Textdaten
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Autor: Johannes Scherr
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Titel: Ein Schweizer Staatsmann
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 778–781
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Schweizer Staatsmann.

Von Johannes Scherr.

Donnerstags, den 25. Juli vor. J., um die achte Morgenstunde, hat im „Hof Ragaz“ an der rauschend dem Rheine zuschießenden Tamina, ein leidender Mann seinen letzten Athem verhaucht. Im Verlaufe des Vormittags trug der Telegraph die Todespost über die Berge und durch die Thäler der Schweiz. Am Nachmittag und Abend des Tages ist überall im Umfange der Eidgenossenschaft die herzliche Klage laut geworden: „Jonas Furrer ist todt!“ Selten mag ein Mensch so allgemein und aufrichtig betrauert worden sein. In das „Leicht sei ihm die Erde!“ welches diesem Todten nachgerufen ward, hat sich nicht ein Mißton gemischt. Beim Fahnenschwenkern über diesem Grabe haben auch die politischen Gegner nicht gefehlt; denn Niemand mochte, wollte, konnte dem Gefühle sich entziehen, daß in Furrer nicht nur der geachtetste und populärste Staatsmann der Schweiz hingegangen, sondern auch ein seltener, guter, treuer, wahrhaft humaner Mensch, brav bis ins Mark.

Wenn ich im Nachstehenden ein Lebens- und Charakterbild des Verewigten zu geben versuche, muß ich mich gegen die etwaige Unterstellung verwahren, mehr als eine flüchtige Skizze liefern zu wollen. Sie nimmt nur das eine Verdienst in Anspruch, auf Materialien zu beruhen, deren Zuverlässigkeit ich verbürgen kann und hier um so mehr betone, als in Betreff der Persönlichkeit Furrer’s manches Irrthümliche in der schweizerischen Presse laut geworden und in die deutsche übergegangen ist.

Jonas Furrer wurde am 3. März 1805 zu Winterthur im Canton Zürich geboren, der Sohn eines wackern Schlossermeisters, der zwar nur für sein Handwerk gebildet, aber voll gesunden Menschenverstandes und dabei durch seinen Fleiß in den Stand gesetzt war, seinen talentvollen Sohn tüchtig „schulen“ zu lassen. Eine Gunst des Geschickes, welche ungewöhnlichen Menschen selten abgeht, ward auch Furrer zu Theil: eine vortreffliche Mutter. Nur eine schlichte Bürgersfrau, aber doch eine Mutter von der Gattung jener, deren eine z. B. die Kindheit Schiller’s behütet und geleitet hat. In den mir freundlich zugestellten Aufzeichnungen eines vertrauten Jugendfreundes Furrer’s heißt es: „Den weitaus größten, ja wohl ausschließlichen Einfluß aus die Bildung des Gemüths und Charakters des Knaben hatte unstreitig seine Mutter, eine sehr bescheidene, einfache, jedoch sehr verständige, dabei äußerst gutmüthige Frau, die ihre ungeteilte mütterliche Liebe und Aufmerksamkeit der Erziehung ihres Lieblings widmete. Ihrem milden, wohlthuenden Einflüsse dankte Furrer ganz gewiß einerseits alle die edlen, liebenswürdigen Eigenschaften seines Charakters, durch die seine geistigen Vorzüge erst die wahre Weihe erhielten, so wie andererseits seinen vorherrschenden Sinn für trauliches Familienleben und häusliches Glück …“ Und wie für die Entwicklung Furrer’s als Menschen die Verhältnisse des Vaterhauses günstig lagen, so nicht weniger günstig die Verhältnisse der Vaterstadt für seine Entwicklung als Bürger. Wie ein wohlgeordnetes Elternhaus im Menschen die privatlichen Anlagen und Tugenden weckt und bildet, so ein wohlgeordnetes Heimathgemeinwesen die bürgerlichen. Ich stehe daher nicht an, den festen Ordnungssinn, die rastlose, aber stets maßvolle Thätigkeit, eine gewisse Bonhomie, Sauberkeit und Reinlichkeit, lauter Eigenschaften, die Furrer’s öffentlichem Charakter zukommen, auf den Umstand zurückzuführen, daß er in Winterthur aufgewachsen ist, – einer Stadtgemeinde, die hinlänglich charakterisirt wird durch die Thatsache, daß sie bei einer Anzahl von 7000 Einwohnern jährlich von Gemeindewegen an 100,000 Franken auf ihre Unterrichtsanstalten verwendet. Daneben ist die kleine Stadt der Sitz einer industriellen und commerciellen Thätigkeit, deren [779] directe Beziehungen nach allen Ecken und Enden der Welt reichen. Das sind so Resultate von politischen Zuständen, welche von deutschen Hofräthen und französischen Lakaien „anarchische“ genannt werden.

