Adele Spitzeder (Die Gartenlaube 1872/49)

Textdaten
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Autor: M. Sch.
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Titel: Adele Spitzeder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 804, 806–808
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[804]
Adele Spitzeder.


Im Jahre 1824 machte eine junge, aus Norddeutschland gebürtige, aber in Wien herangebildete Sängerin, Betty Vio, daselbst großes Aufsehen. Ausgezeichnet in Soubrettenrollen wurde sie, was Kehlfertigkeit und Geschmack im Vortrage betrifft, von angesehenen Kritikern mit der Sontag verglichen, der sie auch an Gestalt ähnlich war. Eine triumphreiche Kunstreise führte sie einige Zeit später nach Berlin, wo Joseph Spitzeder, der vorzüglichste Baßbuffo Deutschlands, an der Königsstädter Bühne wirkte. Die Spieloper ist bekanntlich nicht die stärkste Seite der deutschen Gesangskünstler; Spitzeder aber und Fräulein Vio, die nun für die Königsstadt gewonnen wurde, bildeten ein Darstellerpaar, wie es diesseits des Rheins in der komischen Oper kaum mehr getroffen wurde. Wie gebührend vermählten sie sich auch mit einander und siedelten schon im Jahre 1829 nach München über, wo sie der Hofbühne zu einer Zeit angehörten, die als Glanzepoche dieser Kunstanstalt bezeichnet wird. Spitzeder starb leider sehr bald, aber seine Wittwe, die sich später wieder verheirathete, wirkte lange neben den berühmten Sängerinnen Vespermann und Schechner fort und lebt noch in München. Aus der Ehe mit Spitzeder entsproß Adele, geboren 1832.

Neben den musikalischen Talenten gilt die darstellende Kunst als diejenige, die sich am öftesten vererbt. Wir treffen seit dem [806] vorigen Jahrhundert förmliche Schauspieler- und Sängergeschlechter. Die Dynastien der Le Brun, Moralt, Kramer, Schröder, Devrient blühten bis in unsere Tage hinein. Welche Gottheit auch diesen Segen zu spenden hat, dem Stamme Spitzeder ist er nicht zu Theil geworden. Adele sollte sich allerdings der Bühne widmen, aber Dingelstedt, durch den ungünstigen Eindruck ihrer äußeren Erscheinung abgeschreckt, verweigerte ihr seine Arena. Erst unter der folgenden Intendantur, im Jahre 1860, gelang es der Kunstnovizin, als „Deborah“ einen theatralischen Versuch durchzusetzen, der aber gänzlich mißlang. Sie ist zwar von stattlichem Wuchs, aber die geschlitzten Augen, deren blaßblaue, fast farblose Pupillen nur stechende Blicke versenden, sowie auch ein unverhältnißmäßig vorstehendes und nicht einmal dem Colorit nach bescheidenes Riechorgan hinderten sie an jeder wirksamen, zum Herzen sprechenden Mimik. Ueberhaupt zeigt die ganze Physiognomie, namentlich jetzt in ihren vorgerückten Jahren, eine Energie, daß man das Fräulein, zumal mit ihrem kurzgeschnittenen, kühn toupirten Haupthaar, für einen verkleideten Mann halten könnte, wenn nicht die dünne Stimme wieder an das Weibliche erinnerte. Die Volkssage ergeht sich denn auch in den kühnsten Combinationen, die wir hier unerwähnt lassen.

Ziemlich gepäckfrei und namentlich mit Lorbeeren nicht beschwert, ging sie von München nach Zürich in’s Engagement, wo sie Schulden im Betrage von etwas über zweitausend Franken contrahirte, gewiß eine Kleinigkeit, die man einem jugendlichen Wesen, das sich mit voller Seele der Kunst hingiebt und, ohne es zu wollen, den holden Leichtsinn dieser Berufssphäre eingesogen hat, gerne verzeiht. Vielleicht in der Vorahnung ihres künftigen Sternes verließ sie die Stadt Zwingli’s ohne Gewissensbisse, überzeugt, daß ihren Gläubigern einst Alles doppelt und dreifach werde vergolten werden. Richtig soll auch ein später nach Zürich gekommener Agent sich mit denselben auf eine Zahlung von – fünfzig Procent verständigt haben.

