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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[383]

No. 24.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Diamanten der Großmutter.


Von Levin Schücking.


(Fortsetzung.)


„Sie mögen Anrechte auf Valentine haben, zu haben glauben,“ erwiderte Daveland Gaston, „ich widersetze mich dem nicht. Ich werde mich schweigend unterwerfen, wenn Valentine Sie vorzieht. Ich werde Herrn d’Avelon dann nie ahnen lassen, wie nahe wir uns stehen; er mag ruhig bis an sein Ende im Besitze Dessen, was sein ist, bleiben. Nur, das begreifen Sie, habe ich auf einen Fremden wie Sie nicht dieselbe Rücksicht, wie auf ihn, zu nehmen. Wenn Herr d’Avelon stirbt, würden nicht Sie der Erbe seines Vermögens werden, Niemand würde es, den Valentine etwa sonst gewählt haben könnte. Meine Ansprüche sind klar und leicht zu beweisen. Herrn d’Avelon’s Brief, worin er selbst sich als den Entwender unserer Diamanten bekennt, ist in meinen Händen; ist einmal Friede geschlossen, sind die Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen wieder wie früher geregelt, so wird kein Gericht sich weigern, diese Erbschaft sofort zu sequestriren, die mit meines Vaters, mit meinem Gelde erkauft, die mein ist.“

„Herrn d’Avelon’s Besitz ist verjährt!“ versetzte Gaston.

„Ein Besitz, der durch ein Verbrechen erlangt wurde, verjährt nicht,“ entgegnete Daveland.

Gaston von Ribeaupierre wandte sich zur Seite des Weges, wo eine hölzerne Ruhebank stand. Er ließ sich darauf nieder, zog ein Etui hervor und nahm eine Cigarre daraus. Nachdem er sie angezündet und die ersten Rauchwolken von sich geblasen, sagte er mit außerordentlicher Kaltblütigkeit:

„Der Kern der Sache ist also: Sie wollen mich von der Bewerbung um Valentine abschrecken, indem Sie mir zeigen, daß sie eigentlich ein armes Mädchen ist und nichts erben wird.“

„Würde das allein hinreichen, Sie abzuschrecken?“ fragte Max ein wenig ironisch, indem er sich an das andere Ende der Bank setzte.

Gaston rauchte, ohne zu antworten, weiter.

„Es thut mir leid,“ hub er dann nach einer längeren Pause wieder an, „daß ich all’ den für Sie so schlagenden Gründen, wonach Sie in Herrn d’Avelon Ihren Verwandten erblicken, einen völligen Unglauben entgegensetzen muß. Ich weiß von meiner Mutter, daß Herr d’Avelon Belgier von Geburt ist, daß seine Angehörigen in Belgien leben, Angehörige, mit denen in früheren Jahren meine Mutter in Beziehungen stand. Denn die Frau des Herrn d’Avelon war eine entfernte Verwandte meiner Mutter, und das Vermögen, welches diese Frau ihm zubrachte, diente ihm eben zum Ankauf dieser Ferme des Auges.“

„Möglich; so hat er den Erlös aus den Diamanten früher schon durchgebracht; unser Recht an ihn wird dadurch nicht geschmälert, nicht geändert.“

„Und was den Ring angeht,“ fuhr Gaston fort, „so beweist er gar nichts, er kann in jedem Laden, wo solche alte Werthsachen feilgeboten werden, gekauft sein.“

„Und sein Erschrecken bei meinem Namen, und seine Handschrift?“ antwortete Max.

„Sein Erschrecken? Sind Sie Ihrer Beobachtung so sicher? Und eine Handschrift von vor dreißig Jahren und von heute, welcher Beweis kann auf die Aehnlichkeit beider gegründet werden? Bleiben Sie die Nacht hier, auf der Ferme des Auges, und ich will Ihnen in der Morgenfrühe die Beweise bringen, daß Sie sich getäuscht haben.“

„Welche Beweise?“

„Eine Copie seines Ehecontracts, mit dem Nachweise, daß sein Vermögen von seiner verstorbenen Frau, Valentinens Mutter, und nicht von den Diamanten Ihrer Großmutter herrührt. … Dann alle die Briefe, welche meine Mutter erhielt, als d’Avelon sich mit ihrer Cousine verbinden wollte, und die die ausführlichsten Nachrichten über sein früheres Leben, seine Beziehungen und Verwandtschaften enthalten.“

„Ich werde diese Ihre Beweise gern prüfen,“ versetzte Max, „doch muß ich später darum bitten, ich habe keinen Urlaub, über Nacht aus meinem Quartier in Void zu bleiben.“

„Sind Sie in einer so wichtigen Sache so der Sclave Ihres Urlaubs?“ fragte Gaston ein wenig höhnisch. „Ich muß auf dieser Bedingung bestehen, denn ich habe mich morgen Vormittag in Neufchateau einzufinden, wo ich vielleicht mehrere Tage, möglicher Weise Wochen gefesselt sein werde.“

„Wann, um welche Stunde würden Sie mir diese ‚Beweise‘ bringen können?“

„Ich werde nach dem Diner nach Givres heimkehren, dort mit meiner Mutter reden …“

„Ich habe Ihr Wort, daß …“

„Seien Sie ganz ruhig darüber. Ich werde mit meiner Mutter über die Herkunft des Herrn d’Avelon reden, ohne Ihr Geheimniß irgend zu berühren. Ich werde die alten Papierschaften hervorsuchen und auf meinem Wege nach Neufchateau werde ich morgen um sieben oder acht Uhr hier sein, sie Ihnen versiegelt zu überreichen. Sie werden mir dieselben dann von Void aus nach Givres zurücksenden. Sind Sie einverstanden?“

[384] Max glaubte unter diesen Umständen den Verstoß gegen die Dienstgesetze auf sich nehmen zu dürfen; er konnte ja seinen Burschen mit einer Meldung an Sontheim allein nach Void zurücksenden, um dort keine Unruhe wegen seines Ausbleibens entstehen zu lassen. Gaston übernahm noch, die Einladung zum Bleiben über Nacht, die von Herrn d’Avelon ausgehen mußte, zu veranlassen. Herr d’Avelon war ein leidenschaftlicher Schachspieler; es genügte, nach dem Diner wie zufällig ihn darauf zu bringen und zu einer Partie mit Max zu verleiten; es war sicher vorauszusehen, daß er alsdann seinen Gast so lange festhalten würde, bis er ihn einladen mußte, über Nacht zu bleiben. –




4.


Die beiden jungen Männer kehrten zur Ferme zurück. Herr d’Avelon kam jetzt, von den Ställen her, ihnen entgegen. Er schien in ihren Mienen lesen zu wollen, und Max sagte deshalb, um ihn zu beruhigen, sogleich:

„Wir haben uns vollständig darüber verständigt, Herr d’Avelon, daß viele Dinge nicht der Mühe werth sind, ihretwegen einen beschwerlichen Gang zu machen, dessen Ende man nicht kennt; und da auch wohl die Höhle der Jungfrau zu diesen Dingen gehört, ziehen wir es vor, friedlich zusammen heimzukehren.“

„Ah, das ist sehr weise und sehr löblich gehandelt,“ rief Herr d’Avelon offenbar von einer Sorge befreit und fröhlich aus. „Zudem wird die Zeit zum Diner nicht fern sein, und wir thun gut, in’s Haus zu gehen, um auch die Damen nicht länger in Sorge zu lassen, daß dies Mahl ihnen verdorben würde durch zu langes Warten auf Ihre Rückkehr!“

Als sie auf die Terrasse zurückkamen, begegneten sie den beiden Damen, die Arm in Arm und lebhaft redend hier auf und ab gingen.

„Unsere Gäste sind in völligem Einvernehmen,“ rief ihnen Herr d’Avelon lächelnd entgegen, „daß es besser ist, ihren Ausflug zusammen aufzugeben.“

„In der That,“ fiel Gaston ein, „es herrscht darüber nicht die geringste Meinungsverschiedenheit unter uns.“

Valentine blickte forschend in die Züge der beiden jungen Männer; sie nahm allerdings nichts von zorniger Erregung wahr; nur mochte ihr Das, was sie in den Augen und Stirnfalten Gaston’s las, nicht viel beruhigender vorkommen; sie war offenbar nicht so leicht beschwichtigt, wie ihr Vater, und sehr zerstreut. Während man nun auf der Terrasse auf und ab ging und Gaston sich mit Miß Ellen unterhielt, begann Herr d’Avelon mit Max über dessen Pferd, das er eben in den Ställen angesehen hatte, zu sprechen – Herr d’Avelon begann die Art und Weise, wie die Deutschen ihre Pferde behandelten, zu rühmen und im Gegensatz dazu Anekdoten über französische militärische Pferdebehandlung zu erzählen – damit war ein unerschöpfliches Thema für ihn gefunden. Er endete auch nicht eher, als bis ein Knecht kam, um sich von ihm in irgend einer Angelegenheit Verhaltungsmaßregeln zu holen; während er bei ihm stehen blieb, sagte Max:

„Es liegt eine Wolke der Sorge auf Ihrer Stirn, Fräulein Valentine! Ich würde viel darum geben, wenn ich etwas thun könnte, um sie zu zerstreuen!“

„Das können Sie,“ versetzte sie, „es liegt völlig in Ihrer Macht, sie zu zerstreuen.“

„Ach, ich bitte Sie, sprechen Sie, wie …“

„Werden Sie es nicht mißdeuten, wenn ich ganz offen mit Ihnen darüber rede? Sie stehen als Sieger auf unserem französischen Boden, und das muß Sie großmüthig machen; Sie müssen begreifen, wie natürlich in den Besiegten die Neigung ist, einer reizbaren Lebhaftigkeit nachzugeben, den Worten etwas mehr von der Bitterkeit, welche in ihren Herzen schläft, mitzutheilen, als es die gemessenste Höflichkeit erlaubt, durch Rede und Blick an den Tag zu legen, daß sie den Deutschen gegenüber sich[WS 1], wenn auch besiegt, doch nicht entwaffnet oder gar gedemüthigt fühlen –“

„O gewiß, Fräulein Valentine, begreife ich das, das Alles ist ja so natürlich …“

„Und weil Sie das einsehen, wird es Ihnen leicht werden, es auch zu berücksichtigen, in Ihrem Verkehr mit Herrn Gaston von Ribeaupierre; Sie werden edel genug sein, sich zu sagen, daß Sie nicht darauf eingehen dürfen, wenn ihn eine leidenschaftliche Verblendung zu dem Einfalle hinreißen sollte, den großen Kampf zweier Nationen zu carrikiren durch einen …“

„O nein, o nein, Fräulein Valentine,“ fiel Max rasch ein, „seien Sie vollständig darüber beruhigt, ich habe nicht die geringste Lust, durch eine kleine Privatrauferei, denn anders wäre es ja nichts, dieses große Völkerduell zu carrikiren, wie Sie sich ganz richtig ausdrücken. Ich will Ihnen gern gestehen, daß Herr Gaston gewisse Velleitäten der Art mir gegenüber andeutete; ich habe mit ihm offen geredet und wir sind ganz eins darüber geworden, daß davon weiter nicht die Rede zwischen uns sein kann.“

„Das beruhigt mich in der That und ich danke Ihnen dafür. Aber ich fürchte Gaston’s, wie soll ich sagen, leicht bewegliche und reizbare Natur, seine Neigung zu plötzlichem Aufwallen, ich möchte deshalb auch für die Zukunft Ihr Versprechen haben …“

„Ich soll mich auch für die Zukunft binden? Sie sind etwas von einer Diplomatin à la Benedetti, Fräulein Valentine.“

„Sie würden es nicht scherzhaft nehmen, wenn Sie wüßten, was für mich davon abhängt,“ versetzte sie.

„Ich kann es mir denken,“ entgegnete Max, durch diese Bemerkung ein wenig betroffen, „man sagt, er stehe Ihnen näher, als es ein bloßer Freund thut –“

Sie schüttelte den Kopf.

„Was sagt man nicht Alles! Aber das Schicksal findet oft seltsame Wege, uns zu umstricken und uns auf Bahnen zu ziehen, zu Schritten zu drängen, welchen wir ursprünglich widerstrebten. Gaston’s Mutter ist die Wohlthäterin meines Vaters. Dieser ist unbekannt und freundlos in diese Gegend gekommen; Gaston’s Mutter hat ihm erleichtert, möglich gemacht, sich hier einzubürgern und Wurzeln in diesem Lande zu schlagen, indem sie ihm die Verbindung mit einer Verwandten vermittelte –“

„Die ihm dies Gut zubrachte?“ lag es auf Maxens Lippen, aber er unterdrückte die Frage, als zu indiscret. Valentine fuhr fort:

„Sie sehen, daß heute, wo Gaston in unser Haus als Freund und Gast aufgenommen ist, wir ihn nicht von der Ferme des Auges seiner Mutter nach Givres heimsenden können mit einem zerschossenen Arm, einer deutschen Kugel in der Brust … stieße ihm durch unsere Schuld ein Unglück zu, dann …“

Valentine endete nicht; ihre leise geflüsterten Worte verloren sich in einem tiefen Seufzer, der ihre Brust hob.

„Ich verstehe Sie vollständig, Fräulein Valentine,“ sagte Max, dem vor stürmischer Freude über diese vielsagenden Geständnisse das Herz schlug. „Ihre Worte ‚durch unsere Schuld‘ deuten mir an, welches Urtheil Sie glaubten mir sprechen zu müssen, wenn ich nicht in der Friedfertigkeit das Aeußerste leiste! Sie würden mich sofort von hier vertreiben! Aber Sie können meiner gewiß sein. Ich werde der treueste und gehorsamste Beobachter unserer Kriegsgesetze sein, die uns ja jede derartige Reibung mit Ihren Landsleuten strenge untersagen; in der That, ich werde Gaston gegenüber, was auch immer kommen möge, nie vergessen, daß wir im Kriege sind, so gründlich und vollständig ich das vergesse Ihnen gegenüber. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es ist mir ganz unmöglich zu denken, daß ich auf der Ferme des Auges in einem feindlichen Lande bin – es ist mir, als herrsche in diesem schönen, von der Welt geschiedenen Erdwinkel ein goldenes Zeitalter ewigen Friedens, eine heimathliche Luft, nur eine mildere, wärmere noch als meine heimathliche, denn ich wüßte keine Stelle der Heimath, wo mir so alle Knospen des Gemüths plötzlich und über Nacht aufgeblüht sind –“

Valentine erröthete ein wenig, als er dies so lebhaft sprach, sie antwortete lächelnd:

„Wenn in diesem stillen Thale auch nicht ganz so die ewige Sorglosigkeit und der Friede des goldenen Zeitalters herrscht, wie es Ihnen scheint, so haben Sie doch Recht, wenn Sie gerade hier das berühmte deutsche ‚Gemüth‘ sich ausblühen lassen, denn Sie finden an uns Leute, die es zu verstehen wissen.“

„Und doch sprechen Sie ein wenig ironisch von diesem ‚Gemüth‘.“

„Ironisch? o nein; umsoweniger, da wir ja glauben, es ebenso gut zu besitzen, und es eben so hoch halten, wie die Deutschen es thun. – Wir nennen es nur anders.“

„Und wie nennen Sie es?“

[385] „Wir nennen es Seele!“

„Ist es dasselbe? Es käme darauf an, es zu untersuchen. Und könnten wir das nicht? Gäbe es nicht ein vortreffliches Mittel dazu? Sie müßten mir verstatten, Ihnen mein Gemüth zu zeigen, und zeigten dagegen wieder ein klein wenig von Ihrer Seele – wir sähen dann bald …“

„O,“ unterbrach sie ihn lächelnd, „ein solcher Austausch würde doch nichts entscheiden – höchstens für Sie und mich …“

„Und wäre das nicht genug – ist es nöthig, daß es für die übrige Welt eine Bedeutung hätte? Ich kann Sie versichern, daß ich die übrige Welt sehr bald darüber vergessen würde, daß sie wie ein wesenloser Schatten hinter mir liegen würde, wenn …“

Valentine unterbrach seine leidenschaftlich geflüsterten Worte hier durch eine plötzliche Wendung, sie blickte nach ihrem Vater zurück, der jetzt eben rasch herankam, um sich wieder zu ihnen zu gesellen.

