauern dieses Thurmes. Sonne und Mond haben noch nie einen Strahl dahin senden können. Sein fahles Licht bei Tage erhält er durch zwei vergitterte Fensterlöcher, von denen das zweite erst in neuerer Zeit ausgebrochen wurde. Das kahle Gewölbe enthält nichts mehr als einen kleinen eingemauerten eisernen Ofen, sowie einen Tisch, auf dem jetzt das „Fremdenbuch“ zum Einschreiben sich befindet. Und hier hat in dumpfer Kellerluft und bei einem Schimmer des Tages, ohne Erde noch Himmel sehen zu können, der Dichter Schubart ein Jahr lang geseufzt, ehe seine Quälgeister ihm wieder einen Schritt in’s Freie, einen Athemzug in freier Luft gestatteten! Immer wieder ergreift das Martyrium dieses Edlen, welches ihm die Jesuiten, die protestantischen Pietisten und der Zorn des Herzogs Karl Eugen ob seiner Freisinnigkeit und – ob seiner Sympathien für Preußens Friedrich, vom Januar 1777 bis zum Mai 1787 ohne Urteil[3] und Recht bereitet. In dieser Höhle, wo er lebendig begraben war, wird die Empörung über dieses Attentat auf die Würde des Menschen wieder lebendiger. Ließ doch der Herzog eigens dieses „Loch“ für Schubart bauen, indeß dieser noch frei in Ulm lebte! Ein Barnbüler war es, der ihn dann mit tückischer List aus dem Gebiet der freien Reichsstadt lockte, um ihn in grausamem Triumph nach Hohenasperg zu führen, wo ihn – der Herzog selbst und seine Gemahlin erwarteten und zusahen, wie er in dies scheußliche Verließ gebracht wurde. Es wäre wohl sein Grab geworden, wenn der König von Preußen und die Hofpoetin Karschin sich nicht endlich in warmer Fürsprache seiner angenommen hätten. Und darauf machte die umgeschlagene Laune des Fürsten ihn in Gnaden zum Theaterdirector in Stuttgart, wie um nun den Genius zu ehren, der vorher in wildem Aufschrei über die Despotie die „Fürstengruft“ auf Hohenasperg gedichtet. Hier, mit diesen Erinnerungen, begreift man erst die „Räuber“, zu welchen der Besuch bei dem gefangenen Schubart im Herbst 1781 unserm Schiller, dem damaligen Zögling der Karlsschule, so mächtige Anregung gab. Sandte ihm doch Schubart die flammenden Prophetenworte nach, daß ihm – Schillern – Gott gegeben habe

          Sonnenblick
Und Cherubs Donnerflug,
Um starken Arm, zu schnellen
Pfeile des Rächers vom tönenden Bogen.

Herzog Karl war im Jahre 1793 gestorben. Vom Jahre 1795 an regierte sein zweiter Bruder Friedrich, der unter der napoleonischen Herrschaft erst Kurfürst und dann König werden sollte. Die Opfer seiner Cabinetsjustiz sind zahllos; er war Despot aus Verachtung der Menschen. Noch in späteren Jahren, wenn er in seiner Residenz Ludwigsburg neue Minister oder hohe Beamte vereidigte, pflegte er sie mit folgender Erbauung zu entlassen: „Sind Sie dem Lande kein treuer Diener, so kommen Sie dorthin“ – dabei zeigte er nach rechts hinüber zum Hohenasperg; „sind Sie aber Ihrem König zu Schaden, so enden Sie da.“ Worauf er nach links hin auf Neckarweihingen zeigte, wo damals der Galgen stand.

Eins der beklagenswerthesten Opfer seiner Härte ist der Oberst Freiherr von Wolf. Derselbe war zur Zeit des Einfalls der Franzosen im Jahre 1800 unter Vandamme Commandant der früher unbezwungenen Festung Hohentwiel unweit des Bodensees und übergab dieselbe etwas vorschnell, da er mit seinen paar Invaliden an einen Widerstand von Erfolg nicht denken konnte. Herzog Friedrich war wüthend über diese Capitulation; er ließ keine Entschuldigung gelten und Wolf, damals schon ein Mann von siebenundfünfzig Jahren, sollte in lebenslänglichem Kerker dafür büßen, zumal er im Verdacht stand, Sympathieen für Preußen zu haben, wo auch sein Sohn in militärischen Diensten stand. Auf Hohenasperg gab man ihm ein kaltes, feuchtes Zimmer mit der Aussicht nach dem Hof. Er durfte auf einer Schiefertafel schreiben und das Geschriebene, nachdem es die Censur des Commandanten passirt, von Quartiermeistern copiren lassen. Alljährlich besuchte ihn zum Christfest seine Tochter und verblieb zu seiner Freude einige Tage auf der Festung. Wolf beschäftigte sich wissenschaftlich und machte auch politische Verse. Als Napoleon im Jahre 1809 den Hohenasperg besuchte, schrieb der Greis unter dem Salutdonner der Kanonen mit Kreide an seine Thür:

Wenn Erob’rer stolz sich brüsten,
Bauen sie doch ohne Den auf Sand,
Der den Rath, das Herz der Fürsten
Lenkt, wohin er will, mit starker Hand.
Menschenwerk vergehet,
Gottes Rath bestehet.

Als Friedrich als Kurfürst die Festung besuchte, wagte Wolf, aus seinem Fenster den Ruf „Gnade!“ an ihn zu richten. Dies nahm Serenissimus sehr übel auf und dictirte sofort dem Verwegenen noch zehn Jahre längere Haft. In seiner Verzweiflung machte der schon altersschwache, zitternde Greis dann einen Fluchtversuch; doch er mißlang. Der Bediente des Platzhauptmannes packte ihn in demselben Augenblicke, als er die Grabenmauer übersteigen wollte, nachdem er an seinem Betttuche sich glücklich hinuntergelassen. Nach sechszehnjähriger Gefangenschaft, dreiundsiebenzig Jahre alt, erlangte er erst die Freiheit zurück. Für ihn wie für so viele Andere war der Tod König Friedrich’s 1816 die Erlösung.

Zeit- und Leidensgenossen von Wolf auf Hohenasperg waren eine Anzahl von Separatisten, einer merkwürdigen Secte, die sich auch in Würtemberg zu Anfange des neunzehnten Jahrhunderts von Neuem ausbreitete. Sie hielten sich als wahre Christen nur an das Dogma der Bruderliebe, verwarfen das Recht jeglicher Obrigkeit, die Taufe, den Eid und den Kriegsdienst. Wegen dieses letzteren Umstandes zumal fuhr die Regierung endlich zwischen sie und schickte massenhaft die Männer, meistens wohlhabende und streng rechtliche Bauern, auf die Festungen, die Weiber in die Spinnhäuser. Nicht die grausamste Mißhandlung brachte sie von ihrem Glauben ab, zu dem auch jetzt das Moment hinzukam, daß sie in Napoleon den erwarteten [9] Messias erblickten. Als dieser auf Hohenasperg davon hörte, warf er die messianische Botschaft hin: „Lassen Sie die Kerle aufhängen!“ Dies geschah nun freilich nicht, aber auf Hohenasperg wurde an Barbareien nichts gespart, um sie zu bekehren. Schließlich, da sie alle Martern ergebungsvoll ertrugen, ließ man sie ruhig gewähren, worauf die Meisten, mehrere hundert Familien, nach Tiflis oder Amerika auswanderten.

Als sie 1813 den Asperg verlassen, kamen statt ihrer die Mergentheimer. Dies waren Bauern und Einwohner des Gebiets von Mergentheim, welches früher dem deutschen Orden gehört und nun würtembergisch geworden war. Gelegentlich der Eidesableistung und einer darauf bei Nacht durch Ueberfall versuchten Recrutenaushebung kam es hier zu hellem Aufstande. Man vertrieb die würtembergischen Beamten und richtete die Wappen des deutschen Ordens wieder auf. Daraufhin beschloß König Friedrich, ein Beispiel des Schreckens aufzustellen. Ein ganzes Armeecorps rückte nach Mergentheim und wüthete hier wie in einer eroberten Stadt. Die deutschmeisterlichen Wappen wurden durch Henkershand verbrannt, die Namen der Entflohenen an den Galgen geschlagen, die aufgegriffenen Gefangenen vor ein Kriegsgericht gestellt, theils zum Strang, theils zum Erschießen, theils zu lebenslänglicher Festungsstrafe verurtheilt. Die fürchterlichsten Drohungen ergingen: bei einem neuen Versuche werde man die Stadt dem Erdboden gleichmachen und alle erwachsenen männlichen Einwohner mit dem Schwerte ausrotten. Schandpfähle wurden an den Eingängen jener Dorfschaften aufgerichtet, von welchen Einwohner wegen dieses Hochverraths verurtheilt waren. Sie blieben einige Jahre stehen.

Zu den interessantesten Bewohnern des Asperg in neuester Zeit gehörten die französischen Kriegsgefangenen, deren es dort oben an neunhundert gab. Sie haben beim Spital einen Theil des Hofes aufgeschüttet und Bäume zu einer Promenade hier gepflanzt, die dem Hohenasperg zu ihrem Andenken verbleiben wird. Nicht recht aufgeklärt ist die Verschwörung, welche von ihnen augezettelt wurde, um die Festung durch einen Handstreich in ihre Gewalt zu bekommen. Zur Zeit, als Bourbaki bei Belfort durchzubrechen versuchte und in Süddeutschland nicht geringe Sorge darüber war, sollen die französischen Gefangenen des Hohenasperg sich mit denen in Ludwigsburg, wo ihrer an viertausend waren, zu jenem Zwecke in geheime Verbindung gesetzt haben. Es gab auf der Bergveste nur achtzig Mann Besatzung und die Möglichkeit eines Gelingens ihres Planes lag also nahe. Rechtzeitig aber wurde dies beabsichtigte Attentat noch entdeckt. Der bald nachfolgende Friede und die Freilassung der Franzosen machten auch der weiteren Untersuchung über diesen Vorfall ein Ende.

Deutschland aber, über welches eine neue Zeit hereingebrochen ist, wird hoffentlich auf immer von den Ketten der Fürstenwillkür befreit sein, welche in der Veste Hohenasperg eine ihrer gewaltigsten Zwingburgen fand.

S.-W.

Eine Heimstätte deutschen Fleißes.

Es sind jetzt etwa zweihundertdreißig Jahre her, da sah man im Gleirschthale in den bairischen Alpen, einem jener engen Kalkthäler, aus deren Quellen die Isar zusammenrinnt, öfter einen jungen Mann herumgehen, welcher sich die hohen Fichten der Berghänge mit prüfenden Augen betrachtete. Sein Gewand war nicht das eines Holzfällers; ein „Tourist“ konnte er auch nicht sein, denn von jener Art von Menschen, denen es gefällt, nur zum Vergnügen ihrer Augen unbewohnte Einöden zu durchstreifen, wußte man damals noch nichts. Als Jäger hätte er irgend eine Waffe tragen müssen – kurzum, wer ihn sah, konnte sich sein Gebahren nicht erklären, vollends dann nicht, wenn der rätselhafte Wanderer einen Hammer aus der Tasche zog, damit an irgend einen Stamm schlug und sodann das Ohr hart an den getroffenen Baum legte. Dabei konnte man bemerken, daß er vorzüglich alten Stämmen und zwar solchen nachging, bei welchen sich der herannahende Tod schon am Absterben der Aeste des Wipfels bemerklich machte. Sah der Mann einen gefällten Stamm am Boden liegen, so ging er hinzu und betrachtete die Schnittfläche. Er maß die Jahresringe, ob sie sich in den gehörigen Abständen von einander hinzogen, und verließ den Stamm entweder kopfschüttelnd, oder nachdem er ihn durch irgend ein Merkzeichen kenntlich gemacht hatte.

Am seltsamsten aber war das Benehmen dieses Mannes, wenn gefällte Stämme, wie es im Gebirge so häufig geschieht, von ihrem hohen Standorte über die jähen Berghänge in’s Thal hinabgerollt wurden. Dann saß er seitwärts auf irgend einem Felsblock und lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit auf die Töne, welche solche Stämme im Stürzen von sich gaben, denn es ist bekannt, daß manche Stämme im Auffallen Laute erzittern lassen, denen der Telegraphenstangen ähnlich, wenn der Wind den Draht bewegt. Diejenigen Stämme, von welchen ein besonders auffallendes Singen herschwirrte, merkte er sich, wählte sie aus und erstand sie von den Herren des Waldes.

Aus diesem Treiben werden wir keine rechte Vorstellung über die Absichten des Mannes gewinnen können und darum ist es besser, gleich zu sagen, wen wir vor uns haben. Es ist dies der junge Jacob Stainer aus dem Dorfe Absam, welches jenseits der grauen Jöcher liegt, die das Gleirschthal vom breiten Inn- oder vom Haller Salzthale trennen.

Seine Eltern sind arme Bauern, er aber hat sich auf die Kunst des Geigenmachens verlegt und ist bereits in den zwanziger Jahren seines Lebens darin zu Ruf und Ansehen gelangt. Niemand sieht es diesem bescheidenen Geigenmacher an, daß er zweihundert Jahre später der Held vieler Novellen werden soll. August Lewald läßt ihn aus unerwiderter Liebe zu einer schönen Italienerin wahnsinnig werden; andere Dichter erzählen von ihm, wie er schwermüthig in den Schluchten umhergeht und seinen Schmerz in den Tönen seiner Geige ausströmen läßt; wieder andere sehen ihn als Mönch – überhaupt ist nächst der Person des Andreas Hofer kaum ein anderer Mann des Tiroler Landes so tief in die Tinte der Novellisten gerathen, als der Geigenmacher von Absam.

Die Geschichte weiß blutwenig von ihm zu erzählen und dieses Wenige hat Sebastian Ruf rühmlichst an’s Licht gestellt. Es ist hier nicht der Ort, an der Hand dieses Gewährsmanns Stainer’s Leben zu verfolgen, wenngleich wir uns nicht versagen können, einige Geschichten aus dem dunkeln Lebenslauf dieses deutschen Meisters anzuziehen. Vor Allem findet sich keinerlei Hinweisung darauf, daß derselbe jemals als Lehrling in Italien gewesen sei. Wohl hat er sich nach den berühmten Kunstwerken des Amati gebildet, aber alle Geschichtsschreiber seiner Kunst bestätigen ihm, daß er den Bau seiner Geigen ganz selbstständig ausgedacht und dieselben in Ausrüstung und Klang so eigenthümlich geschaffen habe, daß man ihn den Vater der deutschen Geige nennen müsse, denn die Geigen dieses Meisters waren die ersten, welche sich wesentlich von denen der Italiener unterschieden.

Es konnte nicht fehlen, daß die fremden Kaufleute, welche Stainer seine Geigen auf den Märkten zu Hall abkauften, seinen Ruf überall hin verbreiteten und daß deshalb seine Waare in den benachbarten Ländern immer mehr und mehr gesucht wurde. Dies wurde Veranlassung, daß sich ein Bauer aus Mittenwald in den baierischen Alpen an der Isar, Mathias Klotz genannt, aufmachte, zum benachbarten Absam pilgerte und den Meister bat, er möge ihn in die Lehre nehmen, was auch geschah. Des Geigenmachens kundig, kehrte Klotz in den armen Marktflecken an der Isar zurück. Was nunmehr dort vorging, wird aber nur begreiflich, wenn wir einen Blick auf gewisse Vorgänge werfen, die des Interesses nicht entbehren, weil daraus allerlei über Handelschaft und Verkehr alter Zeiten zu ersehen ist.