Adele war also wieder zu Hause, in Armuth und Garderobe fast auf ihre Debütrolle Deborah zurückgekommen. Da inserirte sie eines Tages in den Münchener „Neuesten Nachrichten“, die ihr glückbringend und verhängnißvoll werden sollten, daß Jemand ein Darlehn gegen hohe Verzinsung aufzunehmen wünsche. Man nennt allgemein einen Packträger Namens Wagner, der durch eigenthümliche Inspiration sich gedrungen fühlte, der Inserentin baare fünfhundert Gulden zu bringen. Und siehe: dabei blieb es nicht! Wahrscheinlich durch das hohe Zinsenangebot gelockt, erschien ein zweiter und dritter Biedermann und eine vierte und fünfte Helferin, und so soll sich die Bedrängte innerhalb vierzehn Tagen in dem Besitze von zwanzigtausend Gulden befunden haben.

Die Schleußen des Glückes schienen geöffnet; Adelen selbst aber war plötzlich ein Licht aufgegangen über die Kunst, reich zu werden. Mit großer Schlauheit hatte sie gleich die ersten Wechsel, die sie noch mit schüchterner Hand unterschrieb, so „auseinander datirt“, daß sie im Stande war, die hohen Interessen, sowie auch die wenigen Summen, auf deren Heimzahlung bestanden wurde, mit den in wachsender Proportion nachrückenden Einlagen zu decken. Das Wort des Zauberlehrlings war gefunden. Unaufhörlich schleppten die Eimer Geld herbei und wieder Geld, so daß die bescheidene Wohnung beim „Stangl im Thal“, einem uralten Münchener Wirthshause, in welchem viel Landvolk verkehrt, besonders aus der Gegend von Bruck und Dachau – daher der Name „Dachauer Bank“ – verlassen werden mußte. Sie acquirirte das dreistöckige Haus Nr. 9 an der in die classische Ludwigsstraße einmündenden Schönfeldstraße, sowie auch die gegenüberliegende Kneipe zum „Wilhelm Tell“, die restaurirt und, was Küche und Keller betrifft, flott ausgestattet wurde. Eine etwas entferntere Lage, sowie der doppelte Zugang, östlich von der am englischen Garten sich hinziehenden Königinstraße und westlich vom Kriegsministerium, respective der Ludwigsstraße her, waren dem „Geschäft“ nur günstig, da nicht jeder Liebhaber eines hohen Zinsfußes sich gern begaffen läßt. Auch hatten die Droschkenkutscher und Fiaker, deren immer einige entweder vor der „Bank“ oder vor der Kneipe zu sehen waren, eine schöne Losung, wenn auch die meisten Bauern an prügelartigen Stöcken ihre schweren Reisesäcke auf dem Rücken tragend, zu Fuß hinabkeuchten. Das Weibervolk trug seine Capitalien und Zinsen in Körbchen hin und her, und jeder vernünftige Vorübergehende hatte tagtäglich Gelegenheit, an dem vergnügten Lächeln dieser dummen Geschöpfe sein Aergerniß zu nehmen.

Ein stämmiger Portier, wie man sagt mit zwölfhundert Gulden jährlich besoldet, bewachte die Pforten des Wundertempels, nur immer Drei bis Vier auf einmal hineinlassend, während sich die Wartenden einstweilen im „Wilhelm Tell“ vergnügen mußten, aus dessen immer gefüllten Räumen ein tolles Gesumme dem Vorübergehenden an die Ohren schlug. Hatte ja doch Jeder Grund, sich einen guten Tag aufzuthun, sowohl wer die dem eingelegten Capital fast gleichkommenden Monatszinsen erhob, als auch der Neuling, dem von seiner Opfergabe gleich die erste Rate zurückvergütet wurde. Neben den habsüchtigen Betrogenen vereinigte der „Tell“ – schade um die Firma! – auch das Gaunercorps der Zutreiber und Agenten, die hier ihre Rapporte austauschten und die Pläne zu wohlstandsmörderischen Expeditionen auf das flache Land entwarfen. Unermüdlich und offenbar zum Ergötzen dieses Gesindels streifte die Gensd’armerie an der Wirthschaft wie an der Räuberhöhle selbst vorüber, eine lebendige Mahnung an die tödtende Eigenschaft des Buchstabens, der die Justiz zwang, den Geist der Gesetze unbefriedigt zu lassen und dem schändlichen Treiben müßig zuzusehen. Die Codices wurden nach allen Richtungen durchstöbert, das Strafgesetzbuch, das Wechselrecht, das Handelsgesetz, die Gewerbeordnung, der Civilproceß – nichts bot einen Angriffspunkt, so lange Adele Spitzeder zahlte! Wechsel, welche allenfalls Advocaten in Händen hätten, erbot sie sich wiederholt, schon vor der Verfallzeit, zu honoriren, armen Leuten aber ihr Guthaben jeden Augenblick, wenn sie es wünschten oder bedurften, zurückzuzahlen. Aus den immer neu und immer stärker zuströmenden Einlagen ließ sich ja Alles leicht machen.[1] Sie war so übermüthig, fällige Summen, die von mißtrauischen Bauern zur Probe verlangt wurden, aber sogleich respectvollst wieder angelegt werden wollten, unter Grobheiten zurückzuweisen, so daß die ihr unverdientes Glück gar nicht ahnenden dummen Teufel beschämt abzogen. Die ultramontanen Kreuzerblätter beeilten sich jederzeit, dabei Vorkommnisse auszuposaunen, wodurch natürlich das Ansehen der Schwindlerin nicht wenig gehoben wurde.

