Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[809]

No. 49.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


26.

Am Nachmittag nahm ich den mir anvertrauten Gartenschlüssel und ging hinüber in das Schweizerhäuschen. Ich wußte, daß Gretchens Vater Lehrer an der höheren Töchterschule zu K. war – er sollte mir helfen, ein anderes Menschenkind zu werden. Es bedurfte keiner langen Vorstellung in der Familie. Frau Helldorf erkannte mich sofort wieder – wie ich später erfuhr, hatte auch der Gärtner Schäfer bereits viel von dem wilden, sonderbaren, so plötzlich hereingeschneiten Kind des „gelehrten Herrn“ erzählt – und Gretchen flog mir um den Hals. Der Vorfall im Garten, den ich verschuldet, wurde mit keiner Silbe erwähnt.

„Wollen Sie mir Unterricht geben?“ fragte ich den Oberlehrer Helldorf, der vor einem ungeheuren Paket Schulheften corrigirend saß. „Ich will lernen, so viel lernen, wie nur in meinen Kopf hineinzubringen ist! Ich bin schon ein so sehr altes Mädchen und kann nicht einmal ordentlich schreiben.“ Er lächelte, und seine reizende kleine Frau auch, und wir machten einen festen Contract, nach welchem ich wie ein Kind der Familie im Schweizerhäuschen aus– und eingehen und täglich mindestens drei feste Unterrichtsstunden erhalten sollte. Diesen Contract theilte ich Fräulein Fliedner mit; sie erklärte sich damit vollkommen einverstanden und übernahm es auf meine Bitten, die Geldangelegenheit dabei zu besorgen – so brauchte ich doch nicht in Herrn Claudius’ Schreibzimmer zu gehen.

Ich lernte von da ab unermüdlich. Freilich flog die Feder anfangs oft genug unter den Tisch, und ich rannte mit heißem Kopf und thränengefüllten Augen in den Wald hinein – aber ich kehrte auch aufseufzend wieder um, nahm den kleinen, stählernen Tyrannen langsam vom Boden auf und malte weiter, bis das Nachmalen allmählich aufhörte, und die festen hübschen Züge, flink über das Papier hinlaufend, der Ausdruck lebendiger Gedanken wurden – da fiel es mir wie Schuppen von den Augen! … Ich kam zur Freude meines Lehrers unglaublich rasch vorwärts, und nun dehnte sich der anfangs auf wenige Fächer beschränkte Unterricht auch auf die Musik aus. Hier kam mir meine natürliche Begabung sehr zu statten, und bald stand ich am Klavier neben dem jungen Helldorf und sang Duetten mit ihm.

Dieser Verkehr im Schweizerhäuschen, den mein Vater billigte und welchen Herr Claudius und Fräulein Fliedner offen protegirten, wurde von anderer Seite mit grimmigen und scheelen Augen angesehen. Eckhof war wüthend, und Charlotte in einer mir unbegreiflichen Weise indignirt und hämisch. Ich erfuhr nun auch Näheres über den Conflict zwischen dem alten Buchhalter und seiner Tochter. Helldorf hatte Theologie studirt und sich schon als Student mit Anna Eckhof verlobt. Der alte Mystiker war damit einverstanden gewesen, hatte aber die Bedingung gestellt, daß der junge Mann nach vollendeten Studien als Missionär – und zwar als ein auf sämmtliche lutherische Bekenntnißschriften streng verpflichteter Missionär – mit seiner Frau nach Ostindien gehen solle. Diese Clausel war dem Bräutigam allmählich drückend geworden, er verwahrte sich schließlich energisch dagegen und demaskirte sich als entschiedener Feind alles pietistischen Wesens und der frommen Phrase. Zudem erklärte der Arzt die Constitution des jungen Mädchens für viel zu zart, als daß ihr das aufregende, an Entbehrungen reiche Leben einer Missionärfrau zugemuthet werden dürfe. Den Alten hatte das völlig ungerührt gelassen – fanatisch genug hatte er gemeint, der Herr werde ihr schon die Kraft durch seine Gnade geben, und wenn nicht, dann gehe sie ja ein zu ihm als echte, rechte Streiterin der heiligen Kirche. … Er hatte sie verstoßen, als Helldorf fest bei seiner Weigerung geblieben war, und sie nicht von dem Manne ihres Herzens lassen wollte. …

Den Groll des alten Mannes über die plötzlich durchbrochene Scheidewand zwischen dem verfehmten Nachbarhaus und dem bisher von ihm beherrschten Grund und Boden begriff ich deßhalb vollkommen; was aber bewog Charlotte, meinen Umgang mit der Lehrerfamilie anzufeinden? … Zornig sagte sie mir wiederholt in’s Gesicht, sie begriffe nicht, wie Herr Claudius in meine achtlosen Kinderhände den Schlüssel zu einer Thür legen könne, an welcher der öffentliche Fahrweg vorüberliefe – eines schönen Tages werde ja wohl alles Bettelvolk den Garten überschwemmen. Sie behauptete, ich sei unleidlich hochmüthig geworden, seit mir die Gelehrsamkeit mit dem Nürnberger Trichter beigebracht werde; von dem „reizend natürlichen Haideprinzeßchen“ finde sich keine Spur mehr, und meine Locken ordne ich plötzlich mit einem Chic, der auf eine bedeutende Portion Koketterie schließen lasse. Noch grimmiger und verbissener aber wurde sie, als der Musikunterricht begann. Ich traf sie oft hinter der Gartenmauer, wenn ich nach dem Schluß der Stunde rasch eintrat, mit sprühenden Augen, aber dennoch in fast verletzend nachlässiger Weise meinte sie stets, [810] der kleine Vogel erfreue sich ja einer recht lauten Kehle – sie habe so im Vorübergehen einige Töne aufgefangen; als mich aber eines Sonntags Nachmittag mein Mitsänger, der junge Helldorf, bis an die Gartenthür begleitet hatte, da fuhr sie drinnen aus dem Gebüsch auf mich zu und stieß ein unauslöschliches Gelächter aus, das sie dann und wann mit einem höhnischen „Darf man gratuliren, Fräulein von Sassen?“ unterbrach.

Ich ließ sie gewähren, weil ich in Wirklichkeit ihr Wesen nicht verstand. Im Uebrigen beherrschte sie sich hinsichtlich des schwebenden Geheimnisses weit mehr, als ich erwartet hatte. Nur in zwei Dingen trat der erhöhte Stolz schärfer zu Tage – in dem Umstand, daß sie zu Fräulein Fliedner’s Verdruß bei Tische nie anders mehr als in starrer Seide erschien, und in ihrer Verachtung des bürgerlichen Elementes. Am meisten mußte das der junge Helldorf fühlen, den Herr Claudius immer mehr in sein Haus zog. Sie behandelte ihn mit einer Kälte und Schroffheit, die mich oft erbitterte, um so mehr, als sich allmählich ein schönes, rein geschwisterliches Verhältniß zwischen ihm und mir feststellte. Zu meiner Genugthuung bot er der verletzenden Behandlung stolz die Stirn – er ignorirte die hochmüthige Dame völlig … Ich konnte das sehr oft beobachten, weil auch ich an den kleinen Theecirkeln im Hause Claudius theilnahm, und zwar stets in Begleitung meines Vaters. Zwischen ihm und Herrn Claudius bestand ein ziemlich lebhafter Verkehr. Herr Claudius kam sehr viel, was er früher nie gethan, in die Bibliothek, und mein Vater ging oft Abends hinüber in das zur Sternwarte eingerichtete Zimmer. An den Theeabenden saßen sie stets zusammen – sie schienen sich sehr gut zu verstehen; nur berührten sie nie, so oft ich auch hinlauschen mochte, die Münzangelegenheit. … Meine Stellung zu Herrn Claudius aber wurde trotz dieses Verkehrs keine andere. Ich zog mich im Gegentheil strenger und ängstlicher als je von ihm zurück – das Geheimniß, um welches ich wußte, stand zwischen uns. Im Januar, mit Dagobert’s Rückkehr, sollte ja die Angelegenheit zum Austrag kommen – war ich bis dahin freundlich oder auch nur scheinbar harmlos ihm gegenüber, wie falsch stand ich dann da, wenn ihm die Augen aufgingen! … Und noch etwas scheuchte mich aus seiner Nähe. Oft, wenn ich im Gespräch mit Anderen plötzlich aufsah, da überraschte ich seinen Blick, wie er in einer Art von schmerzlicher Versunkenheit an mir hing; ich wußte wohl, warum – er sah immer wieder die Lüge, die meine junge Stirn befleckte. Das jagte mir das Blut in das Gesicht und stachelte auf’s Neue den häßlichen Trotz des Unrechts in mir auf … Er nahm mein abweisendes Verhalten hin als etwas, das er nie anders erwartet habe. Mit keinem Wort betonte er die Vormundschaftsrechte, die ihm Ilse eingeräumt, obgleich ich wußte, daß er nach wie vor über meinem Thun und Treiben wachte und sich insgeheim sogar mit meinem selbstgewählten Lehrer in Verbindung gesetzt hatte – er hielt das Versprechen, das er Ilse gegeben, unverbrüchlich, so drückend und lästig es ihm auch mit der Zeit werden mochte. Mich überkam oft eine jähe Angst, wenn ich ihn mit seinem milden Ernst, in so unantastbarer Haltung unter seinen Gästen sitzen und das in der Luft schwebende Geheimniß über seinem Haupte drohen sah – wie würde er wohl hervorgehen aus all den Enthüllungen?