Weder Max noch Gaston fanden eine Schwierigkeit, den Plan, den sie gemacht, auszuführen; als Gaston nach dem Diner die Rede auf das Spiel brachte und Max andeutete, daß er es gern spiele, erfolgte Herrn d’Avelon’s Einladung zu einer Partie ganz mit dem Eifer, den Gaston vorhergesagt hatte, und nachdem der Chasse-Kaffee genommen, brachte ein Diener das Schachbrett herein. Man setzte sich dazu in den Salon. Valentine nahm unterdeß in demselben Raum an einem der Fenster Platz, mit einem Buche beschäftigt; doch blickte sie oft darüber fort, zumeist auf Miß Ellen; es entging ihr ein gewisses unruhiges Wesen in Miß Ellen nicht, die, bald mit diesem, bald mit jenem beschäftigt, von Zeit zu Zeit mit Gaston einen Blick des Einverständnisses zu wechseln schien. Endlich trat Miß Ellen in die Glasthür, wie um nach dem Wetter draußen auszuschauen; Gaston folgte ihr dahin und Beide gingen dann auf die bereits dämmernde Terrasse hinaus, wo sie wieder eifrig sprechend auf und ab gingen. Valentine war eigenthümlich beunruhigt durch die auffallende Veränderung im Betragen Gaston’s, der, ganz im Gegensatz zu seinem früheren Wesen, während des Diners die Höflichkeit selbst gegen Max gewesen war; so folgte sie mit Sorge dieser langen geheimen Zwiesprache: was hatte Gaston, was Ellen ihr zu verheimlichen? Wollte sich Gaston dennoch mit dem deutschen Officier schlagen, und dabei war Ellen die Vertraute dessen, was er ihrem Vater, was er ihr verbarg? Freilich, Gaston und Ellen hatten sich stets vortrefflich verstanden – daß sie verbrüdert waren durch dasselbe Ziel, dem sie zustrebten, daß auch Ellen nichts sehnlicher wünschte, als eine Wendung der Dinge, nach welcher sie die sehr gegründete Hoffnung hatte, die Herrin auf der Ferme des Auges zu werden, – das wußte Valentine!

Ihre Unruhe sollte steigen, als endlich Gaston wieder in den Salon kam und, nachdem er eine Weile den Spielenden zugesehen, lächelnd sagte: „Die deutsche Strategie auf dem Schachbrett ist nicht ganz so rasch wie die auf dem Schlachtfeld. Sie werden die Nacht hier bleiben müssen, wenn Sie Partie und Revanche nicht in schnellerem Tempo nehmen, Herr von Daveland.“

„Sie haben Recht, die Nacht bricht bereits ein und ich werde kaum Zeit haben, die Partie zu beenden!“ versetzte Max.

„Wie,“ rief d’Avelon aus, „glauben Sie, ich ließe Sie ziehen, bevor wir die Partie mit voller Muße beendet haben? Denken Sie nicht daran. Und wenn es Nacht darüber wird – was schadet es? Sie werden in der Ferme des Auges ganz ebenso gut schlafen wie in Ihrem Quartier in Void.“

„Nicht mit so ruhigem Gewissen,“ versetzte Max, „ich darf nicht ohne Meldung bei meinem gestrengen Compagniechef ausbleiben; ein so eigenmächtiger Quartierwechsel würde mir einen hübschen Verweis zuziehen, ja vielleicht gar eine Perspective auf das Kriegsgericht eröffnen.“

„Sie übertreiben. Senden Sie nur Ihren Burschen mit einer Meldung an Ihren Chef, das wird genügen. Denn in der That, von hier lass’ ich Sie nicht, bis wir gründlich unsere Kräfte gemessen haben, und darüber wird es freilich zu spät für Sie werden, um noch nach Void heimzukehren.“

„Wenn Sie mich in der That so hartnäckig gefangen halten, wird mir nichts Anderes übrig bleiben, als meinen Burschen mit einigen Zeilen an meinen Chef abzusenden, die ihn, wenn auch nicht ganz über meinen Mangel an Disciplin besänftigen, doch über den Grund meines Ausbleibens beruhigen können.“

Max erhob sich und Miß Ellen, die eben die Klingel gezogen, damit der Diener die Lampen hereintrage, brachte ihm sehr bereitwillig Schreibmaterialien herbei. Valentine beobachtete sie dabei und glaubte einen Zug von triumphirender Genugthuung in ihrem sonst so wenig beweglichen Gesicht zu lesen. Was sollte dies Alles? War es ein von ihr und Gaston abgekartetes Spiel, um Max über Nacht zu halten und – ihm irgend eine Schlinge zu legen? Es legte sich wie eine dunkle Ahnung auf Valentine; mit scheuen Blicken beobachtete sie jetzt ihren Vater – in seinen ruhigen Mienen spiegelte sich nichts als der ausschließliche Gedanke an sein Spiel, dessen Stand er, während Max schrieb, mit intensivem Interesse studirte; dann Gaston’s Züge, der wieder seine bedeutungsvollen Blicke mit Miß Ellen zu wechseln schien und dann von der Seite auf den schreibenden deutschen Officier schaute, mit einem Ausdruck in den leichtgerunzelten Brauen, der nichts Beruhigendes enthielt. Als Max fertig und nun gegangen war, um seinen Burschen mit dem Billet abzusenden, sagte Miß Ellen, sich ebenfalls zum Gehen wendend:

„Ich werde Auftrag geben, das kleine Fremdenzimmer für unseren Gast herzurichten.“

„Das neben dem Eßzimmer? Und weshalb nicht das bessere oben?“ fragte Valentine lebhaft,

„Weil das kleinere bequemer für ihn liegt, parterre, und er nicht nöthig hat, uns Alle zu stören wenn er morgen vielleicht in der Frühe schon heimkehren will. Auch sind oben die Vorhänge abgenommen und diesen Abend nicht mehr in Ordnung zu bringen.“

Dagegen ließ sich nichts einwenden, obwohl das kleine Fremdenzimmer sonst nur zur Aushülfe diente und sehr viel weniger Comfort bot, als das oben im Mansardenstock in der Reihe der übrigen Schlafzimmer liegende eigentliche Fremdenzimmer.

Max war auf eine gewisse Widersetzlichkeit bei seinem Burschen gestoßen, als er diesem aufgetragen, ohne ihn nach Void heimzukehren und dem Hauptmann Sontheim ein Billet zu überbringen. Der ehrliche Bursche hatte es bedenklich gefunden, seinen Herrn so ganz allein an einem Orte zurückzulassen, wo er, was seine persönlichen Beobachtungen anging, durchaus nicht auf Vertrauen erweckende Sympathien in Hof und Gesindestube gestoßen war, die ihm solch ein einsames Uebernachten in der Ferme des Auges vorsichtig und räthlich erscheinen ließen; aber Max, der zu seinem Spiel zurückzukommen eilte, schnitt seine Vorstellungen durch einen gemessenen Befehl ab, und Friedrich ging deshalb, sein Pferd aufzuzäumen.

Der Abend verging ruhig und ohne Zwischenfälle. Die beiden Spieler kamen zu einem für Herrn d’Avelon sehr befriedigenden Ende der ersten Partie – er hatte Max matt gesetzt und bedauerte nur, daß Gaston nicht mehr da sei, um Zeuge seines Sieges zu sein; Gaston hatte sich gleich nachher, nachdem Max seinen Burschen abgesandt, beurlaubt, um nach Givres heimzukehren. Während die Herren die Revanchepartie spielten, hatte Valentine sich an ein Fortepiano gesetzt und Max war mit dem größeren Theile seiner Aufmerksamkeit, die doch Herr d’Avelon mit seiner Gewandtheit und Ueberlegenheit so sehr in Anspruch nahm, bald nicht mehr bei dem Spiele seines Gegners, sondern dem des jungen Mädchens. Valentine spielte nur deutsche Musik … war es eine Freundlichkeit für Max? … jedenfalls spielte sie sie mit innigem Verständniß und großem Gefühl; Max konnte nicht anders als sich sagen, daß ihr Spiel eine ihm tief in’s Herz dringende Ueberzeugungskraft von der Identität deutschen „Gemüths“ und französischer „Seele“ habe – er fühlte sich von dem Strömen und Rauschen dieser Töne, in denen ihm eine Seele ihre Schwingen zu hohem Geistesfluge auseinander zu schlagen schien, in der tiefsten Tiefe seines Gemüths erfaßt.

Miß Ellen hatte eine Weile neben Valentine gestanden und ihr die Notenblätter umgewendet; dann, als ob diese deutsche Musik sie nicht mehr fessele, wandte sie sich ab und ging unruhig umher, um sich endlich mit einem Buche an die Lampe in der entferntesten Ecke des Salons niederzusetzen.

Max hatte darüber den einen Springer und kurz nachher auch seine Königin eingebüßt; es schlug auf der Pendule über dem Kamin eben elf Uhr, als Herr d’Avelon zum zweiten Male sein siegreiches „Matt!“ ausrief. Valentine erhob sich von ihrem Instrument und schaute Max mit einem wie dankbaren Lächeln an – er wußte noch nicht, wie sehr es zum Glücke des Hausherrn [386] und zum Frieden des ganzen Hauses beitrug, wenn Herr d’Avelon in einer Schachpartie der Sieger geblieben war. Dieser ließ seinen Partner erst nach einem Nachttrunk, der jetzt hereingebracht wurde, und nach einer gründlichen Debatte über die beiden Spiele zur Ruhe gelangen … er führte ihn durch das Speisezimmer und dann quer über den Hausflur in ein jenseits desselben liegendes, auf den Hof hinausgehendes kleines Schlafzimmer, wo er ihm mit einem herzlichen Händedruck gute Nacht wünschte. –

Max schloß seine Thür ab, sah nach den inneren Fensterläden, die er wohlverwahrt fand, legte seinen Degen und den leichten Revolver, den er in der Tasche seines Ueberziehers mit sich führte, auf seinen Nachttisch und begab sich zur Ruhe. Daß ihn jedoch der Schlaf floh, war nur natürlich. Mußte ihm doch zu Muthe sein, wie Jemandem, den aus einem Zustand der friedlichsten Seelenruhe heraus eine merkwürdige Fügung plötzlich in einen völlig unerwarteten Conflict, einen wahren Wirbel von seltsamen Thatsachen gerissen; er lag auf seinem guten französischen Bette nicht viel anders, nicht ruhiger und besser, als er auf dem Rücken einer stürmisch bewegten Meereswoge gelegen hatte – wenigstens lag er in einer Fluth hin- und herwogender Gedanken, ohne den Halt von irgend etwas Sicherem und Bestimmtem zu haben, woran er sich wie an einem Anker in dieser Fluth festklammern konnte. Es war Alles ja nur quälende Frage, was ihn umgab und was sein Herz und seinen Verstand bedrängte. Zwar was Gaston de Ribeaupierre ihm gesagt, um ihm seine Ueberzeugung auszureden, daß er hier seinen verschollenen Oheim wieder gefunden, das hatte wenig Eindruck auf ihn gemacht. Gewiß, er hatte darauf eingehen müssen, er mußte es als eine Pflicht betrachten, die Beweise, die Gaston zu haben glaubte, zu prüfen; aber er war sich klar darüber, daß Gaston sich täuschte, daß seine Beweise nicht stichhaltig sein könnten; Max fand sogar etwas von einer „Stimme der Natur“ in dem Gefühl von Sympathie, welches d’Avelon ihm so rasch bewiesen, und in dem tieferen ausschließlicheren und jetzt schon zur Leidenschaft gewordenen Gefühl, das ihn bei dem Anblick der Züge Valentine’s erfaßt hatte, in der ganz eigenthümlichen Sprache, welche diese Züge schon da, als er sie erst im Bilde erblickt, für ihn gehabt hatten. Wie fragend hatten diese schönen Augen ihn angeblickt, wie erwartungsvoll in die Ferne gerichtet, als ob sie von dort her das Nahen eines verhüllten Schicksals, einer überlegenen Macht halb scheu, halb muthig erwarteten, oder als ob sie sagen wollten: ich hüte in mir eine Welt und ein Leben, und wer kommt mit dem Zauberwort, das diese Welt erschließt? – –

Nein, es war unmöglich, daß er sich täuschte; aber desto möglicher war, daß er, als er sich so ganz ohne überlegten Plan und nur den Eingebungen des Moments folgend gehen lassen, weder edel noch klug gehandelt hatte. War es edel, daß er Menschen, die ihn so arglos und herzlich aufgenommen, verheimlicht, wie nahe er ihnen stand? Wäre es nur geschehen, um Herrn d’Avelon zu schonen – dann gewiß; aber war es nicht mehr noch eine häßliche Kriegslist gewesen, um sich nicht für immer von Valentine getrennt zu sehen; und hätte er nicht offener und größer gehandelt, wenn er ganz wahr gewesen und zu d’Avelon gesprochen: „ich erkenne Dich, ich durchschaue Deine Maske, Du bist mein Oheim und ich bin Dein Neffe; doch erschrick nicht, ich komme nicht mit veralteten Ansprüchen oder als Erbe verjährter, längst begrabener Vorwürfe wider Dich!“ Offener, ehrlicher wäre es gewesen, ohne Zweifel; aber wie ein lebendiger Vorwurf, eine stete Demüthigung wäre er dann doch immer für d’Avelon geblieben, er hätte seiner Großmuth einen Charakter beleidigender Ueberlegenheit nicht nehmen können; ein Werben um Valentine hätte etwas Forderndes, Heischendes, Zwingendes angenommen – er hätte nicht mehr daran denken dürfen! und dazu war ja dieser Gaston da mit seinen Ansprüchen auf Valentinens Hand – und ihm gegenüber wollte Max keinen Verzicht aussprechen – gegen ihn wollte er die Waffe seines Rechts schwingen; er glaubte ja – oder überredete er es sich nur? – daß Valentine ein inneres Widerstreben wider diesen Mann empfinde und daß nur äußere Gründe Beide zu einer echt französischen Verbindung bestimmten, von der er Valentine errettet haben würde, sobald er Gaston den Schild seines Rechtes vorhalte, sobald Gaston einsehe, daß er in Valentine keine Erbin finden werde. Und darum hatte er diesem so rückhaltlos Alles aufgedeckt, was er seinen Verwandten verschwiegen – wie der Augenblick ihn bestimmt, ihn hingerissen – vielleicht als ein rechter Thor, der er war, gegen diesen Gaston mit einer großartigen Offenheit zu verfahren, die er, Gott weiß wie, vielleicht mißbrauchen würde; er hatte seine ganze deutsche Ehrlichkeit in die Verhandlung mit diesem Franzosen gelegt, ohne zu bedenken, daß Gaston de Ribeaupierre, wenn er auf die ihm gewordene Enthüllung hin zurücktrat, dies nicht ohne bittere Gefühle und tiefen innern Groll thun würde; davon konnte Max jedenfalls überzeugter sein, als von Gaston’s Ritterlichkeit und Edelmuth, von denen er bisher nicht die geringste Probe hatte; und wie gegründet war also Maxens Sorge, daß Gaston nicht schweigen, daß er d’Avelon durch Verbreitung dessen, was er vernommen, bloßstellen werde! Max fühlte dabei nur geringe Beruhigung in den Vorwürfen, die er dann wieder sich selber darüber machte, daß er ohne Grund die Ehrlichkeit und Discretion eines Anderen in Zweifel ziehe. Er hatte wie ein unbesonnener Spieler, nur um einem Duell zu entgehen, das ihn für immer von der Ferme des Auges verbannt haben würde, sofort Alles auf die Eine Karte, die Verschwiegenheit Gaston’s gesetzt – dazu noch mit einer eigennützigen Berechnung, einem festen Bauen auf die innere Hohlheit französischer Verbindungen und Bewerbungen – und die Sorge, daß er in dem einen wie dem andern einen verhängnißvollen Fehlgriff begangen, daß Gaston, auch wenn Valentine keine Erbin war, an ihr festhalten könne, lag nahe genug, um den Schlaf von seinen Wimpern zu scheuchen.

Aber was geschehen, ließ sich nicht ungeschehen machen; er wußte auch nicht, wie er hätte anders handeln können – sein Verhältniß zu den Bewohnern der Ferme des Auges war nicht so, daß er mit Sicherheit hätte darauf zählen können, die Zeit zu finden, um andere Wege einzuschlagen; ganz gewiß hätte er nicht zu langen diplomatischen Schachzügen Zeit und Muße gefunden. So suchte er die Sorge von sich abzuwerfen und sich den Erinnerungen und Bildern aus seiner Kindheit hinzugeben, die heute so frisch und lebendig in ihm erstanden waren, als er mit Gaston geredet. Die Augen schließend, sah er das schöne, mit hohen Giebeln über einen Kranz von dichten Lindenwipfeln ragende Väterhaus vor sich, mit den breiten Wassergräben umher und den alten verwitterten wappengeschmückten Steinthoren, an denen er als Knabe emporgeklettert war, um oben stolz auf einem der schildhaltenden Löwen zu reiten; er sah den Erker an der Hausecke, durch dessen geöffnetes Fenster er von seinem Hochsitz aus die Mutter an ihrem Nähtisch erblicken konnte, die er dann anrief, damit sie seine Kraftleistung bewundere; er sah seine weißen Tauben um das spitze Dach des Treppenthurmes kreisen und im hellen Sonnenlicht blitzartig die Flügel schlagen – und den Eichwald mit den aufgeschichten Holzklaftern hinter dem Wiesengrund, den schönen Wald, in dem er seine ersten Jagdversuche auf Eichhörnchen und Drosseln gemacht. Das Alles, die ganze Herrlichkeit, die einst als sein sicheres und unantastbares Erbe gegolten, war jetzt dahin; fremde Menschen waren gekommen, um es abzureißen, neu zu bauen, um und um zu kehren; mit dem Besitz war der Stolz und Klang des alten Namens dahin – und das Alles – wie unzählige Male hatte er es dem bösen, ruchlosen, entsetzlichen Onkel schuld geben hören, der dem alten Hause verbrecherisch die Mittel entführt, sich aus dem Ruin zu retten! Wie eine Art Ungeheuer, den anderen grimmigen Märchenungeheuern der erzählenden Tante gleich, wie ein von abergläubiger Scheu umgebenes Wesen, dessen Namen man nicht gern ausspricht, sondern durch Andeutungen ersetzt, war ihm einst dieser Onkel erschienen … nichts hatte ihm ferner gelegen, als der Gedanke an die Möglichkeit, ihn je wieder zu sehen; bei den Antipoden, in noch unentdeckten Ländern jenseits aller Meere sein ruchloses Dasein verbergend, hatten Maxens Knabenträume ihn gesucht – und jetzt, jetzt lag er friedlich unter seinem gastlichen Dach, mit dem Gefühle des herzlichen Wohlwollens für den Mann, dem er völlig verzieh, daß er einmal zur Selbsthülfe gegriffen, um ein altes Unrecht auszugleichen, der dann sich ehrlich sein Haus gegründet, sein Glück auferbaut und die Gewaltsamkeit seines Anfangs durch redliche Arbeit längst gesühnt hatte; er lag friedlich unter seinem Dach, und dies Dach beschirmte den Inbegriff alles Glückes für Max, der, jetzt still die Lider schließend, auch die Reihe seiner Gedanken mit dem schloß, wie wunderbar das Leben mit uns spielt!