Einem Bauern aus der Traunsteiner Gegend, der fünfhundert Gulden in eine Schweinsblase verpackt hatte, um sie des andern Tags zur Dachauer Bank zu befördern, nahm seine von Befürchtungen geplagte Bäuerin hundert Gulden heraus, ohne ihm etwas davon zu sagen. Der Bauer kommt nach München und wird gefragt, wie viel er bringe. „Fünfhundert Gulden!“ antwortet er, worauf die ganze Blase in eine Mulde geschüttet und der Wechsel, unter Ausbezahlung der ersten Monatszinsen, ihm eingehändigt wird. Darüber stellen sich bei der Bäuerin Gewissensbisse ein, sie entdeckt ihrem Manne, was sie gethan, und dieser reist abermals nach München, um die fehlenden hundert Gulden nachträglich zu entrichten. Adele, gerührt von der Ehrlichkeit des Mannes, erläßt die Nachzahlung vollständig und schenkt ihm noch eine Hand voll Thaler dazu. Wessen Herz sollte durch solche Züge nicht vollständig gewonnen werden?

Bei günstiger Witterung pflegte die Schwindlerin häufig, ihre Cigarre rauchend und einen Zwicker auf der kartoffelförmigen Nase, vor ihrem Hause auf- und abzuspazieren. Die Gäste des „Wilhelm Tell“ eilten dann heraus, ihr theils in erheuchelter, theils in aufrichtiger Unterwürfigkeit die Hand küssend. Kein bäuerliches Individuum hätte gewagt, das Haupt zu bedecken; sie acceptirte auch, im Uebrigen gnädig und herablassend, alle [807] einer Fürstlichkeit gebührenden Reverenzen. Doch war der Ton, dessen sie sich in der Conversation oder gar gegen ihre Untergebenen bediente, keineswegs fein, sondern vom gröbsten Dialectschrot und nicht selten mit Zweideutigkeiten versetzt. Das Rückgebäude ihres kleinen Industriepalastes barg einen kostbaren, bereits zur Versteigerung gekommenen Marstall, und ihre Fuhrwerke zählten zu den geschmackvollsten der Residenz. Bei Ausfahrten trug sie ein bis an den Hals geschlossenes dunkles Kleid mit kleinem umgeschlagenen Hemdkragen und eine doppelt gewundene, massive goldene Kette mit einem ditto Kreuz, dessen sich kein Erzbischof hätte zu schämen brauchen. Wenn sie über Land ging, begleitete sie das ihr zum Gefolge dienende Industrieritterthum in mehreren Wagen, um sich draußen mit der Herrin zu einem üppigen, von Champagner überfließenden Gelage zu vereinigen. Doch machte sie auch fromme Ausflüge. Eine Wallfahrt, die sie in geistlicher Begleitung und unter Vorantragung eines Kreuzes zu Fuß nach Altötting unternehmen wollte, ungefähr in der Art, wie die alten bayrischen Kurfürsten zuweilen thaten, wurde vom Ordinariat verboten. Sie begnügte sich also, bis Neuötting auf der Eisenbahn zu fahren; das Opfer bei der schwarzen Muttergottes ist indeß nicht dürftiger und die vorgeschriebene Generalbeichte wahrscheinlich nicht weniger erbaulich ausgefallen. Aber nicht nur dem Glauben huldigte sie, sondern auch dem Aberglauben. Noch wenige Tage vor der Katastrophe wurde beobachtet, wie sie sich die Karten schlagen ließ. Sie rauchte dabei und schien von dem Orakel sehr befriedigt. Zuletzt ging die Kartenschlägerin mit vergnügtem Gesicht von dannen. Die Stümperin! von dem finstern Geiste, der bereits das Haus durchschritt, hatte sie nichts bemerkt.