Kein Vorfall hatte für Mittenwald größere Bedeutung, als ein Streit, welchen Erzherzog Sigmund im Jahre 1487 zu Bozen mit einigen Kaufleuten Venedigs ausfocht. Bozen war damals der Hauptstapelplatz zwischen deutschen Landen und Italien; die Kaufleute beider Völker rechneten dort auf den Messen mit einander ab; der Stadt war ein schnelleres Rechtsverfahren in Schuld- und Wechselsachen vom Kaiser verliehen worden – kurzum, die Bozener Märkte waren wohl die bedeutendsten von ganz Süddeutschland. Dieser Streit aber änderte die Sache. Nachdem der Erzherzog jene Kaufleute, hundertunddreißig an der

[10] Zahl, hatte in’s Gefängniß werfen lassen, fühlte sich der Handelsstand der großen Lagunenstadt auf das Aergste gekränkt. Sie beschlossen, die Niederlage ihrer Waaren und die Abrechnung mit ihren deutschen Geschäftsfreunden an einen andern Ort zu verlegen, der nicht allzu weit von wälschen Gauen entfernt wäre. Von Tirol, das hierbei zunächst in Frage kam, wollten sie in ihrem Zorne nichts mehr wissen, konnten sich aber nicht zu weit von den Hauptverkehrswegen nach Deutschland entfernen. Da wählten sie das hart an den Tiroler Grenzsteinen gelegene Mittenwald, über welches ohnehin zu jener Zeit schon manche Maulthierkarawane gen Wälschland zog, weil die Wege über den Fern und den Finstermünzpaß noch nicht eröffnet waren. So brach für Mittenwald eine goldene Zeit an, von der sich noch manche Erinnerung in reichen Stiftungen und Bauten erhalten hat.

Mochte nun aber Mittenwald den reichen Venedigern auf die Dauer doch zu entfernt liegen, oder was sonst der Grund gewesen sein mag – genug die Mittenwalder Herrlichkeit nahm ihr Ende, nachdem sie immerhin hundertundzweiundneunzig Jahre gedauert hatte. Im Jahre 1679 wurde der große wälsche Markt wieder an seinen frühern Ort zurückverlegt.

Um eben diese Zeit nun brachte erwähnter Mathias Klotz seine Kunst von Absam nach Mittenwald, und die Noth schaffte ihm gelehrige Schüler. So wurde aus dem baierischen Marktflecken in kurzer Zeit ein deutsches Cremona, freilich ein Cremona ohne „Torrazzo“, ohne Kathedralen im lombardischen Styl, ohne Paläste mit Marmor und Götterbildern, aber in der Fabrikation der besten Geigen bald so berühmt wie jenes stolze Cremona am Po. Die fertige Waare wurde jedoch damals nicht, wie heute, durch die Post und durch die Boten, welche ihre Kisten den Spediteuren bringen, mittelbar nach Constantinopel und Kalifornien (die Ganges-Länder und Amerika sind jetzt den Mittenwaldern die Hauptmärkte) befördert, sondern gleich den geschnitzten Figuren der Tiroler Kraxenträger auf Tragkörben herumgeschleppt. Meist waren es die Verfertiger selbst, welche ihre Geigen, Baßgeigen und Guitarren in „Butten“ auf dem Rücken feilboten und dabei natürlich nicht sonderlich weit kamen, schwerlich viel über die anstoßenden Gebiete von Baiern, Tirol und der Schweiz hinaus.

So ging es etwas mehr als ein halbes Jahrhundert fort. Die Mittenwalder bearbeiteten fleißig ihre Haselfichten und trugen ihre Waaren in der Welt, besonders an den gastfreundlichen und musikliebenden Klöstern anklopfend, herum; ihre Thätigkeit wäre aber bei alledem eine dunkele geblieben, gleich der Bildschnitzerei so vieler armen Thäler, wenn nicht betriebsamere Köpfe unter ihnen aufgestanden wären, die auf den Einfall geriethen, sich nach weiteren Absatzgebieten umzuschauen.

Von 1730 an unternahm Johann Neuner und seit 1762 dessen Sohn Mathias Neuner Reisen, und namentlich von Mathias Neuner ist bekannt, daß derselbe längere Zeit als Geigenmacher in London lebte und zur Ausbreitung seines Geschäftsbetriebes große Reisen, bis in das tiefe Rußland hinein, unternahm. Nicht immer waren diese Männer von Glück begünstigt, so daß Mathias einmal von einer langwierigen, mühevollen Reise in Rußland nur einen einzigen Dukaten nach Haus brachte. Heutzutage hat der Hausirhandel fast gänzlich aufgehört und wird der Vertrieb der Waaren, welche der Mittenwalder Fleiß hervorbringt, nahezu ausschließlich von zwei Häusern, den Nachkommen der obengenannten Männer, Neuner und Hornsteiner, sowie von dem Hause Johann Anton Bader besorgt.

Diese Häuser „verlegen“, das heißt das Geschäft wird kaufmännisch betrieben, indem die genannten Geschäftsleute den Arbeitern ihre Erzeugnisse regelmäßig um einen fest bestimmten Preis abnehmen, dieselben in ihre Magazine stellen und den Verschleiß auf eigene Rechnung und Gefahr besorgen. Sehr anziehend ist ein Besuch im Neuner’schen Comptoir und Magazin. Tausende von Musik-, Saiteninstrumenten jeder Art füllen die weiten Räume, ihrer Fortschaffung harrend, um immerwährend durch andere ersetzt zu werden. Aus Asien und Amerika bringt der Postbote so viele Bestellbriefe in’s Haus, daß nur eine beschränkte Anzahl derselben berücksichtigt werden kann, und merkwürdig ist es zu sehen, wie der Geschäftsgeist der kundigen Verleger den verschiedenen Völkern ihren Geschmack abgelauscht hat, wie man die Zeichnungen und Masern im Holze kennt, welche der Yankee liebt, und die kleinen Anforderungen, welche der Ostindier an das Aussehen seiner wohlfeilen Geige stellt. Und, damit dem Eindrucke das Ursprüngliche und Alpenhafte gewahrt bleibe, was dem ganzen Erwerbszweige anhaftet, schaut das Comptoir auf den Karwendel hin, auf dessen Schneefeldern sich oft Gemsen tummeln – gewiß die einzige Kaufmannsstube in deutschen Landen, von deren Fenstern aus man die Herde des Bergesalten in ihrer Freiheit schaut.

So sehr nun auch in unserem Jahrhundert allenthalben die Nachfrage nach den Geigen wuchs, die an der blauen Isar geschnitzt und zusammengeleimt werden, so brachte den richtigen Aufschwung erst jene Erleichterung des Verkehrs mit Amerika in’s Geschäft, den wir der Flotte unserer norddeutschen Dampfer verdanken. Schon Ende der fünfziger Jahre schafften die zwei Häuser Neuner und Bader jährlich zehntausend besaitete Werkzeuge über das Weltmeer. Dann kam der große Bürgerkrieg und zwischen den Waffen schwiegen die Musen, wie überall. Nunmehr aber beträgt die Anzahl der Geigen und Cithern, die über den „großen Bach“ schwimmen, jedes Jahr wieder mindestens zwölftausend. Nicht minder wichtig ist den Mittenwaldern die Verfertigung von Cithern.

Dieses Musikinstrument, jetzt durch friedliche Eroberung auch über den Norden Deutschlands ausgebreitet, ist wohl allen meinen Lesern von Ansehen bekannt. Uns geht es nichts an, ob es aus der neapolitanischen Mandoline, aus der mittelalterlichen Laute, oder gar aus der indischen Vina hervorgegangen ist – wir wissen nur, daß es zuerst in der grünen Steiermark im Gebrauche war und von dort durch Bergleute nach dem Harz gebracht wurde. Gewiß klingt die Cither schön und alpenhaft und das eigenthümliche Nachzittern der Töne darin will an den Wiederhall gemahnen, mit welchem der Gesang in hohen Felseneinöden verweht.

Nun, gerade für die Cither, ein echt deutsches Instrument, ist Mittenwald die Heimath geworden. Hier ist der Ort, die Geschichte derselben eingehend zu studiren. In Neuner’s Magazin sieht man Cithern, wie man sie in alten Zeiten zu Mittenwald verfertigte, in Formen und Besaitungen, von welchen das heutige Geschlecht nichts mehr weiß. Die berühmtesten Cithermacher, Tiefenbrunner in München und Kiendel in Wien, sind Mittenwalder, haben in ihrer Jugend daheim gearbeitet und die Ehren vaterländischer Betriebsamkeit in alle Theile der Welt getragen. Mit nicht wenigen von den Cithern, welche sie auf den Gipfel ihres Ansehens unter dem eigenen Namen in ferne Erdtheile sendeten, haben sie weiter nichts zu thun gehabt, als sich dieselben von irgend einem[WS 1] bescheidenen Insassen Mittenwalds kommen und mit dem Merkzeichen ihrer Fabrik versehen zu lassen, worauf ihnen der Fremdling das Vier- oder Fünffache des Lohnes bewilligt, mit welchem sie den Mittenwalder Landsmann zufriedengestellt hatten. Nicht leicht wird sich eine Oertlichkeit so im Zusammenklang befinden mit ihren Erzeugnissen, wie es in Bezug auf Mittenwald der Fall ist; liegt doch der Ort inmitten jenes Hochalpenlebens, bei dessen Bildern man an die froh-wehmüthigen Töne der Cither denkt – hier geht der Jäger durch wildreiche Bergforste, ruft der Senner von hohen Graten, lagern die Holzfäller auf Felsen und zieht der Kahn über Seen, deren Wände den jauchzenden Gesang verzehnfachen.

Alles in Mittenwald erinnert an die lustige Thätigkeit seiner Inwohner.

Wenn man von Partenkirchen oder Walchensee herkommt, bemerkt man unweit der Straße ein großes Holzlager, in welchem die Bretter aufgeschichtet sind, deren Fasern späterhin mitzittern sollen mit den Schwingungen der Töne. Dreißig Jahre zum mindesten muß hier ein Holzstück lagern, bevor es in die bearbeitende Hand gelangt. Dadurch soll jene Trockenheit im Holze erzeugt werden, welche schon das halbe Gelingen eines guten Tonwerkzeuges ist.

Weiterhin gegen die grauen Wände des Karwendel treibt der Leutascher Bach, bevor er sich in die Isar ergießt, die „Neuner-Sägen“. Dort wird durch Wasserkraft das Holz so zugeschnitten, daß man es dem Arbeiter übergeben kann. Mehr als fünfzigtausend Violinböden und eine verhältnißmäßige Anzahl anderer Holzstücke harren stets des Eisens, das sie zubereitet. Ein phantastischer Dichter, wie es Amadeus Hoffmann war, möchte da Gelegenheit finden, sich mit den Geistern zu unterhalten, die in diesen Holzfasern schlafen, und mit dem „zweiten Gesicht“ des Poeten die Empfindungen und Handlungen zu überschauen, welche [11] dereinst im Morgen- und Abendland von den Fasern dieser Hölzer angeregt werden. Was diese selbst anbelangt, so hat ihre Bestimmung der verstorbene Botaniker Martius schön angegeben, als ihn Neuner einmal um ein Motto für seine Geigen anging. Er antwortete, von ihnen könne man sagen: „In silvis viva silui, jam mortua cano,“ d. h. „als ich im Walde lebte, schwieg ich, todt singe ich.“

Und der Fremdling, der im guten Postgasthause des Marktes ausgeschlafen hat und sich am Morgen die Augen reibt, um nach dem goldüberflossenen Wettersteine zu schauen, wird sich wundern, wenn ihm zunächst auf den gegenüberliegenden flachen, steinbedeckten Gebirgshausdächern die frisch lackirten Cellos, Contrabässe und Geigen auffallen, die dort in die frische Zugluft gestellt oder an Stricken aufgehängt worden sind, damit sie trocknen. Die Morgenluft, die aus Gleirsch herausweht, wo einst Stainer dem Gesange der stürzenden Stämme lauschte, bewegt sie hin und her, und der kostbare Lack, dessen Bereitung ebenfalls ein Geheimniß der Mittenwalder Verleger ist, legt sich schön und glänzend an. Da begegnet es dem Nüchternsten, daß er den Himmel voller Baßgeigen sieht.

Gehen wir sodann in die massig gebauten, weit von hölzernen Dachrinnen und Vordach überragten Häuser selbst hinein, so sehen wir in den niemals gelüfteten Zimmern die Mittenwalder Männer und Frauen bei ihrer Arbeit. Es ist hier, wie bei mancher andern Thätigkeit, daß der zu fertigende Gegenstand nicht von einer einzigen Person gemacht wird, sondern daß Jeder meist nur einen Theil desselben verfertigt, immer und immer den nämlichen. Wie zu La Chaux de Fonds in den Uhrenfabriken der eine Arbeiter sein ganzes Leben lang Deckel, der andere Schrauben, dieser Federn, jener Räder macht, so giebt es auch zu Mittenwald nur wenige, die eine Geige so herstellen, wie sie in den Handel gebracht wird. Im Gegentheile kann man annehmen, daß an einer fertigen Geige ein Form- oder Körpermacher, ein Hals- oder Schneckenmacher und ein Griffmacher gearbeitet haben, wozu noch diejenigen kommen, welche die Stege, die Schrauben, die Saitenhalter machen, dann diejenigen, welche die Saiten aufziehen oder mit Gold- und Silberdraht überspinnen, nicht zu vergessen die Frauen, welche den Lack auftragen. Eine von der Regierung eingerichtete Geigenmacherschule giebt allerdings den Jungen Gelegenheit, das Ganze ihres Gewerbszweiges eingehend zu erlernen. Auch befindet sich ein unter den deutschen Musikern viel genannter Mann zu Mittenwald, Johann Reiter, der nur Violinen der ausgezeichnetsten Art anfertigt oder ausbessert.

Ein Uebelstand, welcher auf der Betriebsamkeit des Marktfleckens lastet, ist die Abneigung der Leute, während des Sommers in ihren Stuben zu arbeiten – eine Abneigung übrigens, welche sie mit anderen Alpenbewohnern gemein haben, insbesondere den Tirolern, deren Mangel an Industrie zum Theil auf den Widerwillen gegen massenhafte Beschäftigung in geschlossenen Räumen sich gründet.

Wenn der Vogelbeerbaum blüht, die Atragene sich um die Fichten schlingt und die blaue Gentiane auf den Wiesen steht, dann sucht sich der Mittenwalder lieber eine andere Beschäftigung als die mit Violinböden und Guitarrenhälsen. Es fehlt nie an Arbeit, hauptsächlich an der Ausbesserung und Herstellung von Reitwegen auf die Hochalpen – denn der König von Baiern sowohl wie der ehemalige Herzog von Nassau besitzen Häuser hoch im Gebirge, der eine sein berühmtes Schachenhaus, von welchem man auf den Gletscher der Zugspitze hinübersieht, der andere sein Jagdschloß „auf dem Verein“ in den wildreichen Karen, durch die man zur „hinteren Riß“ hinübersteigt. Auch in den Forsten fehlt es nicht an Beschäftigung. Im Spätsommer kommt die Heumahd dazu. Da werden die gegen Partenkirchen auf den welligen Hügeln der Wasserscheide zwischen Loisach und Isar gelegenen Wiesen abgemäht – es wird wochenlang Nachts in Heustadeln campirt, Feuer angezündet, auf freiem Felde gegessen – das eigentliche Villeggiaturleben der Mittenwalder, die keine höhere Lustbarkeit kennen und alle Geigen der Welt für ihre „Wiesmahd“ zurücklassen.