In den Gymnasialclassen der vaterstädtischen Bürgerschule legte Furrer den soliden Grund seiner wissenschaftlichen Bildung. Seine ungemeine und vielseitige Begabung offenbarte sich frühzeitig. In seinen Studentenjahren hat er studentische Bräuche fröhlich mitgemacht, als junger Advocat manche Nacht durchgetanzt, aber freilich den Morgen im Gerichtssaal so trefflich plaidirt, daß man ihm nicht anmerkte, er sei aus dem Ballsaal in die Schranken getreten. Er gab sich, wie er war, und, fürwahr, er durfte sich so geben; denn er gehörte, wenn der Ausdruck gestattet ist, zu den Menschen, deren Seele stets reine Wäsche trägt. Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, das Glück hatte, Furrer in seinen besten Jahren im Oberstübchen der „Häselei“ in Zürich oder in Ferientagen im „Staadhof“ zu Baden im engeren Freundeskreise zu sehen, der wird nie der zwanglosen Anmuth seiner Haltung und Rede, seines geistvollen Humors, seines beflügelten und schlagfertigen, aber stets gutmüthigen Witzes, seines herzlichen Lachens vergessen, um so weniger, da dies Alles mit einem natürlichen Takte vereint war, der das Gemeine fernhielt. Er war einer der liebenswürdigsten Menschen, denen ich auf meiner Lebensbahn begegnet bin, und Jeder, der ihm näher trat, wird dasselbe sagen. Der schweizerische Republikanismus, im besten Sinne des Wortes, dürfte kaum jemals durch eine anziehendere Persönlichkeit repräsentirt worden sein, als die Furrer’s gewesen ist.

Nachdem er sich entschieden, die Laufbahn eines Juristen zu betreten, begann er zu Ende des Jahres 1821 seine akademischen Studien am damaligen sogenannten „politischen Institut“ in Zürich. Hier erweiterte er auch seine sprachlichen und literarischen Kenntnisse unter der Leitung von Johann Kaspar Orelli, der herrlichsten Seele, welche jemals im Körper eines Philologen gewohnt hat. Sein Leben lang bewahrte Furrer eine innige Vorliebe für die classische Literatur. Horaz blieb sein Liebling, zu dem er immer wieder zurückkehrte. Und nicht umsonst: es war in Furrer’s ganzer Art, das Leben zu nehmen und zu führen, ein Hauch horazischer Philosophie. Daher war er himmelweit entfernt von jener ordinären Großmannssucht, welcher man heutzutage auf Schritt und Tritt begegnet, von jener kindischen Eitelkeit, welche stets ein paar gute Freunde und willige Fartcatchers parat hält, zu ihrem Preise die Zeitungspauke zu rühren. Wie allen wahrhaft tüchtigen Menschen, war auch Furrer das Bewußtsein eigen, daß man nie auslerne. Den lebhaften Bildungstrieb, der ihn als Jüngling beseelte, hat er auch als Mann bethätigt, indem er unter all der Last seiner Geschäfte fortfuhr, den Schatz seiner vielseitigen Kenntnisse zu mehren. So gewann z. B. der mächtige Aufschwung der Naturwissenschaften in unsern Tagen seine volle Theilnahme: noch als Mitglied der obersten Behörde der Eidgenossenschaft hat er in Bern naturwissenschaftliche Vorlesungen fleißig gehört.