Zum letzten Mal zeigte sich Adele den Neugierigen am Allerheiligentage, wo sie in einem schwarzen Sammetkleid zum alten Friedhof fuhr und am Eingang desselben einen Kranz kaufte. Sie trug ihn, von einem fürchterlichen Gedränge begleitet, selbst an das Grab ihres Vaters, das sie mit einem neuen pracht- und geschmackvollen Denkmal in gothischem Styl hatte schmücken lassen. Vor dasselbe legte sie den Kranz nieder, gab Weihwasser und verweilte längere Zeit in stillem Gebete. Wahrlich doch keine ganz schlechte Schauspielerin! Zahlreiche Weiber weinten, vernünftige Männer hätten in diesem Augenblick wohl kaum eine Bemerkung gewagt, und doch sagte, wie ich von Ohrenzeugen weiß, ein alter zerlumpter Kerl, dem der Schnaps wohl keinerlei Capitalsanlage gestattet, ganz laut: „Was will s’ denn, die? Da herein kommt s’ ja doch net!“ Was vereinigte sich Alles an diesem Grabe: Gaunerei, Heuchelei, Dummheit und laugenartige, Alles überspritzende Bettlersatire! Armer Joseph Spitzeder, Du hättest bessere Thränen verdient, wenn auch nur vor einem hölzernen Kreuz vergossen!

Der 12. November dieses Jahres war ein düsterer Tag; zum ersten Mal hatte sich der Winter leibhaftig eingestellt. Flüchtiger, mit eisigen Flocken vermischter Regen schlug an die Fenster, machte die Wege schlüpfrig und den Aufenthalt im Freien unangenehm. Das ist der rechte Horizont für eine That, wie sie nun gleich beschrieben werden soll und wozu man warmes, wonniges Bummel- und Revolutionswetter nicht brauchen kann. Etwa um vier Uhr Nachmittags durchschlenderte ein großer Mann mit tief eingedrücktem Hut die Schönfeldstraße. Es war der königliche Polizeiassessor Ries, unser erster, sehr verdienstvoller Sicherheitsbeamter. Er hat sich offenbar nur besehen, wie die Wirthschaft beim „Wilhelm Tell“ florirt und ob das Haus vis-à-vis noch auf dem alten Flecke steht. Beruhigt verschwand er gegen den englischen Garten. Ueber eine kleine Weile öffnet sich am Seitenflügel des Kriegsministeriums eine Pforte und heraus marschirt eine Compagnie Soldaten, die merkwürdiger Weise Niemand hatte hineinziehen sehen; sie theilen sich links und rechts und sperren die Schönfeldstraße nach allen Seiten ab. Stehen gebliebene Vorübergehende werden ersucht, sich schleunigst davon zu machen, und die fröhliche Kneipe verfällt plötzlich in stummes Entsetzen. Am wenigsten weiß sich der Portier am Hôtel Spitzeder zu fassen, denn wie aus dem Boden gewachsen stehen etliche Gensd’armen auf seinem Posten und lassen ihn zu seiner eigenen Thür nicht mehr hinein. Inzwischen theilen sich auf einen Augenblick die militärischen Ketten an den beiden Enden der Straße, um einigen Kutschen Platz zu machen, die alle bei der Spitzeder vorfahren. Der Polizeidirector mit Assessoren und Commissären, ein Untersuchungsrichter mit den nöthigen Actuaren, der Procuraträger des Hauses Riemenschmied als Sachverständiger in der Buchführung und eine weitere Anzahl Gensd’armen steigen aus, obwohl sich das Ganze noch soeben wie ein Hochzeitszug angesehen hatte.