Ich will diese kleine Betrachtung nicht beenden, ohne noch einmal auf die beiden Väter der Mittenwalder Geigen, Mathias Klotz und Jacob Stainer in Absam zurückzukommen. Von dem Ersteren haben sich nicht viele Ueberlieferungen im Markte erhalten – auf dem Altar in der Gottesackerkirche findet sich sein Name eingeschnitten. Ueber Stainer von Absam aber möge eine Schlußbemerkung hier noch Aufmerksamkeit finden.

Da war einmal ein „sectischer, lutherischer“ Bücherverkäufer auf der Messe zu Hall, und Stainer kaufte ihm, wohl aus Neugierde, eines seiner Bücher ab. Wegen dieses Verbrechens ließ ihn die Regierung, die sich damals schon längst mit dem Gedanken trug, „zur Wiederlegung der immer von Neuem sich einschleichenden Irrlehren in Innsbruck eine Universität zu errichten,“ in den Kerker werfen und entzog ihm jede Freiheit ein halbes Jahr lang. Von jener Zeit ab mußten die Jesuiten den Büchervorrath der Händler untersuchen – für den guten Stainer aber hatte der Vorfall die bittere Folge, daß er die Gunst der Regierungsräthe verscherzt hatte. Als er später in Schulden gerieth und von getauften und ungetauften Hebräern arg bedrängt wurde, wandte er sich, da er als „Hofgeigenmacher“ kaiserlicher Diener war, an den Kaiser, um ihn zu bitten, daß er durch Bezahlung des schuldigen Betrages von vierhundertfünfzig Gulden die äußerste Gefahr der Auspfändung von ihm abwende. Unter anderen Verhältnissen hätte der allergnädigste Herr dieses Gesuch wohl bewilligt; da aber die Regierungsräthe im Andenken an jene Buchgeschichte ihr Gutachten abschlägig einrichteten, so wies man ihn ab. Von da an wurde der Mann träge und trübsinnig, und bald befreite ihn der Wahnsinn von allen irdischen Sorgen. Noch zeigt man in seinem Hause zu Absam eine Bank, in die ein Loch gebohrt ist, durch welches der Strick lief, womit der Wahnsinnige angebunden wurde. Das ist Künstlers Erdenwallen; so endete der Lehrer des Klotz, der Vater der Mittenwalder Betriebsamkeit und der deutschen Geige.

Heinrich Noé.


Meine Einführung bei Goethe.[4]

Wer hätte nicht, namentlich wenn er sich den Wissenschaften widmete, in seiner Jugend eine Zeit gehabt, in der die Einbildungskraft ihn so lebhaft bewegte, daß er Verse machen oder, wie er meinte, dichten mußte! Auch bei mir trat mit dem sechszehnten, siebenzehnten Lebensjahre jene Fluth lebendiger Phantasie ein und mit ihr der Drang, Verse zu machen, überschwängliche Geschichten zu gestalten; diese Bewegung aber wurde noch verstärkt durch den Druck der trockenen, kalten Einseitigkeit eines alten Lehrers. Dieser alte Herr, der Director des Gymnasiums zu Rudolstadt, welcher in unserer Classe den meisten Unterricht gab, trug uns z. B. die Oden des Horaz und die Reden des Cicero so steif, kleinlich, kritisch vor, daß ich den Cicero für den fatalsten Schwätzer, Horaz für einen widerlichen Poeten hielt und mich erst namentlich mit Horaz aussöhnte, als ich für mich seine „ars poëtica“ (Dichtkunst) und dann seine Episteln gelesen hatte, erstere um durch dieselbe in die Dichtkunst eingeweiht zu werden, da ich kein anderes Hülfsmittel hatte, und Horaz doch vielleicht theoretisch tüchtig sein konnte.

So in mir bewegt und von außen niedergehalten, warf ich mich in freien und leider selbst nicht freien Stunden brutwarm auf die Dichterei. Ja, ich wagte mich sogar an ein Trauerspiel, „Die Gräfin von Orlamünde“, also jene Kindesmörderin, welche noch bis in unser Jahrhundert als weiße Frau selbst im Königsschlosse zu Berlin gar unheimlich angeklopft haben soll. Jugendlich enthusiastische Freunde fanden mein Opus, hingerissen von einigen schauerlichen Kraftstellen, außerordentlich gelungen. Obgleich mir selbst das Werk nicht ganz und abgeschlossen genug schien und überhaupt ein Etwas daran fehlte, ließ ich mich doch gar gern überzeugen, daß ich mit meinem geistigen Sprößlinge wohl hervortreten könnte. Goethe war – gelegentlich meiner den Lesern schon früher erzählten Begegnung mit ihm im Parke zu Großkochberg – freundlich gegen mich gewesen; er hatte mich gewürdigt,

[12]

Der Landwehrmann und die Picarde – sehr angenehm!
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Paul Bürde.


mir wegen meines Studiums seinen Rath zu geben; er war der competenteste Richter – durch Frau Stallmeister von Stein in Weimar konnte ich ja wohl Zutritt zu Goethe erlangen. Dies erwog ich; die Erwägung zog mich an, ja faßte mich so ruhelos, daß ich beschloß, Goethe’s Urtheil über meinen dramatischen Versuch zu suchen. Die Michaelisferien kamen; aber ich hörte, daß Goethe nicht in Weimar sei. Es waren schöne Herbsttage, aber mich trieb es ruhelos umher. Endlich führten mich die Weihnachtsferien heim. Der Winter war wirklich nach Claudius „ein harter Mann“ geworden. Frost, tiefer Schnee

[13]

Der Landwehrmann und die Kurmärkerin – sehr unangenehm!
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Paul Bürde.



und scharfe Winde gingen über die öde Flur. Mich aber trieb eine quälende Unruhe: nach Weimar, zu Goethe! Ich erfuhr, daß Goethe und Frau Stallmeister von Stein in Weimar wären. Endlich gab mein Vater meinen dringenden Bitten nach, indem er meiner sorgenvollen Mutter zurief: „Laß ihn ziehen! Er will curirt sein.“

Mein möglichst sauber abgeschriebenes Drama wohl eingehüllt in der Tasche, ein Radmäntelchen, wie man sie damals trug, über den Schultern, einen mächtigen Stab in der Hand, so zog ich am frühen Morgen aus gen Weimar. Fast fünf Stunden weit war mein Weg, die ersten drei Stunden größtentheils ein [14] selten betretener Fußweg einen steilen Berg hinan auf eine Hochebene. Der scharfe Wind, der von Osten her mir seitwärts entgegenpfiff, hatte fast jede Bahn verweht. Selbst die Raben, welche nach den Dörfern zogen, schienen schwerfällig, wintermatt. Aber mich trieb ein mächtiger Drang.

Endlich zog ich todtmüde und feucht von der anstrengenden Wanderung im ersehnten Weimar ein. Mir schien eine Glorie über der Stadt Goethe’s, Schiller’s, Herder’s zu schweben. Es kam mir eigentlich als Profanation vor, daß im Gasthofe zu Weimar, dem „Schwane“, die Leute „Schweinsknöchelchen“ aßen.

So wandermatt ich mich auch fühlte, am Nachmittage machte ich, so weit dies geschehen konnte, Toilette und begab mich zur Frau Stallmeister von Stein. Wahrhaft mütterlich und gar sorglich nahm die edle Frau mich auf. Als ich ihr meine Bitte vorgetragen hatte, mich bei Goethe einzuführen, da ich demselben einen kleinen poetischen Versuch vorlegen wollte, suchte sie in ihrer milden Weise mir so schonend als möglich begreiflich zu machen, daß Goethe so sehr von jungen Dichtern und dichtenden Jungen – letzteres sind aber nicht die eigenen Worte der Frau von Stein – bestürmt würde, ja, daß er geradezu einen Widerwillen gegen solche Anträge hätte; dazu beschäftigte er sich gerade ich weiß nicht mehr mit welchem Buche der Naturlehre, welches ihn besonders fessele. – Die gute Dame, welche die entsetzliche Wirkung ihrer doch so schonend ausgesprochenen Bemerkung auf mich erkennen mochte, ging auf und nieder, stillsinnend, suchte unter aufgeschichteten Literalien und richtete sich dann schnell auf mit den Worten. „Das Entrée habe ich, versuchen wir’s morgen. – Kommen Sie um elf Uhr zu mir; das Weitere befehlen Sie Gott!“ Nachdem sie mich noch auf einige Merkwürdigkeiten Weimars aufmerksam gemacht hatte, empfahl ich mich.

Meinem Gasthofe nahe stand das Goethe’sche Haus und von meinem Fenster aus konnte ich es sehen. Mit welcher tiefen Bewegung schaute ich hinüber nach diesem Hause!

Die verhängnißvolle Stunde des nächsten Tages kam. Ich fand Frau von Stein schon bereit. In liebenswürdiger Milde suchte sie mich nochmals vorzubereiten auf eine mögliche Abweisung meines Gesuches an Goethe. – Merkwürdig! Heute schlugen mich diese Bemerkungen nicht nieder. Ein wunderbares Vertrauen erfüllte meine Ueberzeugung. Ich folgte meiner Führerin mit Ruhe.

Frau von Stein mußte sich schon angemeldet haben; denn ein Diener im Goethe’schen Hause bat, ihm zu folgen, eilte voraus, und öffnete, als wir ihm eine Treppe hoch gefolgt waren, eine Thür. Wir traten in ein größeres Zimmer ein. Bald kam aus einem Nebenzimmer, in dem, wie ich durch die offene Thür bemerke, ein jüngerer Herr schreibend an einem Tische saß, Goethe. Er gab mit verbindlichen Worten Frau von Stein die Hand, und führte sie zu einem Sopha. Frau von Stein überreichte ihm eine Broschüre, deren Titel Goethe offenbar mit Interesse las, und dann, als die edle Dame ihm zugerufen hatte: „Verzeihen Sie, da bringe ich dem Meister einen jungen Lehrling, der des Meisters bedarf,“ – wendete sich Goethe zu mir, sah mich mit scharfem Auge, anfangs sehr ernst an, dann aber rief er: „Ach! der Freund unseres Fritz Stein, der trotzig demüthige junge Theolog“[5], gab mir die Hand und sagte. „Du treibst auch Poesie?“ Ich überreichte ihm schüchtern mein Opus, und bat, er möge mir sein Urtheil über meinen Versuch geben. Da ein Theil meiner Zukunft davon abhänge, hätte ich gewagt, um das sichere Urtheil des ersten Meisters recht von Herzen zu bitten. Goethe nahm mein Werkchen, sah den Titel an, und sprach, mit wohlwollendem Auge auf mich blickend: „Du hast hoch, zu hoch hinaufgegriffen. Das wahre Drama ist die reifste Frucht des Dichters. Ehe ich noch eine Zeile gelesen habe, muß ich sagen: Du hast mir ein Schmerzenskind gegeben. – Aber ich werde es lesen, und Du sollst ein, wenn auch allgemeines, doch offenes Urtheil für Dein Vertrauen erhalten.“ Er legte meinen Versuch auf ein kleines Tischchen und wendete sich zu Frau von Stein, welche ihn freundlich, ich darf wohl sagen dankbar ansah: „Sie sehen, gnädige Frau, daß ich Ihres Schützlings Werkchen nicht in den Fluth-Korb gethan.“

Beide sprachen dann über die schon erwähnte Broschüre, während ich die herrlichen Gemälde betrachtete, die in dem Salon Goethe’s hingen. Endlich wendete sich Goethe wieder zu mir: „Laß Dich auch durch ein unerwartet ungünstiges Urtheil, das Du empfangen könntest, nicht abhalten, in guten Stunden Dich in kleinen Dichtungen zu versuchen; denn das fördert auch für den Beruf, den Du gewählt hast. Aber laß Dich einzelne Situationen, bewegende Erlebnisse bestimmen, kleine recht einfache Dichtungen zu schreiben. Mit Gelegenheitsgedichten muß man anfangen. Die Jugend ist meist sentimental; hüte Dich vor sentimentaler Ueberschwänglichkeit, aber auch vor den armen Personen der alten Mythologie, die von unseren sogenannten Dichtern abscheulich gemißhandelt werden. Meint solch ein armer Reimer, wenn er nur von Selene, Daphne und den Anderen etwas reimt, oder Philomela flöten läßt, da sei ein Gedicht fertig. Aus unserem Sinne und Leben, Denken und Fühlen heraus müssen wir den Stoff und die Form nehmen. Lies fleißig in Luther’s Bibel. Daraus kannst Du deutsch lernen. Es thut sehr noth, daß man wieder deutsch schreiben lernt.“

Ein Diener trat ein und meldete. „Herr Major von Knebel!“ – und ein Herr in Civilkleidung, von mittlerer Statur, ziemlich lebhaft, trat ein. Aus dem milden, lieben Gesichte desselben leuchteten ein Paar freundlich klare Augen. Ungesucht, und doch fein verbindlich, grüßte er Frau von Stein, herzlich und bekannt dann Goethe. Der bejahrte Dichter Knebel war geistig noch gar frisch. Er scherzte so leicht und liebenswürdig, als er mittheilte, er müsse einmal doppelzüngig erscheinen, da er eigentlich mit Vielen, namentlich Damen, wünsche, den lieben Goethe aus dem Banne seiner Retorten und Säuren zu befreien und der heiligen Poesie wiederzugeben und doch jetzt im Auftrage des Professor Döbereiner, der sich Goethe devotest empfehlen lasse, bitten müsse, daß Goethe recht bald nach Jena kommen möge, da Döbereiner interessante Entdeckungen gemacht habe, die er nur in seinem Laboratorium produciren könne. „Ah, Döbereiner,“ rief Goethe, „der ist eine Perle unserer Universität! – Nach Jena? – es ist gar kalt, besonders in längere Zeit nicht bewohnten Zimmern. Grüßen sie Döbereiner, und sagen Sie ihm, so sehr es mich zöge, zu ihm zu eilen, dürfte ich doch in diesem harten Winter nicht kommen.“ Frau von Stein wollte sich mit mir empfehlen; aber beide Herren hielten sie noch zurück, während mir Goethe eine Mappe mit ausgezeichneten Handzeichnungen zu unterhaltender Ansicht gab.

Als wir endlich schieden, reichte mir Goethe noch die Hand mit den Worten. „Also den Muth laß’ nicht sinken; aber mit einfachen, kleinen Dingen fange an, klar und zierlich gedacht, wahr empfunden und dann frisch ausgeführt!“

Beim Gange durch das Vorhaus im Erdgeschosse trat eine Dame aus einem Zimmer. Sie war ziemlich robust und hatte etwas Derbes. Sie und Frau von Stein gingen mit einem raschen Knicks adlig an einander vorüber. Später erfuhr ich, daß jene mir Unbekannte Frau von Goethe gewesen war.