Zu Ostern 1824 ging Furrer nach Deutschland, um an dortigen Hochschulen seine Studien zu vollenden. Drei Semester brachte er in Heidelberg zu, zwei weitere in Göttingen. Im Herbst 1826 reiste er über Berlin in seine Heimath zurück, wo er zunächst noch für einige Zeit nach der welschen Schweiz ging, sein Französisch zu vervollkommen. Dann ließ er sich in seiner Vaterstadt als Rechtsanwalt nieder und errang sich als solcher rasch Vertrauen und Ruf. Neben seinem Eifer und seiner Beredsamkeit gewann dem jungen Anwalt auch der Umstand die öffentliche Achtung, daß er durchaus objectiv verfuhr, sich an die Sachen hielt und ohne die alleräußerste Nothwendigkeit die Persönlichkeit der Gegner nicht angriff, – eine Eigenheit, die er aus der advocatischen Laufbahn in die staatsmännische hinübergenommen hat. Zu jener Zeit hat er auch seinen Hausstand gegründet, der ein sehr glücklicher geworden ist.

Die Betheiligung am Selfgovernment der Gemeinde ist in der Schweiz die treffliche Vorschule für die Betheiligung an Staatsgeschäften. Der angehende Politiker lernt, indem er sich zuvörderst mit Gemeindesachen befaßt, die Dinge ansehen, wie sie sind. Statt ein idealistischer Wolkenwandler zu werden, wird er ein praktischer Realist, der die „Thatsachen“ sehr respectirt, nicht selten vielleicht allzu sehr, und sich gewöhnt und bescheidet, das Nächstliegende, Mögliche, Erreichbare anzustreben. Diese Anschauungs- und Handlungsweise überträgt der schweizerische Politiker von den Geschäften der Gemeinde auch auf die des Staats, und daher das durchaus praktische Sichbescheiden schweizerischer Staatsmänner, die Interessen ihres Landes zu fördern und die „Weltverbesserung“, die „hohe Politik“ andern Leuten zu überlassen, etwa uns Deutschen, welche ja stets bereit sind, draußen aller Welt politischen Idealismus vorzudociren, während wir daheim Hassenpflug’sche und ähnliche Wirklichkeit treugehorsamst uns gefallen lassen. Man wirft den Staatsmännern der Schweiz vor, ihr Horizont sei ein enger. Nun ja, er mag nicht über die Grenzen der Eidgenossenschaft hinausreichen; aber innerhalb dieser Grenzen haben sie es verstanden, ihr Land zum blühendsten und glücklichsten Europas zu machen.

Der im Vorstehenden angedeutete politische Bildungsgang war auch der Furrer’s. Mit dem Jahr 1831 begann er in der Behandlung der Gemeindeangelegenheiten seiner Vaterstadt sich bemerkbar zu machen. Es handelte sich um eine durchgreifende Umgestaltung der Stadtverfassung, und da ist es Furrer gewesen, welcher die Grundsätze und Forderungen der neuen Zeit siegreich zur Geltung brachte. Die neue, im liberalen Geist entworfene Verfassung seiner Heimathgemeinde war vorzugsweise das Werk Furrer’s, dessen Name von da an in weiteren Kreisen guten Klang bekam. Er übersiedelte nach Zürich, wo seine Praxis als „Fürsprech“ rasch eine sehr glänzende, aber auch höchst beschwerliche wurde und wo er als ein Ebenbürtiger und sehr Willkommener in den Kreis der Männer eintrat, welche damals das ruhmvolle Werk der Regeneration des Cantons Zürich vollbrachten und in Verbindung mit ihren Gesinnungs- und Parteigenossen in den übrigen Cantonen das Werk der Regeneration der Eidgenossenschaft vorbereiteten. Es war eine hoffnungsreiche, schöpfungsfreudige, thatkräftige Zeit, welche, wenngleich nicht „alle Blüthenträume reiften“, für die Schweiz unendlich fruchtbar geworden ist. Furrer hatte an diesem Reformwerke seinen redlichen Antheil. Im Jahre 1834 in den Großen Rath (die gesetzgebende Behörde) und drei Jahre später in den Erziehungsrath gewählt, hat er in beiden Behörden viel und erfolgreich gearbeitet. Die Spuren seiner Thätigkeit kann der Kundige in den gesetzgeberischen Acten jener Zeit leicht verfolgen.