So waren drei Monate vergangen. Mit Stolz sah ich auf die festen, schlanken Züge meiner Handschrift, denen ich nun auch Seele einzuhauchen wußte. Stand ich doch bereits in Briefwechsel, und zwar in einem geheimen, mit meiner Tante Christine. Sie hatte mir für die Uebersendung des Geldes in fast überschwenglicher Weise gedankt und mir angezeigt, daß sie sich nach Dresden in ärztliche Behandlung begeben und die sichere Hoffnung habe, ihre Stimme wieder zu bekommen. Ihren Versicherungen nach war ich ihre Retterin, ihr Schutzengel und das einzige Wesen, das noch Mitleid mit einer armen, schwergeprüften Frau habe – sie sprach wiederholt den heißen Wunsch aus, mich nur einmal in ihre Arme schließen zu dürfen. Diese Correspondenz erschütterte mich dergestalt, daß ich eines Tages meinem Vater gegenüber schüchtern die unglückliche Tante erwähnte. Er fuhr empor und verbat sich das für alle Zeiten, wobei er entrüstet sagte, er begreife Ilse nicht, daß sie dieses dunkle Stück Familiengeschichte vor meinen Ohren habe laut werden lassen. … Ihre immer häufiger werdenden Briefe ängstigten mich darauf hin nicht wenig, allein ich konnte es doch nicht über das Herz bringen, sie zu ignoriren.

Aber auch noch andere Sorgen brachen in mein Leben herein. Ich, die ich bis vor wenigen Monaten nicht gewußt hatte, was Geld war, ich rechnete jetzt ängstlich mit jedem Groschen, denn – er fehlte häufig. Ich hatte freudig und nicht ohne Geschick unser kleines Hauswesen übernommen; ich richtete jeden Abend einen hübschen, kleinen Theetisch in der Bibliothek her, eine Annehmlichkeit, die mein Vater längst nicht mehr gekannt hatte; aber daß dies schließlich auch bezahlt werden müsse, begriff ich nicht eher, als bis mir das Stubenmädchen einen langen Zettel voll Auslagen vorlegte.

„Geld?“ schreckte mein Vater aus seinen Papieren auf, als ich ihm ahnungslos den Zettel brachte. „Mein Kind, ich begreife nicht – wofür denn?“ Er fuhr suchend in die Westentasche und in die Seitentaschen des Rockes. – „Ich habe keines, Lorchen!“ erklärte er achselzuckend mit einer hülflosen Angstgeberde. „Wie ist mir denn – habe ich nicht das Abonnement im Hotel erst vor Kurzem gezahlt?“

„Ja, Vater. Aber das sind Auslagen für Abendbrod“ – stotterte ich betroffen.

„Ach so!“ Er zerwühlte mit beiden Händen das Haar. „Ja, mein Kind, das ist mir etwas ganz Neues – ich habe das nie gebraucht … Da, da“ – sagte er und stieß nach einem aus grauem Papier hervorguckenden Stückchen Zucker, das auf seinem Schreibtisch lag – „das ist außerordentlich nahrhaft und sehr gesund.“ –

Ach wie erschrak ich, und wie gingen mir plötzlich die Augen weit auf!

Mein Vater hatte eine bedeutende Einnahme; aber er versagte sich das Nöthigste um seiner Sammlungen willen. Daher dieses zum Entsetzen abgemagerte Gesicht, das bereits unter meiner und Ilse’s kurzer Pflege ein auffallend gesünderes Aussehen bekommen hatte. Wenn ich auch wollte, um seiner selbst willen durfte ich auf diese seltsame Zuckerdiät nicht eingehen. Aber mir fehlte aller Muth, ihm gegenüber aufzutreten, nicht einmal zu bitten wagte ich, wenn ich nun sehen mußte, daß er Hunderte von Thalern für vergilbte Handschriften oder eine alte Majolikavase hingab und nicht einen Pfennig in der Tasche behielt. Sein sanftes, liebreiches Wesen, seine fast kindliche Glückseligkeit, mit der er mir die acquirirten Schätze zeigte, und mein eigener hoher Respect vor seinem Beruf und Wissen verschlossen mir den Mund.

Ich suchte den kleinen Geldbeutel hervor, den mir Ilse „für den Nothfall“ im Koffer zurückgelassen, und den ich bis dahin mißachtet hatte. Sein Inhalt reichte für einige Zeit, aber nun, mit dem letzten Groschen kam die quälende Sorge. Ilse durfte ich nicht mit einer derartigen Bitte kommen, und Herrn Claudius auch nicht; ich mußte ihm ja stets mittheilen, in welcher Weise ich das meinem Vermögen entnommene Geld verwenden wollte. Jetzt, wo ich anfing, Menschen und Verhältnisse klarer zu beurtheilen, jetzt erinnerte ich mich auch, daß er das Sammeln, sobald es zur Leidenschaft wurde, streng verwarf – ich verstand seinen Ausspruch, solch ein Sammler nehme die Mittel vom Altar, nunmehr vollkommen und durfte nicht erwarten, daß er auf mein Verlangen einging. Aber über das, was ich selbst verdiente, hatte er kein Recht; ich brauchte ihm nicht einmal zu sagen, zu welchem Zweck ich den Erlös vergeudete – wie ein Blitzstrahl kam mir der rettende Gedanke. …

Schon am zweiten Tage nach dem Unglück in Dorotheenthal hatte ich das junge Mädchen, dessen Mutter ertrunken war, am Fenster eines der Hinterzimmer sitzen sehen – das schöne, bleiche Gesicht tief vornüber gebückt, hatte sie so emsig gearbeitet, daß es mir unmöglich gewesen war, auch nur einen Blick von ihr zu erhaschen.

„Was thut sie denn?“ hatte ich Fräulein Fliedner gefragt.

