Des Reichs-Canarienvogels Entweichen
Des Reichs-Canarienvogels Entweichen.
Der Reichs-Canarienvogel! – Wer fühlte sich bei der Erinnerung an diesem Namen nicht mitten in die Kämpfe von 1848 u. 49 versetzt! Wir sehen wieder Alles an unserem Geiste vorüberziehen – das feurige energische Vorparlament, das Parlament selbst und endlich das Rumpfparlament bis zu seinem schwäbischen Untergang. Wir können bei allen unsern Lesern ein so gutes Gedächtniß voraussetzen, daß sie weder einer Geschichte noch einer Kritik jener Begebenheiten bedürfen, um sich die Stellung des Reichstagsabgeordneten Rößler von Oels im Parlament zu vergegenwärtigen. Sie wissen, daß er der Linken angehörte, mit dieser nach Stuttgart ging und dann das Schicksal aller preußischen Mitglieder des Rumpfparlaments theilte: er mußte die Heimath meiden, deren damalige Regierung ihn als Verbrecher behandelt haben würde. Der Reichs-Canarienvogel, wie bekanntlich Rößler von seinen Freunden wegen seines nankingfarbigen Anzuges scherzweise genannt worden ist, hielt sich nach der Sprengung des Parlaments bei einigen Freunden in Würtemberg auf, wo er keinerlei politische Verbrechen begangen hatte und also unangefochten leben zu können hoffte, bis andere Zeiten ihm die Rückkehr ins Vaterland gestatten würden. – Aber was war bei der so schnell hereinbrechenden Reaction damals nicht Alles möglich! Auch der harmlose Reichs-Canarienvogel wurde eines schönes Tages während eines Besuches in Stuttgart verhaftet und nach dem Hohenasperg gebracht. Der „Asperg“ war jedoch nicht mehr der grause Aufenthalt, wie zur Zeit Schubart’s, und der damalige Commandant Sonntag war ebenfalls das gerade Gegentheil von dem Peiniger des unglücklichen Dichters, dem berüchtigten General Rieger. Oberst Sonntag war streng im Dienst und handhabte die Hausordnung unnachsichtlich; dagegen zeigte er sich persönlich mild gegen die Gefangenen und sorgte in jeder Beziehung für sie, so daß Niemand über die Behandlung sich zu beklagen hatte, welcher den Vorschriften nachlebte, deren Beachtung bei der großen Anzahl von Straf- und Untersuchungsgefangenen unumgänglich nöthig war.
Ueber schlechte Behandlung konnte sich also der Reichs-Canarienvogel nicht beschweren, ebenso wenig fehlte es ihm an frischer Luft und Bewegung, da er jeden Vor- und Nachmittag eine Stunde auf dem Walle sich ergehen durfte. Auch über Einsamkeit konnte der Reichs-Canarienvogel sich nicht beklagen: Rau von Gaildorf theilte sein Zimmer und seine Spaziergänge, und wer diesen je gekannt, wird sich keinen besseren Gesellschafter wünschen. So hatte denn der Canarienvogel außer der Freiheit Alles, was das Leben erträglich macht: gute Wohnung und Kost, schöne Spaziergänge, angenehme Gesellschaft und milde, wohlwollende Behandlung, und er konnte somit getrost der Zukunft ins Auge sehen, denn da er in Würtemberg nicht in Anklagestand versetzt war, so konnte seine Gefangenschaft selbst nicht von langer Dauer sein.
Da durchdringt ein dunkles Gerücht seine Kerkermauer, scheucht den Schlaf von seinem Lager und giebt ihn der Sorge und Verzweiflung anheim: Preußen, so heißt es plötzlich, betreibe seine Auslieferung, und diese soll in kurzer Zeit wirklich stattfinden, wie ihm treue Freunde zuflüstern. Die Auslieferung an Preußen aber ist Rößler’s Todesurtheil oder Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthause. Diesem Loose durfte der Reichs-Kanarienvogel nicht verfallen, die Hand, welche mit der Feder in klangvollen Versen wie in begeisterter Prosa so beredt für die Freiheit und für die Ehre des Vaterlandes wirkte, durfte nicht von der Spindel entweiht, dem schwäbischen Volk durfte nicht die Schmach auferlegt werden, einen Kämpfer für die deutsche Reichsverfassung dem Hasse preußischer Junker ausliefern zu müssen. Es gab noch Männer im Lande, welche vor einer solchen Calamität errötheten und sie ihren Mitbürgern um jeden Preis zu ersparen suchten. Und die Zeit drängte, denn die Auslieferung sollte in kurzer Zeit stattfinden. – Es galt, den Reichs-Canarienvogel am hellen lichten Tage über Mauern und Gräben wegfliegen zu lassen, und dazu waren wirkende Kräfte innerhalb und außerhalb der Festungsmauern nöthig.