Die „Straußiade“ von 1839 stürzte bekanntlich das liberale Regiment in Zürich und brachte für etliche Jahre die Reactionäre an’s Ruder. Furrer hatte als Mitglied des Erziehungsrathes mit für die Berufung des berühmten Kritikers gestimmt. Die Katastrophe traf ihn auf dem Präsidentenstuhl des Großen Raths, von wo er bei Nacht und Nebel entweichen mußte, um im benachbarten Aargau ein zeitweiliges Asyl zu suchen … Die Achtung vor dem frischen Grab eines edlen Todten verbietet mir, Angesichts desselben den Schmutz dieser „hehren Bewegung“ von Neuem aufzuwühlen. Genug, im September von 1839 wurde in Zürich die „Religion gerettet“, gerade so, wie, nur in größerem Style, im December 1851 in Paris die „Gesellschaft gerettet“ ward. Man kennt das … Die gewaltsame Unterbrechung des naturgemäßen Entwicklungsganges der Dinge hielt indessen nicht lange vor. Selbst die zu Hülfe gerufene „Weltwissenschaft“ eines publicistischen Cagliostro oder vielmehr „Schröpfer“ konnte das Fiasco der „hehren Bewegung“ nicht verhindern. Schon die Maiwahlen von 1842 führten Furrer in den großen Rath von Zürich zurück, wo er jetzt als anerkannter Führer der liberalen Partei die Opposition gegen die Septemberregierung leitete. Zwei Jahre später nahm er wieder den Präsidentenstuhl ein; die Reaction war beseitigt.

Von da an gewann Furrer’s politische Thätigkeit und Stellung mit jedem Tage größere Dimensionen; der cantonale Parteiführer erhob sich zur Bedeutung eines eidgenössischen Staatsmanns. Die große schweizerische Krisis, deren Eintreten der Aargauer Klosterhandel bezeichnete, hob an. Der Kampf zwischen Altem und Neuem, zwischen Stabilität und Fortschritt, zwischen Verrottung und Wiedergeburt, welcher in den dreißiger Jahren innerhalb der einzelnen Cantone gefochten worden, war jetzt auf eidgenössischen Boden verlegt. Der Siegespreis, welchen die Liberalen im Auge hatten, war eine zeitgemäße Umgestaltung der Bundesverfassung. Zur Erstrebung oder Abwehr dieses Ziels hatten sich in der Schweiz zwei große Parteien organisirt: hier die liberale, wohl auch die radicale genannt, dort die ultramontane, mit anderen Worten: eine Rückschritts- und eine Fortschrittspartei. In die Wagschale der letztern legte der Canton Zürich das ganze Gewicht seines Ansehens und Einflusses und zwar von dem 26. Januar 1845 an, wo Furrer der denkwürdigen großen Volksversammlung in Unterstraß vorsaß. Seine bei dieser Gelegenheit gehaltene Rede und die [780] darauf basirten Resolutionen der Versammlung zeigten die Richtung, wie die Eidgenossenschaft auf friedlichem und gesetzlichem Wege aus der über sie hereingebrochenen Krisis herauskommen und aus einem Staatenbunde ein Bundesstaat werden könnte. Es sollte freilich anders kommen; denn so, wie die Menschen einmal sind, ist es nur ein gutmüthiger Traum, zu glauben, daß große und wohlthätige Umgestaltungen auf friedlich gesetzlichem Wege sich bewerkstelligen ließen. Wir Deutsche werden das eines Tages erfahren, wie die Schweizer es erfahren haben. Jonas Furrer war aber durch und durch eine gesetzmäßige Natur, ganz und gar ein Mann des Rechts. Er lebte der Ueberzeugung, daß die Rechtsidee mächtig genug sei, ohne Anwendung von Gewaltmitteln durchzuschlagen und zu siegen, und es hat ihn, wir wissen es, heftigste Seelenkämpfe, schmerzlichste Selbstüberwindung gekostet, um sich zu der Ansicht zu bekehren, daß das Dumme, Unnütze, Abgelebte keineswegs Vernunftgründen und Rechtsworten weiche, sondern nur handgreiflicheren Motiven.