(Fortsetzung folgt.)


[387]

Preußische Husaren erbeuten auf der Straße nach Fontainebleau einen französischen Luftballon. Nach seinem Oelgemalde auf Holz gezeichnet von L. Braun.

[388]
Der fünfundsechszig Millionen Dollar-Schatz auf der Cocosinsel.


Von Theodor Kirchhoff in San Francisco.


Am letzten Tage des Februarmonds 1872 verließ die Brigg „Laura“, unter dem Befehl von Capitain Thomas Welsh und Gemahlin Eliza Welsh, den Hafen von San Francisco und steuerte durch’s „goldene Thor“ hinaus in das große Stille Weltmeer, um den sich auf die Kleinigkeit von sage fünfundsechszig Millionen Dollars (Gold, Silber und Juwelen) belaufenden Piratenschatz von der Cocosinsel zu holen. Seit den letzten siebenzehn Jahren sind eine erkleckliche Anzahl von Expeditionen, die meisten derselben von San Francisco, einige von Centralamerika, nach der Cocosinsel gegangen, um besagten Schatz zu finden; aber alle sind unverrichteter Sache zurückgekehrt, wovon verschiedene Gründe angegeben werden. Die Ungläubigeren in San Francisco nennen den Cocosinselschatz einen riesigen Humbug, der gar nicht existire, – ergo auch nie gefunden werden könne; die Theilnehmer an den Expeditionen dagegen schwören Stein und Bein auf die fünfundsechszig Millionen, die irgendwo auf der Cocosinsel vergraben lägen, und geben als Grund ihres Nichtfindens meistens Neid und Eifersucht unter den Schatzsuchern an, die sich den ungeheuren Reichthum gegenseitig nicht gönnen.

Der erstaunte Leser wird gewiß begierig sein, zu erfahren, was es für eine Bewandtniß mit dem Piratenschatze habe und wo in aller Welt die Cocosinsel liegt, von der er in den Geographiestunden auf einer deutschen Schulbank schwerlich je etwas gehört hat. Die Lage der Cocosinsel (Cocos Island) ist in fünf Grad dreiunddreißig Minuten nördlicher Breite, ungefähr dreihundert Seemeilen westlich von Panama im Stillen Meere. Die mit tropischer Vegetation bedeckte bergige Insel, welche unbewohnt ist, hat eine Länge von etwa zwei deutschen Meilen und eine Breite von einer Meile. Sie liegt ganz einsam und von allen Verkehrswegen der Handelsschiffe auf dem Ocean entfernt, und schwerlich könnte ein passenderer Platz als dieser, um Schätze zu vergraben, auf unserem Planeten gefunden werden. Wie es geschah, daß die fünfundsechszig Millionen Dollars (Gold, Silber und Juwelen) auf der Cocosinsel eingescharrt wurden, wird aus der Lebensbeschreibung des Capitain Welsh klar werden, die ich hier in Kurzem so wiedergeben will, wie sie der berühmte Schatzsucher in San Francisco erzählt hat.

Capitain Thomas Welsh und seine Gattin sind – so wird von ihnen behauptet – die einzigen Ueberlebenden von der Bemannung eines Seeräuberschiffes, dessen blutige Carriere im Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts gespielt hat. Welsh macht Anspruch darauf, der Sohn eines engländischen Edelmannes aus der Grafschaft Kent zu sein. Seine Mutter ward, ehe sie heirathete, von einem stolzen und schönen, aber leider sehr armen Engländer sterblich geliebt, mußte jedoch auf den Befehl ihres Vormunds – sie war eine Waise – gegen ihren Willen besagtem Edelmann an den Altar folgen. Aus Verzweiflung darüber, die Geliebte seines Herzens nicht heimführen zu können, ward der stolze und schöne, aber arme Engländer ein Pirat und machte es zugleich zu seiner Lebensaufgabe, an dem Zerstörer seines häusliche Glückes schreckliche Rache zu nehmen. Im Jahre 1813 ward Thomas Welsh geboren. Seine Jugendgespielin war Eliza, die Tochter des ehemaligen Vormunds seiner Mutter, und seine jetzige Gemahlin, die acht Jahre älter als er ist. Als die beiden Kinder (Welsh war dazumal vier, Eliza zwölf Jahre alt) einstens am Meeresstrande Muscheln suchten, überraschte sie ein großer und wild aussehender Mann, der frühere Geliebte seiner Frau Mutter und jetzt Seeräubercapitain, und schleppte sie auf ein Schiff, das in der Nähe der englischen Küste ankerte, – und bald darauf segelte die Piratenbrigg nach Westindien. Die Rache des Seeräubercapitains war freilich nicht ganz gelungen, da er beabsichtigt hatte, Vater, Mutter, Vormund und Kinder alle zusammen gefangen fortzuführen; aber er ließ es mit den Kindern bewenden und kehrte nie wieder nach England zurück. Der kleine Welsh wurde jetzt zum Seeräuber förmlich erzogen und Eliza wohnte in der Kajüte des Capitains.

Die Piratenbrigg war während des nächsten Jahres der Schrecken aller Kauffahrer in den westindischen Gewässern. Aber der unternehmende Capitain suchte einen größeren Wirkungskreis und hatte ein Auge auf das ehemalige Reich der Incas geworfen. Als im Jahre 1818 die spanischen Colonieen in Südamerika gegen das Mutterland revoltirten, segelte der Pirat um das Cap Horn nach der Südsee, wo sich ihm eine herrliche Gelegenheit darbot, die unbeschützten Kauffahrteischiffe und die mit dem Golde Peru’s beladenen spanischen Gallionen zu plündern, Die hundertsechszig Mann starke Besatzung des Seeräuberschiffes, welche aus Engländern, Schotten und Irländern bestand, war unter der Führung ihres heroischen Capitains unbesiegbar. Die schnellsegelnde Brigg war mit acht Geschützen bewaffnet, und die schweren Vollkugeln von der auf dem hohen Quarterdecke postirten Drehbasse, „Long Tom“ genannt, fehlten nie ihr Ziel. Zuerst wurden die reichen Kauffahrteischiffe zusammengeschossen und dann geentert; die auf ihnen gefundenen Schätze – Piaster, Dublonen, Gold- und Silberbarren, Juwelen, Silberzeug etc. – wurde an Bord der Brigg geschafft, einzelne verwegene Matrosen von den genommenen Schiffen als Seeräuberrekruten angeworben und dann das eroberte Fahrzeug mit Todten und Lebendigen versenkt. Nur einmal war das Piratenschiff nahe daran, genommen zu werden. Eine mit fünfhundert Seesoldaten bemannte französische Fregatte holte die Brigg ein und enterte dieselbe. Die Franzosen wären auch sicher Sieger geblieben, hätte der Piratencapitain nicht durch fast übermenschliche Tapferkeit seine Mannschaft zu Heldenthaten angefeuert, und er selbst, durch die dichtesten Haufen der Feinde dringend, diese dermaßen zusammengehauen, bis sie entsetzt die Flucht ergriffen. Bei dieser Gelegenheit erhielt der junge Welsh einen Säbelhieb über das Gesicht, wovon heute noch die Narbe zu sehen ist. Die Mannschaft des Seeräubers zählte nach diesem blutigen Siege nur noch sechszig Köpfe,

Um seine zusammengeschmolzene Mannschaft wieder vollzählig zu machen, landete der Capitain jetzt öfters an der chilenischen und peruanischen Küste, wo er zugleich mit den Einwohnern ein Freundschaftsbündniß anknüpfte, damit er das Absegeln der mit Gold und Silber befrachteten spanischen Gallionen rechtzeitig erführe, die er dann nachher plünderte. Nach und nach vermehrten sich die Schätze an Bord der Piratenbrigg auf eine so kolossale Weise, daß der Capitain sich nach einem Orte umsah, wo er die ungezählten Millionen sicher aufbewahren könnte. Er entdeckte die unbewohnte Cocosinsel und machte dieselbe sofort zu seinem Rendezvousorte und Schatzdepot. In einem etwa dreihundert Fuß hohen Berge fand man eine Höhle, die als Hauptquartier eingerichtet ward und wo in einem verborgenen Gewölbe die Beute untergebracht wurde. Wochenlang pflegten die Piraten hier wüste Trinkgelage zu halten und ihre Schätze zu zählen, ehe das Schiff zu neuen Raubzügen wieder in See ging. Bei ihrer Abreise wurde die Höhle jedesmal so wieder zugedeckt, daß es einem mit ihrer Lage nicht Bekannten unmöglich wäre, dieselbe aufzufinden.

Der kleine Welsh ward bald der Liebling der Seeräuber und der Capitain behandelte Eliza auf das Sanftmüthigste. Die Rache, welche er den beiden Kindern geschworen hatte, schien von ihn ganz und gar vergessen zu sein, und Welsh erinnert sich, daß er ihn oft seinen Sohn nannte. Er suchte einen Stolz darin, ihm zu einem tüchtigen Piraten auszubilden. Aber Welsh und Eliza, die zu einer schönen Jungfrau heranblühte, trauten nicht den Absichten des Capitains und hatten schon lange darnach gestrebt von dem Schiffe zu entfliehen, wozu dieser, der wohl so etwas argwöhnen mochte, ihnen jedoch keine Gelegenheit bot. Endlich, nachdem sie sieben Jahre lang unter den Piraten gelebt hatten, schlug ihnen die Stunde der Erlösung.

Die Seeräuber hatten bereits eine solche Unmasse Beute auf der Cocosinsel zusammengeschleppt, daß sie allen Ernstes davon sprachen, die Reichthümer – dieselben wurden auf mindestens dreizehn Millionen Pfund Sterling geschätzt – zu theilen und sich friedlich in’s Privatleben zurückzuziehen Der Capitain war damit einverstanden; nur noch einen guten Fang wollte er machen, und dann sollte das wilde und gefahrvolle Piratenleben aufhören. Er kannte eine reiche Stadt an der südamerikanischen Küste, die [389] er nach dem Beispiel der alten Buccanier plündern wollte. Ungezählte Millionen lagen dort in den Gewölben der Kaufleute, silberne Apostel standen in den Kirchen und schwere goldene Weihgefäße auf den Altären; die spanischen Dons hatten den Ertrag der nahen ergiebigen Silberbergwerke schon seit Jahren des Krieges halber nicht nach Hause schaffen können – genug, es waren in der friedlichen Stadt unermeßliche Reichthümer mit Leichtigkeit zu erobern. Während vier Tagen und Nächten praßten und schlemmten die Piraten in der Stadt, bis die Einwohner, welche jene gastlich aufgenommen hatten, die wahre Absicht ihrer Besucher merkten. Eliza war allein an Bord der Brigg zurückgeblieben, als einige aus einem benachbarten Hort im Geheimen von der Stadtbehörde zu Hülfe gerufene spanische Militärcompagnien unversehens über die zechenden Piraten herfielen. Während des Blutbades gelang es Welsh, in einem Boote die Brigg zu erreichen, mit Eliza zu flüchten und sich in einem nahen Walde so lange verborgen zu halten, bis der Kampf vorüber war, die Seeräuber wurden bis auf den letzten Mann niedergehauen, ihr Schiff verbrannt. –

Was Welsh während der nächsten dreißig Jahre nach dem so dramatisch von ihm beschriebenen Untergange der Piratenbande getrieben hat, möchte schwer festzustellen sein. Wie er behauptet, heirathete er seine theure Eliza in New-York, machte viele Seefahrten und war lange Zeit auf Neu-Seeland. In den fünfziger Jahren tauchte das Abenteurerpaar in San Francisco auf, wohin das californische Goldfieber sie gelockt hatte, und hier erfuhr die Welt zuerst von dem riesigen Schatze auf Cocos-Island. Welsh sprach von weiter nichts als von den fünfundsechszig Millionen, die er gern holen wollte. Aber ohne Hülfe war er nicht im Stande dies zu thun. Er allein von allen Menschen in der Welt wußte genau, wo der Schatz lag, hatte ihn mit eigenen Augen gesehen und konnte so zu sagen die Hand darauf legen. Wem jedoch sollte er trauen, außer seiner Eliza? und sie beide allein konnten den Schatz nicht heben. In San Francisco fanden seine kolossalen Räubergeschichten bei Vielen ein gläubiges Ohr. Bereits im Jahre 1855 segelte eine Expedition nach der Cocosinsel, um die Millionen zu holen, kehrte aber leider ohne dieselben zurück; und mehreren anderen ihr folgenden erging es nicht besser. Im Jahre 1867 wurde in San Francisco die „Actiengesellschaft von dem verborgenen Schatze in der Südsee“ gebildet, und Welsh übernahm das Commando des von der Gesellschaft ausgerüsteten Schooners „Petrel“ nach der Cocosinsel, auf welcher abenteuerlichen Fahrt ihn Eliza begleitete. Welsh behauptete damals, unterwegs eine Verschwörung, ihn und Eliza vergiften zu wollen, entdeckt zu haben, und daß er deshalb das Schiff nach Panama gesteuert hätte, wo er dasselbe verließ. Mir liegt eine Anzahl von aus Panama datirten Briefen vor, welche von einem gebildeten Deutschen, der sich in San Francisco auf dem Schooner „Petrel“ als Matrose hatte anwerben lassen, an hiesige Freunde geschrieben wurden, und worin die Cocos-Island-Geschichte als der größte Schwindel, der je dagewesen sei, gebrandmarkt wird.

Diese Reise des Schooners „Petrel“ von San Francisco nach Panama war eine ganz schreckliche. Es würde hier zu weit führen, diese Seefahrt, welche volle fünf Monate währte, ausführlich zu beschreiben; bald ward das Schiff von wüthenden Regenstürmen umhergeschleudert, bald kam es in Windstillen wochenlang kaum von der Stelle; die gänzliche Unfähigkeit des Capitains machte die Fahrt zu einer wahren Jammerreise. Zuletzt waren die Segel alle in Fetzen und kein Segeltuch da, um neue zu machen, als glücklicher Weise ein Vereinigten-Staaten-Kanonenboot in Sicht kam und den Schooner nach Panama schleppte. „Der verrückte Capitain“ – so schreibt unser Landsmann – „hatte sich um achthundert Meilen im Cours verrechnet und versteht besser eine Schneidernadel zu führen, als ein Schiff zu commandiren. Statt direct nach Cocos-Island zu fahren, kroch er förmlich an der Küste herum. Er ist der ungeschliffenste Mensch, den ich je sah. Daß er früher ein Seecapitain war, ist eine kolossale Lüge“ etc.

Ein anderer im April 1868 aus Panama datirter Brief enthält noch Folgendes:

„Die Herren Repräsentanten von der ‚South-Pacific-Prospecting-Company‘ sind noch immer hier und wissen nicht, was sie anfangen sollen. Der alte Capitain mit seinem Weibe (der holden Eliza!) geht von einem Kosthause in’s andere und bettelt sich durch. Sollte es in San Francisco noch Narren geben, welche Cocos-Island-Stock (Actien) laufen wollen, so weisen Sie dieselben an mich. Ich verkaufe meine buntbedruckten zwanzig Actienscheine zum Kostenpreise – für hundert Dollars.“

Das Ende vom Liede war, daß der Schooner „Petrel“ in Panama öffentlich versteigert wurde, damit die Matrosen, welche seit acht Monaten keinen Cent Geld erhalten hatten, ihre rückständige Löhnung ausgezahlt bekommen konnten. Trotz dieses glänzenden Fiascos der Fahrt des „Petrel“ und anderer Expeditionen zur Hebung des Schatzes fehlte es sowohl in San Francisco als in Centralamerika nicht an Leuten, welche an das Vorhandensein der fünfundsechszig Millionen auf der Cocosinsel glaubten. Im Jahre 1870 ging Welsh als Passagier mit einer unter den Auspicien der Regierung von Costa Rica ausgerüsteten Expedition von Punta Arenas nach Cocos Island. Diesmal gelangte er wirklich dorthin, er sah den Berg wieder, in dem die fünfundsechszig Millionen schlummerten. „Einmal“ – so erzählt er – „standen mehrere Schatzsucher dicht vor dem verdeckten Eingange der Höhle; aber sie entdeckten dieselbe nicht und noch weniger den in ihr verborgenen Schatz.“ Man beschwor Welsh auf den Knieen, die Höhle zu zeigen, wo der Schatz verborgen liege, man bat und drohte, man versprach ihm die Hälfte davon – Alles umsonst! Er weigerte sich standhaft, den Ort anzugeben, denn er wußte, daß die Abenteurer ihn hinterdrein doch todtgeschlagen hätten, damit er nichts bekäme – und so hatte auch diese Expedition keinen Erfolg.