Ohne Zweifel ist in diesem Augenblick irgend ein vertrautes Wesen die Treppen hinangestürzt, um der Herrin das Ereigniß zu melden. Diese mußte sofort wissen, daß ihre Stunde geschlagen habe, und die Größe ihres Verbrechens und die Höhe des unmittelbar bevorstehenden Sturzes bedenkend, konnte sie wohl – gleich einer vor etlichen Jahren vom Schauplatz abgetretenen Großschwindlerin, der sogenannten Schneiderprinzessin – durch einen Schluck dem ganzen Jammer vorbeugen. Die Befürchtung wurde auch gehegt. Aber nein, zur nicht geringen Beruhigung des Herrn Polizeidirectors kam sie diesem heiter und gefaßt entgegen und empfing ebenso die zur Untersuchung der Bücher und Baarbestände eintretende Commission. Die ganze augenblickliche Bewohnerschaft der Anstalt: Stallleute, Köchinnen, Mägde, Ausläufer, Buchhalter, Zahlmeister, Cassirer, Revisoren – ein ultramontaner Augsburger Advocat, der neben der Infallibilität auch das Spitzeder’sche Geschäft vertheidigt, war glücklicherweise eben weggegangen – wurde consignirt. Im Schlafzimmer, wo das Fräulein und ihre Gesellschaftsdame, respective intime Freundin, Rosa Ehinger, zwei nebeneinanderstehende prachtvolle Betten hatten, fand man gegen eine Million in Staatspapieren, welche, als sie sortirt waren, die beiden Lagerstätten vollkommen bedeckten. Baares Geld und Banknoten wurden aus allen Ecken und Enden zusammengesucht, darunter tausend Gulden Papier in einem Schürloch steckend, die aber schwerlich den Flammentod gefunden hätten, sondern wahrscheinlich, an irgend einer treuen Brust ruhend, hinausspaziert wären. Das Meublement war schön, doch nicht sehr luxuriös, nur in dem etwas stylisirten „Rittersaal“ machte sich ein größerer Aufwand bemerklich. Auch fehlte es nicht an Clavieren, Polyphonien und dergleichen Instrumenten; besonders zog eine große und kostbare Spieldose die Aufmerksamkeit auf sich. Es soll oft vorkommen, daß sich unter den Effecten großer Bankerottirer oder Betrüger solche Spieluhren befinden. Ob das nicht seinen psychologischen Grund hat und diese mechanischen Dinger vielleicht im Stande sind, Verstand und Gewissen momentan einzulullen? Ein Saiten- oder Flötenspiel, in welchem menschliches Leben vibrirt, möchte diesen negativen, dem höheren Zweck der Kunst zuwiderlaufenden Erfolg wohl nicht erzielen.

In den Gängen und Geschäftslocalitäten fehlte es auch nicht an frappanten Placaten, z. B. „Thue Recht und scheue Niemand!“, unterzeichnet A. Spitzeder. Die Gemäldegalerie, von welcher die Gaunerblätter viel Rühmens machten, ist nicht der Erwähnung werth. Inzwischen war Mitternacht herangekommen und der Sachverständige hatte erklärt, daß eine Buchführung vorliege, welche das Einschreiten des Gesetzes nach allen Richtungen provocire. Das consignirte Personal wurde nun entlassen und hastig stürzte die ganze Meute die Treppen hinunter und zum Tempel hinaus. Als man darauf Adelen ankündigte, daß sie in Civilhaft genommen würde, sank sie erblassend zurück. Ihre weitere Behauptung, sie sei so unwohl, daß sie nicht folgen könne, veranlaßte die Herbeiholung des Polizeiarztes Dr. Frank, der aber erklärte, sie sei nach kurzer Erholung transportabel.

Niemand befand sich mehr an ihrer Seite, als die treue Rosa. Diese, ein hübsches Mädchen, war bereits auf dem Hof- wie auf dem Volkstheater ohne sonderlichen Erfolg aufgetreten; ihre Beschützerin wollte mit Gewalt eine Künstlerin ersten Ranges aus ihr machen und dem Lehrer des Fräulein Ziegler, Hofschauspieler Christen, ließ sie fabelhafte Summen bieten, wenn er ihr Unterricht geben wolle, was der berechtigte Stolz dieses Künstlers natürlich zurückwies. So mußte sich Rosa, statt scenische Triumphe zu feiern, mit ihrer Stellung bei Adelen begnügen; es verdient aber Erwähnung, daß sie auch im Unglück nicht von ihr wich, sondern bat, die Herrin begleiten zu dürfen. Man willfahrte ihr. Nachts ein Uhr verließ Adele Spitzeder mit ihrer Freundin die Räume, in denen sie, scheinbar mit Glücksgütern überhäuft, zwei Jahre lang ein herrliches Leben geführt hatte. Von kaltem Schneesturm umtobt, bestiegen sie, begleitet von einem Polizeicommissar, nicht ihre reizende Kalesche, sondern einen officiellen Fiaker, auf dessen Bock bereits ein Diener Platz genommen hatte, aber nicht ein Diener der Betrügerin, sondern einer der Gerechtigkeit. [808] In der neuen Frohnveste an der Badstraße wurden den Angekommenen drei bereits hergerichtete, wohlgeheizte Zimmer angewiesen.