Jonas Furrer.

Er hatte ausreichende Gelegenheit, dies zu erkennen, als er, im April 1845, zum Bürgermeister des Cantons Zürich gewählt, der damals bestehenden Bundesverfassung gemäß zugleich – Zürich war eidgenössischer „Vorort“ – das Präsidium der Tagessatzung übernehmen mußte. Dies war die herbe Lehrzeit des künftigen Bundespräsidenten der regenerirten Eidgenossenschaft, und fürwahr, er hat sie mit Ehren bestanden. Wenn das Staatsschiff der Schweiz, schwankend auf heftigster Parteikämpfe Sturmfluth, deren Wogen die Herren Metternich und Guizot „im conservativen Interesse“ noch mehr zu erregen brüderlichst wetteiferten, in jenen Tagen glücklich durch die zahllosen Riffe und Sandbänke auf seiner Bahn sich durchwand, so verdankte man das vorzugsweise dem Umstand, daß ein so bedächtiger, maßhaltender Mann wie Furrer am Steuer stand. Die Verhältnisse drängten einer Entscheidung zu … Sie herbeizuführen hat Furrer im Jahr 1847 in seiner Eigenschaft als Züricher Tagsatzungsgesandter in erster Reihe mitgewirkt. Nach Besiegung des Sonderbunds war sodann Furrer eines der thätigsten und einflußreichsten Mitglieder der Commission, welcher die Ausarbeitung der neuen Bundesverfassung übertragen wurde, und diese Verfassung, unbedingt die gelungenste des Jahrhunderts, klar, handlich, praktisch, gerecht und billig, dabei eine höchst glückliche Vermittlung von Föderation und Centralisation, muß zu einem guten Theile als eine Schöpfung Furrer’s anerkannt werden, der außerdem nachmals als der eigentliche wissenschaftliche Träger und Entwickler des neuen schweizerischen Staatsrechts eine sehr bedeutende Wirksamkeit entfaltete.

Als im September 1848 – im großen Glücksjahr der Schweiz – die neue Bundesverfassung feierlich verkündigt ward, verstand es sich so zu sagen von selbst, daß Furrer in das eidgenössische Ministerium (Bundesrath) gewählt wurde. Noch mehr, die Bundesversammlung (Nationalrath und Ständerath) gab nur dem Willen der ungeheuren Mehrzahl des Schweizervolks Ausdruck, als sie den Jonas Furrer zum ersten Bundespräsidenten der wiedergeborenen Eidgenossenschaft bestellte. Es liegt auf der Hand, daß von der Persönlichkeit des ersten Magistrats des neuen Schweizerbundes unberechenbar viel abhing. Es galt, der Neugestaltung der Eidgenossenschaft im Innern Bestand, nach außen Achtung zu schaffen. Ein so klar denkender und zugleich so gewissenhafter Mann, wie Furrer war, konnte sich die Größe und Schwierigkeit der Aufgabe nicht verhehlen, und es ist daher kein kokettes Komödienspiel mit sich selbst und Andern gewesen, sondern die ernste Selbstprüfung eines durch und durch redlichen Mannes und Patrioten, wenn Furrer, als er zum ersten Bundespräsidenten gewählt war, die Länge einer Nacht hindurch ruhelos in seinem Zimmer auf- und abschritt, bis er in der Reinheit seines Bewußtseins und in der Innigkeit seiner Vaterlandsliebe den Muth und den Entschluß fand, der großen Aufgabe sich zu unterziehen. Daß er dabei auch persönliche und pecuniäre Opfer zu bringen hatte – er ging höchst ungern von Zürich weg und er war der gesuchteste Advocat der Schweiz – konnte bei einem Manne von Furrer’s Schlag kaum in Betracht kommen. Wie sehr er dann die ihm gewordene Aufgabe im Sinne und zur Zufriedenheit seiner Landsleute gelöst, hierfür giebt einen unwidersprechlichen Beweis, daß er nach Ablauf seiner ersten Amtsdauer zu wiederholten Malen zur Bundespräsidentschaft berufen wurde. Sein Hauptverdienst in dieser Stellung war, wenn ich recht erwäge, ein doppeltes. Er hat nach innen unendlich viel für die Versöhnung der Parteien und damit für die Befestigung des neuen Bundes gethan, und ebenso hat er den auswärtigen Mächten gegenüber zur Geltendmachung und Anerkennung der Neugestaltung der Eidgenossenschaft ganz wesentlich mitgewirkt.