Währen der letzten Jahre lebten Welsh und Eliza, Letztere als Wahrsagerin, in San Francisco. Vielen Hunderten hat diese hier als magnetisches Medium von den Schätzen auf der Cocosinsel erzählt: daß die Juwelen (meistens Rubinen und Diamanten) dort noch immer haufenweise in den eisernen Truhen glitzern, daß die Dublonen und Piaster in Säcken und Fässern an der einen Wand der Höhle stehen, die Gold- und Silberbarren daselbst zu Bergen aufgestapelt liegen und die massiven silbernen und goldenen Gefäße, Candelaber etc. gar nicht zu zählen seien.

In San Francisco, wo es mehr professionelle Wahrsagerinnen als vielleicht in irgend einer Stadt der Welt giebt, die hier ein gewinnreiches Geschäft treiben, in allen Zeitungen ihre Kunst anzeigen und als „Clairvoyants“ mit goldenen Lettern an den Hausfronten in den Hauptstraßen der Stadt die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden erregen, hat Eliza viele Gläubige gefunden, und namentlich unter den Negern schwören Hunderte auf den Fünfundsechszig-Millionen-Dollars-Schatz auf der Cocosinsel. Auch von anderen „Mediums“ wurde das Vorhandensein des unermeßlichen Schatzes bestätigt, und die in San Francisco oft citirten Geister der ehemaligen Piraten lieben es, davon zu reden. Es war daher Welsh ein Leichtes, hier eine neue Gesellschaft zu bilden, welche unter seiner Leitung diesmal die Millionen sicher holen will. Die Gesellschaft hat sich unter dem volltönenden Namen „South Pacific Hidden Treasure Prospecting Company“ (die Gesellschaft zum Auffinden des verborgenen Schatzes im südlichen stillen Ocean) nach den Gesetzen des Staates Californien geschäftsmäßig incorporirt und die Brigg Laura auf Actien angekauft. Welsh und Eliza haben sich freiwillig erboten, das Commando der Expedition zu übernehmen und sind als Befehlshaber des Schiffes installirt worden, welches, wie schon bemerkt wurde, am 29. Februar dieses Jahres direct von hier nach der Cocosinsel abgesegelt ist. Beide zusammen verlangen für ihre Mühe nur so viel von dem kostbaren Schatze, als man mehr als dreißig Millionen Dollars antrifft; sollte derselbe gegen Erwarten weniger als dreißig Millionen Dollars betragen, so bekommen sie nach den Statuten der Gesellschaft keinen Cent. Acht Mitglieder der Gesellschaft sind mitgefahren, und die Brigg Laura zählt außer den Actionären noch sechs Matrosen. Das Schiff ist mit allem Nothwendigen auf’s Beste ausgerüstet und mit Lebensmitteln auf acht Monate versehen; aber Welsh und Eliza glauben in weniger als vier Monaten nach der Abreise, also im Monat Juni, von der Cocosinsel zurückzukommen, d. h. wenn das Anbordnehmen der fünfundsechszig Millionen nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen sollte. Aber im August dieses Jahres wird der Piratenschatz sicher in den Gewölben der „Bank of California“ in San Francisco niedergelegt sein.




[390]
Ein Volkstribun von Achtundvierzig.


Durch alle Zeitungen läuft heute die Nachricht, daß unter den zahlreichen amerikanischen Festwallern zum großen Schützentag in Hannover auch Friedrich Hecker sein werde. Und seltsamer Weise ist gerade der heutige Tag geeignet, das Andenken an ihn ganz besonders aufzufrischen. Denn am 23. Mai vor siebenundzwanzig Jahren war es, wo ein Junger und ein Alter, zwei süddeutsche Vorfechter deutscher Volksfreiheit und Nationalehre, aus Berlin, das sie als geehrte Gäste besucht hatten, und aus dem gesammten preußischen Staate ausgewiesen worden sind. Der Alte genoß bereits des bewährten Rufs eines treuen und unerschrockenen Volksmannes, dem Jüngeren, der bis Dato nur in dem engeren Kreise seines Heimathlandes die Schlagfertigkeit seines Geistes geübt, verhalf jene Ausweisung plötzlich in ganz Deutschland zu derselben Auszeichnung. Der Alte war Johann Adam v. Itzstein, der Junge war eben Friedrich Hecker.

Als populärer Mann damals in die Heimath zurückgekehrt, mußte er dennoch bald genug Spott und Hohn ernten, als er bei der Theuerung im Jahre 1846 den Vorschlag machte, daß jeder Wohlhabende eine Anzahl brodloser und darbender Arbeiter an seinen Tisch nehmen sollte. Dieser Hohn und fruchtlose Kämpfe in der Kammer, deren Mitglied er seit 1842 war, bestimmten ihn, Anfangs des nächsten Jahres sein Mandat niederzulegen und durch eine Reise nach Algier sich der heimathlichen Unbill zu entziehen

Das kommende Jahr brachte die Februar-Revolution und die Entscheidung seines ganzen Lebensschicksals. Hecker eilte nach Karlsruhe, wohin Tausende zogen, und hier war es, wo am stürmischen ersten März seiner zauberhaft wirkenden Beredsamkeit allein es gelang, die Volksmassen von rohen Excessen abzuhalten.

Im Vorparlament sprach er, im Verein mit Struve, schon ungescheut die allerradicalsten Gesinnungen aus. Als man aber hier seinen Antrag: „Das Vorparlament möge sich in Permanenz erklären“ – ein Antrag, dessen Annahme allerdings der deutschen Erhebung wohl einen anderen Charakter verliehen haben würde – zurückwies und als er sogar bei der Wahl des Fünfziger-Ausschusses durchfiel, zog er sich scheinbar von der ganzen Bewegung zurück. – Aber schon am 12. April rief er in Constanz das Volk zum Kampf für eine Freistaatsverfassung auf, die allein in Deutschland dauernd gedeihen könne. Sofort ging’s an die Bewaffnung. Drei Züge unter der Führung von Struve, Sigel und Weißhaar bildeten das kleine Freicorps, mit welchem er am 20. April vor Kandern den badischen Truppen unter dem Generallieutenant Friedrich v. Gagern in Schlachtordnung gegenüberstand. Es erfolgte nun jene auch in Bildern verewigte Unterredung Hecker’s und Gagern’s auf der Brücke von Kandern, die zu keinem Resultat führte, aber nach welcher durch mehrere Schüsse aus dem nahen Walde der General und sein Adjutant tödtlich verwundet wurden. Hecker hatte keinen Antheil an diesem Frevel, aber die Strafe dafür traf ihn mit. Nach kurzem Gefecht wurde die Freischaar zersprengt und Hecker mußte den Heimathboden fliehen; er ging in die Schweiz und, als auch der badische Landtag und das Parlament ihn als Hochverräther behandelten, nach Amerika. Auf seiner Farm in Albany erhielt er die Kunde des pfälzisch-badischen Aufstands von 1849; er eilte mit einer kleinen Schaar amerikanischer Officiere nach Europa zurück und kam in Straßburg an, als es in Baden eben aus war. So schied er abermals von der alten Heimath und baute sein Feld auf dem Boden der neuen. Noch lange blieb er der Abgott namentlich der Volksmassen; keine Volksversammlung, keine Fahnenweihe verging, ohne daß sein Hoch ausgebracht worden wäre, und selbst als die Menschen alt geworden und die Zeit eine neue, endlich sogar mit dem neuen deutschen Reich, ist Hecker’s Name keineswegs mit dem „Heckerhut“ und dem „Heckerlied“ aus dem Gedächtniß der Deutschen verschwunden, ja er erneuerte selbst sein Andenken durch seine geharnischten Worte gegen jedes particularistische und antinationale Streben in Deutschland. Und so haben neue Tausende ihm die Herzen zugewandt, und wohl Keiner ohne den Wunsch, den alten Kämpfer einmal wiederzusehen.

Vor der Hand führen wir ihn unseren Lesern wenigstens in seinem Bildniß vor, für dessen vollkommene Aehnlichkeit der durch seine Festrede beim jüngsten „Hambacher Feste“ in weiteren Kreisen bekannt gewordene Buchhändler Eduard Witter in Neustadt an der Haardt eintritt, welcher im vorigen Jahre Amerika bereiste und Hecker’s Gast war.

An einem traulichen Abend der letzten Meßzeit erfreute Freund Witter uns mit einer so lebhaften Schilderung dieses Besuchs bei Hecker, daß wir ihn baten, die Weiterverbreitung derselben in der Gartenlaube zu gestatten; diese folgt hiermit, und mit seiner Hülfe wörtlich.

„Ich hatte,“ begann er, „von Haus aus die Absicht, den alten braven Patrioten aufzusuchen, und dazu fand sich bald die schönste Veranlassung. Dr. Weigel, der alte wackere Pfälzer, auch ein Achtundvierziger, der mit Hecker dem Vaterlande Valet sagen mußte, mit ihm auf amerikanischem Boden landete und auch gemeinsam mit ihm in den amerikanischen Krieg zog, lud mich ein, Hecker’s sechszigjährigen Geburtstag auf seiner Farm bei Summerfield mitzufeiern. Es ist bekanntlich der achtundzwanzigste September. Eine kleine Zahl vertrautester Freunde Hecker’s von St. Louis verabredete den Ausflug zur Ueberraschung des ‚Alten‘, und so zogen wir schon am Vorabend, der alte Weigel, sein Sohn, der Unterstaatssecretär von Missouri ist und dem im Kriege eine Kanonenkugel das Roß unter’m Leibe weggerissen hatte, der alte Lingenau, eine in der Union bekannte volksagitatorische Persönlichkeit, und Uhlenhut, ein tapferer Kämpfer im Rebellenkrieg, den Mississippi kreuzend, auf der Ostseite von St. Louis zur Bahnstation. Es war ein wundervoller September-Nachmittag und unsere Fahrt von circa zwei Stunden Eisenbahnzeit ausgezeichnet. Wir fuhren vorbei an den reichsten Kohlenlagern der Welt, die da fast zu Tage liegen, den Waldhöhen (Blufftons) zu gen Lebanon, einem reizend auf einer Anhöhe gelegenen Städtchen, meist von Deutschen bewohnt, wie dieser ganze Strich von Illinois, nach Station Summerfield. Nach einer kurzen Rast machten wir uns auf, um zu Wagen die nahe Farm zu erreichen. Es war eine angenehme Fahrt von circa dreiviertel Stunden, rechts und links im Walde lag heimlich ein Farmhaus um’s andere, wir passirten ein' paar seichte Bäche, eine kleine Stätte des ewigen Friedens, dann kam ein schöner Wald – wir waren bereits auf Hecker’s Grund und Boden angekommen, fuhren aber noch eine ziemliche Weile und bogen dann rechts ab. Meine Neugierde wuchs mit jeder Minute, da blickte zwischen üppigen Welschkornfeldern, Obstbäumen und Rebgeländen ein kleines Ziegeldach, es war Hecker’s Freiherrnsitz. Die starken Rosse wurden rascher angetrieben, ein Peitschenknall, ein kräftiges Hurrah erschallte, das hölzerne Thor öffnete sich, wir waren angekommen.

Meine Blicke spähten nach allen Seiten, da erschallte ein heiteres Halloh zum Fenster heraus und ein herzliches ‚Grüß Gott‘, es war der alte Hecker. Ich muß gestehen, ich war selten so begierig auf eine Persönlichkeit wie die Hecker’s gewesen. Wie er jetzt wohl aussehen mag? – Diese Frage kam mir nicht aus dem Sinn, und niemals bin ich angenehmer überrascht gewesen. Vor mir stand eine kräftige edle Mannesgestalt in aufrechter gerader Haltung und leichter gewandter Beweglichkeit, mit einem prächtigen Kopf, gesunden gebräunten Antlitzes, die alte Adlernase sitzt noch kühn im Gesicht und aus den großen blauen Augen leuchtet noch die alte deutsche Ehrlichkeit und blitzt noch die alte Energie. Ist der volle schöne Bart der achtundvierziger Erinnerung auch verschwunden und einem gebleichten Knebelbarte gewichen, so dünkt es mir, als sei dies eine diesem Kopfe vortheilhafte Veränderung, der energische Ausdruck des Gesichts tritt dadurch besser hervor und zeigt in einem Bilde die ganze brave, treue, deutsche Seele. Auch sein ‚Gewandl‘ verdiente Beachtung, denn unter dem kurzen Haus-, Jagd- und Feldrock sahen ein Paar so urkräftiger Beinkleider hervor, daß wohl Alles daran, Stoff, Schnitt und Naht, hausgemacht ist, und auf dem Haupte saß ein Heckerhut, wie er im Buche steht, augenscheinlich noch ein Revolutionsalterthum. Ich hatte mich rasch selbst vorgestellt mit noch einem Freund aus Baden, worauf er uns herzlich die Hände schüttelte.

Wir traten ein in’s Haus, das stets der Gastfreundschaft geöffnet ist, fanden da Hecker’s Söhne versammelt, kräftige Gestalten mit gebräunten Gesichtern, von denen der eine verheirathet ist und in der Nähe Hecker’s eine eigene Farm besitzt, eine verheirathete [391] Tochter, einem Mädchen gleich, und – die schaltende waltende Hausfrau, die mich sofort ganz besonders interessirte durch den anheimelnden Mannheimer feinen Frauenaccent und die eigenthümlich aristokratische Reserve bei allem freundlichen Entgegenkommen.

Ihr könnt Euch denken, daß wir einen sehr vergnügten Abend verbrachten und natürlich viel von Deutschland sprachen. Ich pries unsere jetzigen Zustände, unsere herrlichen Errungenschaften des letzten Krieges und gab der sympathischen Haltung der deutschen Bevölkerung Amerikas bezüglich der letzten Ereignisse freudigen Ausdruck, hervorhebend, wie gerade Hecker’s geistiges Eingreifen in Deutschlands politisches Leben durch seine gepfefferten Briefe etc. seit 1866 von großer Wichtigkeit gewesen, wie größere Zersplitterung

Friedrich Hecker,
aufgenommen in seinem sechzigsten Lebensjahre.

der liberalen Parteien dadurch vermieden worden, daß Hecker sich sofort auf den entschieden nationalen Standpunkt gestellt habe, und wie er durch seine Friedensrede, die in alle Zeitungen Deutschlands übergegangen sei, die Herzen des Volkes von Neuem erobert habe. Dabei lud ich ihn ein, einmal hinüberzukommen und sich die Herrlichkeiten des deutschen Reiches jetzt anzusehen, des herzlichsten Willkommens von allen Seiten könne er versichert sein.

Hecker hörte mich ruhig an, dann sprach er etwas nachdenklich:

‚Lieber Witter, was soll ich drüben bei Euch thun? – Meine Freunde sind meine Feinde geworden und meine Feinde meine Freunde. Dann bin ich jetzt ein alter Knabe und habe meine Sorgen, kann nicht selbst mehr die Bäume ausreißen und meinen Acker pflügen und mein Korn einheimsen. Mit fremden Kräften aber wird’s zu theuer. Zudem heirathen die Jungen, da muß ich den Kopf zusammen nehmen und weiter sorgen, hab’ also keine Zeit.‘

Als ich erwiderte, daß seine Arbeit in Deutschland jetzt auch bezahlt werden könnte, wir hatten ja heidenmäßig viel Geld, lachte er und sagte:

‚Ja, ja, weiß schon, daß Bismarck auch Schurz bat, in Deutschland zu bleiben, indem er auf seine alten vergilbten Geheimräthe hinweisend äußerte: ‚Was soll ich mit den alten Bureaukraten fertig kriegen? ich brauche frische Kräfte, so wie Sie.‘ Aber ich,‘ fuhr Hecker fort, ‚ich passe nicht mehr für Deutschland, ich kann keine Bücklinge machen und bin die Luft der Freiheit gewöhnt.‘ Mit einem sarkastischen Lächeln um seine Lippen und in energischem Tone setzte er hinzu: ‚Ich war einmal der Mephisto der Monarchie und will es bleiben. Hütet Euch draußen, Ihr Gefühlspolitiker, daß eine Reaction Euch nicht wieder um Vieles bringt, in dem Preußen steckt hie und da noch eine verdammte Adelsclique, die mit den Pfaffen Hand in Hand Alles fähig ist. Seid auf der Wacht und traut nicht zu viel. In Süddeutschland ist durch lange constitutionelle Arbeit das Feudalwesen beseitigt, aber im Norden steckt’s stellenweis’ noch dick –‘

‚Aber, lieber Kerle,‘ fiel der alte Lingenau ein, sieh ’mal, Ostpreußen und das Rheinland haben doch stets die Fahne der Freiheit in Preußen hochzuhalten gesucht!‘

Da hättet Ihr sehen sollen, wie in drei Gängen dieser polemischen Mensur der gute Lingenau von Hecker verhauen wurde, ganz ‚Götz von Berlichingen‘ schlug er drauf los, das wir schließlich in lautes Halloh ausbrachen, und beim Becherklange, gefüllt mit ganz gutem Concordwein, Hecker’s eigenem Gewächs, brachten wir dem alten Kämpen ein donnerndes Hoch.