Auf der Straße wendete sich meine Führerin zu mir: „Ich gratulire! – Sie haben ungewöhnliche Gnade gefunden. Vertrauen Sie weiter auf Gott!“

Dankbar schied ich von der so gütigen Frau, und eilte, noch an demselben Tage heimzukommen. Bis durch die Stadt Blankenhain war das Wetter ruhig, der Weg ziemlich gebahnt. Bald aber erhob sich der Wind immer heftiger und fegte den tiefen Schnee über den Weg. Noch ehe ich an den letzten Berg kam, der, mit Wachholderbüschen bewachsen, steil niederfällt, war die Nacht hereingebrochen. Von seitwärts trieben scharfe Windstöße flimmernde Schneewellen hoch an mir vorüber. Sie zogen wie weiße, vorgebeugte Wesen, oft riesengroß, gar abenteuerlich vor mir hin. Oft stand ich mitten in dem Schneestaube, der über mich stürzte und aus dem der Sturm schauerlich heulte und mich kalt umfaßte. So im Kampfe mit Wind und Schnee ohne Weg, hatte ich die Richtung verloren, – auf einer kahlen Hochebene, über welche ich Tags vorher das erste Mal gegangen war. Ich blieb stehen und suchte nach einem Wegzeichen. Der Wind war von Nord-Ost zu Ost gekommen, mein Weg ging nach Süd-Ost. Darnach wendete ich mich, und schritt fest, vorsichtig weiter. Aber der Bergabhang, an den ich doch endlich kommen mußte, wollte nicht kommen. So schritt ich, naß vom Schnee, müde vom bösen Wege, einsam in dunkler Nacht. Meine Glieder wurden schwer; Müdigkeit faßte mich.

Nur ein wenig ausruhen! dachte ich. Aber mir fiel ein, [15] wie leicht ich dann fest einschlafen würde, um nicht wieder zu erwachen. – Meine gute fromme Mutter fiel mir ein, und mit einem festen „Nein! – Vorwärts!“ schritt ich weiter. Endlich kam ich an einen Bergabhang; aber da war kein Weg – Steingeröll und Wachholderbüsche, über die ich stolperte. Da sprang etwas unter meinen Füßen aus einem Busche auf. „Wer da?“ Bis auf den heulenden Wind blieb Alles still. Es mußte ein armer Hase gewesen sein, der sich vor dem grauenhaften Wetter unter einen schützenden Busch geflüchtet hatte. Ja, wer wie so ein Hase sich jetzt unter einen schützenden Busch sicher ducken könnte! Der Weg ward sehr steil und führte in eine Schlucht. Eine Kiefer mit buschigen weiten Zweigen gewährte eine kurze Zuflucht zur Erholung. In der Schlucht durfte ich nicht bleiben; ich stieg links an der steilen Wand hinan und stand bald auf freier Höhe. Dunkel blieb es ringsum; nur die Schneedecke war hell; lautlos war die öde Weite, wenn der Wind schwieg. Aber was ist das? – Nichts! – Ja, doch! da flimmert’s wieder! Das ist Licht, ja, ein Licht, das von Zeit zu Zeit hervorleuchtet! Wo ein Licht ist, da sind wohl auch Menschen. Also vorwärts nach dem Lichte! – Das war jedoch ohne Weg, am steinigen Berge mit seinen stacheligen Büschen, nicht leicht. Aber mit der Hoffnung hatte mich neues Leben durchströmt. Ich kam dem Lichte näher; es schien eine Laterne zu sein, die Jemand von Zeit zu Zeit vor dem Sturme verhüllte. Ich eilte und rief – da schien es zu stehen. Ich rief noch einmal und hörte ein ängstliches „Ach, daß Gott!“ und der Laternenträger ergriff die Flucht. Ich eilte nach. Es war eine Jagd mit großen Hindernissen; aber ich war doch der Schnellere. Noch wenige Schritte von dem Laternenträger hörte ich dessen Aechzen und Stöhnen und rief:

„Aber, guter Mann, warum reißt Ihr aus? Ich habe mich verirrt und suche den Weg.“

Da blieb der Mann stehen, lehnte sich auf seinen Stock und rief:

„Ach Gott! – ich – ich – kann – nicht mehr!“

„Aber, lieber Mann,“ entgegnete ich, „wollt Ihr denn einem armen verirrten Menschen in der Nacht nicht aus der Irre helfen?“

Da erfuhr ich denn freilich, daß in dieser Gegend der Weg gar nicht geheuer sei und daß meine unschuldige Person dem guten Manne eine entsetzliche Gespensterangst eingejagt hatte. Aber die Entdeckung meiner Harmlosigkeit hatte ihn so gefällig gegen mich gemacht, daß er mich auf dem sicheren Wege bis nahe an mein Vaterhaus begleitete.

Wie ich heim kam, kann der aufmerksame Leser sich wohl denken. Aber ich hatte ja daheim eine Mutter mit einem Herzen voll Mutterliebe. Das glich Alles aus. – Ich bin ein alter Mann geworden, aber könnte ich doch heute noch jener sorglichen Liebe danken!

Nach ungefähr einem Vierteljahre erhielt ich mein Manuscript mit folgendem Briefe Goethe’s zurück:

„Weimar, den 14. April 1818.

Das hier zurückfolgende Trauerspiel ist nach seinem Gegenstande ein glücklicher Griff, er ist tieftragisch. Die Sprache ist natürlich, frisch, die Verse marschiren leidlich; – aber damit bin ich am Ende des Lobes. Die Charaktere stehen zu schroff sich gegenüber. Die Kenntniß des Menschen, daher die feineren Züge und Nüancen der Charaktere fehlen. Das Motiviren durch den Eingriff tragischer Momente im Leben muß diese noch hervorheben. Der Dialog muß sinniger, der Monolog objectiver dargestellt, der ganze Plan, umsichtiger angelegt, sich leise, unerwartet entwickeln.

Lege das Stück auf Jahre zur Seite und wage nicht so Großes. Mit kleinen Darstellungen freundlicher oder wehmüthiger Situationen, womöglich des Selbsterlebten, muß man beginnen, das Erwählte tief und ganz empfinden, dann wahr, sinnig und frisch darstellen.

Mit den besten Wünschen

Goethe.“

Dieser Brief des Altmeisters von Weimar möge meine diesmaligen Mittheilungen aus alter Zeit abschließen.

A. Schmeißer.



Das Namensfest eines Spielbank-Monarchen.
Von Franz Wallner.

Es war einmal ein armer, blutarmer Fürst, in einem kleinen winzig kleinen Ländchen. Aber schön gelegen war der Fleck Erde, welchen der Fürst sein nannte. Hoch oben, auf starrem Felsblock, umspült von den blauen Wogen des mittelländischen Meeres, wie ein Adlernest lag das halbverfallene Schloß seiner Väter, ein üppiger Kranz von farbigen Blumen, von tropischen Gewächsen umgab die Burg. Aber der arme Fürst konnte sich nicht erfreuen an der blühenden Schönheit rings um ihn, sein Auge konnte nicht die wunderbaren Landschaftsbilder erschauen, die sich vor ihm ausbreiteten, denn er war blind, der arme Fürst. Sein Ohr nur vernahm das eintönige, metallische Rauschen des Meeres, dessen Wogen ununterbrochen an die Ufer seines Ländchens schlugen. Seine Gesellschaft bestand aus finsteren Rathgebern in schwarzen Kutten, so man die „Jünger Jesu“ nennt. Und wenn ihm, dem Beherrscher eines Landes, eine kleine Summe fehlte, so mußten seine Boten Credit suchen bei den Kaufherren im fernen Marseille oder in Toulon. Da kam der Versucher in Gestalt eines mächtigen Kaisers und klingelte mit Gold verlockend vor dem Ohr des blinden Fürsten und flüsterte: „Ich will Dich zum reichen Manne machen, verkaufe mir Dein kleines Land.“ Und von anderer Seite kam ein zweiter Versucher, und raunte dem armen Herrscher in’s Ohr. „Behalte einen kleinen Theil Deines Landes, damit Du dort unumschränkt gebieten kannst, und auf dem kahlen unwirthbaren Fels, der Deinem Schlosse gegenüber liegt, will ich eine prachtvolle Falle aufstellen für vorüberziehende Vögel mit goldenem Gefieder, die sich darin fangen werden. Die goldnen Federn aber, die wir den Gimpeln ausreißen, will ich theilen mit Dir, und wir werden beide reich, reich, millionenreich!“

Und der arme Fürst verkaufte dem fremden Kaiser das Land rechts und links vom Fels, so viel sich nur immer abreißen ließ, und steckte die Millionen in die leere Tasche und gab dann für vieles Gold dem Vogelsteller die Erlaubnis, seine Netze auszuspannen für alle Zugvögel, die durch den schönen Landstrich fliegen wollten. Und aus dem kahlen Felsen, an dem sonst das schnaubende Dampfroß achtlos vorüber eilte, erhoben sich prächtige Anlagen; es wuchsen Bäume empor, an welchen goldene Blätter glitzerten, zwischen denen hellfarbige saftige Früchte hingen, die der Vogelsteller vergiftet hatte, mit hoher Erlaubniß, zwischen Blatt und Frucht aber hingen verborgene Schlingen, an welchen sich das flatternde Gevögel verfing und zu Tode zappelte. Und prächtige Paläste wuchsen empor, glänzende Behälter für die Vögel, welche noch nicht kirre genug waren, um sich in die Schlingen locken zu lassen, die aber doch nach und nach in die glänzenden Bauer sich wagten, wo auf grünen Flächen goldene Körner lockend ausgestreut wurden, bis der schlaue Vogelsteller mit einem tüchtigen Zug sie alle im Netz hatte, und ihnen lachend die goldenen Federn ausraufte, die er mit dem Herrn des Bodens theilte, welcher nicht mehr nöthig hatte, kleinen Credit zu suchen bei den Kaufleuten in Marseille und Toulon. Der Miether aber und sein Hauswirth erbeuteten so viel des gelben Mammons, daß sie nicht wußten, wo hinaus damit. Sie zogen immer mehr der frommen, schwarzen Beter in das Land, erbauten für dieselben Kirchen, Capellen, Wohnhäuser und Schulen, in denen ihre Lehren gepredigt wurden, und meinten sich abzufinden in dieser Weise mit dem lieben Gott, und hofften den Satan um den Antheil zu beschwindeln, den er an ihrem Sein zu fordern das volle Recht hatte. Dies ist die Geschichte von Monaco, wie sie mir ein weiser Mann an den Ufern des mittelländischen Meeres erzählt hat.

An einem heitern sonnenbestrahlten Morgen machten wir uns auf, um das einzige aller Fürstentümer, gegen welches selbst das souveraine Lichtenstein sich wie ein Termitenbau zu einem Ameisenhügel verhält, in der Nähe zu besehen. Seit acht Tagen hatten riesige Placate die Curgäste von Nizza in Kenntniß gesetzt, daß am vierten November das Namensfest des Landesherrn in

[16] festlicher Weise begangen werde. Feuerwerke zu Meer und Land, großes Monstreconcert, Illumination, und, um das Nützliche mit dem zu vereinigen, was für den Spielbankpächter als Festgeber das Angenehme war, sollte das Spiel, welches sonst um elf Uhr geschlossen wird, zur Erhöhung der Feierlichkeit bis nach Mitternacht geöffnet sein.

Wie wunderbar schön lag der Golf des Mittelmeeres dar uns! wie eine offene glitzernde Perlenmuschel, auf welche die Sonne einen rothglühenden Schimmer warf, von dem auch die hellen schneebedeckten Gipfel der Seeealpen von rosenfarbenem Lichte angehaucht erschienen. Der reiche Kranz der zierlichen Bauten und Paläste, die das Ufer umgürten, leuchtet uns hell entgegen, während von den mit dem dunklen Laub der Oliven bedeckten, grün umbuschten Anhöhen, welche diesen glücklichen Landstrich einhüllen, die zierlichen Villen und Landhäuser kokett hervorlugen.

Man muß monatelang am Strande des Meeres gelebt haben, um die Großartigkeit desselben begreifen zu lernen. Nicht nur, wenn es im tiefen Blau wie ein glatter Spiegel sich unabsehbar ausbreitet, sondern auch im wilden Sturme, wenn das prächtige Blau in fahles Grün und dieses in ein schmutziges dichtes Gelb sich verwandelt, wenn später ein unangenehmes fahles Bleigrau den Horizont überzieht und uns denselben kaum von den ungeheuren Wasserbergen unterscheiden läßt, die sich in geschlossenen Reihen heranwälzen, um mit donnerndem Gebrüll an den Felsen zu zerschellen, den weißen Gischt thurmhoch emporschleudernd. Das sanfte melodische Rauschen, mit welchem die Wellen bei ruhiger See an’s Ufer schlagen, verwandelt sich in ein hohles grollendes Getön von unbeschreiblicher Klangfarbe. Jetzt scheint der Himmel, Blitz auf Blitz, in hellem Feuer zu stehen; der Donner vereinigt seine Batterie mit dem der Wogenberge; der Regen prasselt in dichten Massen nieder und hüllt Alles in seinen nassen Mantel ein. Wehe dem Fahrzeuge, welches wir wie ein Gespensterschiff sturmgepeitscht durch den Nebel schwanken sehen, taumelnd wie ein Trunkenbold! Es kann das nahe Ufer nicht erreichen; mit eisernen Krallen hält es der Orcan fest, um es vielleicht in der nächsten Stunde zerschellt an die Klippen zu schleudern. Vor wenigen Tagen ritt ein armer Junge den Strand entlang, um sich und sein Pferd vor dem Wüthen der Elemente zu bergen; da kam ein furchtbarer Wogenberg, riß den unglücklichen Burschen vom Roß und hinaus in’s offene Meer. Ein Schrei! Das wild aufbäumende Thier sprang in langen Sätzen dem festen Boden zu, der Reiter war verschwunden! Wo werden die Wogen seinen Leichnam an’s Ufer werfen?

Stundenlang kann ich dem wilden, aber unbeschreiblich majestätischen Schauspiele des empörten Meeres vom sichern Port aus zusehen, ohne der großartigen Wunder müde zu werden, die, stets wechselnd, immer neue Gestalten annehmen.

Heute aber begünstigt das prächtigste Wetter die Fahrt, welche wir zur Feier des Namensfestes des Westentaschen- und Spielbankmonarchen nach Monaco angetreten haben.

Unterwegs entspinnt sich eine lebhafte Debatte über die Berechtigung der deutschen Regierungen, die Spielbanken zu schließen und ihre mündigen Gimpel vor freiwilligem Rupfen zu bewahren, so lange noch Börsen und Lotterien existiren. Einige von uns standen direct auf der Seite des Verbotes, andere meinten, die Spielhöllen hätten in so ferne ein öffentliches Interesse, als durch die ungeheuren pecuniären Verpflichtungen, welche den Pächtern auferlegt würden, ein Theil den öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten, der Verschönerung der Plätze und Anlagen, und anderen gemeinnützigen Anstalten zu gute kämen.