Zwar hätte ich wohl Nichts zu befürchten, wenn ich die Mitwirkenden hier namentlich vorführen wollte, denn eines Theils sind die Hauptbetheiligten längst nach Amerika ausgewandert, und zum Zweiten ist die ganze Sache verjährt, und da sogar die damals in contumaciam Verurteilten jetzt frei zurückkehren dürfen, so wäre für die übrigen Begünstiger der Flucht wohl ebensowenig zu befürchten; aber ich unterlasse es dennoch Namen zu nennen, um gegen keine Seite hin anzustoßen; ich erzähle einfach die Thatsachen, wie ich sie selbst angesehen und mit erlebt habe.
Das Nothwendigste war, eine Verbindung mit dem Gefangenen herzustellen, durch welche man mit demselben ungehindert correspondiren konnte. – Die damalige Ueberfüllung des Hohenasperg mit Gefangenen erleichterte diese Absicht, denn zur Bedienung dieser vielen Leute waren einige Sträflinge des Ludwigsburger Arbeitshauses auf die Festung commandirt, welche als sogenannte „Hofschäffer“ die Bedürfnisse der verschiedenen Gefangenen herbeischaffen mußten und daher in jede Zelle ungehinderten Zutritt hatten.
Der unermüdliche Dr. R. hatte einen dieser „Hofschäffer“ gewonnen, die sichere Besorgung der Briefe an Rößler zu übernehmen; aber es bedurfte eines Vermittlers, welcher sie dem „Hofschäffer“ übergab, denn dieser durfte Briefe weder durch die Post noch durch den Boten erhalten.
Zu dieser Zeit wollte es das Glück, daß ich einen zweimonatlichen Festungsarrest wegen Preßvergehen abzusitzen hatte; ich konnte den ganzen Tag frei in der Festung umhergehen und Correspondenzen empfangen und absenden, ohne daß solche der Durchsicht des Festungscommandanten unterliegen mußten. Dazu kam noch der freundliche Zufall, daß zu Anfange des Monats Februar 1850 mich ein Bekannter besuchte, welcher auch Rau von Gaildorf zu sprechen wünschte. Ich suchte bei dem Commandanten um die Erlaubniß hierzu nach, erhielt sie, wie immer, bereitwillig und mit dem Beisatze, daß die Unterredung während des gewöhnlichen Spazierganges stattfinden könne. Dieser geschah, wie bereits bemerkt, stets in Gesellschaft des Reichs-Canarienvogels. Der Obermann, welcher beide Gefangene, Rößler und Rau, zu begleiten pflegte, brachte sie an jenem Abend gegen 5 Uhr auf das Zimmer des Aufsehers, wo wir bei einem Glase Wein die kurze Stunde in heiterem Gespräch zubrachten. Hier war es, wo Rau, der neben mir saß, mir in einem unbewachten Augenblicke die Frage zuflüsterte, ob ich meine Beihülfe leihen wolle zu der Entweichung Rößler’s, welche fest beschlossen sei, da die Auslieferung an die preußische Regierung unter allen Umständen vereitelt werden müsse. Einer Ueberlegung bedurfte es hier nicht – ein Händedruck unter dem Tische versicherte ihm meine Zustimmung, und von diesem Tage an vermittelte ich alle Communicationen durch den Hofschäffer in den Käfig des Reichs-Canarienvogels. – Aufregende Tage begannen, denn es war ein gewagtes Unternehmen, allein es stand zu viel auf dem Spiele, um nicht Alles an sein Gelingen zu setzen.