„Sie hat um Beschäftigung gebeten, weil sie meint, nur auf diese Weise Herr ihrer Schmerzen zu werden. Sie schreibt die Blumennamen auf die Samendüten – ihr Vater war Lehrer in Dorotheenthal – sie schreibt sehr schön.“

Das fiel mir wieder ein, als Emma, das Stubenmädchen, mir eines Tages abermals ein Papier voller Zahlen vorlegte – ich hatte nicht über einen Pfennig mehr zu verfügen und bat sie stockend um einige Tage Frist. Sichtlich erstaunt und betroffen verließ sie das Zimmer, und ich ging Abends um die sechste Stunde mit klopfendem Herzen in das Vorderhaus. … Es war Theeabend bei Herrn Claudius – mein Vater war auch eingeladen, aber vorläufig verweilte er noch im Schloß, um die Prinzessin [811] Margarethe zu begrüßen, die heute nach fast dreimonatlicher Abwesenheit in die Residenz zurückkehrte.

In Fräulein Fliedner’s Zimmer legte ich Mantel und Capuze ab.

„Kindchen,“ sagte die alte Dame ein klein wenig verlegen und zog meinen Kopf an ihre Brust, „wenn es einmal in Ihrer Casse nicht stimmen sollte – nicht wahr, dann kommen Sie zu mir?“

Ich erschrak – Emma hatte geplaudert; aber nun wollte ich erst recht nicht meine Verlegenheit eingestehen – ich schämte mich im Namen meines Vaters. Was half es mir auch, wenn sie mir das Geld lieh? Es mußte doch zurückgezahlt werden. … Ich dankte ihr herzlich und ging ziemlich festen Schrittes nach dem Comptoir – zum ersten Mal seit Ilse fort war.

Schon draußen hörte ich Herrn Claudius auf- und abgehen. Als ich die Thür öffnete, wandte er sich nach dem Geräusch um und blieb mit auf den Rücken gelegten Händen stehen. Nur über seinem Schreibtisch brannte eine mit grünem Schirm versehene Lampe, alle anderen Tische waren dunkel – die Herren hatten bereits die Schreibstube verlassen.

Ein Schauer durchfuhr mich – der hohe, schlanke Mann da hatte eben noch auffallend hastigen Schrittes das einsame, halbdunkle Zimmer durchmessen – mehr als je mußte ich der Zeit denken, wo ihn ein leidenschaftlicher Schmerz ruhelos durch die Gärten gehetzt hatte. Mein Erscheinen im Comptoir schien ihn sehr zu befremden – wie unwillkürlich griff er nach dem Lampenschirm und hob ihn, so daß der volle Lichtschein auf meine schüchtern an der Thür verharrende kleine Person fiel. Mir war so peinlich zu Muthe, als sei ich plötzlich an den Pranger gestellt; aber ich nahm alle Energie zusammen, schritt auf ihn zu und legte unter einer ziemlich mißglückten, leichten Verbeugung ein Papier vor ihn auf den Schreibtisch.

„Wollen Sie die Güte haben und diese Handschrift prüfen?“ sagte ich mit niedergeschlagenen Augen.

Er nahm das Papier auf.

„Hübsche, charaktervolle Züge – sie stehen fest und trotzig, ich möchte sagen, geharnischt da und entbehren dennoch nicht der Grazie,“ sagte er – mit einem halben Lächeln wandte er mir das Gesicht zu. „Man sollte meinen, der Schreiber habe einen eisernen Handschuh angezogen, um eine zärtlich weiche, kleine Hand zu maskiren.“

„Also hübsch sind sie – ob aber auch brauchbar? – Ich wäre froh!“ sagte ich gepreßt.

„Ach so, es geht Sie näher an, als ich dachte – Sie haben das selbst geschrieben?“

„Ja.“

„Und was verstehen Sie unter brauchbar? – Genügt es Ihnen nicht, daß Sie plötzlich so hübsch und – man sieht es der Schrift an – so flink und fließend zu schreiben vermögen?“

„O nein, noch lange nicht!“ versetzte ich hastig. „Ich will so schreiben können, daß – daß man mir Arbeit anvertraut.“ – Jetzt war es heraus, und ich wurde muthig. „Ich weiß, Sie lassen auch durch Frauenhände die Blumennamen auf die Samendüten schreiben – wollen Sie es einmal mit mir versuchen? … Ich werde mir die größte Mühe geben und genau nach Vorschrift arbeiten.“ – Ich sah zu ihm auf, senkte aber auch den Blick sofort wieder – seine blauen Augen hingen so feurig und doch wieder in einer Art von Mitleid schmelzend an meinem Gesicht – sie waren so gluthvoll beredt, als gehörten sie gar nicht zu der übrigen ruhig würdevollen Erscheinung.

„Sie wollen für Geld arbeiten?“ fragte er dennoch sehr gelassen, fast geschäftsmäßig. „Ist Ihnen denn nicht eingefallen, daß Sie das nicht brauchen? Sie haben ja Vermögen. … Sagen Sie mir, wie viel Sie wünschen, und zu welchem Zweck.“ – Er legte die Hand auf die eiserne Kiste, die neben ihm stand.

„Nein, das will ich nicht!“ rief ich heftig. „Lassen Sie das Geld nur liegen für spätere Zeiten. Meine liebe Großmutter sagte, es genüge, um die Noth abzuwehren, und in Noth bin ich noch nicht – Gott bewahre!“

Er ließ seine Hand von dem Kasten niedersinken – ich weiß nicht, weshalb mir bei seinem eigenthümlichen Lächeln der Gedanke kam, er wisse auch bereits um Emma’s Plauderei. Das schlug mich sehr nieder, aber es bestärkte mich auch zugleich in meinem Entschluß.

„Sie haben offenbar eine falsche Vorstellung von der Arbeit, der Sie sich unterziehen wollen,“ versetzte er. „Ich weiß es, nach fünf Minuten werden die Wangen heiß werden, werden die Gedanken hinter der Stirn und die Füße unter dem Tisch gegen das verhaßte Schreiben rebelliren –“

„Das ist jetzt anders,“ unterbrach ich ihn kleinlaut und beschämt – er citirte meine eigenen kindischen Worte, mit denen ich ihm ehemals meinen Abscheu gegen das Schreiben geschildert hatte. „Schwer genug ist mir’s geworden, das ist wahr, ich leugne es gar nicht, aber ich habe mich überwunden.“

„Wirklich?“ – Das fatale Lächeln flog wieder um seine Lippen. „Sie haben also die Haidegewohnheiten vollständig abgeworfen? Sie verabscheuen das Baumklettern und begreifen nicht mehr, wie Sie einst durch den Fluß laufen konnten?“

„O nein, so gebildet bin ich noch lange nicht!“ fuhr es mir wider Willen heraus. „Ich kann mir überhaupt nicht denken, daß je eine Zeit käme, wo ich ohne Sehnsucht das Rauschen der Bäume und das lustige Wasserrieseln hören könnte – aber ich werde die Sehnsucht so beherrschen lernen, wie ich mit zusammengebissenen Zähnen diese Züge“ – ich zeigte auf das Papier – „gegen meine Neigung erzwungen habe.“

Er wandte sich ab und sah an dem grünen Fenstervorhang empor, als wolle er die Webefäden zählen. Dann nahm er eine kleine Papierhülse und hielt sie mir hin. In schöngeschwungenen kräftigen Linien stand darauf: „Rosa Damascena“.

„Denken Sie sich, Sie müßten diese Aufschrift vierhundert Mal wiederholen,“ sagte er nachdrücklich.

„Gut, Sie sollen sehen, daß ich’s kann! … Es ist ja ein Blumenname, und wenn ich das Wort ‚Rose‘ tausend Mal schreiben müßte, ich würde mir immer ihren köstlichen Duft dabei einbilden – ein Rosenkelch ist für mich ein Wunder, ich hab’ ihn immer für das Königsschlößchen der Käfer gehalten – das ist auch noch so eine von meinen ‚Haidegewohnheiten‘ – wollen Sie mir nun die Arbeit anvertrauen?“

Er schwieg, und jetzt fiel es mir schwer auf das Herz, daß er alle diese Schwierigkeit nur erhebe, um mir nicht direct sagen zu müssen, daß er mein Geschreibsel nicht brauchen könne. Tief gedemüthigt dachte ich an Luise, die Lehrerswaise – sie war ja noch im Hause, und ihre fleißigen, geschickten Hände wurden sehr gerühmt; sie machte die Sache jedenfalls ungleich besser, und es war vermessen von mir, mich ihr gleichzustellen. Ach, wie bitter bereute ich, in die Schreibstube gegangen zu sein! … Nicht ohne eine heftige Aufwallung des alten Trotzes nahm ich meine Probeschrift und steckte sie in die Tasche.