Man darf, falls man Furrer gerecht werden will, seine politische Anschauungs- und Handlungsweise schlechterdings nicht aus dem Gesichtspunkt kosmopolitischer Träumerei oder gar der Erbitterung und Verbitterung eines Flüchtlings ansehen. Man muß seine Politik vielmehr vom schweizerischen Standpunkt aus betrachten und beurtheilen. Für weltbürgerliche Revolutionsmacherei, Völkersolidarität und dergleichen Phantasmen mehr hatte er gar kein Organ. Er kannte die Menschen und war ein praktischer Schweizer. Unbedingt hielt er fest an dem Recht der Schweiz, ihren Haushalt nach Gutdünken zu bestellen; nicht weniger aber auch an der Verpflichtung [781] der Schweiz, sich jeder Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten zu enthalten. Der „unentwegliche“ Fundamentalsatz von Furrer’s Politik mußte demzufolge die Neutralität sein, ein Fundamentalsatz, dessen Richtigkeit nur Solche anzweifeln können, welche die Schweiz und die Schweizer nicht kennen.

Wie in seinem Denken, Reden und Handeln, so ist Furrer auch in seiner Lebensführung ein Republikaner jeder Zoll gewesen. Nichts Gemachtes an ihm, keine Spur von Affectation oder Prätension. Der Bundespräsident Furrer war noch immer der schlichte Dr. Furrer von ehemals. Selten wohl hat ein Mensch Popularität, Erfolg und Ruhm mit solcher Gelassenheit hingenommen wie der Verewigte. Es war etwas Washington’sches in ihm. Der Bundespräsident führte den einfachen Haushalt fort, welchen der Advocat geführt hatte, und es mochte ihm, falls er überhaupt Notiz davon nahm, wunderlich vorkommen, wenn die Damen des Berner Patriciats sich darüber wunderten, daß die Frau des Staatsoberhaupts der Eidgenossenschaft ihren Hausgeschäften nachging, wie andere bürgerliche Hausfrauen auch. In unseren Tagen, wo so Vieles auf den bloßen Schein, auf die jämmerlichste Großthuerei und Eitelkeit angelegt ist, da ist es wahrlich eine doppelte Freude, das Bild der stillumfriedeten, prunklosen Häuslichkeit eines solchen ersten Bürgers einer Republik sich zu vergegenwärtigen. Da ist kein Tand und Flitter, sondern Wesenheit und Wahrheit … Und glaube man nur nicht, daß der schlichte, urbane, milde Furrer bei Gelegenheit seine und seines Landes Würde nicht zu wahren gewußt habe. Ich bin im Falle einen einschlägigen Zug beizubringen, der meines Wissens noch nicht bekannt geworden. Im Jahre 1856, zur Zeit, als die Neuenburger Frage in ihre bedrohlichste Phase getreten war, ging Furrer in diplomatischer Mission an die süddeutschen Höfe. Er wurde überall und von Jedermann mit der ihm gebührenden Achtung aufgenommen, einen Ort und eine Person ausgenommen, einen Minister, der seither die Treppe hinaufgeworfen, d. h. von seiner Ministerpräsidentschaft in’s Taxis’sche Palais in der Eschenheimer Gasse befördert worden ist. Dieser Herr läßt sich beikommen, dem schweizerischen Staatsmann gegenüber großartige Airs anzunehmen, ja denselben, wahrscheinlich aus alter Gewohnheit, förmlich zu schulmeistern und im reinsten Kreuzzeitungsstyl über die Schweiz zu raisonniren. Da hat aber der Jonas Furrer solcher Tölpelhaftigkeit nach Gebühr heimgeleuchtet, hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen und die Excellenz mit einem Compliment verlassen, welches die Excellenz wohlweislich für sich behielt.