Der Fluchtversuch sollte am lichten Tage, während des Morgenspazierganges in’s Werk gesetzt werden, und Rau übernahm es, die Aufmerksamkeit des begleitenden Soldaten abzulenken, um dem Flüchtling wenigstens fünf freie Minuten zu verschaffen. Dies reichte hin, ihn außer dem Bereich der Verfolgung zu setzen, da er geborgen war, sobald er den äußern Wall unangefochten erreichen konnte. – Alle Vorbereitungen waren getroffen, und das Glück begünstigte das Unternehmen sichtbar, denn zwei Mal drohte eine voreilige Entdeckung, aber Gott belegte die Augen der Wächter mit Blindheit, und Niemand hegte eine Ahnung vor dem Augenblicke der Ausführung. – Die Leitern zur Uebersteigung des Festungswalles waren mehrere Tage vorher schon in den nahen Weinbergen bereit gelegt worden, und obschon die den äußern Wall begehenden Patrouillen diese liegen sehen mußten, obschon mehrere Bewohner des Dorfes Asperg ebenfalls die Leitern bemerkten, so fiel doch merkwürdiger Weise Niemand die Anwesenheit derselben zwischen den Traubenstöcken auf, und so wenig man sich auch einen Grund denken konnte, warum an diesem Orte Steigleitern liegen sollten. so dachte dennoch Niemand entfernt an den wahren Zweck derselben.
Zwei Tage vor der zur Ausführung bestimmten Zeit hing die Entdeckung abermals an einem Haare. – Ich sitze Nachmittags hinter einem Glase Bier in der Restauration Barthle, als ein Fremder Hereintritt und mir einen Brief überbringt. Das Schreiben war vom Gastwirth X. aus der Nähe; es besprach die letzten Maßregeln, gab zum Schluß noch die näheren Verhaltungsvorschriften und verlangte Nachricht, ob Alles in Ordnung und kein Hinderniß eingetreten sei. – Soweit war Alles gut: das Unternehmen [777] war gut eingeleitet, die Ausführung auf’s Beste vorbereitet, und im Uebrigen mußte man sich auf den Zufall und das Glück verlassen. Aber der Bote selbst war stark angetrunken, fing mit den anwesenden Soldaten Streit an, und ich sah den Augenblick herannahen, wo man ihn auf die Wache bringen würde, um ihn seinen Rauch ausschlafen zu lassen. Seine Strafe konnte indeß auch härter ausfallen, denn im Jahre 1850 hatte ein Conflict mit dem Militär stets sehr unangenehme Folgen, und in diesem Falle stand das Gelingen der ganzen Unternehmung auf dem Spiele. In dieser Verlegenheit erhob ich mich und bedeutete den Boten, mich auf mein Zimmer zu begleiten, wo ich ihm die Antwort auf seinen Brief gleich wieder mitgeben würde. Die Ueberraschung des Augenblicks spielte mir hier aber selbst einen Streich, denn ich vergaß ganz, daß kein Gefangener einen Besuch auf seinem Zimmer empfangen darf, ohne ausdrückliche Erlaubniß des Commandanten. – Ich hatte mich kaum zurecht gesetzt und den Brief zu beantworten begonnen, als der Aufseher in’s Zimmer trat und mich wegen meiner Uebertretung der Hausordnung ernstlich zur Rede setzte. Meine Lage in diesem Augenblick war durchaus keine beneidenswerthe, den betrunkenen Boten mußte ich sogleich aus dem Zimmer entfernen, wozu es lebhaften Zuredens von meiner Seite bedurfte, um nicht eine Scene zwischen ihm und dem Aufseher entstehen zu lassen, und auf der andern Seite durfte ich mich keinen Schritt von dem vor mir liegenden Briefe und meiner angefangenen Antwort entfernen, denn ich erblickte nur zu deutlich in den Augen des guten Aufsehers den Wunsch, zu wissen, welch wichtigen Brief ich denn mit dem expressen Boten zu beantworten habe. Freund Cußmann ließ sehr verdächtige Blicke auf meine Scripturen fallen, allein ich hatte gesetzlich freie Correspondenz, und somit lag kein Grund vor, meine Briefe einer Censur zu unterwerfen, daher der Aufseher sich begnügte, nach ertheilter Zurechtweisung meinen unberechtigten Besuch mit sich zu nehmen und zu Barth zu verweisen, wo er auf meine Antwort harren könne. Wie schnell war diese fertig! Wie beeilte ich mich, den Brief zu vollenden, zu siegeln, zu adressiren und ihn dem Expressen mit der strengsten Weisung zuzustellen, augenblicklich die Festung zu verlassen und den Brief pünktlich abzugeben! Ich schöpfte erst wieder ruhig Athem, als die Festungsthore sich hinter dem unseligen Boten geschlossen hatten.