„Ich fühle, daß ich unbescheiden gewesen bin und eine zu hohe Meinung von meinen Leistungen gehabt habe,“ sagte ich mit fliegendem Athem. „Jetzt, wo ich diese schöne, graziöse Schrift sehe“ – ich deutete nach der Papierhülse – „jetzt bin ich beschämt.“

Hastig schritt ich nach der Thür, aber da stand er auch schon neben mir.

„Gehen Sie nicht so von mir,“ sagte er in seinen weichsten Tönen. „Ich handle thöricht! Sie geben mir den ersten Beweis eines schwach aufkeimenden Vertrauens, und ich widerspreche Ihnen. – Aber ich kann nicht zugeben, daß Sie sich einer Marter unterziehen, die Ihrer ganzen Natur zuwiderläuft – Sie haben mir selbst gesagt, daß Sie das rein Mechanische ‚mit zusammengebissenen Zähnen‘ vollbringen. … Ich will ferner nicht, daß Ihre reine Hand, die bis jetzt das Geld mit seinem anklebenden Fluch kaum berührt, sich um den Groschen müht – das siebenzehnjährige Menschenwunder, das noch nie Geld gesehen, glauben Sie, es wäre damals so flüchtig an mir vorübergegangen, wie vielleicht eine neue Gegend, eine fremdartige Nationaltracht, oder dergleichen? … Ich habe Ihnen gleich zu Anfang erklärt, daß das überwuchernde wildtrotzige Element in Ihrer Natur gezügelt werden müsse – das Ungeberdige entstellt in meinen Augen das Weib, und mögen es Tausende als wilde Grazie preisen – aber Ihre Individualität darf dabei nicht angetastet werden.“

„Nun, das Zügeln übernehme ich ja, indem ich arbeiten, fest und angestrengt arbeiten will,“ versetzte ich hartnäckig. „Ich weiß es, Andere suchen die Heilung auch in der Arbeit – Sie selbst sind ja thätig von früh bis spät und verlangen von Ihrer Umgebung streng das Gleiche.“

Er lächelte.

[812] „Ich verlange von Jedem mit Recht die angestrengte Thätigkeit in seinem Beruf. … Aber meinen Sie denn, ich sei ein so eingefleischter Arbeiter, daß ich urtheilslos Alles in eine und dieselbe Form knete? … Einen, der mit grober Säge die überflüssigen Aeste vom Baume schneidet, lasse ich ruhig schalten und walten; allein ich kann sehr schelten, wenn er mir mit rohem Finger eine feine Blüthe berührt und den keuschen Sammet von den Blättern streift. … Ich möchte wohl das widerspenstige Zurückwerfen dieses kleinen Lockenkopfes gemildert sehen; aber nur durch die errungene geistige Ueberlegenheit, niemals unter dem lähmenden Joch der mechanischen Arbeit.“

Ich stand auf dem Punkt, die Aussicht auf den einzig möglichen Erwerb zu verlieren, weil ich es nicht über mich gewinnen konnte, den geschäftsmäßigen Ton wieder anzuschlagen, der ihn selbst treulos verlassen hatte. Alles, was er sagte, klang so verhalten und gedämpft, als fürchte er, jede lautere Hebung der Stimme könne eine innere Gluth zum Brand schüren, ihn zur Heftigkeit fortreißen. – War denn ein Wort gefallen, das die Erinnerung an die treulose Frau geweckt hatte? … Bewegt durch ein unerklärlich heftiges Weh- und Mitgefühl für den einst so schwer Gekränkten, griff ich zu dem einzigen Mittel, das mir blieb – zu der Bitte. Ich sprach und bat in warmen Tönen, vor denen ich selbst erschrak.

Ein Aufstrahlen flog wie Sonnenschein über sein Gesicht.

„Nun denn, Sie sollen haben, was Sie wünschen!“ sagte er wie nach kurzem Ueberlegen mit vibrirender Stimme. „Ich begreife jetzt, weshalb selbst die strenge, rauhe Frau Ilse so wenig mit dem ‚Haideprinzeßchen‘ auszurichten vermocht hat! … Nein, nein, so rasch sind wir nicht fertig!“ rief er, als ich nach einigen Dankesworten das Zimmer verlassen wollte. – „Es ist nicht mehr als billig, daß auch ich mir nun Etwas erbitten darf, nicht wahr? … Erschrecken Sie nicht, Sie sollen mir keine Hand geben“ – wie bitter und beschämend klang diese Beschwichtigung für mich! – „Ich will Sie nur bitten, eine Frage aufrichtig zu beantworten.“

Ich kehrte zurück und sah zu ihm auf.

„Habe ich mich nicht getäuscht – war es wirklich Ihre Stimme, die mich anrief, als ich in der Unglücksnacht von Dorotheenthal zurückkehrte?“

Ich fühlte, wie mir ein brennendes Roth über das Gesicht lief; aber ohne Zögern versetzte ich: „Ja, ich bin es gewesen – ich hatte Angst“ – ich verstummte, denn die Thür ging auf, und der alte Erdmann trat ein. … Mit dem Ausdrucke des tiefsten Verdrusses zeigte Herr Claudius auf ein Paket Briefe, die nach der Post getragen werden sollten. Der alte Mann hatte bereits ein Schreiben in der Hand, das er auf den Tisch legte, während er seine Umhängetasche mit den Geschäftsbriefen füllte.

„Von Fräulein Charlotte,“ sagte er, als er bemerkte, daß der Blick seines Herrn mit sichtlichem Befremden an dem kleinen Siegel des mitgebrachten Schreibens haftete.

„Der Brief wird erst morgen früh abgehen, Erdmann,“ sagte Herr Claudius kurz und nahm ihn an sich.

Währenddem hatte ich die Thür erreicht, und ehe er mich noch einmal anrufen konnte, stand ich mit heftig klopfenden Pulsen in der Hausflur. Ich athmete tief auf – der bärbeißige Alte war im glücklichen Moment eingetreten; um ein Haar hätte ich mich hinreißen lassen, Herrn Claudius zu bekennen, was ich an jenem Abend um ihn gelitten. … Was war das nur? Ich verlor allen Boden unter den Füßen; der alte Herr mit der blauen Brille – wie ein Phantom war diese anfängliche Vorstellung in alle Lüfte verflogen; und von Allem, was mir beim Eintritt in die neue Welt einen tiefen Eindruck gemacht, kam nichts mehr auf neben der imponirenden Erscheinung des „Krämers“.




27.

Ich huschte die Treppe hinauf nach den Gesellschaftsräumen. Drei aneinanderstoßende Zimmer – das Charlottens mit inbegriffen – waren stets behaglich erwärmt und beleuchtet. Die Thüren standen weit offen, und Herr Claudius liebte es, im Gespräch dann und wann langsamen Schrittes die Räume zu durchmessen. Der Kreis, der sich um den Theetisch versammelte, war ein sehr enger. Einige bejahrte Herren, sogenannte Respectpersonen, und Freunde aus alten Zeiten kamen ab und zu; mein Vater aber – sein „Gänseblümchen“ selbstverständlich auch – und der junge Helldorf waren stehende Gäste; auch Luise, die junge Waise und schweigsame Stickerin, fand sich ein. Dagegen hatte sich der Buchhalter ein für allemal dispensiren lassen mit der Entschuldigung, daß er alt werde und an kalten und nebligen Abenden den Weg durch die Gärten scheue; in Wirklichkeit aber hatte er unverhohlen ausgesprochen, die Physiognomie des Hauses Claudius sei eine so bedenkliche geworden, daß er wenigstens „seine Hände wasche“ und keinen Theil haben wolle an Dem, was der gegenwärtige Chef der Firma seinen Vorgängern gegenüber dereinst verantworten müsse.