Inzwischen donnerten uns die Kanonen von den Wällen von Monaco ihren Festgruß entgegen. Es ist, glaube ich, der einzige Dienst, welchen die mächtigen, metallenen Röhren im Laufe des Jahres zu leisten haben. Das Namensfest des Landesherrn! Das brüllt so krachend in die Welt hinaus, als ob es ein großes, dieselbe erschütterndes und die gesammte Menschheit berührendes Ereigniß zu verkünden hätte. Und doch weilt der Vater stets fern von seinen Kindern, er verzehrt die reichen Einkünfte der „letzten Spielbank“ in Europa fern auf einer Besitzung, die er im Süden von Frankreich sich erworben. Er soll nicht viel Freude erlebt haben in seinem prächtigen Daheim auf Monaco. Der „Erbprinz“, vermählt mit einer Herzogin von Hamilton, lebt in fortwährendem, vor aller Welt ausgefochtenem Kriege mit den Seinen. Es ist ein ewiges Ringen gegen brutale Gewalt, die sich in ihren schlimmsten Ausartungen geltend macht. Die allgemeine Stimmung ist gegen den Prinzen, dem man das Schlimmste ganz offenkundig nachsagt. Man zwingt die Mutter, die Unbilden zu vergessen, welche der armen Frau angethan werden, die ab und zu an den häuslichen Heerd zurückkehren muß, um das einzige heißgeliebte Kind zu sehen, welches dieser ehelichen Tragödie voll verborgener Wunden, voll trockener Herzensthränen entsprossen ist.

Sonst regieren in dem Ländchen noch in vollem fürstlichen Schutz, ihr Wirken nach allen Richtungen hin entfaltend, unverfolgt und stolz – die Jesuiten! Der Spielpächter und die Jesuiten! Ein Kloster, groß und stattlich, ist der Letzteren Eigenthum, einen mächtigen Palast bewohnt der Erstere. Eine Zweiganstalt für fromme Schwestern desselben Ordens, ein Erziehungsinstitut im Sinne des Ordens, das Alles gedeiht wuchernd auf dem kleinen Fleck des Landes, den wir eben umschreiten.

Welch’ eine Pracht und Herrlichkeit liegt vor uns ausgebreitet! Vor uns das weite Meer, belebt von zahllosen Fahrzeugen, wie ein diamantglitzernder Spiegel ausgegossen. Die Wege ringsum führen durch die reichste, bunteste, südliche Vegetation. Zwischen schlanken Palmen glühen in den dunkelgrünen Beeten von Geranium tausende von hellrothen Blüthen; wie ein reichgestickter Teppich breiten sich die zahllosen Blumen an den Abhängen aus; riesige Aloen und Cacteen strecken die wunderlich bewaffneten Blätter und Zweige in die Luft; die Kletterrose rankt sich zwischen dem hellen Laub der Citronen- und Orangenbäume empor. Rechts schweift der Blick nach Italien; Frankreich breitet seine wunderbarsten Landschaften vor uns aus, ja selbst Corsika, mit seinen zerrissenen schneebedeckten Höhen, das kleine historische Elba, so wie der sagenreiche Inselfleck Monte Christo soll bei hellem Wetter sichtbar sein, ein Anblick, den mein Auge, trotz der kristallklaren Luft, vergebens suchte. Dort liegt die Gesundheitsstation Mentone, und das romantisch gelegene Roccabruna, welche der Fürst von Monaco mit Allem, was drum und dran hing, für vier Millionen an Frankreich verkauft hat, während er sich den kahlen Spielfelsblock Monte Carlo und das winzige Hauptstädtchen als fette Melkkuh im Stall behielt.

In einer Schlucht, wild romantisch, ein zauberhaft schönes Bild, liegt inmitten der tiefsten Bergeseinsamkeit ein prächtiges Kirchlein; die frühere Besitzerin der Spielbank, ich glaube Frau Riccord heißt sie, hat das Gotteshaus von dem Abfall der Millionen erbaut, welche ihr das Geschäft mit Louis Blanc eingebracht. Ueberall wachsen neue stattliche Wohnhäuser empor; man speculirt auf starken Zuzug von Abenteurern aus aller Herren Ländern, wenn die Kugeln in den deutschen Spielbädern ihren letzten Rundlauf gemacht. Dann wird Blanc der Alleinherrscher der grünen Tische Europas werden, freilich nicht, ohne daß sein fürstlicher Hauswirth bei der Pachtverlängerung sich die günstigen Chancen wird mit schwerem Golde aufwiegen lassen.

Vor der Hand wird Alles sorgfältig überwacht und ausgeschlossen, was den Interessen des Eigenthümers entgegen steht. Das sehr gemäßigte Journal de Nice ist in Monaco komischer Weise verboten, im Einzelverkauf wird nur das ultramontane Blatt le petit Marseillais und der spielbankfreundliche Figaro zugelassen. Dagegen erscheint in Nizza eine Broschüre unter dem Titel „Les misères de Monaco“. Auf dem Titelbilde hängt ein Opfer der Spielhölle zappelnd an einem Baume. Unten sind die Worte zu lesen: „Ce que l’on y gagne“ (Was man da gewinnt).

So hat das beste Streben seine Feinde und Gegner. Trotz aller Vorsicht sind diese nicht stets zu unterdrücken. Die Bank besoldet ihre Spione, ihre Spioninnen. Eine der Letzteren, eine Obristwittwe, im Genre Offenbach’s, saß an der Table d’hôte, als einer der Directionsbeamten der Bank harmlos erzählte, daß der Correspondent eines französischen Journals dem Institute schon fünfzehntausend Franken koste. Am andern Tage erhielt er von seinem Chef die bestimmte Versicherung sofortiger Entlassung, wenn er „Geschäftsgeheimnisse“ nicht besser zu wahren wisse.

Monaco und Umgegend wimmelt natürlich nicht nur von den Demimondes, sondern auch von Abenteurern jeder Art. Ein Freund erzählte mir in Bezug auf letztere folgende drastische Anekdote:

Vor einigen Tagen gab ein Magnetiseur mit einer clairvoyanten Begleiterin Vorstellungen, die sehr besucht waren. Die [17] Antworten der Somnambulen erregten durch die wunderliche, stets zwei Auffassungen zulassende Form derselben viel Aufsehen.

„Warten Sie,“ versicherte ein eleganter Herr einem neben ihm stehenden Bekannten, „jetzt fange ich die Betrügerin.“

„Will Jemand noch an die Dame während des magnetischen Schlafes eine Frage durch mich stellen lassen?“ frug der „Doctor“.

„Wie befindet sich in diesem Augenblicke mein Vater?“ entgegnete der Fallensteller.

Die inspizirte Jungfrau antwortete ohne Säumen. „Ihr Vater fährt in diesem Augenblicke in einer eleganten Equipage spazieren.“

„Sehen Sie,“ rief dieser seinem Nachbar zu, „da habe ich den Schwindel entlarvt. Mein Vater ist seit zehn Jahren todt.“

Mit imponirender Frechheit entgegnete der Magnetiseur: „Mein Herr, ich verbitte mir solche beleidigende Ausdrücke! Ihr Vater lebt und fährt spazieren. Um den Mann, der seit zehn Jahren todt ist, haben Sie nicht gefragt. Ihr Vater,“ wiederholte er mit großem Nachdruck, „ihr Vater lebt!“

Den weiteren Verlauf dieses Experimentes mußte mir mein Gewährsmann nicht mehr mitzutheilen – ich glaube, er endete mit einer Ohrfeige, die der beleidigte Sohn austheilte.

Inzwischen sind wir auf dem prachtvollen Wege inmitten der herrlichen Anlagen zum Festplatze gelangt. Ueber dem Spielhause prangt in mächtigen Buchstaben, aus Gaskörpern gebildet, der Name des Landesvaters, „Charles“, zahllose Lampions umgürten die Fontainen, die ganze Bevölkerung ist auf den Beinen. Die ganze Armee des Landes – die Angaben über die Stärke der bewaffneten Macht von Monaco schwanken zwischen achtzehn und sechsundzwanzig Mann – promenirt in den theatralisch-phantastischen reichen Uniformen, die es schwer machen, den Stabsofficier vom Gemeinen zu unterscheiden. Unter vier Decorationen tragen nur Recruten. Unsere braven Landleute und die übrigen Bewohner des Landes, Beamte und Jesuiten trieben sich zwischen den Trophäen, Wappen und Fahnen herum, auch die Fremden von Nizza, Mentone, San Remo etc. hatten sich zahlreich eingefunden, um dem prächtigen Feuerwerke und dem trefflichen Monstre-Concert beizuwohnen. Die Spielbank, für die Feier des Tages um zwei Festtische vermehrt, that ihr Bestes und nahm es von den Anwesenden. Auf zwei Loretten ein Abenteurer, oder umgekehrt – das ist ungefähr die Physiognomie der Anwesenden. Den Rest bilden Neugierige.

Mit Einbruch der Dunkelheit drängt sich Alles auf den tageshell erleuchteten Hauptplatz, hinter welchem aus dunkler Anhöhe das brillante Feuerwerk abgebrannt wird, zu welchem aus Toulon ein berühmter Pyrotechniker verschrieben wurde, während die besten Solisten von Paris in dem Concerte mitwirken. Tausende von Feuergarben schießen krachend durch die Luft; zahllose bunte Flammenräder drehen sich prasselnd im Kreise. Wie würde er sich freuen, der ferne Landesvater, könnte er dies glänzende Schauspiel sehen! Auf dem Meere treiben Fässer mit angezündeten Petroleummassen; leider verdirbt der neugierige Mond, der sein wunderbares Licht elektrisch leuchtend über die ganze ungeheure Fläche ausgießt, den winzigen Effect des Menschenwitzes.

Und drinnen im Saal rollt wieder die Kugel; der eintönige Ruf der Croupiers tönt an diesem Festabend zur Erhöhung der Feier zwei Stunden länger als sonst durch die glänzenden Räume. Louis Blanc ist ein Praktiker, er versteht es, das Nützliche mit dem Angenehmen gar hübsch zu verbinden, und einen Theil der Kosten auf diese Weise wieder herauszuschlagen.

Im Ganzen genommen ist es aber doch ein schönes Fest, welches der Miether seinem Freund und Landesherrn zu Ehren hier gab. Ich fürchte, in Berlin und Wien werden die Hausbesitzer bald ähnliche Opfer von ihren Miethsclaven, wenn auch nicht zum Tauffeste, so vielleicht zur Gründungsfeier, fordern.

Ich aber hätte, als mir vor vielen Jahren in Kissingen zum ersten Male der Name des souveränen Landesherrn von Monaco an’s Ohr schlug, mit dem ich damals in einem Hôtel wohnte, nie gedacht, daß ich dereinst Gelegenheit haben würde, in seinen Staaten dieser Familienfeier zwischen „Fürst und Volk“ beizuwohnen. Es war eine wunderliche Geschichte:

Eine Geldcasse von Eisen, „vollgestrichen mit Goldstücken“, war dem blinden Herrn gestohlen worden. Verdachtsgründe konnte er nicht nachweisen, und so schien das Geld verloren. Der Dieb war sein eigener Kammerdiener, welcher die Cassette in der Nähe der Stadt im sumpfigen Röhricht verborgen hatte, um selbe gelegentlich als gute Beute in Sicherheit zu bringen. Da kam das katholische Kirchenfest, der Frohnleichnamstag, heran, an welchem weißgewaschene Mädchen in festlichem Zuge die langen Kolbenrohre in den Händen tragen. Beim Abschneiden der Rohre aber fand man, im Sumpfe tief versteckt, die verborgene Geldcasse, und in selber die Uhr des Kammerdieners. Der Gauner wurde überführt, die Goldstücke ihrem Herrn zurück gegeben! Frömmigkeit bringt Glück allerwegen!




Blätter und Blüthen.


Friedrich Hecker wird auch in diesem Winter Vorlesungen in Amerika halten und dann sein geliebtes Deutschland aufsuchen, um sein in der Schlacht von Chancellorsville verwundetes linkes Bein in einem deutschen Bade auszuheilen. „Sind auch Feuerherd und Dampfkessel noch im Stande,“ schreibt er dem Redacteur dieses Blattes, „so sind Kammräder, Kurbeln und Gestänge ausgeschafft und greifen nicht mehr recht. Ob die alte Maschine den Flickerlohn noch werth sei – wer weiß es, jedenfalls will ich’s probiren.“

„Wissen Sie,“ fährt er in seinem äußerst liebenswürdigen Schreiben fort, „daß mir eigentlich graut vor dem Mangel an Comforts auf Euren Eisenbahnen. Habe ich hier mein Billet für eine Reise von acht- bis elfhundert Meilen gelöst, meine Gepäckmarke erhalten und meinen Sitz im Schlafwagen gesichert, so bin ich in einem fahrenden Hôtel erster Classe, besonders wenn noch ein Speisewagen auf dem Bahnzuge sich befindet. Zur Zeit der Mahlzeiten meldet ein Aufwärter, daß das Essen bereit sei. Wer Lust und Appetit hat, verfügt sich in den Speisewagen und nimmt sein Mahl à la carte. Wer rauchen will, geht in den Rauchwagen oder den Rauchraum des Tafelwagens. Kommt Schlafenszeit, so wird der Sitz umgeklappt; Matratze, Betttücher, Decken, Kissen liefern ein gutes reines Bett, umrahmt von einem Vorhang. Vor dem Frühstück verfüge ich mich in das Waschcabinet und mache Toilette. Im Winter sind alle Wagen vortrefflich geheizt, im Sommer ventilirt. Wird mir das Sitzen lästig, so promenire ich den langen Car (Waggon) auf und ab. Frisches Wasser und Trinkgefäß findet sich in einer Ecke desselben, wie auch für alle sonstigen unaussprechlichen natürlichen Bedürfnisse gesorgt worden ist. Auf der letzten Station tritt der Gepäckmeister ein, fragt, ob ich Gepäck habe, ob ich dasselbe hier abgeliefert haben wolle und wo ich logire. Er notirt sich mein Hôtel oder meine Privatwohnung und tauscht meine Marke (check) ein. Bei der Ankunft steige ich in einen Omnibus oder eine Chaise und verfüge mich in mein Hôtel oder meine Wohnung; bald erscheint mein Gepäck; es wird mir auf die erhaltene Marke abgeliefert. Wo keine Speisewagen bei den Zügen sind (und das ist die Regel), wird an bestimmten Stationen zur Einnahme der Mahlzeiten gehalten. Das Bahnpersonal ist höflich und zuvorkommend. Damen, gleichviel welches Standes, werden mit besonderer Rücksicht behandelt.

Das Hôtel ist im Winter ganz geheizt, alle Gänge, Säle, jedes Zimmer nach Verlangen. Gaslicht ist in jedem Raume. Beim Eintritt in’s Hôtel treten Sie an den Zahltisch, schreiben Ihren Namen in ein Buch (Fremdenbuch) und erhalten Ihre Zimmernummer. Ihr Gepäck, wenn Sie wollen, sogar Hut, Stock, Ueberrock, geben Sie im Gepäckzimmer gegen Marke ab. Ein Aufwärter führt Sie in Ihr Zimmer und trägt von Gepäck, was Sie auf dem Zimmer haben wollen. Geld, Juwelen und dergleichen können Sie beim Wirthe sicher hinterlegen. Wer Sie besuchen will, giebt eine Karte am Counter (Zahltisch) ab; ein Diener bringt sie Ihnen. ‚Weisen Sie den Herrn hierher!‘ oder Sie gehen hinunter. Kein Mensch genirt Sie, bekümmert sich um Sie, wenn Sie es nicht verlangen. Sie frühstücken zwischen sieben und zehn Uhr, diniren zwischen ein und drei Uhr, soupiren zwischen drei und neun Uhr, können um neun oder zehn Uhr noch Thee nehmen.