Es war spät geworden, als wir das Lager aufsuchten, das ich ganz comfortable fand. Beim ersten Strahl der Sonne hatte ich mit Freund Weigel die Flinte ergriffen, wir gingen jagen mit Hecker’s Söhnen auf der ziemlich weitausgedehnten Farm von wohl hundert Morgen; da gab es Rabbits (den amerikanischen Hasen), Quails (eine kleine Sorte Feldhuhn), wilde Tauben und allerlei Gevögel in Masse, auch Squirrel (unser Eichhörnchen), das eine Delicatesse ist, und wir zogen ziemlich beutebeladen heim. Weitere Freunde von Belleville Springfield waren gekommen, uns schmeckte der Frühschoppen und in der heitersten Stimmung setzten wir uns zu Tisch.

Im belebten Gespräche wäre fast der feierliche Moment der Geburtstagsgratulation vorübergegangen, als ich mich aus Anlaß eines gelinden Rippenstoßes von Freund Weigel erhob und im selben Augenblick Hecker sagte: ‚Ich glaube gar, er hält a speech (eine Rede).‘ Und sie kam wirklich und ungefähr so:

‚Mir ist’s, als sei es kein Zufall, sondern fast ein Auftrag vom Genius des deutschen Volkes, jetzt nach glorreich erfochtenen Siegen und erreichtem Ziele heißer Strebungen der Besten unseres Volkes Gefühle der Dankbarkeit in diesen fernen Westen, in diese traute Heimlichkeit zu tragen und dem Manne zu übermitteln, der durch die politische Thätigkeit seines Lebens und besonders des Jahres 1848 einen nicht geringen Antheil hat an den heutigen Errungenschaften. Ich bringe Hecker zu seinem sechzigjährigen Geburtstage die Glückwünsche und den Dank des deutschen Volkes dar für sein edles patriotisches Wirken zur Herstellung eines einigen großen freien Deutschlands. Er hat das Schwert des Geistes und des Eisens geschwungen zum Wohle seines alten Vaterlandes und hat geblutet für die heiligsten Interessen der Menschheit in seinem zweiten Heimathlande Amerika zur Ehre und zum Ruhme des deutschen Namens in diesem Lande. Von sich gewiesen hat er jede Pfründestelle, treu und makellos ist sein Charakter, in schwerer Arbeit hat er sein Brod gebaut und aus eigener Kraft und mit reger Hand aus der Wildniß sich eine blühende Farm geschaffen. Laßt uns, Freunde, ihm, unserem Hecker, dem wackeren Kämpen, dem Jubilar ein Hoch bringen und seinem trefflichen Weibe, das ihm als sein guter Geist zur Seite steht.‘ Und so geschah es.

‚Ja,‘ antwortete Hecker sichtlich gerührt, ‚ich liebe mein altes Vaterland, ja ich bin gewissermaßen Pangermane, grüßen Sie mir herzlichst mein Deutschland! Aber auch heiß lieb’ ich dies Land der Freiheit. Die Schäden der Corruption heilen sich da aus, aber Euren Bureaukratismus kriegt Ihr nicht so bald los. Ihr seht,‘ fuhr er lächelnd fort, ‚ich bin noch immer der alte Raisonneur. Mein Alter hat mir immer gesagt: ‚Junge, wo hast Du denn nur das lose Maul her?‘ Ich wußte es wohl, woher; wer hatte mir denn immer vorerzählt von dem Bundestag [392] und der scheußlichen politischen Wirthschaft im deutschen Reich als er selbst? Da ist mir als Knaben schon die Galle gestiegen, und ich denke, ich hab’ auch das Maul manchmal richtig gebraucht.‘

So plauderten wir denn weiter unter den herrlichen Ulmen vor Hecker’s Haus. Da rückte die Zeit der Abreise heran, ein herzlicher Händedruck, und wir schieden mit dem Gefühle ein paar schön verbrachter Stunden, ich zugleich mit der festen Ueberzeugung: Hecker kommt doch bald ’mal herüber!

Ueber meine Fahrt mit Hecker in die Prairie am Indianergebiet, unsere Jagd und Campirung bei einem Indianerhäuptling, El Selzer oder so ähnlich, in welchem Hecker durch das Citat aus einer alten Chronik:

‚Der Württemberger, der Badner und der Pfälzer,
Die schlugen einst den tapfern Selzer‘

einen aus dem Elsaß, ich glaube Straßburg, stammenden Deutschen urgroßväterlicher Seite her entdeckte, und seinem Töchterlein Kawasah, die meinen Erzählungen über Deutschland und die Kriegsthaten des letzten Jahres, die Geschichte von der Gefangenschaft des Kaisers der Franzosen, des Häuptlings der französischen Indianer, und seiner ganzen Armee so andächtig mit den großen Augen lauschte, ein andermal.“

Soweit Freund Witter, dessen hier verheißene weitere Mittheilungen unseren Lesern, schon um noch mehr von Hecker zu hören, gewiß willkommen sein werden. Ihm selbst aber, dem „Alten“, sei es hiermit auch durch die Gartenlaube zugerufen, daß seine Befürchtung, seine Freunde möchten seine Feinde und seine Feinde seine Freunde geworden sein und er wie ein alter Fremdling im neuen Reiche erscheinen, ein Irrthum ist, der mit seinem ersten Schritte auf deutschen Boden verschwinden wird. Die Väter haben ihren Kindern so viel von „dem Hecker“ erzählt, und sein Bild hängt noch in so vielen Bürger- und Bauernstuben neben dem Luther’s und des alten Fritz, daß ihm der herzlichste Empfang gesichert ist. Möge er recht bald die alte Heimath begrüßen, er kann es, nachdem er, als ein neuer Cincinnatus, Schwert und Pflug geführt und den Seinen eine neue Stammburg freier Menschen gegründet hat.




Jüdische Frauen vor vierzig Jahren.[1]


Schon in meiner Knabenzeit unterschieden sich die älteren Frauen meiner Heimath sehr bedeutend von den jüngern nicht nur in Bezug auf Bildung, sondern auch in der äußeren Ankündigung. Jene trugen ein ganz eigenthümliches, halb orientalisches, halb russisches Costüm. Dasselbe bestand aus einem Kleide von schwerem Brocat und aus einem Kopfputz, dem „Geschleier“, einer goldenen Kappe mit einer breiten goldenen Stirnbinde, deren beide Enden kreuzweise über den Rücken fielen. Einige trugen auch den „Perlenbund“, der dem Kakoschnik, dem bekannten russischen, sehr kleidsamen Kopfschmuck, ähnlich und mit Perlen und Diamanten reich verziert war. Die jüngere Generation kleidete sich bereits deutsch, ohne darum auf den Juwelenschmuck zu verzichten. Die Hälfte ihres Vermögens hatten die Juden damals in Kleinodien stecken. Die Mitgift bestand fast zur Hälfte aus Goldschmuck und Edelsteinen, und mit dem zunehmenden Wohlstande ward auch der Schatz dieser Kostbarkeiten vergrößert. Selbst eine Frau aus dem Mittelstande trug ihre Perlenschnüre und hatte im Hause einen beträchtlichen Vorrath an Silberzeug. Dies ist aber nicht blos der Eitelkeit zuzuschreiben; sondern es hatte seinen Grund zum Theil in den Gefahren, denen bisher das Eigenthum der Juden ausgesetzt gewesen. Der Jude, der früher kein Grundeigenthum erwerben durfte und oft genug von der Habgier großer und kleiner Fürsten gebrandschatzt wurde, konnte wenigstens den Theil seines Vermögens, den er in Geschmeiden besaß, leicht vor der Raubsucht seiner Verfolger retten, wenn er zur Flucht genöthigt war. Mit der verbesserten Stellung der Juden verlor sich auch die Last an solch todtem Capital.

Die älteren Frauen der damaligen Zeit schlossen sich ebenso wie die Männer vor der nahenden Aufklärung ab, und die jüngern, die sich dieser Aufklärung sehr zugänglich zeigten, vermieden doch Alles, was die ehrwürdigen Matronen in deren Glaubensstarrheit hätte verletzen können. Sie wurden überhaupt mit einer unbeschreiblichen Hochachtung behandelt, nicht blos von der heranwachsenden weiblichen Generation, sondern auch von den Männern und zwar von den hervorragendsten und gelehrtesten. An den Sonnabenden und Festtagen, vor einer Reise und bei der Rückkehr von derselben drängte man sich herbei, um ihren Segen zu empfangen, und sie spendeten ihn mit einer schwer zu schildernden feierlichen Sammlung. Sie waren nach ihrer Weise gut unterrichtet; denn sie verstanden nicht allein die hebräischen Gebete, sondern auch die Bibel, und Viele von ihnen, wie z. B. meine Großmutter väterlicher Seits, citirte im Gespräche zahlreiche Bibelverse und Sprüche jüdischer Gelehrten und schrieb dieselben auch ohne orthographische Fehler. Sie ließen es auch nicht bei frommen Worten bewenden, sondern übten die Wohlthätigkeit als eine heilige Pflicht und übten sie im Stillen. Wo ihre eigenen Kräfte nicht ausreichten, nahmen sie die Kräfte Anderer in Anspruch und scheuten keine Mühe, keine Entsagung, wenn es galt, den Bedrängten Hülfe zu spenden, den Kranken die Schmerzen zu erleichtern, den Verfolgten zu ihrem Recht zu verhelfen, den Verleumdeten Genugthuung zu verschaffen. Ihr eifrigstes Streben war den Namen einer Zenoue (fromme Matrone) zu verdienen und ihr Beispiel von Anderen befolgt zu sehen.

Auf Sittenreinheit wurde streng gehalten und eine Verletzung derselben zog der Familie einen ewigen Makel zu. Wenn eine Frau oder ein Mädchen sich verging, so wurde dies fast als ein Nationalunglück betrachtet. Solche Fälle kamen übrigens äußerst selten vor. Ich erinnere mich eines Falles, den ich als Beweis für die Sittenstrenge unter den damaligen Juden anführen will. Eines Sommerabends saß ich, noch ein kleiner Knabe, vor dem Hause meiner Großeltern. Mehrere Nachbarinnen hatten sich vor demselben eingefunden und plauderten mit meiner Mutter und Großmutter. Während dieser Unterhaltung geht eine Frau vorbei, die ich sehr gut kannte, gerade vor sich hinstarrend, Niemand grüßend und von Niemand gegrüßt. Dies fiel mir um so mehr auf, als diese Frau mit den vor unserer Wohnung versammelten Damen bisher auf dem freundschaftlichsten Fuß gestanden. Die Nachbarinnen zischelten nun untereinander und schienen sehr bestürzt. Die Frau war nämlich des Ehebruchs von ihrem Gatten überwiesen worden. Am andern Morgen fand man die Leiche im Stadtgraben. Durch Selbstmord hatte die Unglückliche die Schmach gesühnt, die ihr das Leben unerträglich machte.

Die Keuschheit wurde bei den Frauen nicht nur durch die strenge Erziehung, durch die frommen Lehren der Eltern, sondern auch dadurch erhalten, daß die Mädchen im fünfzehnten oder im sechszehnten Jahre in die Ehe traten, ja nicht selten schon im vierzehnten Jahre. Der Gatte war nicht viel älter. Bei diesen Bündnissen spielte die Leidenschaft keine Rolle. Amor arbeitete Hymen nicht in die Hände. Die Eltern entschieden, und die Kinder fügten sich dem Willen der Eltern. Daß unter solchen Verhältnissen die Ehen nicht immer glücklich waren, versteht sich von selbst; doch waren die entschieden unglücklichen ziemlich selten. Die Ehen beruhten auf gegenseitiger Duldung und erhielten eine besondere Stütze durch die tief eingeprägten religiösen Grundsätze. Ein Sturm in der Ehe wurde von den Schwiegereltern oder sonstigen Verwandten beschworen. Nahmen die Zwistigkeiten einen bedenklicheren Charakter an, so wandte sich das Paar an einen ehrwürdigen Rabbi oder an den Rabbiner der Stadt, und der fromme Mann suchte durch seine Ermahnungen den Frieden wieder herzustellen.

Die Rabbiner erfreuten sich eines unbedingten Vertrauens und verdienten dasselbe auch im höchsten Grade. Sie waren keine heuchlerische Pfaffen, welche die Armen und Bedrängten auf das ewige Leben vertrösten, während sie sich selbst das irdische Leben so angenehm wie möglich zu machen suchen und sich runde Bäuche anmästen. Ihr Leben war eine fortgesetzte Selbstopferung. Die Achtung, die man vor dem Rabbiner hegte, galt ihm, seiner Person, nicht seinem Stande. Unter den Juden giebt es überhaupt [393] keinen eigentlich geistlichen Stand. Jeder Jude kann, ohne besondere Weihe, Rabbiner werden und wieder dem Rabbinat entsagen.

Wenn sich nun bei den Ehezwisten die Bemühungen des Rabbiners unzulänglich erwiesen, so wurde zur Scheidung geschritten. Die Ehescheidungen waren nicht sehr selten und wurden in der Synagoge vollzogen.

Die Mädchen wurden nicht streng überwacht, Sie durften ohne Begleitung ausgehen; sie mißbrauchten jedoch diese Freiheit nicht. Ein Mädchen, das sich häufig auf der Straße allein sehen ließ, gefährdete ihren Ruf und wurde, mit Anspielung auf die unglückliche Tochter des Erzvaters Jacob, „Dina Läuferin“ gescholten. Bei den Ehebündnissen wurde viel weniger auf Geld als auf guten Ruf gesehen. In eine Familie zu treten, die bedeutende Gelehrte und notorisch fromme Männer hervorgebracht, wurde für keine geringe Ehre gehalten. Die Aristokratie unter damaligen Juden hatte ihre langen Stammbäume, und man nannte mit Stolz die Männer, die durch ihre Schriften hervorgeragt, durch Wohlthun sich ausgezeichnet oder durch ihren Tod für den Glauben ein glänzendes Beispiel gegeben. Da solche Namen unter den Juden aller Länder bekannt waren, so wurden diejenigen, die sich der Abstammung von glorreichen Männern rühmen konnten, überall bereitwilligst aufgenommen. Waren nun zwei Familienväter von solch ruhmwürdiger Abkunft, so suchten sie durch die Verbindung ihrer Kinder ihren Stamm noch mehr zu veredeln, und nicht selten geschah es, daß die Sprößlinge, die noch in den Windeln zappelten, verlobt wurden. Das Brautpaar in der Wiege ließ sich drei Lustren später ohne Sträuben an den Traualtar führen, und diese Ehen waren bei den damaligen patriarchalischen Verhältnissen nichts weniger als unglücklich. Die Ehen werden im Himmel geschlossen, sagte man sich, und indem man den lieben Gott zum Eheprocurator machte, fügte man sich ergebungsvoll in dessen Schickung und beschwichtigte das geheime Grollen des Herzens durch das Bewußtsein gewissenhafter Pflichterfüllung.