Heute standen die Zimmer noch leer. Es war ein kalter Novemberabend; in den feinen Regen, der sich der Erde nahe in widrige Dunst- und Nebelwolken auflöste, mischten sich die ersten vereinzelten Schneeflocken, und rauhe Windstöße pfiffen durch die Gassen.

Bei meinem Eintreten in den Salon hantirte Fräulein Fliedner unter den klirrenden Tassen des Theetisches. Sie war erregt, die alte Dame, denn das Porcellan fuhr unter ihren Händen ein wenig confus durcheinander. … Charlotte beobachtete sie mit einem malitiösen Lächeln. Sie hatte sich in die Sophaecke geworfen, halb versunken in die metallisch glitzernden Wogen einer mit Bauschen und Volants überladenen grünen Seidenrobe. Ihre imposante Schönheit interessirte mich auf’s Neue – die prächtigen Formen dehnten sich so behaglich in den warmen, elastischen Polstern; dennoch fröstelte ich unwillkürlich unter der Einwirkung des Contrastes zwischen dem draußen vorüberfegenben rauhen Novemberwinde und den entblößten Schultern und Armen des üppigen Mädchens, die nur eine Fluth außerordentlich klarer Spitzen überrieselte.

„Ich bitte Sie um’s Himmelswillen, liebste Fliedner, seien Sie vorsichtig!“ rief sie mit affectirter Aengstlichkeit, ohne ihre nachlässig bequeme Stellung auch nur im Mindesten zu verändern. „Die selige Frau Claudius müßte sich ja in der Erde umdrehen, wenn sie wüßte, wie Sie mit ihren porcellanenen Erinnerungen an frohe Wiegenfeste, Familienjubiläen, und was alle diese kostbaren Inschriften sonst noch verherrlichen mögen – in diesem Augenblicke umgehen. … Die Sache ist nicht der Rede werth – zu was alteriren Sie sich denn? … Kann ich etwas dafür, daß mir diese Luise antipathisch ist? Und bin ich schuld, daß dieses Thränenweidengesicht stets aussieht, als wolle es Gott und alle Welt um Verzeihung bitten, daß es sich die Freiheit nimmt, überhaupt zu existiren? … Das Mädchen fühlt instinctmäßig, was ich ungezwungen ausspreche – sie gehört nicht in den Salon mit ihren Schulmeistermanieren. Es ist eine viel zu weit getriebene Humanitätsanwandlung des Onkels, ihr eine Stellung einzuräumen, zu der sie in keiner Weise berechtigt ist. … Du lieber Gott, ich bin auch kein Unmensch – aber was recht ist! – Guten Abend, Prinzeßchen!“

Sie reichte mir die Hand und zog mich neben sich auf das Sopha. „Da bleiben Sie hübsch sitzen, Kind, und fahren nicht immer wie ein Irrwisch durch die Zimmer!“ sagte sie gebieterisch. „Sonst setzt mir der Onkel abermals eine Nachbarin zur Seite, die mich mit ihrer ewigen Battiststickerei und dem groben Stahlfingerhut an ihrer Hand zur Verzweiflung bringt.“

„Einem dieser unerträglichen Uebel können Sie sehr leicht abhelfen,“ meinte Fräulein Fliedner gelassen. „Geben Sie Luise einen Ihrer silbernen Fingerhüte – Sie benutzen Sie ja doch nie –“

„Wenigstens sehr selten,“ lachte Charlotte auf und ließ ihre schlanken, weißen Finger vor den Augen spielen. „Ich weiß auch warum. … Sehen Sie, beste Fliedner, diese Nägel? … Sie sind nicht besonders klein, aber hübsch rosig und tadellos gebildet – auf jedem sitzt ein Adelsdiplom – glauben Sie nicht?“ Sie zog in geistreich ausdrucksvoller Weise die Oberlippe scharf zurück und zeigte impertinent lächelnd die ganze Reihe ihrer schönen Zähne.

„Nein, das glaube ich ganz entschieden nicht,“ versetzte Fräulein Fliedner erregt – das Roth des Aergers trat ihr in die Wangen „Die Natur giebt kein solches Diplom mit, das gegen die Arbeit feit, und auch jenes geschriebene Fürstenwort, dem eine wahnwitzige Vorstellung eine ähnliche Wandlungskraft wie die des Abendmahls verleiht, und in Folge deren ehrlich gesundes rothes Blut sich plötzlich in ein verkünsteltes blaues verändern soll – auch dieses Fürstenwort hat nicht die Macht, irgend [813] ein Individuum von der Arbeit zu entbinden, zu der das Menschengeschlecht berufen ist. Es wäre schlimm und ein Widerspruch in Gottes Schaffen und Walten selbst, wenn den Herrschern in Wahrheit das Recht verliehen wäre, die Faulenzer zu sanctioniren. … An Eines aber muß ich Sie bei dieser Gelegenheit erinnern, Charlotte – es ist bis jetzt nie über meine Lippen gekommen, aber Ihr Uebermuth kennt keine Grenzen mehr, er wird von Stunde zu Stunde unerträglicher, und so sage ich Ihnen denn: Vergessen Sie nicht, daß Sie ein Adoptivkind sind!“

„Ach ja, solch ein armes Geschöpf, das das Gnadenbrod ißt, nicht wahr, meine liebe gute Fliedner?“ rief Charlotte – ihre funkelnden Augen fixirten höhnisch das Gesicht der alten Dame. „Ja denken Sie sich nur, darüber mache ich mir auch nicht so viel Kummer“ – sie stippte Daumen und Zeigefinger gegen einander – „es schmeckt mir ganz vortrefflich, weil ich mich durchaus nicht losmachen kann von dem Gedanken, daß es mir von Gott und Rechtswegen gehört. … Uebrigens war es ein wahres Wort, als ich heute Dagobert schrieb, daß Sie die erste Geige am Theetisch spielen, seit Eckhof in Ungnade gefallen ist – Sie werden impertinent, meine Gute!“

Sie verstummte und sah über die alte Dame hinweg nach der offenen Thür, auf deren Schwelle Herr Claudius geräuschlos erschien. Nicht im Mindesten verlegen, erhob sie sich und begrüßte ihn. … Er trat, ihren Gruß kurz erwidernd, an den Tisch und hielt das Siegel des Briefes, den er im Schreibzimmer confiscirt hatte, nahe an das Lampenlicht.

„Wie kommst Du zu diesem Wappen, Charlotte?“ fragte er ruhig, wenn auch mit bedeutender Schärfe im Ton.

Sie erschrak – ich sah es an dem Zucken ihrer halbgeschlossenen Lider, unter denen hervor sie mit gutgespieltem Gleichmuth auf das Wappen hinblinzelte.

„Wie ich dazu komme, Onkel?“ wiederholte sie und zuckte

Schlaumeier auf glücklicher Fährte.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

[814] in fast scherzhafter Weise die Achseln. – „Es tut mir leid – darüber kann ich Dir keine Auskunft geben.“

„Was soll das heißen?“

„War ich nicht deutlich genug, Onkel Erich? – Nun denn, ich bin augenblicklich außer Stande, Dir zu sagen, wie dieses hübsche Petschaft in meine Hände kommt. … Ich habe auch so meine kleinen Geheimnisse, wie ja deren genug im alten Claudiushause herumliegen. … Gestohlen habe ich’s nicht; ebenso wenig gekauft; es ist mir auch nicht geschenkt worden.“ – Sie ging in ihrer Kühnheit so weit, vor diesem tiefernsten Gesicht das verhängnißvolle Räthsel wie einen Spielball in die Hand zu nehmen.