Vier Tage nach dieser mit großem Geschick und ohne jeden Zwischenfall ausgeführten Verhaftung waren schon 2,800,000 Fl. Wechselguthaben aus der Stadt München und den sie umgebenden Landbezirken allein angemeldet. Und wie viel wird aus Scham, Pessimismus und anderen Gründen verschwiegen! Und dann erst die Provinz! Der Mammon, den Adele durch Gewährung von Wucherzinsen in ihr Bereich zu locken wußte, wird eine unglaubliche Summe darstellen.

Auch in den stillen Haushalt Rosa’s drang inzwischen die neugierige Polizei, um Juwelen von bedeutendem Werth, Affectionsgeschenke oder Deposita der Spitzeder zu confisciren. Seitdem beeilen sich viele Leute, welche von der Heldin dieser Geschichte Präsente erhalten haben, dieselben zu Gerichts Händen zu bringen. Seit Aufhebung der Civilhaft und Einleitung des Criminalverfahrens ist übrigens Adele auch von ihrer Gefährtin getrennt und in ein weniger freundliches Zimmer gesetzt. Die Untersuchung wird eine der umfangreichsten, verwickeltsten und interessantesten werden, die sich je vor einem deutschen Forum abspielten.

Der Redacteur der hiesigen „Neuesten Nachrichten“, Herr N. Vecchioni, der schon vor fast Jahr und Tag das große Publicum warnte und die Wächter des Gesetzes alarmirte, was ihm von Seiten eines Laufburschen des Gaunerinstituts sogar Mißhandlungen eintrug, hat seines Amtes treu gewartet und sich um das Volk verdient gemacht. Noch ein paar Jahre fortwuchernd, hätte die Pestbeule das ganze Land angesteckt und wahrscheinlich auch im übrigen Deutschland Nachahmung gefunden.

M. Sch.



  1. In welch verlockender Weise, die namentlich auf die Masse des Volks berechnet war, dies geschah, darüber werden jetzt haarsträubende Thatsachen laut. Um sich das Zuströmen der Capitalien zu sichern, gewährte sie ungeheure Zinsen und zahlte diese in dem Augenblick, wo bei ihr das Capital angelegt wurde, gleich baar aus. Zu einer Zeit, in welcher man in München zu 4½ % jährlich überall Hypotheken haben konnte, in der jede Bank nur 5 % für das Jahr rechnete, gab die Spitzeder 10 % monatlich. Brachte ihr also Jemand 100 fl. auf ein Jahr, so zahlte sie gleich 30 fl. = 10 % Zinsen auf drei Monate im Voraus. Nach Verlauf von drei Monaten zahlte sie abermals 30 fl., nach einem Jahr hatte also der glückliche Darleiher an Zinsen schon 120 fl. zurückempfangen und war außerdem noch im Besitz eines Wechsels von Fräulein Adele Spitzeder, welche Wechsel allezeit prompt honorirt wurden. Da alle ihre Wechsel auf sie lauteten und nicht weiter übertragen werden konnten, so war sie vor jedem äußern Eingriff in ihr „Geschäft“ geschützt. Freilich sollen dieselben auch die böse Eigenthümlichkeit haben, daß die Gläubigernamen durchweg ungenau und meist ganz falsch geschrieben, ja viele Wechsel sogar mit fingirten Namen versehen, also gleich von vornherein ungültig sind. Vor der Hand genüge unsern Lesern diese Andeutung über den sogenannten Geschäftsbetrieb eines Schwindels, der zu den entsetzlichsten „besonderen Kennzeichen“ unsers Jahrhunderts gehört.
    D. Red.