Und der Pflichten gab es genug zu erfüllen. In der Haushaltung waren tausend rabbinische Vorschriften streng zu beobachten und sie erheischten eine unausgesetzte Ueberwachung. Der Topf, der auf dem Markte gekauft worden, mußte erst in fließendes Wasser getaucht werden, bevor er benutzt werden konnte, und kam er in die Küche, so mußte er höchst sorgfältig von einem großen Theile seiner Mittöpfe abgesondert werden. Die Töpfe nämlich, die zu Fleischspeisen dienten, durfte man niemals für Milchspeisen verwenden. Eine Verwechslung dieser Geschirre machte die Speisen unbrauchbar und brachte in die Wirthschaft eine unbeschreibliche Verwirrung, die nur durch unablässiges Glühen, Waschen und Scheuern wieder beseitigt werden konnte. Man durfte niemals mit Sicherheit darauf rechnen, das Geflügel, das gackernd und schnatternd im Hofe herumlief, einst auf dem Tische zu sehen. Wenn der Schlächter mit dem Messer nicht tief genug oder etwas zu tief in den Hals des Thieres einschnitt, so war dasselbe dem Genuß entzogen. War es tadellos abgeschlachtet, so konnte sich doch beim Ausweiden desselben ein Unglück ereignen. Sobald man nämlich irgend eine Abnormität an den Geweiden fand, mußte das Thier sogleich zu einem Rabbiner geschafft werden, der die Befugniß hatte, über solche Angelegenheiten zu entscheiden. Er untersuchte höchst sorgfältig die Abnormität, und sprach er das verhängnißvolle „Trepha“ (ungenießbar) aus, so war der Genuß des betreffenden Thieres untersagt. Es ereignete sich nicht selten, daß man sich auf eine gebratene Gans freute und mit einem magern Fisch fürliebnehmen mußte, weil die Gans durch einen verdächtigen Fleck an der Leber oder eine Verhärtung am Magen von dem Rabbiner als „Trepha“ erklärt worden. Solche Fälle konnten sich ereignen, wenn man Gäste zu Tisch geladen, was dann die arme Hausfrau in keine geringe Verlegenheit setzte. Der Talmud, der sich um die geringfügigsten culinarischen Angelegenheiten kümmert und den Küchenherd streng überwacht, machte den jüdischen Hausfrauen das Leben recht sauer, und sie schwebten in steter Angst, besonders an Sonnabenden. Da nämlich den Juden untersagt ist, Küchenfeuer am Sabbath zu unterhalten, so wurden die Speisen am Freitag in wohlverschlossenen Töpfen, auf denen der Name der Eigenthümer mit Kreide geschrieben war, zu den jüdischen Bäckern geschickt und am folgenden Mittag von der Magd abgeholt. Nun sahen sich aber die Töpfe sehr ähnlich; dazu kam noch, daß der Ofenruß nicht selten die mit Kreide geschriebenen Namen unleserlich machte; die Töpfe wurden daher häufig vertauscht, so daß der Arme die delicaten Speisen des Reichen bekam und dieser sich mit der dünnen Kost des Armen begnügen mußte. War der Ofen übermäßig geheizt, so fand man bei der Oeffnung der Geschirre, die vierundzwanzig Stunden im Ofen zugebracht, verkohlte und völlig ungenießbare Speisen. Es konnte auch vorkommen, daß die Speisen einer jüdischen Familie, die im Geruche der Aufklärerei stand und sich in Bezug auf die talmudischen Vorschriften manche Freiheiten erlaubte, im Backofen sich befanden. Eine fromme Familie, die dies erfuhr, berührte dann die eigenen Speisen nicht, aus Furcht, daß die aufgeklärten Töpfe den orthodoxen Töpfen zu nahe gekommen sein könnten. Es kam sogar vor, daß ein Christ einen mit Schweinefleisch gefüllten Topf in einen jüdischen Backofen einzuschmuggeln wußte und durch diesen leidigen Spaß den ganzen Inhalt des Ofens, Speise und Geschirr, ungenießbar und unbrauchbar machte.

Außer den Rabbinern erschwerten auch noch die Kabbalisten den jüdischen Frauen das Dasein durch tausend Vorschriften, über deren Grund man sich oft umsonst den Kopf zerbrach. Eine dieser Vorschriften, die ich meine Großmutter gewissenhaft erfüllen sah, ist mysteriös genug und hat meine Neugierde nicht wenig gefoltert. Alle drei Monate, und zwar zur Zeit der Nachtgleichen und Sonnenwenden, öffnete die fromme Matrone sämmtliche Speiseschränke und legte auf die mit rohen feuchten Speisen oder Flüssigkeiten gefüllten Töpfe, Flaschen und sonstige Geschirre verrostete Nägel, alte Schlüssel und was sie an unbrauchbarem Eisen zur Hand hatte. Als ich sie nach der Ursache dieses Gebrauchs fragte, antwortete sie, dies geschehe, damit kein Blutstropfen auf die Nahrungsmittel falle. Weiter ging ihre Gelehrsamkeit nicht, und ich war so klug wie zuvor. Viele Jahre später erfuhr ich erst, daß diese kabbalistische Vorschrift zuvörderst auf dem Aberglauben beruhe, daß bei dem Beginn jeder der vier Jahreszeiten aus den oberen Luftschichten ein die Gesundheit bedrohender Blutstropfen falle, das Eisen aber die Kraft besitze, denselben unschädlich zu machen. Aber auch die Blutplage in Aegypten, das Geschick der Tochter Jephta’s und sogar der Adonis-Mythus spielen eine Rolle in diesem Aberglauben, den die Kabbalisten durch allerlei etymologische und meteorologische Firlefanzereien unter die zu beobachtenden Gebräuche eingeschwärzt und den Judenfeinden einst einen bequemen Grund zu neuen Verdächtigungen gegeben.

Man sieht, wie sauer den Juden die Tafelfreuden wurden und welche Mühe und Noth sie den frommen Hausfrauen verursachten. Dazu kamen noch die vielen langen Gebete, die sie verrichten mußten und die sehr viel Zeit raubten. Man konnte keinen Bissen Brod, keinen Schluck Wasser genießen, ohne sich vor und nach dem Genusse desselben durch ein Gebet mit dem Himmel abzufinden. Außerdem mußte eine fromme Frau auch die Gebete ihrer Kinder, besonders der Töchter, überwachen. Auch die Werke der Wohlthätigkeit nahmen ihre Zeit in Anspruch. Verschämten Armen mußte geholfen, dürftige Kranke mußten besucht und gepflegt, Familien, denen der Tod ein Mitglied geraubt, mußte Trost gespendet werden. Die Wohlthätigkeit wurde im Stillen geübt; doch betraute man nicht selten die Kinder mit der Ausführung derselben, um sie selbst an Mildthätigkeit zu gewöhnen.

So floß das Leben dieser Frauen in der gewissenhaften Beobachtung ihrer Pflichten ruhig und einförmig dahin. Indessen hatten sie doch auch ihren Ehrgeiz, und dieser bestand darin, die männlichen Nachkommen ihrer Familie als große Schriftgelehrte zu sehen. Meine Großmutter, von der ich eben spreche, hegte keinen innigeren, keinen heißeren Wunsch, als mich, ihr ältestes männliches Enkelkind, einst als solch herrliche Leuchte in Israel glänzen zu sehen. Sie ließ mich nie von ihrer Seite. Wenn sie sich mit ihren Freundinnen und Nachbarinnen unterhielt, saß ich immer auf einem Bänkchen zu ihren Füßen, und so oft sie im Gespräch irgend eine Behauptung auf’s Kräftigste und Unwiderleglichste darthun wollte, unterließ sie es niemals, die Hände auf meinen Kopf zu legen und dabei feierlichst auszurufen: „So wahr soll ich Dich ‚darschenen‘ (predigen) hören!“

Keiner der großen Schriftgelehrten wurde so oft von den Juden genannt, wie Hillel. Kein Anderer erfreute sich einer solchen Popularität und wurde so oft der Jugend als nachzuahmendes [394] Beispiel von Frömmigkeit, Bescheidenheit und himmlischer Geduld empfohlen. Man erzählt von ihm viele Züge, welche die schönen Eigenschaften seines Geistes und Herzens bekunden.

Den guten Hillel zu lieben, der in seiner Milde immer zu ihren Gunsten sprach, hatten die Frauen übrigens um so mehr Grund, als andere Schriftgelehrten sich über sie oft manche spitze Bemerkung erlaubten. So fragt Einer derselben, warum Gott so grausam war, dem armen Hiob alle seine Güter zu nehmen und ihm just sein Weib zu lassen, das sein Unglück ja noch vermehren mußte? und er beantwortete die Frage damit, daß dies der Herr aus purer Barmherzigkeit gethan; denn da er beschlossen, ihm Alles, was er ihm genommen, doppelt wieder zu geben, hätte er ja Hiob, wenn er ihm auch sein Weib genommen, zwei Weiber geben müssen, was keine Belohnung für die ausgestandenen Leiden, sondern im Gegentheil ein neues und sehr hartes Unglück gewesen wäre.

Von Hillel erzählt der Talmud folgende Geschichte: Zwei reiche Leute machten einst folgende Wette. Der Eine behauptete, Hillel’s Geduld sei durch nichts in der Welt zu erschüttern; der Andere versicherte, daß er es fertig bringen könne, den sanften Gelehrten in den Harnisch zu jagen. Der Wettpreis bestand in der Summe von hundert Silbersekeln.

Der Eine der Wettenden nun, der Hillel außer Fassung bringen wollte, ging an einem Freitag Nachmittag in dessen Wohnung und rief mit Zeterstimme:

„Heda, Hillel! Wo steckt Hillel?“

Der Rabbi, der gerade im Begriff stand ein Bad zu nehmen und dann die Sabbathkleider anzulegen, hörte das Geschrei, warf einen Mantel um, trat zu dem Fremden und sagte: „Was willst Du von mir?“

„Bist Du Hillel?“ schrie ihn Jener an.

„Ich bin Hillel,“ antwortete der Rabbi in sanftem Tone.

„Ich komme, Dich zu fragen, warum die Babylonier spitze Köpfe haben?“ sagte der Mann.

„Die Babylonier haben spitze Köpfe,“ antwortete Hillel, „weil ihre Wehemütter es nicht verstehen, die Kinder bei deren Geburt naturgemäß zu behandeln.“

Der Mann entfernte sich, und Hillel kehrte in sein Zimmer zurück. Es dauerte aber nicht lange, als Jener wieder kam und mit fürchterlicher Stimme schrie:

„Heda, Hillel! Wo ist Hillel?“

Hillel erschien und fragte sanft: „Mein Sohn, was begehrst Du?“

„Ich komme, Dich zu fragen, warum die Termudier an Augenentzündungen leiden?“ sagte der Fremde.

„Weil sie in sandigen Gegenden wohnen und ihnen der beißende Staub in’s Gesicht weht,“ antwortete der Rabbi.

Der Mann entfernte sich; aber kaum hatte Hillel sein Zimmer wieder betreten, als dieselbe Stimme abermals schrie:

„Hillel! Wo steckt Hillel?“

Ruhigen Schrittes trat dieser vor den Fremden und sprach sanft und mild:

„Mein Sohn, hast Du noch eine Frage an mich zu richten?“

„Freilich! Freilich!“ sagte der Fremde. „Warum haben die Afrikaner breite Füße?“

„Weil sie an der Küste auf lockerem feuchten Boden leben und barfuß gehen,“ antwortete Hillel.

Nach einer Pause begann der Fremde wieder:

„Ich hätte wohl noch mancherlei zu fragen, allein ich fürchte, Du könntest ungeduldig werden.“

„Frage getrost, mein Sohn,“ antwortete der Rabbi, „ich bin gern bereit, Dir zu antworten.“

Und mit diesen Worten setzte er sich auf eine Bank und harrte der Rede des Fremden entgegen.

Dieser war in keiner geringen Verlegenheit; denn er sah die Gefahr, seine Wette zu verlieren. Er entschloß sich also, das Aeußerste zu versuchen, um den Rabbi in Wuth zu bringen. Frech und unverschämt fuhr er plötzlich heraus:

„Bist Du Hillel?“

„Ich bin Hillel,“ erwiderte der Rabbi sanft.

„Hillel, den man den Ersten unter den Juden preist?“

„Ich bin Hillel,“ wiederholte er.

„Nun, ich wünsche,“ rief der Andere, „daß Israel nicht Viele Deines Gleichen zähle.“

„Und warum nicht?“ fragte Hillel lächelnd.

„Weil Du mir einen Verlust von hundert Silbersekeln zuziehst,“ sagte Jener. „Ich habe diese Summe gewettet, Dich aus Deiner ruhigen Fassung zu bringen, und ich sehe nun, daß mein Geld dahin ist.“

„Hoffentlich hast Du dadurch gelernt,“ bemerkte Hillel, „stets die Seelenruhe zu bewahren und Dich niemals zu wildem Zorn hinreißen zu lassen. Es ist auch besser, Du verlierst durch Deine thörichte Wette hundert Silbersekel, als daß ich meine Gemüthsruhe und meine Besonnenheit verliere.“ –

Der weise und sanfte Hillel lebte vor Jesus Christus. –

Meine Großmutter erzählte gern allerlei Fabeln und Legenden und wußte dabei meine Aufmerksamkeit im höchsten Grade zu fesseln. Sehr anziehend war die Geschichte vom Dalles. Dieselbe hat sich meinem Gedächtniß so fest eingeprägt, daß ich sie wörtlich, wie meine Großmutter sie erzählt hat, hier niederschreiben kann.

Einmal kam ein dürftiger Mann in ein Haus und bat um Unterstützung. Der Hausherr und seine Gattin waren gutmüthige Leute; sie luden den armen Gast zu Tisch und erquickten ihn mit den besten Bissen. Nach Tische fragte der Fremdling den Wirth, ob er ihn nicht über Nacht beherbergen wollte? Worauf die Gattin zu ihrem Manne sagte: „In der Dachkammer ist Raum genug, um den Fremden unterzubringen.“ Man wies also dem wegemüden Manne ein Obdach an.

Am andern Morgen glaubte das Ehepaar, der Fremdling würde seinen Weg fortsetzen. Sie täuschten sich aber gewaltig. Der Fremdling kam vielmehr zur Essenszeit in’s Zimmer, setzte sich an den Tisch und ließ nichts auf dem Teller zurück. Nach der Mahlzeit ging er wieder in die ihm angewiesene Bodenkammer.

Mehrere Tage, mehrere Wochen vergingen; aber der Fremdling, statt sich für die so lange genossene Gastfreundschaft zu bedanken und endlich den Wanderstab wieder zu ergreifen, kam nach wie vor regelmäßig zu Tisch, aß mit immer gesteigertem Appetit und suchte nach der Mahlzeit die Bodenkammer auf. Mann und Frau wurden über diesen Mißbrauch der Gastfreundschaft um so bestürzter, als sie durchaus nicht in blühenden Verhältnissen, vielmehr im Rückgang waren und kaum genug hatten, sich selbst zu ernähren. Dabei waren sie so gutmüthig und zartfühlend, daß sie es lange nicht über sich vermochten, dem Fremdling die Gastfreundschaft zu kündigen. Allein am Ende war es ihnen nicht mehr möglich, diesen dritten Mund zu speisen. Die Frau sagte daher zu ihrem Manne: „Gehe zu dem Fremden und sage ihm, daß wir ihn gern noch länger im Hause behalten würden, wenn wir in besseren Umständen wären, daß wir aber schlechterdings die Gastfreundschaft nicht länger fortsetzen können.“

Das war für den gutmüthigen Mann ein saurer Auftrag. Er faßte sich indessen ein Herz, ging hinauf in die Bodenkammer zu dem Fremdling und sagte ihm: „Mein Freund, ich habe die Gastfreundschaft gegen Dich treu und redlich erfüllt. Du hast mich um ein Obdach für eine einzige Nacht gebeten, und ich habe nichts dazu gesagt, daß Du mehrere Monate in meinem Hause geblieben und meinen Tisch mit mir getheilt hast, aber so schwer es mir auch wird, ich muß Dir sagen, daß ich Dich nicht länger bei mir behalten kann, denn ich bin selbst dürftig, ja, der Mangel wird täglich bei mir größer. Gehe zu einem vermögenden Manne in der Nachbarschaft, und er wird Dir gewiß ein Obdach nicht versagen.“

Der Fremdling, der auf seinem Lager behaglich ausgestreckt war, erhob sich ein wenig und antwortete:

„Was Du sagst, ist gerecht und billig. Aber siehe! mein Gewand ist so verschlissen, daß ich nicht mehr in anständiger Weise vor die Leute treten kann. Gieb mir ein besseres Gewand und ich will dann bei Anderen um Hülfe bitten.“

Der Mann hinterbrachte seiner Gattin die Worte des Fremden, worauf diese sagte:

„Ich denke, es ist besser, wir lassen ihm ein anständiges Gewand machen, damit er endlich von uns scheide, als daß wir ihn noch länger verpflegen.“

Sie ließen den Schneider kommen, der den Fremdling bekleidete, und sie erwarteten nun, daß sich dieser verabschieden würde. Wer sich aber nicht verabschiedete, war er. Er aß womöglich mit noch größerem Appetit. Je mehr er aß, desto stärker

[395]

Die Habsburg.
Nach einer Aquarelle auf Holz überzeichnet von R. Püttner.




ward er, und je stärker er ward, desto mehr aß er. Den braven Leuten wurde es ganz unheimlich. Der Hausherr aber ging wieder in die Dachkammer und sagte zu dem Gaste: „Wir haben Dir trotz unserer sehr beschränkten Mittel ein neues Kleid machen lassen, wie Du gewünscht. Warum bist Du nicht geschieden, wie Du versprochen?“

„Der Schneider hat das Gewand verpfuscht,“ erwiderte der Fremdling. „Siehe, es ist mir zu kurz und zu eng.“

In der That war das Gewand nicht lang und weit genug, und die biedern Leute ließen ihm ein viel längeres und weiteres machen. Als aber der Gast auch jetzt sich nicht anschickte, das Haus zu verlassen, gingen Beide zu ihm auf den Boden, wo er sein Lager aufgesucht hatte.