„Die geistreiche Lösung ist, daß Du es gefunden hast, wenn ich mir auch nicht denken kann, wo,“ sagte er augenscheinlich widrig berührt durch ihre kecke Art und Weise, mit ihm zu scherzen. „Es fällt mir nicht ein, weiter in Dich zu dringen – behalte Dein Geheimniß. Dagegen frage ich Dich ernstlich: Wie kommst Du dazu dieses Wappen zu führen?“

„Weil – nun, weil es mir gefällt!“

„Ach so – das ist ja ein wunderbarer Begriff von Mein und Dein! … Freilich, dieses Wappen ist herrenloses Gut, auch fehlt mir persönlich der Respect vor dem angedichteten Nimbus solch eines kleinen Schildes – ich könnte Dir schließlich die kindische Freude lassen, ferner Deine Briefe mit diesem gekrönten Adlerflügel zu siegeln, wenn – Du nicht Charlotte wärst – einem notorischen Spieler aber, den man heilen will, giebt man keine Karten in die Hände. … Ich verbiete Dir hiermit ein- für allemal, das gefundene Petschaft ferner in Gebrauch zu nehmen!“

„Onkel, ich frage Dich, ob Du in Wirklichkeit das Recht dazu hast!“ rief Charlotte in unaufhaltsam hervorbrechender Leidenschaft. Ich zitterte vor Angst und Aufregung – sie stand auf dem Punkte, mit einem einzigen Hiebe den Knoten zu durchhauen.

Herr Claudius trat um einen Schritt zurück und maß sie mit einem stolz erstaunten Blick.

„Du wagst, es anzuzweifeln?“ – Er zürnte, und doch blieb er vollkommen beherrscht in seiner äußern Haltung. „In der Stunde, wo Ihr – Du und Dein Bruder – an meiner Hand Madame Godin’s Haus verlassen habt, ist mir dieses Recht zugefallen. Ich habe Dir den Namen Claudius gegeben, und kein Gericht der Welt kann es mir verwehren, wenn ich darauf bestehe, daß Du ihn ohne alle Verballhornisirung trägst. … Sollte wirklich der Augenblick gekommen sein, wo ich bereuen müßte, dieses hochgehaltene Kleinod meiner Väter als Schild über Dein und Dagoberts Haupt gedeckt zu haben? … Mein Bruder hat es geschädigt, indem er dieses Unding“ – er zeigte auf das Siegel – „daran knüpfen ließ! mit meinem Willen soll es nie wieder aufleben!“ Ein spöttisch überlegenes Lächeln huschte durch Charlottens Züge, er sah es und runzelte finster die Brauen.

„Kindisch schwache und angekränkelte Seele in einem so kräftigen gesunden Körper!“ sagte er und ließ seinen Blick über die imposante Gestalt des jungen Mädchens hinstreichen. „Du klagst und schiltst über den unnahbaren Hochmuth des Adels, und stärkst ihn doch, wie tausend andere schwachsinnige Geister auch, durch die Gier, in seinen Kreisen zu verkehren, durch knechtische Unterwerfung, wenn man Dich nur duldet. … Ich gehöre nicht zu jenen fanatischen Gegnern des Adels, die ihn von seinem Piedestal stoßen wollen – mag er doch da bleiben – ich behaupte auch den Platz, auf dem ich stehe. … Die Bedeutung seiner Weltstellung ist ohnehin eine andere geworden – wenn ich mich ihm nicht unterthänig mache, dann bin ich’s auch nicht. Seine eingebildete Stärke wurzelt nur noch in Eurer Schwäche – wo keine Anbetung, da ist auch kein Götze.“

Charlotte warf sich wieder in die Sophaecke – ihre Wangen glühten; es kostete ihr offenbar einen schweren Kampf, die Zunge zu zähmen.

„Mein Gott, was kann ich für meine Natur?“ rief sie nicht ohne Hohn. „Sei es drum – ich kann mir eben nicht helfen, ich gehöre nun einmal zu jenen schwachsinnigen Geistern! Warum soll ich’s leugnen – hinge dieser reizende, gekrönte Adlerflügel mit meinem wirklichen Familiennamen zusammen, ich wäre stolz – stolz über die – Maßen!“

„Nun, es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. … Wehe denen, die mit Dir verkehren müßten, wenn Dir wirklich dieser sogenannte Vorzug der Geburt zufiele! Glücklicherweise berechtigt Dich weder Dein Adoptivname, noch der Deiner eigentlichen Familie –“

„Der meiner Familie? – Und wie lautet er, Onkel Erich?“ Sie erhob sich unwillkürlich und heftete fest und durchdringend ihre glühenden Augen auf sein Gesicht.

„Hättest Du ihn in der That vergessen, ihn, der Dir ‚tausendfach süßer und vornehmer klingt, als der grobe, deutsche, bärenhafte Name Claudius‘? … Er lautet – Mericourt“ … Er sprach den Namen augenscheinlich mit Ueberwindung aus.

Charlotte sank wieder in die Polster zurück und drückte das Taschentuch gegen ihre Lippen.

„Ist Ihr Thee fertig, liebe Fliedner?“ wandte sich Herr Claudius an die alte Dame, die gleich mir in athemloser Spannung dem gefährlichen Gespräch gefolgt war.

Während er sich einen Fauteuil an den Tisch schob, goß sie schleunigst Thee ein, ihre kleinen, feinen Hände waren ein wenig unsicher, als sie ihm die Tasse hinreichte, und ein besorgter Blick streifte scheu seine verfinsterte Stirn – die alte Frau sollte ja seine Mitschuldige sein, diese sanfte, liebreiche, gütige alte Frau, die Mitwisserin einer fortgesetzten schwarzen Schuld – nimmermehr! Herr Claudius hatte durch seinen letzten fest und sicher gegebenen Bescheid die Angelegenheit wieder in das tiefste Dunkel gezogen – ihm glaubte ich. Anders dachte Charlotte, ich sah es an ihrem Gesicht, ihre Ueberzeugung war eine unumstößliche. Wie eine Fürstin saß sie neben mir und ließ sich von Fräulein Fliedner bedienen, und der spöttisch feine Zug, der ihre Mundwinkel abwärts bog, galt dem Namen Mericourt. … Welch ein Widerspruch in dieser hochmüthigen Seele selbst! Einst hatte sie mit dem französischen Namen die Voraussetzung, daß das deutsche, plebejische Blut der Claudius in ihren Adern fließe, zornig und energisch abgewehrt, und nun verwarf sie ihn verächtlich wie ein abgelegtes Kleid, auf die Enthüllung hin, daß sie in Wahrheit eine Claudius, die leibliche Nichte des mißachteten Krämers sei … Ach, ich harmloses Kind der Haide, ich begriff ja nicht, daß ein Machtwort des Fürsten, ein paar Federstriche seiner Hand den alten Stamm des Krämerhauses bis in die Wurzel gespalten und den abgetrennten Ast bis zur Unkenntlichkeit veredelt hatten!

Luise trat ein und gleich nach ihr Helldorf. Ich schöpfte tief Athem, als wehe mich ein erfrischendes Element an – diese Beiden hatten ja keine Ahnung von dem vulcanischen Boden, auf welchem der niedliche Theetisch stand, sie unterbrachen in zwangloser Weise das dumpfe Schweigen, das seit Herrn Claudius’ letztem Worte herrschte, auch hatte ich in Helldorf’s Nähe stets das Gefühl des Beschütztseins, einer trauten, heimischen Beziehung – war ich doch auch allmählich das zärtlich gehegte und gehätschelte Kind im Hause seines Bruders geworden.