Endlich kam der 22. Februar 1850 heran, der Tag, der über Rößler’s Glück oder Unglück entscheiden sollte. Ehe ich mich in die Einzelheiten vertiefe, wird es angemessen sein, den Schauplatz derselben etwas näher zu betrachten. Es ist dies die östliche Seite des Walles und der Umfassungsmauern, denn auf diesen Raum von 200 Schritten Länge und 15 Schritten Breite drängt sich der letzte Abschnitt unserer kurzen Geschichte zusammen.
Wenn man durch das auf der Westseite befindliche einzige Thor der Veste eintritt, so erblickt man gerade gegenüber eine Auffahrt, welche zwischen den den freien Platz umschließenden Gebäuden auf den Wall führt, und zugleich hat man die Aussicht auf einen Vorsprung der innern Mauer, welcher diese mit der mittleren Umfassungsmauer verbindet, und von welchem aus man unmittelbar in den Festungsgraben hinab sieht. Der Raum zwischen der mittleren und inneren Umfassungsmauer, ursprünglich zu wirksamerer Vertheidigung gegen Angriffe von außen bestimmt, ist jetzt friedlicherem Zwecke gewidmet: er ist in Gärtchen umgeschaffen, in welchen die Frauen der Festungsbeamten ihren Küchenbedarf pflanzen, und wo deren Eheherren ein lohnendes Feld für ihre Blumenzucht finden. Diese Gärtchen bilden zugleich die mittlere Terrasse, während der Wall die obere und der Festungsgraben die untere vorstellen. Von diesem letzten sind die Gärten durch eine kaum sechs Schuh hohe Mauer geschieden, welche gegen den Graben hinaus 16 bis 18 Schuh tief abfällt. Auf dieser Mauer und hart an dem erwähnten Vorsprung steht auf einer kleinen Plattform ein Gartenhäuschen, zu welchem 4 bis 6 Stufen emporführen, und von welchem man bequem in den äußern Festungsgraben hinabsehen kann, da die Mauer sich dort nur wenige Fuß über die Plattform erhebt. Von dem Vorsprunge selbst fuhrt eine steinerne Treppe in das Gärtchen links hinunter; durch einen gewölbten Gang unter dem Vorsprung hindurch gelangt man in das Gärtchen rechts von demselben, von welchem aus gleich vorn die schon genannten Stufen auf die Plattform, und also beinahe bis zur Höhe der Mauer führen. Wenn wir uns zu diesen sämmtlichen Localitäten noch den gegenüber auf dem Walle stehenden Gefangenenbau denken, zu dem man auf einer mit Geländer versehenen Treppe gelangt, so haben wir den ganzen Schauplatz vor Augen, auf welchem sich die nachfolgende Episode, äußerlich so ruhig, aber unter mächtigem Herzklopfen der Eingeweihten, überraschend schnell abwickelt.
Es war ein heller, milder Tag, wie man sie nach gebrochener Winterkälte oft erlebt, aber ein heftiger Wind stürmte über die noch kahlen Felder und trieb hier oben ein desto tolleres Spiel, da ihm von allen Seiten der Zugang offen stand. Die Gattin des Reichs-Canarienvogels, ein ebenso entschiedenes als entschlossenes Frauchen, die hier wirklich Heldenstärke zeigte, ist, wie schon oft, auch heute zum Besuch ihres Mannes von Ludwigsburg heraufgekommen und wartet auf der Staffel des Gefangenenbaues der Stunde, in welcher die Reihe des Spazierganges an Rößler kommt, um sich während desselben mit ihrem Gatten zu unterhalten. Endlich schlägt es elf Uhr, der dienstthuende Unterofficier erscheint, und die Thüre des Gemachs öffnet sich, um die beiden Gefangenen herauszulassen.