„Wir haben Dir,“ sagte der Wirth, „abermals einen neuen Anzug machen lassen, und dennoch bist Du nicht geschieden!“

„Weil auch dieses Gewand zu knapp ist,“ erwiderte Jener. „Seht her,“ fuhr er fort, indem er sich erhob, „das Kleid reicht mir kaum bis an die Kniee.“

Die Beiden sahen zu ihrem Entsetzen, daß der Fremde jetzt zu einer fast riesigen Größe angewachsen war und daß ihm daher das Kleid viel zu kurz und viel zu eng war.

„Wer bist Du?“ riefen Beide.

[396] „Ich bin der Dalles (Armuth),“ sagte Jener. „Wer mich unvorsichtig beherbergt, dessen Haus verlasse ich so leicht nicht wieder; ich wachse schnell heran zu einem Riesen, und Riesenkräfte gehören dazu, mich wieder loszuwerden.“ –

Sehr fesselnd waren auch für mich die Geschichten von dem König Og zu Basan, der ein solcher Riese war, daß seine Fußsohlen eine Länge von zehn Meilen hatten. Sein Appetit stand im Verhältniß zu seiner Körperstärke. Es wird von ihm erzählt, daß er im Dienste des Erzvaters Abraham gestanden, und als dieser ihn einst zornig anfuhr, fiel dem armen Og vor Angst ein Zahn aus. Der fromme Erzvater, der einen praktischen Sinn hatte, ließ sich aus diesem Zahn einen Armsessel, oder wie Andere behaupten, eine Bettlade machen.

„Die Bibel sagt dies nicht,“ warf ich ein.

„Die Bibel sagt dies nicht, aber die Rabbiner sagen es.“

„Wie so wissen es die Rabbiner?“ fragte ich.

„Wenn sie es nicht wüßten, würden sie es gewiß nicht sagen,“ antwortete meine Großmutter.

Sehr häufig erzählte sie mir auch von Napoleon und führte ihn mir als Exempel an, wie weit es ein Mann, wenn auch von der niedrigsten Abkunft, durch Genie und Fleiß bringen kann. Sie sagte mir nämlich, daß Napoleon’s Vater ein armer Schuster gewesen, der für die Erziehung seines Sohnes nichts habe thun können, und der Sohn sei doch Kaiser geworden und habe die ganze Welt beherrscht. „Wenn es nun ein Schustersohn durch Entwicklung seiner geistigen Anlagen so weit bringen kann,“ setzte sie ernst hinzu, „wie weit kann es erst ein Mensch bringen, der zu seiner Familie die größten und berühmtesten Talmudisten zählt!“

„Kann der auch Kaiser werden?“ fragte ich.

„Nein, mein Sohn!“ erwiderte sie. „Wir leben im Exil und werden überall verfolgt. Aber Du weißt, es giebt viererlei Kronen: die Krone des Königthums, die Krone des Priesterthums, die Krone des Gesetzes und endlich die schönste und herrlichste aller Kronen – die Krone eines guten Rufs; diese Krone kannst Du Dir erwerben.“ –

Meine andere Großmutter gehörte zu den gelehrten Frauen. Sie war in der heiligen Schrift sehr bewandert und schrieb das Hebräische geläufig und ohne orthographische Schnitzer. Sie wechselte auch Briefe mit mehreren Rabbinern aus ihrer Verwandtschaft, und diese sagten ihr zum Ruhme nach, daß sie niemals einen hebräischen Bibelvers falsch citirt habe. Es war eine stattlich gewachsene lebhafte Frau mit einem frischen, sehr regelmäßigen Gesicht. Sie stammte von sehr reichen Eltern; ihr Gatte verlor indessen die beträchtliche Mitgift, die sie ihm gebracht. Diesen Verlust ertrug sie mit Ergebung. Ein großer ebenso unerwarteter als unüberwindlicher Schmerz war ihr für ihr späteres Alter vorbehalten. Einer ihrer Sohne, der sich in Berlin niedergelassen, ging nämlich dort mit Weib und Kindern zum Christenthum über. Als die Kunde von diesem Ereigniß zu den Ohren der armen Frau und ihres Gatten drang, hüllten sich beide in Trauer. Der Sohn war für sie todt. Sie sprachen seinen Namen nicht mehr aus; es wurde seiner nicht mehr gedacht. Bald darauf siedelte ihr jüngster und geliebtester Sohn ebenfalls nach Berlin über. Dieser hing zwar sehr fest am Judenthum, unterhielt indessen doch seine Beziehungen zu dem älteren getauften Bruder. Anderthalb Decennien später kann die Frau nicht die Sehnsucht unterdrücken, ihren jüngsten Sohn wiederzusehen. Sie unternimmt die Reise nach Berlin und wird mit offenen Armen von ihm empfangen. Der Convertit, der die Ankunft seiner Mutter vernimmt, aber nicht wagt, vor ihr Antlitz zu treten, umschweift jeden Tag stundenlang das Haus seines Bruders, um die Mutter, wenn sie ausgeht, zu sehen, ohne von ihr gesehen zu werden. Da er selbst sich ihr nicht zu nähern traut, hegt er den heißen Wunsch, ihr seine Kinder vorführen zu lassen, in der Ueberzeugung, der Anblick der unschuldigen Kinder werde die Großmutter rühren und wohl auch gegen ihn das mütterliche Herz milder stimmen. Er theilt diesen Wunsch seinem jüngeren Bruder mit, und dieser führt ihr auch wirklich eines Tages die Kinder vor, ohne ein Wort zu sagen. Die ehrwürdige Matrone sieht die Kleinen und fragt, wer sie seien? Ihr jüngster Sohn nennt ihr schüchtern den Vater dieser Kinder. Sie kämpft einen Augenblick; Thränen stehen in ihren Augen. Schon breitet sie die Arme aus, die Enkel an’s Herz zu drücken, als sie plötzlich mit einem lauten „Nimmermehr!“ sich von ihnen abwendet. Die armen Kinder wurden abgeführt, und es wurde dieser Scene nicht wieder vor ihr erwähnt.

Unter den jüngeren verheiratheten Frauen gab es, wie ich schon gesagt, Manche, die sich bereitwillig dem allgemeinen Culturleben anschlossen. Sie schrieben und lasen deutsch, und suchten auch andere Belehrung, als aus den jüdisch-deutschen, streng orthodoxen Büchern zu schöpfen war. Neben Lessing’s dramatischen Schriften, unter denen Nathan der Weise am beliebtesten war, wurden auch die Werke Schiller’s stark gelesen und viele seiner Gedichte, wie die Balladen und besonders die Glocke, sogar auswendig gelernt. Auch Romane wurden bereits, freilich mehr oder minder verstohlen, gelesen; man holte sich diese geistige Nahrung aus einer Leihbibliothek, an deren Spitze ein Jude stand. Seine Glaubensgenossinnen hielten ihn in ununterbrochener Thätigkeit. Alle Bücher wurden mit Heißhunger verschlungen, und es entstand durch die verworrene Lectüre eine Halbbildung, die ihre komischen Seiten hatte. Man schnappte hochtrabende Phrasen auf und wendete sie in der Unterhaltung oder in Briefen gerade da an, wo sie wie die Faust auf’s Auge paßten. Indessen gab es doch Mehrere, deren Lectüre von unterrichteten Freunden und von der eigenen Intelligenz geleitet wurde. Wie dem aber sei, Empfänglichkeit für geistige Cultur gab sich unter diesen jüngeren Frauen auf’s Entschiedenste kund.

Diesen plötzlich erwachten Sinn für allgemeine Bildung unter den Jüdinnen wird man leichter begreifen, wenn man den Blick nach Berlin richtet und sich den Beginn der jüdischen Aufklärungsepoche vergegenwärtigt, die dort von Mendelssohn hervorgerufen worden. Kaum hatte dieser Reformator sich eine angesehene Stellung in der deutschen Literatur erobert, als sein Haus einen Mittelpunkt für die hervorragendsten Männer im Reiche des Geistes bildete. Juden und Christen fanden hier einen neutralen Boden, wo kein religiöses Vorurtheil galt und keines sich geltend machen wollte. Man sprach hier über die höchsten Interessen der Menschheit, und das Schöne und Gute, die Kalokagathia, war der unerschöpfliche Stoff der Unterhaltung. Dieser Unterhaltung wohnten nicht nur die Töchter des Hausherrn, sondern auch deren Freundinnen häufig bei. Sobald der jüdische Philosoph die Augen geschlossen, bildeten diese Damen ihrerseits Kreise, zu denen sich alle Größen der Literatur, der Kunst, der Wissenschaft, ja selbst fürstliche Personen drängten. Man langweilte sich in den Palästen, und man suchte Geist und Witz im Hause der schönen Henriette Herz, der hochgebildeten Dorothea Veit, der gemüthvollen Rahel Lewin. Selbst Alexander von Humboldt nannte sein Familienschloß Tegel „Schloß Langeweile“. Er und sein Bruder Wilhelm lernten von Henriette Herz die jüdische Currentschrift, in welcher sie, ohne verrathen zu werden und das Zetergeschrei der Ihrigen zu erregen, aufrichtig bekennen durften, daß man sich in Gesellschaft jüdischer Damen besser unterhalte, als auf dem Schlosse der Väter.

Freilich war auch in diesen Kreisen nicht Alles pures Gold. Die Christen jüdelten, die Juden, oder vielmehr die Jüdinnen, christelten in denselben viel zu viel. Keiner der Männer, die sich bei den genannten Damen einfanden, hat für die Befreiung der Juden aus der langen Schmach und Unterdrückung eine Lanze gebrochen. Sie waren keine Freunde der Juden, sondern nur Freunde der schönen Jüdinnen, und es mischte sich in diesen Umgang ein muckerthümliches Element, dem man unter dem Titel „Tugendbund“ einen Schein der Heiligkeit verleihen wollte. Die Meisten von ihnen hatten keine Ueberzeugung, weder eine politische, noch eine religiöse, und ihre laxe Moral wirkte höchst nachtheilig auf die Gemüther jener Frauen, die in äußerster Sittenstrenge erzogen waren. So kam es denn, daß die ältere Tochter Mendelssohn’s, Dorothea, ihrem biedern Gatten entlief und zwei Kinder verließ, um sich dem lüderlichen, selbstsüchtigen, gesinnungslosen Friedrich Schlegel anzuschließen. Sie ging erst zur protestantischen, dann zur katholischen Kirche über und drückte ihre Lippen auf den Pantoffel Sr. Heiligkeit. Ihre Schwester Henriette begnügte sich damit, katholisch zu werden. Henriette Herz, die Seelenbraut Schleiermacher’s, verließ ebenfalls den Glauben ihrer Väter, ebenso Rahel, welcher das Judenthum widerstrebte.

Wenn nun auch die genannten Damen zum Christenthum übergingen, so geschah dies doch erst nach dem Tod ihrer Eltern; so lange diese lebten, schonten sie deren strenge Orthodoxie. In [397] meiner Vaterstadt war, bei dem engen patriarchalischen Familienleben und dem vollständigen Abschließen nach außen, diese Schonung noch größer; die jüngern Frauen beobachteten dieselbe sogar in Kleinigkeiten, um nicht die strenggläubigen Matronen zu verletzen. Sie kleideten sich zwar wie Christinnen, weil in Bezug auf die weibliche Kleidertracht der Talmud glücklicherweise keine Vorschrift von sich gegeben; keine jüngere Frau würde sich aber damals erlaubt haben, eine stark ausgeschnittene Haube zu tragen, oder sich gar entblößten Hauptes sehen zu lassen, da einer talmudischen Vorschrift zufolge die verheirathete Jüdin ihr Haar selbst vor ihrem Gatten sorgfältig verbergen muß.




Ein literarisches Geheimniß.


Unter den Taschenbüchern und Almanachen, diesen Schmetterlingen einer früheren Literaturperiode, zeichnete in den dreißiger Jahren sich eins der ersteren durch jeglichen Mangel äußeren Schmucks und soliden Anstandes aus. Es war, als ob dasselbe durch seine schlechte Ausstattung, Papier und Druck und die Abwesenheit aller Goldschnitte und Kupfer, womit die übrigen auf den Nipptischen der Damen sich breit machten – seinen Namen „Bettlers Gabe“ rechtfertigen wollte, während der Inhalt des Buchs, nur Beiträge des Herausgebers enthaltend, sich doch durch eine überaus glühende Phantasie und eine Fülle eigenthümlicher, düsterer Bilder und Lebensansichten auszeichnete. Eine uns bis dahin fremde Welt trat uns aus den Geschichten, Sagen und Bildern, die zumeist auf russischem Boden spielten, entgegen. Es war, als habe die Muse des Verfassers, einem zweiten Mazeppa gleich, einen nächtlichen Ritt durch die Steppen des Ostens unsers Erdtheils gemacht, als habe der Mann, der diese Schriftstellerfeder geführt, nur Bitteres im Leben erfahren, als habe er nur die Nachtseiten des menschlichen Herzens und seiner Mitmenschen kennen gelernt.

Und doch hatte auch dieser Mann nicht immer so düster gedacht; er hatte unter dem Namen Adami manch heiteres Lustspiel voll sprudelnder Laune bereits geschrieben und zur Aufführung gebracht, ehe er als Novellist und Romanschriftsteller, als Herausgeber von „Bettlers Gabe“, unter dem Namen Wilhelm Müller auftrat.

„Wer ist Wilhelm Müller?“ fragten dazumal die Almanachleser beim Erscheinen genannten Taschenbuchs, das Jahr um Jahr in seiner schmucklosen Außenseite erschien, bis es mit seinem siebenten oder achten Jahrgange, nach Berlin übersiedelnd, ein mehr gefälliges, taschenbuchmäßiges Aeußere annahm, ja in seinem zehnten Jahrgange pro 1844 sogar das Porträt des Verfassers brachte – mit düsterblickendem Auge und von Stürmen des Lebens durchwettertem Gesicht. „Wer ist Wilhelm Müller?“ fragten die Gelehrten, nachdem sein mehr wissenschaftliches Werk „Russen und Mongolen“, dem eine Fortsetzung wohl zu gönnen gewesen wäre, erschienen war.

Es war in den zwanziger Jahren, als der nachmalige Verfasser von „Bettlers Gabe“, als Schauspieldirector von Riga kommend, die Concession, mit seiner Truppe die Regierungsbezirke Cöslin und Stettin bereisen zu können, in der Tasche, in Cöslin eintraf. Er kam nicht allein. Eine Frau, angeblich seine Gattin, eine überaus liebliche Erscheinung, sowohl auf als außer der Bühne, kam mit ihm, während er in seinem Aeußeren etwas Abschreckendes und nichts weniger als Schönes hatte. Er hatte die Frau in Riga am Sarge ihres Mannes in bitterster Noth mit einem Sohn gefunden und kennen gelernt. Bei einem Sommeraufenthalt in Colberg fand die Frau es für gut, mit einem Artilleriecapitain nach Stralsund durchzugehen, ihrem angeblich bisherigen Mann nur ihre Schulden und ihren Sohn als theures Andenken hinterlassend.

Der Bettler ließ die Frau laufen, bezahlte die Schulden und nahm sich des verlassenen Sohnes an. Später heirathete der Director eine seiner Schauspielerinnen, mit der er, in Cöslin getraut, sehr glücklich lebte. Doch diese Frau starb, wie auch der Sohn, den dieselbe ihm geboren, und der Mann, sich nun ganz seinen schriftstellerischen Arbeiten hingebend, verkaufte seine Bibliothek und Theatergarderobe an Bröckelmann, der die gleiche Concession erwarb, und zog bald darauf nach Berlin, wo er einsam weiter lebte, wenig Umgang pflegend. Nur Wenige lernten ihn in Berlin kennen und wußten von seinem Dasein. Wer war Wilhelm Müller? In Cöslin hieß es, er sei 1790 zu Petersburg geboren und der Sohn eines kaiserlichen Stallmeisters. Den Winterpalast kannte er genau, wie er denn viele düstere Geschichten aus den Kreisen des Hofes und seiner nächsten Umgebung mitzutheilen wußte, wenn er eben zum Reden aufgelegt war.

Sein Rußland, das er schwärmerisch liebte, kannte er genau, nach allen Richtungen hin. Es war, als habe er dasselbe nach allen Himmelsgegenden hin durchzogen. Sagen und Gebräuche des Volks waren ihm wohlbekannt, wie dies auch seine Schriften, so z. B. sein Roman „Jermak und seine Genossen oder die Eroberung Sibiriens“, genugsam beweisen.