Er reichte mir mit verständnißvollem Lächeln und vorsichtigen Fingern eine weiße Papierdüte hin – ich wußte, was sie enthielt – eine kaum aufgebrochene Theerose, die Frau Helldorf lange für mich gepflegt, und von welcher sie mir am Morgen gesagt hatte, sie werde sie mir noch an den Theetisch schicken, falls sie im Laufe des Tages den Kelch öffnen sollte. Ich stieß einen Freudenruf aus, als ich das Papier auseinanderschlug – mattweiß, tief im halberschlossenen, strotzenden Kelch blaßgelb angehaucht, schwankte die starkduftende Blüthe schwer am Stengel. …

„O weh, nehmen Sie doch ein wenig Rücksicht auf mein Kleid, Luise! Sie reißen mir ja die Spitzen von den Volants!“ rief Charlotte in diesem Augenblick heftig und zog die rauschenden Falten ihrer Robe an sich. Sie war sehr zornig, aber ich konnte unmöglich glauben, daß es dem Kleide gelte – ein Riß in dem kostbarsten Anzug war ihr stets sehr gleichgültig. Ich hatte gesehen, wie sie das Dreieck, das ihr ein Dornbusch in ein prächtiges Spitzentuch gerissen, eigenhändig erweiterte, weil „es gar so lächerlich aussehe“, und Fräulein Fliedner’s kleinen Pinscher hatte sie lachend an den Ohren gezupft dafür, daß er „so reizend boshaft“ den Besatz eines neuen Kleides zerfetzt hatte.

Luise fuhr erschrocken, mit todesängstlichen Augen empor und stammelte eine Entschuldigung um die andere, obgleich sich der prophezeite Schaden nirgends entdecken ließ – man sah dem scheuen, gedrückten Geschöpf die Furcht an, die ihr die herrische junge Dame einflößte. … Die Scene war peinlich und hätte sicher noch eine unangenehme Wendung für Charlotte genommen, [815] wäre nicht Fräulein Fliedner ablenkend eingeschritten. Mit einem Blick auf Herrn Claudius’ finster gefaltete Brauen ergriff sie die Rose und steckte sie mir in die Locken.

„Sie sehen prächtig aus, kleine Orientalin!“ sagte sie, mich freundlich auf die Wange klopfend.

Charlotte lehnte sich in ihre Ecke zurück – tief, als schlafe sie, lagen die breiten dunklen Wimpern auf ihren heißglühenden Wangen – sie würdigte den Schmuck in meinem Haar nicht eines Blickes.

Trotz des häßlichen Wetters fanden sich noch einige Gäste aus der Stadt ein. Ein lebhafter Wortwechsel entspann sich sofort, und Charlotte erwachte aus ihrer scheinbaren Apathie – der Lockung, mit ihrer Conversationsgabe zu brilliren, konnte sie nicht widerstehen. Heute sprühte ihr Geist förmlich Funken; ich hatte sie noch nie so hinreißend beredt gesehen. Freilich klang ihr Spottgelächter oft grell und unharmonisch dazwischen, und das fast bacchantisch wilde Zurückwerfen und Emporschnellen der üppigen Gestalt, das ungezwungene Spiel der weißen vollen Schultern in dem die Büste nur lose umschließenden Kleid löschten den letzten Anhauch des Mädchenhaften von dem strahlenden Frauenbild – es war, als prickele es ihr elektrisch in jeder Fiber, als flösse nicht Blut, sondern Feuer durch ihre Adern. …

Mit einem Gemisch von Grauen und Bewunderung hing mein Blick wie festgebannt an ihr – da glitt langsam eine Hand vor meinen Augen nieder, als wolle sie mir den Blick verwehren – es war Herr Claudius, der neben mir saß. Zugleich forderte er Helldorf auf, ein Lied zu singen. Seine unverkennbare Absicht, durch den Gesang des jungen Mannes den witzsprudelnden rothen Mund dort für einen Moment wenigstens zum Schweigen zu bringen, mißglückte; Charlotte sprach, wenn auch mit etwas moderirter Stimme, weiter, als habe sie keine Ahnung davon, daß drüben am Flügel „der Wanderer“ von Schubert in tiefergreifender Gewalt gesungen werde.

„Wenn Du selbst keine Achtung vor der Musik hast, Charlotte, dann störe wenigstens den Genuß Anderer nicht,“ unterbrach sie Herr Claudius plötzlich streng und winkte Schweigen gebietend mit der Hand hinüber.

Sie fuhr zusammen und verstummte. Mit einer gleichgültig stolzen Bewegung ließ sie den Kopf auf die Sophalehne sinken, nahm eine der beiden dicken Locken auf, die ihr über den Busen herabhingen, und ließ sie in nervös aufgeregtem Spiel über die zuckenden Finger rollen. Sie hob nicht einmal die Lider, als der junge Mann wieder in das Zimmer trat und den begeisterten Dank der Anwesenden empfing.

Einer der Herren bat sie dennoch, ein Duett mit Helldorf zu singen.

„Nein, heute nicht – ich bin nicht aufgelegt,“ sagte sie in nachlässigem Ton, ohne ihre Stellung zu verändern, ja, ohne auch nur die Augen aufzuschlagen.

Ich sah, wie Helldorf’s schönes Gesicht bis in die Lippen bleich wurde. Er that mir unsäglich leid – ich konnte es nicht ertragen, daß ein Glied der mir so liebgewordenen Familie beleidigt wurde. Muthig erhob ich mich.

„Ich will das Duett mit Ihnen singen, wenn Sie es wünschen,“ sagte ich zu ihm – meine Stimme bebte freilich, denn mir selbst schien es, als thäte ich etwas Ungeheuerliches, etwas ganz Uebermenschliches.

Und er wußte das – er kannte meine Scheu vor fremden Zuhörern. … Mit einer lebhaften Bewegung zog er meine Hand an seine Lippen; dann traten wir an den Flügel.

Ich glaube, ich habe nie in meinem Leben so gut und ausdrucksvoll gesungen, wie an jenem Abend. Eine mächtige, wenn auch noch unbegriffene Erregung ließ mich die Angst überwinden, die meine ersten Töne umschleierte. … Schon während des Gesanges waren die Anwesenden geräuschlos, Eines nach dem Anderen, herübergekommen, und nach dem Schluß überschütteten sie uns mit Beifall; ich ganz besonders wurde von den alten Herren als Lerche, Flöte und Gott weiß was Alles bis zum Himmel erhoben.

Da kam auch Charlotte herübergerauscht. Sie stürmte auf mich zu und legte ihren Arm um meine Taille. Ich erschrak vor ihr – sie bog sich tief genug über mich, daß ich die funkelnden Thränen in ihren Augen sehen konnte, aber es waren Thränen des Zornes, die sie mit festzusammengepreßten Lippen und schwerathmender Brust gewaltsam niederzuschlucken suchte. Hätte ich damals nur entfernt begriffen, welcher Art die Leidenschaft war, die sie so furchtbar aufregte, wie leicht wäre es mir geworden, sie zu beschwichtigen, und wie gern hätte ich’s gethan! So aber überschlich mich ein unbeschreibliches Angstgefühl, und unwillkürlich strebte ich, mich aus der Umschlingung loszuwinden.

„Nun sehe Einer die kleine Haidelerche an!“ lachte sie auf. „Mit einem einzigen Griff könnte man dieses Vogelkörperchen zerdrücken,“ sie schnürte ihren Arm so fest um meinen Leib, daß mir der Athem stockte, „und das schmettert, daß die Wände zittern!“

Ehe ich mich dessen versah, hatte sie mich scheinbar kosend und hätschelnd aus dem Kreise der Umstehenden mehr in das Dunkel hineingezogen, – sie fuhr mit der Hand heftig über den Scheitel, und plötzlich flog die Rose aus meinen Locken weit in den anstoßenden Salon hinein.