Rau und Rößler erscheinen oben auf der Treppe des Gefangenenbaues, wo Letzterer seine Gattin freudig bewillkommnet, welche eine „Halbe“ Bier neben sich auf der Treppe stehen hat, an welcher sich der Reichs-Canarienvogel hin und wieder labt und dadurch Gelegenheit findet, sich der unmittelbaren Aufsicht des begleitenden Obermanns zu entziehen. Dieser muß Rau folgen, der seinen Spaziergang heute unermüdet von einem Ende seines erlaubten Raumes bis zum entgegengesetzten wiederholt und dadurch den Unterofficier hinter sich herzieht, der seinen andern Gefangenen unter der Aufsicht seiner Frau und der unweit postirten Schildwache ganz in Sicherheit weiß. Aber der Reichs-Canarienvogel späht ängstlich in die Ferne, um das erwartete Zeichen zu erblicken; – ich sehe ihn noch heute, wie er dastand an der Mauer des Vorsprungs, in seiner hohen Gestalt sich deutlich vom hellen Horizonte abzeichnend, in flatterndem Schlafrocke (denn kein Zeichen durfte auf irgend eine besondere Absicht schließen lassen) und den Ausgucker vor dem Auge, die Gegend überblickend, ob das erwartete Signal sich zeige. – Jetzt erblickt er unten im Thale etwas Weißes – das Zeichen! Er sieht nicht um sich; in hastiger Flucht eilt er die Stufen zum Gärtchen hinunter, durch den gewölbten Gang des Vorsprunges und hinauf auf die Plattform. – Welche Enttäuschung! keine reitende Leiter streckt ihm ihre Arme entgegen, und weit und breit erblickt er kein helfendes Wesen; sein kurzes Gesicht hat ihm einen Streich gespielt und ihn vielleicht eine fliegende weiße Taube für das ersehnte Zeichen ansehen lassen. Er eilt jetzt eben so schnell wieder zurück, ehe er noch vermißt wird, aber wie er die Treppe zum Wall emporsteigt, kommt ihm auch schon der Wachposten entgegen, mit der scharfen Frage, was er da unten im Gärtchen zu schaffen habe? Der heftige Wind erleichtert ihm eine Ausrede: „sein Hut ist hinunter geweht worden, und er hat ihn so eben wieder heraufgeholt.“ Die Wache läßt den Grund gelten, aber die Sache scheint ihr doch nicht ganz geheuer, denn sie bedeutet den Gefangenen, sich nicht mehr vom Walle zu entfernen, und ermahnt den begleitenden Unterofficier, ein wachsameres Auge auf seinen Gefangenen zu haben.
Aber Freund Rau hat das Ohr des Begleiters in Anspruch genommen, er lauscht begierig dessen Mittheilungen, der heute zugleich einen unwiderstehlichen Hang hat, die ganze Länge des zum Spaziergang angewiesenen Raumes immer wieder zu durchschreiten, und der Reichs-Canarienvogel kann mit seinem Weibchen schwatzen oder nach den vier Weltgegenden ausschauen – Rau und der Unterofficier sind bereits wieder dort oben bei dem Belvedere, und die Schildwache hat wieder ihren einförmigen Gang vor ihrem Schilderhause hin und zurück begonnen. – Da – jetzt flattert wirklich das Signal! Der Obermann geht gemüthlich mit Rau den Wall hinauf, die Schildwache wendet gerade den Rücken – keine Secunde darf gezögert werden. Windschnell eilt Rößler in das Gärtchen hinunter, durch den gewölbten Gang auf die Plattform – o Glück! – die Leiter wird so eben an der Mauer angelehnt, und er kann sie mit den Füßen erreichen, während sie unten von vier kräftigen Armen gehalten wird. Ohne Zögern besteigt er die Sprossen, und rasch die Leiter abwärts – halt, sein Schlafrock ist zwischen der Mauer und einem Leiterarm eingezwängt, und er muß wieder hinauf, um ihn zu befreien! Jetzt ist es geschehen, er erreicht den Boden, die Leiter wird umgeworfen, damit sie den Nachsetzenden nicht zum Niedersteigen dienen kann, und nun geht es eilenden Laufes am Fuße der Mauer entlang, um vom Walle aus [778] nicht gesehen zu werden, der südöstlichen Ecke des Grabens zu, wo eine zweite Leiter bereit ist, sie aus dem Graben heraus in’s Freie zu bringen. Ein runder ausspringender Thurm und ein daneben stehendes Wohnhäuschen verwehren die Aussicht auf diesen Theil des Grabens, und ein Fluchtversuch am hellen Tage ist wirklich nur auf diesem Wege ausführbar. Auch begünstigt das Glück diesen Versuch – schon ist die äußere Wand des Grabens erstiegen, und sie eilen durch die Weinberge hinunter, um zu dem wartenden Wagen zu gelangen. Aber bereits ist auch die Flucht entdeckt! Die Patrouille, welche jede Stunde den Wall begeht, erblickt nur einen der beiden Gefangenen, und vergebens späht der Blick nach dem Andern. Da er nirgends zu sehen ist, dämmert ein Gefühl der Wahrheit auf, man eilt durch das noch offene Gartenpförtchen hinunter auf die Plattform und sieht über die Mauer in den äußern Graben. Jetzt ist Alles klar, dort unten liegt die Leiter, und der Reichs-Canarienvogel ist ausgeflogen!