Den Schauspieler jedoch verleugnete er in seinen Reden und seinen Bewegungen nimmer. Trat man des Morgens in sein Zimmer, so fand man gemeinhin den Fußboden desselben mit unzähligen Bogen Papier besäet, auf denen seine fingerlange Buchstabenschrift, von der linken oberen Seite des Bogens anfangend und bis zum rechten unteren Ende desselben in schräger Richtung hinabgehend, sich bemerkbar machte. Die Muse hatte ihn, wie er sagte, in der Nacht besucht – und er hatte die Bogen, nach Eingebung derselben, im Finsteren vollgeschrieben. Als die ihrer Zeit berühmte Händel-Schütz,[WS 2] die bekanntlich in Cöslin in ruhiger Zurückgezogenheit lebte, ihn eines Morgens, in nichts weniger als vollständiger Kleidung auf dem Boden liegend, bei seinen Bogen antraf, und ihm die jetzt sichtbare, ovale, silberne Kapsel, die er an einem Bande auf bloßer Brust trug – und die Erde seines Vaterlandes, des heiligen Rußland, enthalten sollte, neckend entwenden wollte – wurde er zornig, wie ihn seine nächste Umgebung nie gesehen – und es bedurfte tagelangen Zuredens, ehe er den Vorfall vergessen konnte und die Frau wiedersehen mochte. So liebte er sein Vaterland.

Auf Kotzebue hielt er große Stücke. Er hatte ihn zu Reval kennen gelernt, wo Kotzebue dem dortigen Theater vorstand – und wo er seinen „armen Poeten“ zum Besten eines dortigen Schauspielers geschrieben, der in der Rolle des armen Kindlein ebenso groß gewesen sein soll, als Ludwig Devrient es nachmals in derselben Rolle war. Er meinte immer, Kotzebue sei besser gewesen als sein Ruf. Im Jahre Achtundvierzig erlitt der Verfasser von „Bettlers Gabe“ mit seinen Ansichten und Meinungen Schiffbruch. Er wurde ein unangenehmer Reactionär, wie denn sein Humor, den er zur Schau trug und zu Tage förderte, etwas Widerliches, Abstoßendes hatte. Die Folge davon war, daß es noch einsamer um ihn als ehedem wurde.

Er siedelte bald darauf nach Charlottenburg über, wo er, unbeachtet und bei Lebzeiten vergessen, gestorben sein soll.

Seiner Schriften sind unzählige. Und wenn auch Literaturgeschichten und sonstige Werke der Art seiner nicht erwähnen und gedenken, so nahm er doch s. Z. eine nicht gänzlich zu ignorirende Stellung in der deutschen Literatur ein.

Wer war Wilhelm Müller? Es giebt der Müller so viel in der deutschen Literatur, daß dieser Name von vornherein schon namenlos macht, wenn nicht ganz besondere Merkmale und Kennzeichen ihn zur Geltung bringen.

Ein mir soeben vorliegender Brief aus Dorpat fragt: „Wer war Wilhelm Müller? Wo wurde er geboren, wo lebte er? Wir hier in Dorpat besitzen auf unserer Universitätsbibliothek nur seine ‚Russen und Mongolen‘, ein Werk, das uns den Verfasser zu achten zwingt. Wir wüßten gern mehr von ihm, besonders in Bezug auf sein Leben in Rußland.“

Aus Cöslin heißt es: „Sein Name Müller war höchst wahrscheinlich ein angenommener, den er sich schon in Riga, wo er als Schauspieler engagirt war, beigelegt hatte.“

Als Schauspieler war er unbedeutend, höchstens in Spitzbubenrollen war er erträglich. Was war er als Schriftsteller, und verdient er es, daß seiner noch gedacht wird?

Wir glauben doch! Und wenn nicht, so mag es um seiner „Russen und Mongolen“ willen hier geschehen sein.

F. Brunold.



[398]
Blätter und Blüthen.


Eine republikanische Kaiserburg. (Mit Abbildung.) Trotzdem unsere Abbildung auf S. 395 von der malerischesten Seite aufgefaßt ist, würde sie die Blicke des Lesers nur vorübergehend auf sich ziehen, wenn die Unterschrift nicht wäre; das Wort hat diesmal mehr Bedeutung als das Bild.

Habsburg! Wer denkt dabei an ein altes Mauerwerk auf einem Schweizerberge? Ein Stück Weltgeschichte thürmt sich vor uns auf, ein in mehr als halbtausendjährigem Glanze strahlendes Herrschergeschlecht steht vor uns in Europas Mitte – wir glauben es kaum, daß aus der unbedeutenden Burg auf dem Wülpelsberge bei Brugg an der Aar die Dynastie hervorgekommen sei, welche ihr großes Donaureich über die Völkersplitter von den drei Hauptstämmen Europas ausbreitete; wir müssen den Eichbaum mit der Eichel vergleichen, um das für möglich zu halten. Dennoch haben beide, die Burg und das Haus Habsburg, Verwandtes insofern, als beide den Blick auf eine reiche Vergangenheit hinlenken.

Man steigt von dem bekannten Bade Schinznach aus auf einem angenehmen Waldwege in etwa zwanzig Minuten zur Habsburg hinauf, deren Berg sich tausendsechshundertsiebenundzwanzig Fuß über die Meeresfläche erhebt. Droben findet man ein ebenso altes als einfaches Bauwerk, welches in einzelnen Theilen den Eindruck einer Ruine macht. Was von demselben noch gut erhalten ist, verdankt dies weniger der Sorgfalt der Menschen, als der außerordentlichen Festigkeit des Baues. So besteht u. A. der Thurm aus acht Fuß dicken Mauern, die aus unbehauenen Steinen aufgeführt und dicht von Epheu überwuchert sind. Die mittleren Zimmer des Schlosses sind noch benutzbar; einige derselben soll Rudolph, der Kaiser, noch als Graf bewohnt haben, wie man dem Fremden erzählt; sicherer ist, daß die Kaiser Joseph der Zweite 1777 und Franz der Erste 1815 auf der Burg waren und ersterer ein Steinchen aus einer Wand abbröckelte und als Andenken in die Tasche steckte.

Der Ausblick von der Habsburg ist beschränkt in das Land, aber bedeutend in die Geschichte. Dort im Nordosten, wo Aar und Limmat sich vereinigen, stand vor eintausendzweihundert Jahren die größte Niederlassung und Handelsstadt der Römer im alten Helvetien: Vindonissa. Die Ortschaften Brugg, Windisch, Altenburg, Königsfelden, Gäbisdorf und Hausen sind jetzt auf dem Raume zerstreut, welchen jene eine Stadt bedeckte, und Hunnen und Franken waren es, die sie noch vor dem Schlusse des sechsten Jahrhunderts völlig vom Boden vertilgt hatten. Und dort die Abtei Königsfelden, das fromme Denkmal der furchtbar blutigen Rache der Wittwe Kaiser Albrecht’s an dessen Mördern. Schloß Brunegg erinnert an den Landvoigt Geßler, dessen Söhne dort hausten. Freundlicher begrüßt uns Brugg, das „Prophetenstädtli“ genannt, weil die Reformation in den Bürgersöhnen eine seltsame Vorliebe für den geistlichen Stand erweckt hatte; und ebenso der Neuhof, wo Pestalozzi als Kinder- und Menschenfreund gewaltet; vor seinem Denkstein im Friedhofe in Birr vergißt man gern das Birrfeld, auf welchem Cäsar die Helvetier geschlagen. Auf dies Alles schaut man von der Habsburg hernieder, welche gegenwärtig der Sitz eines eidgenössischen Feuerwächters ist.

Feuerwächter sind leider auch die meisten Habsburger gewesen; sie haben so eifrig gewacht und durch Priesterschaft und Adel wachen lassen, daß das Feuer des Geistes von den Völkern Oesterreichs fern gehalten würde, bis aus Mangel an Licht und Wärme der Staatskörper erkrankte. Es ist traurig, wenn man von einem so regentenreichen Geschlechte die guten an den Fingern herzählen kann, ohne eine ganze Hand dazu zu bedürfen: Rudolph der Erste, Maximilian der Erste und der Zweite und Maria Theresia. Das ist Alles, was vom Hause Habsburg vor dem Richterstuhl der Geschichte besteht. Dann kommen die Lothringer, und gleich der erste derselben wird ewig seine Stelle im Herzen der Deutschen behalten: Joseph der Zweite. Mit ihm schließen wir die Reihe; die Lebenden deckt das Preßgesetz. – Aber Geschichte ist’s, daß die Feuerwacht vergeblich war, als von den Nachbarhäusern die Lohe das gekrönte Dach ergriff. Was ist in Oesterreich erlebt worden seit vierundzwanzig Jahren! Seitdem Metternich und sein System niedergeschmettert wurden auf einen constitutionellen Boden mit breitester demokratischer Grundlage – wie viel Rachegeister wurden da losgelassen von dem Arader Galgen und dem Sandhügel in der Brigittenau bis zu dem von Queretaro! Und wie Metternich das Jahr Achtundvierzig ertragen mußte, ohne sich an einem vollständigen Sieg der Reaction wieder erquicken zu können, so ist seinen gelehrigsten Schülern und Schülerinnen es nicht erspart worden, noch Deutschland frei von Oesterreich und geschmückt mit seiner eigenen Kaiserkrone zu sehen.

Die große Sendung der Habsburger als römische Kaiser deutscher Nation und als Herrscher des Donaureichs wäre es gewesen, Culturvermittler zwischen Deutschland und ihren östlichen Völkern und Völkerbruchtheilen zu sein und sie durch die Wohlthaten guter und freier staatlicher Einrichtungen an sich zu knüpfen. Sie befolgten in ihrer Mehrzahl den entgegengesetzten Grundsatz: Divide et impera! Theile und herrsche! Und nun die Saat des gegenseitigen Hasses der stärksten Reichsnationen aufgeht, sucht man vergeblich nach dem rettenden Wort, das die bösen Geister wieder bannen könnte. Möge es noch zu rechter Zeit gefunden werden! Das ist ein Wunsch aus deutschem Herzen, das auch dort der Kraft einer gesunden Cultur den Sieg wünschen muß. Gelingt dies nicht, so spricht das Schicksal sein Divide! und dann erlebt Europa den furchtbaren Anblick der Zerbröckelung eines so großen Reichs, das Staatsconglomerat löst sich in seine sich feindlich einander abstoßenden Bestandtheile auf, Verwandtes drängt sich Verwandtem zu und zur Wahrheit wird das Dichterwort:

Was gegen die Natur verbunden ist, zerfällt.
Das ist nicht Menschenthat: das ist Gesetz der Welt!

F. H.



Auf welche Weise in gegenwärtiger Zeit noch Wallfahrtsorte entstehen! In einem Städtchen mit ungefähr zweitausenddreihundert Menschen lebte im Jahre 1863 eine Frau (lebt wahrscheinlich noch) im Alter von beiläufig fünfzig Jahren, sie hieß Geyer; ihr war das kleine Amt einer Zolleinnehmerin anvertraut. Um diesem Geschäfte pünktlich nachkommen zu können, hatte sie im Rathhause, welches in Mitte des Ortes auf einen freien Platz gebaut war, zu ebener Erde ein Stübchen, von dem aus sie alle herankommenden Fuhrwerke, die das Städtchen passirten, sehen und anrufen konnte. Damit aber auch kein Zollpflichtiger durch zu rasches Fahren oder kein Bäuerlein durch wirkliche oder nur angenommene Taubheit sich seiner Schuldigkeit entzog, mußte die Frau viel auf der Straße sein, oft laut und anhaltend rufen; besonders an den Tagen, an welchen Märkte abgehalten wurden, war diese ihre Thätigkeit in hohem Grade erforderlich; dabei hatte sie sich eine große Gewandtheit angeeignet, war unerschöpflich im Auffinden und in der Anwendung neuer Worte und Benennungen, womit sie die Vorüberfahrenden zum Zahlen aufforderte. Kein Wunder, daß bei diesem Amte ihre Kehle oft trocken wurde, Wasser schien nicht die hier nothwendige Hülfe zu bringen, und so war die Frau gezwungen, zu geistigen Getränken ihre Zuflucht zu nehmen. Die bösen Zungen, die ja selbst in einem kleinen Städtchen nicht fehlen, wollten behaupten, daß weniger die Geyer selbst, als eben die genossenen Getränke die Schuld trugen, wenn sie zuweilen das Gleichgewicht ihres Körpers nicht finden konnte.

Eines Morgens nun wurden die Bewohner des Städtchens mit der Nachricht überrascht, daß in vergangener Nacht der „Geyerin“ die Jungfrau Maria erschienen sei. Die Frau erzählte denn Allen, welche sie nur anhören wollten, daß ihr geträumt, sie wäre gestorben, dabei hätte sie große Angst und Furcht ausgestanden, alle ihre Sünden seien ihr eingefallen, wie sie vor die Himmelsthür gekommen, hätte sie diese auch richtig verschlossen gefunden, auf kein Bitten und Flehen hätte sich dieselbe geöffnet, da in ihrer größten Noth sei die Jungfrau Maria in all ihrer überirdischen Schönheit ihr erschienen. Der hätte sie nun ihren Jammer geklagt, allein auch diese wußte keinen Trost, hielt ihr im Gegentheil auf’s Strengste ihre Sünden vor. Erst nach langem und inbrünstigem Flehen erklärte die Jungfrau Maria, ihr helfen zu wollen. Aber nun sei die Frage entstanden, wie und auf welche Weise die Hülfe gebracht werden könne, da habe sich denn kein anderer Ausweg gezeigt, als daß die Jungfrau Maria sich für die Sünden der Geyerin auf drei Jahre in einen Eichbaum sperren lasse, nach dieser Zeit würden sie gesühnt sein.

Noch erfüllt von Dank für diese Gnade, war die Frau erwacht, und nun war ihr einziger Gedanke, den Eichbaum, in dem Maria für sie die Sünden abbüße, zu finden. Nachmittags zog zu diesem Zweck eine kleine gläubige Schaar in den nahen Wald, und wirklich konnte, o Wunder, die Geyer unter den dort gerade nicht seltenen Eichbäumen gerade den angeben, in welchem die Maria sich für sie befand. Derselbe wurde nun durch Anheftung verschiedener Heiligenbilder bezeichnet und bildete von diesem Tage an für viele Bewohner des Städtchens und der Umgegend einen Gegenstand der Verehrung und Anbetung. Fast täglich wurden kleine Wallfahrten in Begleitung eines Vorbeters dahin gemacht, und wer es nicht glauben wollte, welche Wunderkraft diesem Baume zugeschrieben wurde, der konnte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, denn an demselben waren eine Menge von gemalten oder in Wachs formirten Beinen, Armen, Händen, Herzen etc. angebracht, welche bezeugten, wie viele Bittende hier Hülfe suchten. Es entstand um den Baum nach und nach eine Capelle. Die Capuziner, welche nahe dem Städtchen ein Kloster inne hatten, unterstützten diese Wallfahrten, sollen sie auch begleitet haben; der Geistliche des Ortes that wohl nichts dafür, ob etwas dagegen? – Thatsache ist, daß dieser Baum nun seine Capelle hat, und wer wird wohl in dreißig bis vierzig Jahren noch ungeschminkt und wahr die einfache Entstehung jener wunderthätigen Capelle kennen? Wie viel des Wunderbaren mag dann erzählt werden, daß man bei solchen Vorkommnissen unwillkürlich fragen muß, ob nicht viele der berühmten Wallfahrtsorte eine ähnliche, dem verwandte Geschichte haben mögen.

Im Gebirge, im Walde, auf einsamer Haide, da, wo weder Eisenbahn noch sonst ein lebhafter Verkehr Menschen mit Menschen verbindet, wohin das Licht der Aufklärung noch nicht gedrungen, da glaubt gewiß der Leser den Schauplatz jener Begebenheit suchen zu müssen, aber nein – das Städtchen, in welchem die Frau Geyer geträumt, heißt Karlstadt, liegt zwei Stunden von Würzburg in Unterfranken, hart an der Bahn nach Frankfurt, und der Eichbaum mit der Capelle steht eine halbe Stunde davon im Walde von Mühlbach.





Friedrich Gerstäcker, der treueste Freund und Mitarbeiter der Gartenlaube, ist, wie eben am Schlusse dieser Nummer uns telegraphisch gemeldet wird, am Morgen des 31. Mai in Braunschweig nach kurzem Krankenlager gestorben. Es sind nur wenige Wochen, wo er in unserer Redaction als ein Bild markiger Gesundheit vor uns stand und es uns als eine noch zu bewahrende Heimlichkeit vertraute, daß er nächstens wieder eine große Reise, eine größere, als alle seine früheren Reisen, antreten werde. War er sein eigener Todesprophet? Die große Reise – sie ist vollendet und zur Wahrheit wird an ihm, was der Wahlspruch seines Siegels sagt: „Rast’ ich, so rost’ ich!“ Friedrich Gerstäcker hat uns so nahe gestanden, daß wir nicht mit dieser Notiz von ihm in der Gartenlaube scheiden können; eine Darstellung seines Gesammtwirkens als Schriftsteller und Mann soll, seinem Bildniß (Jahrgang 1870, S. 245) nachgetragen, seiner gerechten Würdigung und seinem getreuen Andenken gewidmet sein.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Eine Probe aus dem in einigen Tagen erscheinenden Buche von Ludwig Kalisch: „Bilder aus meiner Knabenzeit“, welches äußerst interessante und, wie aus obiger Skizze hervorgeht, auch sehr liebenswürdig geschriebene Schilderungen aus dem altjüdischen Leben enthält.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ch; Korrektur nach Buchausgabe 1874, Google
  2. Henriette Hendel-Schütz