Es war ein tiefergreifender Anblick, einen solchen Mann auf der Höhe seiner Bahn von einem unerbittlichen Uebel, der Bright’schen Nierenkrankheit, ergriffen und vergeblich dagegen ankämpfen zu sehen. Mehrmals hatte ihm die Pfäferser Therme Linderung und Erfrischung verschafft. Als er, schon sehr leidend, auch voriges Jahr zu ihrem Gebrauche nach Ragaz sich begab, fand er daselbst am Fuße des Tabor Genesung von allen Lasten und Leiden des Lebens. Am 28. Juli empfing der Friedhof seiner Vaterstadt die Hülle ihres berühmtesten Sohns. Es war ein Tag der Trauer für die gesammte Eidgenossenschaft. Am folgenden Tage beschloß die Bürgerversammlung von Winterthur, von Gemeindewegen dem Verewigten ein Denkmal zu errichten.

Es hieße dem Andenken Furrer’s einen schlechten Dienst erweisen, es hieße seinen schlichten Bürgersinn noch im Grabe beleidigen, wollte man übertreibendes Lob auf seinen Namen häufen. Man braucht, scheint mir, nicht mehr aus ihm zu machen, als er war: er war genug. Nicht ein Alles überragender, Alles mit sich fortreißender, die Zeit mit seinem Gepräge stempelnder, leidenschaftliche Bewunderung und leidenschaftlichen Haß weckender, nein, nicht ein solcher Geist ist Jonas Furrer gewesen. Man kann ihm keine Genialität zutheilen. Aber er war ein seltenes Talent und, was mehr, ein so zu sagen providentielles Talent, d. h. ein solches, wie sein Vaterland es gerade brauchte. Jede Fiber in ihm war schweizerisch. Er ist der verkörperte Ausdruck des schweizerischen Liberalismus in dessen bestem Wollen und höchsten Zielen gewesen. Ein Mann der Ordnung, ein Schildhalter des Rechts, ich wiederhole es. Allem Plötzlichen, Unberechenbaren, allem gewagten Experimentiren abhold. Kein bahnbrechender Stürmer, aber ein Ordner, Organisirer, Ausbildner. Im Innern entschieden vorwärts auf der Bahn eines verständigen Demokratismus, aber nach außen vorsichtig, behutsam und neutral, neutral immer und immer! denn wir sind nun einmal keine Großmacht, und die Rolle des Frosches spielen, der sich zum Ochsen aufblasen möchte, dazu sind wir viel zu praktisch. So war Furrer’s Politik, und das Schweizervolk wußte, daß sich des Mannes Politik auf’s Innigste mit seinem Charakter, mit seinem Gewissen verschmolz. Daher Furrer’s außerordentliche und dauernde Popularität, auf welche gestützt er so Gutes, so Großes zu leisten vermochte. Sein Verhalten im Einzelnen und Ganzen bietet der Kritik Raum, keine Frage. Aber gewiß ist dies: auf einem reinsten und schönsten Blatt der Geschichte unsers Jahrhunderts steht unvergänglich der Name von Jonas Furrer.