Im Dauerlaufe eilt die Patrouille über den Hof hinüber der Hauptwache zu, um Lärm zu machen und die Soldaten der Garnison zur Verfolgung des Flüchtlings aufzubieten, der unmöglich weit entfernt sein kann, ja wohl noch im äußern Festungsgraben verborgen steckt. Plötzlich füllt sich der Wall mit Bewaffneten, die unglückliche Schildwache und der begleitende Obermann werden verhaftet, und einige Dutzend Unterofficiere und Soldaten eilen durch das Thor, um dem Flüchtling den Weg aus dem Graben von außen abzuschneiden. Wie der Wind sind sie da, sie umkreisen den Festungsgraben als eifrige Jäger und werfen in jeden Winkel ihre spähenden Blicke, um den Vogel zu entdecken. Vergebens ist ihre Mühe – unten im Graben liegen die beiden Leitern, still zufrieden mit ihrer erfüllten Pflicht, aber ein lebendes Wesen ist nirgends zu erblicken. Da wendet zufällig einer der Späher seine Augen nach der Außenwelt und läßt sie in’s Thal hinab schweifen. O weh! Dort unten auf den Wiesen, jede Verfolgung weit hinter sich lassend, eilt der fliehende Reichs-Canarienvogel, von seinen beiden Helfern gefolgt, dem harrenden Wagen zu – er erreicht ihn, sie helfen ihm hinein, und fort in sausendem Galopp geht es auf der Chaussee nach Eglosheim, über Ludwigsburg nach Waiblingen, wo frische Pferde vorgelegt werden; jetzt das Remsthal hinaus nach Schorndorf, und hier erst gönnt sich der Flüchtling so viele Rast, um seinen kennzeichnenden rothen Bart abnehmen zu lassen; dann weiter über Gmünd, Aalen, nach Nördlingen, von da über Augsburg nach Lindau, und in einem Fischernachen hinüber zum sichern Ufer der Schweiz, wo der so lang Gefährdete zum ersten Mal frei aufathmen und seiner vollständigen Sicherheit sich erfreuen durfte.
Und wie sah es indessen auf der Festung Hohenasperg aus? Der Schlag war so unerwartet gekommen und so keck ausgeführt worden, daß man sich von der Ueberraschung nicht so schnell erholen konnte. Alles, was nicht hinter Schloß und Riegel schmachtete, stand auf dem Walle und starrte lautlos in die Ferne, indeß hin und wieder Einer dem Andern leise seine Bemerkungen zuflüsterte. Das corpus delicti, die beiden unschuldigen Leitern, wurde in Gewahrsam genommen, und Rößler’s Frau strenge verhört. Es war sogar davon die Rede, dieselbe wegen ihrer unzweifelhaften Mithülfe hier oben zu behalten, aber die Frau hat ein säugendes Kind in Ludwigsburg, und man entläßt sie Nachmittags 4 Uhr, denn gegen eine Frau, die ihren Gatten befreit, kann und will man wohl nicht strafend einschreiten. Ihres Bleibens ist auch nicht lange mehr im Lande Würtemberg; sobald sie Nachricht von der glücklichen Ankunft ihres Mannes auf freiem Boden hat, eilt sie zu ihm; an den Ufern des Rheins treffen die so hart geprüften Gatten zusammen und eilen mit einander der neuen Welt zu. – Ihr wahrer Befreier und Postillon, der wackere Dr.l) R., wurde später ebenfalls verhaftet, entkam jedoch auf dem Transport von der verhaftenden zu der zuständigen Behörde seinem Civilconducteur auf so ergötzliche Weise, daß das ganze Land vier Wochen lang zu lachen hatte.
Der gute Reichs-Canarienvogel hat seinen Pilgerlauf schon lange vollendet, nur wenige Jahre durfte er sich seiner wieder errungenen Freiheit freuen. Ihm war es nicht vergönnt, den Anfang der erneuerten Bewegung für die Einheit und das Glück Deutschlands zu erleben, aber sein Geist wird unter uns weilen, und die Erinnerung an seine treue Liebe zum Vaterlande wird uns anspornen, unser Ziel fest zu verfolgen und durch Nichts uns abhalten zu lassen von dem betretenen Wege, der, wenn auch langsamer, doch desto gewisser zum Siege führt.