Im Hôtel befinden sich: Eine Post-Box (Briefkasten), ein Zeitungs-, Bücher- etc. Händler, eine Rasir- und Frisirbude, Schuh- und Kleiderreinigung, Wäscherei-, Bade- und Telegraphenbureau, Salons für Herren und Damen, Lese- und Schreibzimmer, und um Ihnen das Treppensteigen zu ersparen, sind die Aufzüge da. Ein Zimmerchen mit gepolsterten Sitzen nimmt Sie auf, sofort geht das Ding auf oder ab, am Gange Ihres Stockwerkes wird Halt gemacht, eine Thür öffnet sich, Sie treten in Ihren Gang bei Ihrem Zimmer. Wollen Sie Billard und dergleichen spielen oder Einen hinter die Binde gießen, so ist dafür ein Billard- und ein Schänkzimmer vorhanden, in welchem Sie alle Arten Getränke haben können. Wollen Sie mit einem bestimmten Zuge oder Schiffe abreisen, so melden Sie es in der Office (Bureau). Sie werden zur rechten Zeit geweckt; das Frühstück ist fertig; Sie zahlen Ihre Zeche, so und so viel per Tag. Trinkgelder giebt’s nicht; der Wagen hält vor der Thür; Ihr Gepäck wird aufgeladen; Sie haben Ihren Sitz eingenommen und werden an der Bahn oder dem Schiffe rechtzeitig abgeliefert. Ich fürchte, daß man so angenehm und bequem drüben nicht reist; aber für einen alten Kerl ist das ein Hauptbedenken.“



[18] Zwei Schwindlerinnen. Reisende, die über Augsburg nach München fahren, bemerken, ehe sie an unsere erzbischöfliche Metropole anfahren, linker Hand ein fernes Hochplateau mit einem sich namentlich bei Abendbeleuchtung sauber ausnehmenden Gemäuer. Es ist ein Ueberbleibsel des Schlosses Dachau, an dessen Terrassengeländen noch jetzt für die Hoftafel das feinste Obst gezogen wird. Der noch stehende Schloßflügel enthält einige wenige prakticable Localitäten, darunter einen Saal, dessen schöner Holzplafond zwar in’s Nationalmuseum gewandert ist, der aber vermöge seiner herrlichen Aussicht immer noch Anziehungskraft genug besitzt, den Prinzen Adalbert hier und da zur Einnahme eines Mittagsmahles in seinem verwaisten Raume zu veranlassen. Dieser conservativ gesinnte, mit einer spanischen Bourbonin vermählte, im Uebrigen aber sehr wohlwollende und in Sprachen und Musik bewanderte Herr wiegt sich nicht ungern in Erinnerungen an bessere Fürstenzeiten. Den Berg hinan führt eine von Karl Theodor „Commodo itinerantium“ (zum Nutzen der Reisenden) erbaute, gleichwohl wegen ihrer „zügigen Länge“ bei Fuhrleuten und Postgäulen in schlechtem Rufe stehende Straße. Wir gelangen auf ihr zunächst in den freundlichen, wohlhabenden Markt Dachau, dessen Gasthaus zur Post jahrelang durch guten billigen Tisch die intelligenten Münchener anzog.

Am Fuße des Dachauer Berges eilt die Amper vorüber, ein häufig floßbares, fischreiches, schön gefärbtes und, wie alle Verwandten der Isar, ziemlich ungezogenes Wasser. Spaziert man an demselben nur zwei Stunden aufwärts, so eröffnet sich die Brucker Gegend, in welcher vor zehn Jahren die sogenannte Schneiderprinzessin ihr Wesen trieb. Dieselbe wollte im Niederländischen in einer mit Kronen geschmückten Wiege gelegen haben, aber gegen einen plebejischen Homunculus (elendes Menschlein) ausgetauscht worden sein. Das Factum kam erst an den Tag, als die edle Verwechselte bereits an einen Schneider verheiratet war.

Gleichwohl gelang es ihr, Personen des höchsten Adels ihre Ebenbürtigkeit glaubhaft zu machen, ja selbst den alten König Ludwig um eine schöne Summe zur Verfolgung ihrer Ansprüche zu prellen. Sie verschmähte auch das Geld kleiner Leute nicht, die sich mitunter glücklich schätzten, eine so durchlauchtige Schuldnerin zu bekommen; man weiß nicht, wozu das gut ist. Ihr letzter Streich bestand darin, daß sie einen bis dahin ehrlichen Marktschreiber zur Unterschlagung verleitete und in’s Zuchthaus brachte. Endlich beschloß sie, ohne Furcht vor „Träumen, die da kommen mögen“, sich durch einen herzhaften Schluck von Bittermandelöl dem Todesschlaf zu überantworten. Und gerade aus der Gegend, wo sie die meisten Opfer beschwindelt hatte, strömten auch wieder die größten Summen in das Spitzeder’sche Danaidenfaß!

Uebrigens ist nicht etwa in den Auen der Amper, auch nicht oben in Dachau selbst die Entstehung der Dachauer Bank zu suchen, sondern in der theils liberalen, theils ultramontanen Stadt München. Der Name entsprang dem Umstand, daß die ersten Kundschaften, meist weiblichen Geschlechts, aus der Bruck-Dachauer Gegend kamen, und, durch ihre häßliche Tracht ohnehin, wie allgemein bekannt, auffällig, die Aufmerksamkeit des Publicums auf sich zogen.

Da wir nun wieder glücklich bei der Spitzeder angelangt sind, so sei erwähnt, daß der Zudrang sowohl zur Besichtigung als zur Versteigerung ihrer Mobilien – die Pretiosen mit dem famosen Bischofskreuz scheinen erst später zur Verwerthung zu kommen – ein ungeheurer war. Mancher dumme Teufel des schönen wie des unschönen Geschlechts, der sein Erspartes „im Feuer“ hat, begaffte sich den auch auf seine Kosten angeschafften Luxus. An die Spieluhren, Polyphonien etc. durfte bei der Ausstellung nicht gerührt werden; desto feierlicher machten sich die Töne bei der Versteigerung. Eine zu Hausandachten herrlich verwendbare Orgel rührte ganz besonders. Den zahlreichen Spieltischen nach zu schließen, scheinen bei Adelchen auch minder fromme Uebungen im Schwung gewesen zu sein, und es verlautet aus sicherer Quelle, daß die Trinkgelage meist noch fortdauerten, wenn sich die Spenderin mit ihrer Gesellschaftsdame längst zurückgezogen hatte.

Des Fräuleins gegenwärtige Wohnung in der Frohnveste an der Badstraße glänzt durch ungeheuchelte Bescheidenheit. Ein weißgetünchtes Zimmer, enthaltend eine Lagerstätte nebst einem Tisch und zwei Stühlen, das ist sicherlich genug – zur Reue. Jemand, der Gelegenheit hatte, durch das Fensterchen ihrer Thür zu blicken, sah wohl einen Pack Zeitungen auf dem Tische, Adele selbst aber lag in Kissen ganz vergraben. Sie laborirt an gichtischen Zuständen, neuestens auch etwas an Dysenterie, was sie aber nicht hindert, den einen Tag heiter zu scheinen, während ihr der Schicksalswechsel an einem andern wieder reichliche Thränen entlockt. Von dem schönen weiblichen Vorrecht, unlogisch zu antworten, macht sie gerne Gebrauch, besonders wenn es ihr vortheilhaft dünkt; ein ungewöhnlicher Grad von Schlauheit ist überhaupt der hauptsächlichste Eindruck, den man von einer Unterhaltung mit ihr empfängt, doch soll sie sich bereits die Frage haben entschlüpfen lassen: welche Strafe für sie beiläufig herausspringen dürfte? Ueber Gang und Stand der Untersuchung dringt natürlich nichts in die Oeffentlichkeit. Ein Ueberblick über die moralische Verheerung, welche das Meteor angerichtet hat, gelingt wohl erst am Tage des Gerichts, das heißt der öffentlichen Verhandlung, der sich für Manchen und Manche zu einem „Tage des Zorns“ gestalten dürfte. Vorläufig haben sich gegen fünfundzwanzigtausend Gläubiger herausgestellt. Die eigentliche Betrugssumme ist wohl nie zu erfahren, da Vieles verschwiegen wird. Aus einem Bezirke rechts der Isar sind z. B. zwanzigtausend Gulden angemeldet, während Ortskundige versichern, daß mindestens fünfzigtausend Gulden über die steinerne Brücke wanderten. Die betheiligten Taglöhner und Kleinhäusler fürchten nämlich, vielleicht nicht ganz mit Unrecht, wenn sie sich jetzt plötzlich als Capitalisten, wenn auch als unglückliche, entpuppen, nachträglich zur Capitalsteuer gezogen und mit der gesetzlichen Verschweigungsstrafe belegt zu werden. Und – „lieber die bekannten Uebel tragen, als zu unbekannten fliehen“, sagte schon Hamlet.

M. Sch.


Ueberfahrt nach England ohne Seekrankheit. Die Leser erinnern sich wohl, daß es im Werke war, einen großen Tunnel unter dem Canal hindurch nach Frankreich zu bauen und so dem Elend der Ueberfahrt auf Schiffen ein Ende zu machen, auch mercantilisch das Umladen der Waaren zu ersparen. Dies hübsche Project wurde auf zwanzig Millionen Pfund Sterling veranschlagt und scheiterte an diesem Sümmchen. Darauf kam der äußerst verständige Vorschlag des Herrn Fowler, eine Verbindung durch mächtige Dampffähren, welche gleich die ganzen Züge herüber und hinüber nähmen, herzustellen, und dem Schwanken bei bewegter See durch die Größe dieser Fähren selbst ein Ende zu machen. Es fehlte diesem Unternehmen nur noch die Genehmigung des Parlaments, und diese wurde im Oberhause versagt. An die Stelle dieser beiden Projecte ist nun ein drittes getreten, dem zwar die Beförderung ganzer Dampfzüge und der großartige Zweck, den Canal wesentlich durch Dampfwagenverbindung aufzuheben, fehlt, das aber doch die Seekrankheit ganz beseitigen will. Es handelt sich nämlich um die Anwendung der Bessemer’schen Erfindung eines hydraulischen Apparats, über den hier einiges angedeutet werden soll.

Es hat sich nämlich eine Gesellschaft gebildet, die zwei Dampfer nach der Zeichnung des Herrn E. I. Reed bauen will, welche als Passagierschiffe zwischen Dover oder Folkestone und Boulogne, Calais oder Ostende laufen sollen. Sie sind speciell auf Schnelligkeit und stetigen Gang angelegt. Ihr Tiefgang wird der nämliche sein, wie der, den die jetzigen Schiffe haben; sie werden also die beiderseitigen Häfen, wie sie jetzt sind, benutzen können. Aus einem Artikel in der nächsten Nummer der „Naval Science“, wo die ganze Frage hinsichtlich der Abstellung der Seekrankheit durch den Bessemer’schen Salon besprochen werden wird, sind wir im Stande folgende Beschreibung der Schiffe mitzutheilen: Sie haben zwei Schnäbel, das heißt, das Hintertheil ist nicht abgestumpft, und werden durch vier große Schaufelräder, an jeder Seite zwei, fortbewegt. Die Schnäbel sind niedrig gehalten, um die Bewegung zu vermindern, welche Wind und Wellen hervorbringen, und der mittlere Theil der Schiffe ist hoch genug, um sie in den Stand zu setzen, mit voller Schnelligkeit gegen die schlimmste See, der sie ausgesetzt sein könnten, zu fahren. Jeder Schnabel hat sein Steuerruder, und das Schiff kann also rückwärs und vorwärts gehen, ohne daß es sich im Hafen herumzudrehen braucht.

Die Haupteigenthümlichkeit dieser Schiffe besteht aber darin, daß jedes einen geräumigen Salon haben soll, welcher, nach dem Plane des Herrn Bessemer, in der Mitte des Schiffs so aufgehängt wird, daß er in einer Längenachse, die mit dem Kiel parallel läuft, bewegt werden kann. Die Bewegung dieses Salons, welche sich ergeben würde, wenn das Schiff in’s Schaukeln käme, wird gehemmt und beherrscht durch einen hydraulischen Apparat. Sie wird von einem einzigen Manne vollständig überwacht werden können. Diesem wird es obliegen, unter allen Umständen den Fußboden des Salons mit einer Wasserwage wagerecht zu erhalten.

Jedes dieser Dampfböte wird dreihundertfünfzig Fuß lang, vierzig Fuß über’s Deck und fünfundsechzig Fuß über die Räderkasten breit sein. Es wird sieben Fuß und sechs Zoll Tiefgang haben, also nicht mehr als die jetzigen Böte, und durch zwei Paar Maschinen, die zusammen viertausendsechshundert Pferdekraft haben, mit einer Schnelligkeit von zwanzig Meilen die Stunde fortbewegt werden. Die Mittelpunkte der beiden Paare von Schaufelrädern werden hundertsechs Fuß von einander entfernt sein.

Der Salon wird siebenzig Fuß lang und fünfunddreißig Fuß breit sein, bei einer Höhe von zwanzig Fuß. Er befindet sich, wie gesagt, in der Mitte des Schiffes. Seine großen Vorzüge sind: Welche Bewegung das Schiff in den Wellen auch annehmen mag – und bei seiner besondern Construction wird diese sehr gering sein –, der Salon muß in Wahrheit frei davon bleiben. Er befindet sich in der Mitte des Schiffs, der Länge und Breite nach, und die Achse seiner Schwingung liegt in einer Höhe, wo die wenigste Bewegung stattfindet. Auch das Aufstoßen des Schiffes wird man in dem Salon nicht gewahr werden, denn die Form des Schiffes ist von der Art, daß die See im Canal von Dover nicht im Stande ist, seine Spitzen bedeutend zu erheben, und selbst die geringe Wirkung, welche auf die Spitzen des Schiffs hervorgebracht werden kann, wird am Ende des Salons um ein Siebentel reducirt sein. Auch das Schaukeln des Schiffs von einer Seite zur andern kann bei seiner Construction nur gering sein; aber auch dies geringe Schwanken wird sich dem Salon nicht mittheilen, denn die vollkommne Wirksamkeit des Bessemer’schen hydraulischen Apparats steht fest und ist nicht mehr die Sache bloßer Vermuthung.

So scheint wirklich alle Aussicht zu sein, daß man auf diesen Dampfböten ohne die Möglichkeit der Seekrankheit über den Canal fahren kann.

A. Ruge.


Der Kurmärker im Feuer und unter der Traufe. (Mit Abbildungen.) Zwei Bilder, die sich gegenseitig erklären und zwar so deutlich, daß auch hier die Frage gilt: was will die Feder noch, nachdem der Stift schon Alles gesagt? Es war gewiß eine der wärmsten Erinnerungen würdige Stunde, wo es dem Soldaten so wohl erging in Feindesland. Warum sollen in seiner Brieftasche sich keine Andenken daran vorfinden? Freilich, die Photographie hätte sich auch füglich erklären lassen. Konnte der junge Mann im Felde nicht einmal krank gewesen und von der freundlichen Picarde so menschenfreundlich gepflegt worden sein, daß man eine dankbare Freundschaft mit derselben sogar in aller Ordnung finden mußte? Aber das Löckchen kohlschwarzen Seidenhaares in dem Papierchen, das offenbar bei der Photographie der reizenden Französin lag, dieses einzige kleine Löckchen geht denn doch über die Freundschaft hinaus, und Das macht die Sache bedenklich. Wünschen wir für die gefährdete Liebe das Beste! Locke und Bild werden sicherlich äußerst geschwind in den Ofen fliegen; möge dann wenigstens die jetzt so bitter weinende Geliebte die böse Stunde ebenso bald vergessen, wie ohne Zweifel die ferne Picarde den „Prussien“ vergessen hat. Die zukünftige Frau Schwiegermutter besorgt schon die Notirung des Falls – für alle Fälle.


[19] Das amerikanische Sturmsignalcorps. Vor zwei Jahren bewilligte der Vereinigte-Staaten-Congreß die nöthigen Gelder zur Gründung eines Sturmsignalcorps, dessen Aufgabe es sein soll, dem Schiffer zeitige Kunde von nahenden Stürmen zu geben. Um die hier nöthige Disciplin in Anwendung zu bringen, wurde das Corps unter die Controle des Kriegsministeriums gestellt. Zum Chef wurde Albert J. Myer ernannt.

Schon nach kurzer Zeit erwies sich diese Anstalt auch dem Landmanne von Nutzen; denn nicht nur Stürme, sondern auch Regen, Schnee und Frost werden jetzt mit großer Genauigkeit vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden im Voraus prophezeit. Das Ganze beruht auf folgendem Plane: Ueber das weitläufige Gebiet der Vereinigten Staaten liegen die meteorologischen Stationen, fünfundsechszig an der Zahl, zerstreut; vorzugsweise in den größeren Städten. Jede Station steht in telegraphischer Verbindung mit Washington, der Centralstation. Von allen diesen Stationen werden drei Mal täglich (alle im selben Momente) Berichte über den Stand der Instrumente und den Charakter des Wetters per Telegraph nach Washington gesandt; aus diesem Material werden dann die Prophezeiungen componirt und zwei Mal täglich an die Presse im ganzen Lande geliefert. Außerdem werden täglich Karten gedruckt, auf welchen man mit einem Blicke die Beschaffenheit des Wetters übersieht. Beim Anzuge heftiger Stürme wird der Seefahrer durch Signale gewarnt, welche längs den Küsten aufgehißt werden; dieselben bestehen aus rothen Fahnen mit schwarzem Centrum am Tage, und rothen Lichtern in der Nacht.

Jede Station ist mit den folgenden Instrumenten versehen: ein Barometer, ein Thermometer, zwei registrirende Thermometer, ein Hygrometer (Feuchtigkeits-, oder Nässemesser), ein Anemometer (Windmesser), ein Anemoskop (Windweiser), ein Regenmesser und eine Windfahne. Das Observatorium befindet sich gewöhnlich auf dem Dache irgend eines günstig gelegenen Gebäudes und wird von einem Beobachter und einem Assistenten besetzt; Ersterer bekleidet den Rang eines Sergeanten. Die Sergeanten, welche eine gewöhnliche Schulbildung besitzen müssen, werden, ehe sie diesen Dienst antreten, in Fort Whipple im Gebrauche der Instrumente etc. unterrichtet. Wenn sie sich nun nach einer zweiten Examination als fähig bewiesen, wandern sie nach ihren Posten, um in manchen Fällen ein monotones Einsiedlerleben zu führen; z. B. auf dem sechstausendzweihundertneunzig Fuß hohen Mount Washington, wo das Thermometer zuweilen -35 Grad Kälte zeigt, oder in den Wildnissen des fernen Westens. Ihr Jahresgehalt beträgt nur achthundertsiebenundfünfzig Dollars.

Der praktische Geist der Amerikaner hat der Meteorologie, durch nützliche Anwendung derselben, in diesem Lande mehr Popularität zugewandt, als dieses in Europa heute der Fall ist; obgleich die europäischen Systeme älter als das amerikanische sind. Die Formation und Ausdehnung des Landes trägt aber auch wesentlich zur günstigen Entwicklung der Witterungskenntniß bei, denn fast alle Störungen im Luftmeere schreiten von West nach Ost vorwärts und gebrauchen oft drei bis vier Tage, um die Tausende von Meilen zu durchreisen, welche die telegraphische Warnung in eben so vielen Minuten durcheilt.

Die Gebäulichkeiten der Hauptstation in Washington zeichnen sich durch echt republikanische Einfachheit aus. Das Ganze besteht aus weiter nichts als einem kleinen Hause, zwei Stockwerke hoch, welches vormals als eine Privatwohnung gedient hatte. Beim Eintreten gewahrt man zwei Unterofficiere und einen Assistenten mit Schreibereien beschäftigt; in einer Ecke steht der Telegraphenapparat, welcher unaufhörlich Depeschen aus den entferntesten Gegenden auf einen sich entwickelnden Papierstreifen druckt. Eine Seitenthür öffnend, tritt man in ein ähnliches, aber noch kleineres Gemach: einige Landkarten an den Wänden, verschiedene Bücher und ein paar altersschwache Stühle bilden so ziemlich die ganze Einrichtung. An einem kleinen Pulte sitzt der „Chief Signal Officer of the Army“. General Myer, der das ganze Signal-Departement der Armee unter sich hat. Kurz, aber höflich werden hier alle Besucher abgefertigt. Im oberen Stockwerke, wo die schon vorher beschriebenen Instrumente aufgestellt sind, befinden sich die Professoren Abbe und Maury, welche das wissenschaftliche Material liefern.




Warum Bockbier? Da uns hierüber mehrere Fragen und Antworten eingegangen sind, so scheint der Gegenstand wohl Interesse genug für eine öffentliche Behandlung zu haben. Veranlaßt ist die Frage nach dem Ursprunge der Bezeichnung Bock für das berühmte Maibier des königlichen Hofbrauhauses zu München allerdings durch die Gartenlaube selbst in ihrem Bockstall-Artikel von Nr. 15 des Jahrgangs 1872.

Man hat darüber Allerlei zusammengefabelt. Namentlich citirt man häufig den englischen Lord, dem das Münchener Bier zu leicht gewesen und dem zu Liebe der Brauer einen so kräftigen Trunk gebraut haben soll, daß er davon trunken ward und hinfiel. Auf die Frage, was ihm geschehen sei, antwortete er: „Ein Bock hat mich gestoßen.“

Dieser gemachten Geschichte gegenüber, giebt die deutsche Sprachwissenschaft eine ganz andere, aber sehr einfache Erklärung. Die Bibel der Dialektforscher, Schmeller’s bairisches Wörterbuch, sagt nämlich, daß dieses starke Bier ursprünglich Eimbeckisches Bier war und hieß. Im Reichsarchiv zu München findet sich noch eine herzogliche Vollmacht, im März 1553 ausgestellt auf einen Erfurter Bürger zum Transport „von 2 Wagenschwer Ainpeckhisch Bier“, d. h. aus Eimbeck in Hannover, das im fünfzehnten Jahrhundert die höchste Blüthe seiner Brauereien erlebte, nach München oder Landshut. Auch in einer Münchener Hofrechnung von 1574 kommt „Einbeckisch Bier, so die Nürnberger dem gnädigen Herrn geliefert“, vor. Es ist nun leicht begreiflich, daß, bei der Lust des Volkes, jedem ihm fremden Ausdruck eine Form zu geben, die einen handgreiflichen Sinn hat, die Umwandlung von Eimbeck in „Eimbock“, „Einbock“ und endlich in „ein Bock“ und einfach „Bock“ geschehen konnte. Diese volksmäßige Umformung ist indeß schon ein paar Jahrhunderte alt, denn in der Land- und Polizei-Ordnung von 1616 ist von einem Bock-Meet die Rede, welcher „nicht anders als zur Nothdurft der Kranken gesotten werden sollte.“ Natürlich ging der Name Bock für das stärkende Getränk später, als die fürstliche Hofbrauerei ihr Privilegium, so starkes Bier allein herzustellen, in Ausübung brachte, auf den heimischen Labetrunk über. Das Gegenstück zum Bock bildete die besonders aus den Brauhäusern der Jesuiten hervorgegangene, etwas schwächer gebraute und darum sanftmüthigere Gaiß.




Eine sprachliche Unart. Es sind namentlich unsere österreichischen Freunde von der Feder, von welchen wir z. B. Folgendes lesen: „Clara und Cäcilie sitzen am Sopha.“ – Wo sitzen sie nun eigentlich? – „Der Graf fuhr am See?“ – Wo fuhr er da? – „Der Mann stand am Berge.“ – Wo stand er da? Ist es nicht unartig, uns in solcher Ungewißheit zu lassen? Dieses „am“ ist eine Eigenthümlichkeit der österreichischen Schriftsprache, aber keine berechtigte; es entstand aus der Zusammenschleifung von auf dem, aufm, aum, am. Am kann aber nie etwas Anderes bedeuten, als an dem, und ebendarum drücken obige Beispiele alle das Gegentheil von dem aus, was sie bezeichnen wollen. Clara und Cäcilie sitzen an dem Sopha, also daneben. Der Graf fuhr an dem See, folglich auf dem Lande, das Ufer entlang. Der Mann stand an dem Berge, also am Fuße oder Abhange, aber noch lange nicht auf dem Berge. Wir sind wohl zu der Bitte berechtigt, der deutschen Sprache und ihrer Correctheit und Klarheit zu Liebe diese Unart abzuschaffen.




Briefkasten.

K. L. in L. Ihre Ansichten über Pflichten und Leistungen eines Redacteurs fußen auf Voraussetzungen, die an sich schon irrige sind. Man kann nicht gleichzeitig Wöchnerin und Geburtshelfer sein, mit andern Worten, man kann nicht schaffen, dichten und produciren, wo es gilt das Material eines größern Journals aus allen Theilen der gebildeten Welt herbeizuziehen, zu sichten und in Einklang mit den Anforderungen eines guten Geschmacks und der Tendenzen zu bringen, die das Journal vertritt. In den meisten Fällen hört mit der Uebernahme einer bedeutenden Zeitung oder einer größern Wochenschrift für den schaffenden Schriftsteller die Möglichkeit auf, noch weiter in geschlossenen Productionen vor die Oeffentlichkeit zu treten, oder seine schriftstellerische Thätigkeit beschränkt sich dann lediglich auf redactionelle Kleinigkeiten, auf Notizen, Milderungen, Correcturen etc., die sich meist nicht mehr mit dem Namen literarische Leistungen bezeichnen lassen. Aus der schimmernden beseligenden Welt lebendigen Schaffens und Dichtens tritt er in die enge Kammer der Verwaltung, des Prüfens, der kalten Kritik. Fortan hat er nur eine Aufgabe zu lösen: mit unausgesetzter Aufmerksamkeit die Zeit und deren Bedürfnisse zu erforschen und zeitig zu erfassen, seine mit Verständniß gewählten Mitarbeiter anregend durch Wort und That für seinen Ideengang zu gewinnen und für seine Zwecke zu begeistern und im Verein mit diesen tüchtigen Kräften ein harmonisches Zusammenwirken zu erzielen, das die Massen zu sich heranzieht, aber nicht zu ihnen und ihren zufälligen Wünschen herabsteigt. Wo dieses Zusammenwirken, dieses kalte parteilose Prüfen und die eiserne Disciplin des Leitenden fehlen, wird das Ganze ein Sammelsurium bleiben, ohne Gepräge und Einfluß, das rasch wieder zusammenbricht. – Denn ebenso wenig die Beiträge eines guten Autors – und wenn er Gold schriftete und Silber leitartikelte – den Aufschwung eines Journals bewirken können, so wenig nützen alle Reclamen und Lobposaunen, wenn der Redacteur in seiner fieberhaften Thätigkeit nachläßt oder in der Wahl seiner Mitarbeiter Ungeschicklichkeiten und Fehler begeht, die das einheitliche Wirken seines Organs vernichten.

Ein derartiges Grübeln, Suchen, Sichten und Anregen, diese ewigen, mit jedem Tage neu beginnenden, unausgesetzten und aufreibenden Hetzjagden absorbiren aber mehr noch die geistigen Kräfte als das behagliche, befriedigende Dichten und Schaffen. Des Tages Hitze und Mühen lassen stets eine Erschlaffung zurück, die sich selten noch zu poetischen Stimmungen und zur Lust am Fabuliren und Produciren aufzuraffen vermag. Der denkende Redacteur, der seine Aufgabe begreift und nicht schon in der Correctur zufällig eingegangener Beiträge erfüllt sieht, legt deshalb auch die schaffende Feder, die unmöglich zweien Herren gleich gut dienen kann, aus der Hand und überläßt Erfolge und Lorbeeren seinen Mitarbeitern, deren gedruckt vorliegende Leistungen die Lesewelt entzücken und begeistern. Er selbst hat sich mit dem Bewußtsein zu begnügen, durch seine nie ruhende, ordnende Hand ein Material herbeigeschafft zu haben, das in Wahl und Zusammensetzung überall hin gute Saat auf die Fluren deutschen Culturlebens streut und nach allen Seiten belehrt, anregt, erhebt und bildet. Der Lesewelt gegenüber ist selbstverständlich seine Leistung eine untergeordnete. Denn diese erkennt in der vorliegenden Nummer niemals die Arbeit und die mit großen Mühen beseitigten Schwierigkeiten der Herstellung, sie fühlt es dem glatten eleganten Artikel nicht an, daß hie und da der Rothstift des Leitenden die Ecken und Langweiligkeiten des Beitrags beseitigen mußte, und weiß nicht, daß viele Ideen der gelesensten Artikel zuvor in dem gemarterten Hirn des Redacteurs geboren wurden, der noch sinnt und grübelt, wenn jeder andere Arbeiter sich der Behaglichkeit seiner vier Wände hingiebt.

Vorausgesetzt, daß das Hirn eines solchen Pioniers der Ideenwelt zufällig auf längere Jahre diesen Selbstverbrennungsproceß aushält, und daß wirklich Geist und Körper so viel Elasticität besitzen, diese mit jedem Tage wiederkehrende Herculesarbeit auf lange Zeit zu bewältigen, so kann es nur auf Kosten seiner geistigen Spannkraft geschehen, auf Kosten seines Gemüths- und Familienlebens, seiner innern Ruhe und Behaglichkeit. Der ewige Kampf in der Arena der Oeffentlichkeit zerstört nachhaltig und [20] sicher. Und wenn endlich nach Jahren mühevollen Strebens und Arbeitens der Rast- und Ruhelose – bis zum letzten Augenblick ein guter Soldat auf Posten – die letzte Correctur des Lebens vornimmt – das bischen Sterben, dann ist er, dem heute noch Tausende von Lesern ihre geistige Freude verdanken und den Hunderte wegen seiner Machtstellung beneiden, morgen schon – vergessen, ehe sich noch der Hügel über ihn erhärtet hat.

Der Kranz dem Poeten und seinen einschmeichelnden Schöpfungen – ein paar Schollen kalter Erde für lange Jahre heißen und wirkungsvollen Vorpostendienstes im großen Bildungs- und Humanitätskampfe der Tagespresse.

O. in Roschitz. Das Treiben des Pastors Weber dort, der das bereits in vierter Auflage erschienene Schriftchen „Die Religion der Gartenlaube“ in Massen an seine Schäflein vertheilt, um diese vor der Lectüre des verhaßten Blattes zu warnen, interessirt uns wirklich zu wenig, als daß wir nähere Mittheilungen darüber erbitten möchten. Wir kennen das in dem muckerreichen Eckartshause in Eckartsberge gedruckte Büchlein schon seit Jahren und danken Ihnen für Ihre freundliche Benachrichtigung, bitten aber, dem komischen Gebahren des Herrn Pastors keinen Stein in den Weg zu legen.

L. W. in Hamburg. Für Ihre Zwecke können wir Ihnen nur den in Braunschweig erscheinenden „Globus“, redigirt von Fr. Andrée, empfehlen. Sie finden dann die gewünschten Beiträge von Kirchhoff und Wallis und mancherlei andere Originalschilderungen. An innerer Gediegenheit und äußerer glänzender Ausstattung überragt der „Globus“ weitaus alle ähnlichen Unternehmungen, nur möchten wir dabei unser Bedauern aussprechen, daß eine Zeitschrift von dieser Bedeutung sich so wenig bestrebt, ihren Lesern gute Originalillustrationen zu bieten. Die französischen Clichés, allerdings sehr schön, spielen beim Globus eine allzu große Rolle.

O. M. in A. mit einem unbrauchbaren Gedicht schreibt: „Im zwanzigsten Lebensjahre stehend, scheint es mir an der Zeit zu sein, meinen Namen allmählich ins Publicum einzuführen. Ich halte die weitverbreitete Gartenlaube für das geeignetste Blatt dazu und möchte Sie deshalb bitten etc. etc.“ – Sehen Sie ’mal, das ist hübsch von Ihnen! Aber wollen Sie dazu nicht lieber irgend ein Wochenblättchen benutzen, selbstverständlich gegen Insertionsgebühren? Sie werden dadurch sich und den Buchdruckern einen Gefallen erzeigen.

E. F. in Erfurt. Wir bitten Sie freundlichst um Ihre nähere Adresse, damit der Wunsch Ihres liebenswürdigen Briefes erfüllt werden kann.

M. in Bbg. Gewiß verfolgt Nürnberg in religiöser Beziehung eine rationelle Richtung, aber auch dort sind Elemente vorhanden, die mit der Bibel in der Hand jedem Vorwärts Felsen entgegendämmen möchten. Es ist bezeichnend für diese, daß zwei Tage nach dem Begräbniß von Feuerbach auf dem Grabeshügel des Weisen nur halb verdeckt durch einen Cypressenkranz ein Zettel lag, von frommer Hand geschrieben: „Wahrhaftige Worte Christi. Wer da glaubet und getauft wird, wird selig werden, wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden.“

V. Gr. in Am. Ein Mittel gegen „unverschuldete rothe Nasen“? Wir wissen keins, und die Aerzte, die wir darum befragten, auch nicht. Für den Abend würden wir etwas Mehlstaub vorschlagen.

V. in L. Ihre Klagen über die „Gouvernanten“ mögen zum Theil begründete sein, aber das berechtigt Sie noch nicht, über den ganzen Stand den Stab zu brechen. Gewiß giebt es unter der großen Schaar der Hofmeisterinnen „schnippische“ und „verdrehte Mamsells“, wie Sie sagen, namentlich unter den Halbfranzösinnen, aber die neuere Pädagogik hat auch eine große Zahl von Erzieherinnen gebildet, die an Kenntnissen, sittlichem Werth und wahrer Herzensbildung meist weit über den Herrschaften stehen, die sie mit großen Ansprüchen und für wenig Geld zur Erziehung ihrer Kinder engagiren. Es gehört schon große Freude an dem Beruf dazu, unter wirklichen Entbehrungen und Demüthigungen die lieben oft sehr boshaften Kinderchen zu erziehen, zu unterrichten und womöglich auch zu amüsiren, um wie viel mehr, wenn alle Anstrengungen ohne Anerkennung blieben, ohne Aufmunterung und ohne gebührende Stellung im Hause, nur deshalb, weil das „arme Mädchen sind, die ihr Brod verdienen müssen“. Der Hochmuth dieses vornehmen Pöbels, der sich schon gebildet glaubt, wenn er ein wenig französisch plappern und das Piano maltraitiren kann, überschreitet in dieser Beziehung oft alle Grenzen.

Wir erinnern uns einer sehr fein gebildeten und liebenswürdigen Dame, die als Erzieherin in das Haus der Familie von C. kam. Am ersten Abend beim Essen frug der Herr des Hauses das junge Mädchen sehr ausführlich über das Viel und Wenig ihrer Wäsche, und als dieses ganz unverhohlen seine Verwunderung über diese ungewöhnliche Frage aussprach, wiederholte der gestrenge Herr sein Verhör dringender. In zögernder Weise gab die Dame endlich Aufschluss. „Nun,“ entgegnete Herr v. C., „Sie scheinen ja sehr gut ausgestattet zu sein; mein letzter Bedienter hatte nur drei Hemden.“ – Die junge Dame, obwohl sehr arm, erhob sich sofort vom Tische und verließ andern Morgens das Schloß eines Menschen, der die Erzieherin seiner Kinder seinem Bedienten gleichstellte.

E. K.


Für den Weihnachtsbaum unserer Ostsee-Deutschen

gingen wieder ein: C. N. in Glasgow (Schottland) 50 Thlr.; Limbach im Erzgebirge, durch den stellvertretenden Gemeindevorstand H. Matthes und Vorsitzenden des Ortsvereins, Advocat Hofmeister 177 Thlr.; Ertrag eines Concerts des Männergesangvereins Arion in Bielefeld 85 Thlr. 15 Ngr. 7 Pf.; Lotterie-Ertrag der Donnerstag-Gesellschaft in Halberstadt 29 Thlr. 17½ Ngr.; Concertertrag des Dilettantenvereins in Meerane 36 Thlr. 22 Ngr.; Sammlung der mittleren Bürgerschule in Chemnitz, durch Director Reichelt 108 Thlr.; der Verein Industrieller in Alt- und Neugersdorf 129 Thlr. 15 Ngr.; Poppe und Wirth in Berlin 25 Thlr.; H. Ziegler in Langensalza: Ertrag einer Abendunterhaltung des Liederkranzes 11 Thlr. 15½ Ngr.; Erste Mädchenclasse in Hainau 2 Thlr.; Vier kleine Schwestern aus dem Brachtthale 4 Thlr.; die Confirmandinnen der Pfarrei Niederwörresbach 1 Thlr. 15 Ngr.; Fr. Knecht in Jüdenberg 1 Thlr.; Cantor Willenberg in Gramschatz und dessen Schüler 5 Thlr.; Lehrer Neumann in Sand-Krebsberg 1 Thlr.; Leseverein in Großpößna 2 Thlr. 17½ Ngr.; Schuljugend daselbst 1 Thlr.; M. T. 20 Ngr.; Elementarschüler in Raschau 2 Thr. 3 Ngr.; Lehrer Schermuly in Schupbach, Sammlung 2 Thlr. 10 Ngr.; Seidel in Kleinolbersdorf 2 Thlr. 25 Ngr.; Schulkinder in Oberneubrunn, durch Lehrer Stöckhardt 1 Thlr. 26½ Ngr.; Schuljugend in Kl.-Lubolz 3 Thlr. 5 Sgr. 2 Pf.; Schüler und Schülerinnen der vierten Bezirksschule in Dresden, durch Director Perthen 12 Thlr. 12 Ngr.; A. W. in Frankfurt a. O. 1 Thlr.; Zweite Knabenschule des Waisenhauses in Braunschweig 1 Thlr. 5 Ngr.; G. F. in Beuthen 1 Thlr.; Einige Schulkinder in Mehlsdorf 11 Ngr. 8 Pf.; Ensinger in Hasbach 1 Thlr.; Schülerinnen der Pension in Cleve, durch Vorsteherin Junck 14 Thlr.; Freund der Gartenlaube in Lichtenhain 1 Thlr.; H. B. in Schönlanke 1 Thlr.; Schule in Mutzschen, durch Organist Richter 5 Thlr. 10 Ngr.; J. R. in W. 1 Thlr.; Bondam in Assen 2 Thlr. 25 Ngr.; Carl Fiedler 1 Thlr.; Abonnent aus Kurpfalz in Meran 10 Thlr.; Knabenschule in Schöppenstedt 1 Thlr.; Bürgerschule in Nordhausen, durch Rector Polack 18 Thlr. 15 Sgr.; Fideles Kränzchen in Langensalza 5 Thlr.; Friedländer in Breslau 5 Thlr.; Mädchenschule in Wermsdorf, durch Lehrer Burckhardt 3 Thlr. 15 Sgr.; Unbekannt mit einem Gedicht 1 Thlr., Kinder der Fabrikschule in Scharfenstein, durch Lehrer Müller 1 Thlr. 20 Ngr.; Schulkinder in Gräfenhain, durch Lehrer Seidel 2 Thlr.; Sammlung des P. Müller in Großbockedra 5 Thlr.; Lehrer Lüdtke in Langenau 4 Thlr.; Schneider in Gröppendorf 2 Thlr.; L. M. in London 4 Thlr.; Armen-Knabenschule in Großenhain 20 Sgr.; E. S. in Spanien 5 Thlr.; Zum Andenken eines geliebten Kindes F. L. 2 Thlr.; Kinder in Hermsdorf bei Magdeburg, durch Lehrer Benecke 4 Thlr.; Lequay in Brüssel 5 Thlr.; Schulkinder in Ragow, durch Lehrer Steller 8 Thlr. 10 Sgr.; Schüler in Friesdorf, durch Cantor Schmidt 1 Thlr. 10 Sgr.; W. S. in Altenberg 5 Thlr.; Sammlung des israelitischen Lehrers Meyerson in Ischum 1 Thlr. 20 Ngr.; e. G. i. Pl. 10 Thlr. 6 Ngr.; Bürgerverein in Haynau 5 Thlr.; Sammlung von Fr. Sterzel in Ellefeld 6 Thlr. 10 Ngr.; Schule in Knatewitz, durch Lehrer Gang 2 Thlr. 20 Ngr.; Sammlung durch Advocat Naumann in Neustadt b. Stolpen 22 Thlr., Clara Emmel in Frankfurt a. M. 2 Thlr.; J. M. in W. 1 Thlr.; Schule in Baudach 1 Thlr. 11 Ngr.; Schule in Wöpfe, durch Lehrer Brandt 6 Thlr.; Arbeiter-Bildungsverein in Steinhude 11 Thlr. 20 Ngr. 9 Pf. (Bravo!); N. N. in Leipzig 10 Thlr.; Pfennigsammlung der zweiten Schule in Taucha, durch Cantor Renner 1 Thlr. 10 Ngr.; Eine Streichhölzerfabrik im Odenwald 4 Thlr. und 3 fl. rhn. mit einer poetischen Ansprache, dessen letzte Verse lauten:

So nehmet denn das Scherflein an von Hessens Bergen
Nebst unserm Brudergruß fern her vom Odenwald!
Nicht wolle Gott, daß Zagen und Bedenken herrschen
Wenn deutscher Nothruf laut zu deutschen Herzen hallt!

J. u. C. M. in London 15 Thlr.; kleine Spielgesellschaft in Langensalza durch Oehmler 2 Thlr.; Schülerinnen der zweiten Mädchenclasse in Zschopau 22 Ngr.; Max T. in D. 1 Thlr.; Sammlung durch Lehrer Wilke in Vasbeck 8 Thlr. 15 Ngr.; Theatervorstellung des Turnvereins in Alt-Eybau 5 Thlr.; Sängerlust in Rodach 10 Thlr.; Leonhardt in Dissen 5 Thlr.; Sammlung im Turnverein für Neu- u. Antonstadt in Dresden 16 Thlr. 20 Ngr.; Sammlung im Turnverein in Langensalza (der vierte Beitrag von dort) durch W. Weißenborn 18 Thlr. 15 Ngr.; Schulkinder in Berbersdorf durch Lehrer Bach 5 Thlr. 7½ Ngr.; Förster Kaltenbach in Freudeneck 5 Thlr.; Schule in Guthmannshausen durch Lehrer Töpfer 2 Thlr 10 Ngr.; Israelitische Schule in Märk. Friedland 2 Thlr. 25 Ngr.; G. O. U. in L. 1 Thlr.; Ertrag eines Concerts in Oederan durch Lehrer Richter 30 Thlr.; Marie M. in Wiesbaden von ihren Weihnachtsgeldern 1 Thlr.; eine alte Jungfer 1 Thlr.; Schwan in Soldin 2 Thlr.; V. F. J. u. Co. in Trebnitz 5 Thlr.; K. R. in Wunsiedel 1 Thlr.; K. W. in W. 5 Thlr.; Schulkinder in Grösig durch Lehrer Ebenau 2 Thlr. 3 Ngr.; zweite Mädchenclasse in Neustadt a. O. 1 Thlr. 20 Ngr.; einige Kinder in Braunschweig 3 Thlr. 16 Ngr.; „Knecht Ruprecht, trag’s freundlich an die Ostsee, darum bittet ein Lehrer und seine Kinder in Kieritzsch“ 1 Thlr. 20 Ngr.; Schüler in Schmorkau durch Lehrer Budich Thlr. 1 Ngr. 2 Pf.; aus Kitzingen, in Freundeskreis ges. 64 Thlr.; Sammlung der städtischen höheren Bürgerschule in Görlitz, durch Rektor Linn 57 Thlr.; Sammlung durch Bürgermeister Seubert und die beiden Advocat-Anwälte Kraemer und Petry in Alzey (Rheinhessen) 134 Thlr. 9 Ngr. 4 Pf.

Auf Wilhelm Bauer’s Siegelring sind geboten und ausgezahlt: 50 Thlr. von G. S. in Berlin und 100 S.-Rubel von „einem Deutschen“ in Moskau, beides mit der Bestimmung, W. Bauer den Ring zurückzuerstatten, und 50 Thlr. von C. S. Goy in Pitschen mit der Bitte, den Ring noch einmal gegen das höchste Gebot feil zu bieten, was hierdurch, mit W. Bauer’s Einwilligung, geschieht.


Es ist uns heute nicht möglich, alle bis zum heiligen Abend eingegangenen Beiträge zu verzeichnen. Wir werden dies in der nächsten Nummer nachholen und freuen uns, den edlen Gebern einstweilen mittheilen zu können, daß bereits

2500 Thaler

an den Haupt-Hülfsverein abgesandt werden konnten.

Die Redaction. 



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Episode aus einem noch ungedruckten größeren Gedicht: „Des Helden Weib“. D. Red.
  2. Vorlage: „zugelich“
  3. Original: Urtel
  4. Vergleiche Nr. 30 des vorigen Jahrgangs.
  5. Jedenfalls in Bezug auf meine Antwort im Parke zu Großlochberg: „Ich weiß, vor wem ich stehe.“ Goethe spielte noch später darauf an.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: einen