„Kleine, reizende Coquette, Sie haben Ihre Rolle glanzvoll durchgeführt – wer hätte gedacht, daß solch ein gefährliches Element in dem Barfüßchen stecke!“ raunte sie mir mit mühsam beherrschter Stimme zu. „Wissen Sie auch, wie man es mit den Gefeierten macht?“ rief sie lauter. „Man hebt sie hoch über den gemeinen Menschentroß. … Sehen Sie, so, so – Sie federleichtes Ding, Sie allerliebstes Nichtschen!“

Ich schwebte plötzlich hoch droben in der Luft und hätte den Stuck des Plafonds mit den Händen berühren können, denn das obere Stockwerk des Vorderhauses war ziemlich niedrig. Auf den riesenstarken Mädchenarmen war ich allerdings eine gen Himmel gewehte Flaumfeder, ein schwaches Geschöpf mit wehrlosen Kinderhänden, ein Nichts; selbst über meine Stimme hatte ich keine Macht, Scham und Schrecken schnürten mir die Kehle zu – ich wähnte mich in der Gewalt einer Wahnwitzigen.

Lachend flog sie mit mir durch die Zimmer, während ich unwillkürlich die Augen schloß. … Da durchfuhr jäh ein schmetternder Schlag meinen Kopf – wir waren gegen den tiefniederhängenden schweren Bronzekronleuchter im letzten Salon gerannt. Ich stieß einen zitternden Schrei aus – die Anwesenden stürzten auf uns zu, während meine Trägerin mich erschrocken niedergleiten ließ. Wie durch einen Schleier sah ich nur noch, daß Herrn Claudius’ Arme mich auffingen – dann legte sich ein rätselhaftes Dunkel über mich.

Wie lange diese Betäubung angedauert, weiß ich nicht – aber es kam mir vor, als erwache ich allmählich und zwar ganz in der Weise, wie ich als Kind so oft auf Ilse’s Schoß aufgewacht war. Ich fühlte mich sanft umschlungen, und an meinem Ohr hin strich dann und wann ein geflüsterter Hauch, den ich nicht verstand, und der mir doch genau so klang, wie Ilse’s scheu kosende Schmeichelnamen, die ich eigentlich auch nicht hören sollte. Aber das Herz, an welches mein Kopf gedrückt wurde, war ein heftig klopfendes – das war anders als bei Ilse. … Erschrocken schlug ich die Augen auf und sah in ein völlig entfärbtes Gesicht, dessen Ausdruck voll leidenschaftlicher Angst ich nie vergessen werde.

Ich begriff plötzlich die Situation, in der ich mich befand, und bog erglühend den Kopf weg, der bei der heftigen Bewegung zu schmerzen anfing. Sofort zog sich der Arm von meinen Schultern zurück, und Herr Claudius, der neben mir auf dem Sopha gesessen hatte, sprang auf.

„Ach, mein liebes, süßes Kindchen – Gott sei Dank, da sind ja Ihre großen Augen wieder!“ rief Fräulein Fliedner, die eben ein Leinenstück in einer Porcellanschüssel ausrang, mit bebender Stimme hinüber.

Ich griff nach meinem Kopf, er war verbunden, und an der linken Schläfe nieder sickerte das kühle Wasser des Umschlags. Schneller, als ich selbst gedacht hätte, war ich Herr über meine Nerven und die wunderbare, ungekannte Empfindung, die mich für einen Augenblick so unbeschreiblich süß und beseligend durchschauert hatte. … Voll Angst dachte ich an Charlotte und das Strafgericht, das über sie ergehen würde – ich mußte so schnell wie möglich wieder heil und gesund auf meinen Füßen stehen.

„Was habe ich denn für Streiche gemacht?“ fragte ich, mich energisch aufrichtend.

„Sie sind ein klein wenig in Ohnmacht gefallen, Herzchen,“ sagte Fräulein Fliedner sichtlich erfreut über meine Munterkeit.

„Wie, ein so schwaches Geschöpf bin ich? … Wenn das [816] Ilse wüßte! Sie kann die nervenschwachen Frauenzimmer nicht ausstehen. … Aber wir wollen das Tuch wieder abnehmen, Fräulein Fliedner – es ist wirklich nicht nöthig“ – ich griff danach. „Ach meine Rose!“ rief ich unwillkürlich.

„Sie sollen sie wieder haben,“ sagte Herr Claudius niedergeschlagen – ich sah, wie ein Seufzer seine Brust hob. Er ging in das anstoßende Zimmer, wo die Blume noch auf dem Boden lag, und nahm sie auf.

„Ich muß sie in Ehren halten, Frau Helldorf hat sie so lange für mich gepflegt – wir haben zusammen jedes Blättchen beobachtet und wachsen sehen,“ sagte ich zu ihm aufblickend, als er mir sie hinreichte.

Diese wenigen Worte hatten eine seltsame Wirkung – mit ihnen verflog das traurig finstere Gepräge auf Herrn Claudius’ Stirn bis auf die letzte Spur, und dort rauschte die Gardine, und Charlotte, die sich offenbar in der ersten Bestürzung in das schützende Dunkel der Fensternische geflüchtet hatte, trat rasch hervor, Sie kam auf mich zugeflogen und warf sich auf die Kniee nieder.

„Prinzeßchen“ – flehte sie in weichen, halbgebrochenen Tönen und streckte mir, um Verzeihung bittend, die Rechte hin.

Herr Claudius trat zwischen uns. Ich zitterte – ich hatte ja noch nie diese großen, blauen Augen im unbezähmbaren Zorn auflodern sehen.

„Du berührst sie mit keiner Fingerspitze! Nie wieder! Ich werde sie künftig vor Dir zu schützen wissen!“ rief er heftig und stieß ihre Hand zurück. … Wie sie unerbittlich hart und grausam klingen konnte, diese ruhige, gelassene Stimme!

Fräulein Fliedner fuhr entsetzt herum und sah angstvoll in sein Gesicht – zum ersten Mal seit langen Jahren wieder durchbrach die Leidenschaft, die bis auf den letzten Funken erloschen schien, den Damm einer streng geübten, beispiellosen Selbstbeherrschung … Geräuschlos drückte die alte Dame die Thüre zu – in Charlottens Zimmer waren ja noch die Herren anwesend.

„Ich bereue – bereue bitter jenen Moment, wo ich Dich auf meinem Arm in eine reinere Atmosphäre zu retten meinte!“ fuhr er in gleicher Heftigkeit fort. „Ich habe Wasser mit Sieben geschöpft – Art läßt nicht von Art, und das wilde Blut in Deinen Adern –“

„Sage lieber ‚das stolze‘, Onkel!“ unterbrach sie ihn, sich vom Boden erhebend – sie war bleich wie der Tod; dieser herausfordernd in den Nacken geworfene Kopf schien förmlich versteinert in seiner hohnvollen Ruhe.

„Stolz?“ wiederholte er mit einem bitteren Lächeln. „Sage mir, wie Du diese schöne Zierde des Weibes zu zeigen gewohnt bist, und warum! Vielleicht in dieser Stunde, wo Du, baar aller Weiblichkeit und Würde, eine zügellose Bacchantin warst?“

Sie fuhr zurück, als habe er sie in das Gesicht geschlagen.

„Und was nennst Du sonst stolz?“ fuhr er unerbittlich fort. „Dein ungerechtfertigtes Haschen nach Rang und Stellung? Deine Art und Weise, wie Du Menschen, die Deiner Meinung nach tief unter Dir stehen, wegwerfend und herzlos behandelst? … Mit dieser Handlungsweise erbitterst Du mich oft aufs Tiefste, und ohne es zu wissen, rüttelst Du bedenklich an dem morschen Boden unter Deinen Füßen … Hüte Dich.“ –

„Vor was, Onkel Erich?“ unterbrach sie ihn kalt mit spöttisch gesenkten Mundwinkeln. „Haben wir, mein Bruder und ich, nicht bereits alle Stadien der Unterdrückung durchlaufen? Giebt es wirklich noch eine Saite auf unseren allerdings hochgespannten Seelen, die Du nicht mit harter Hand angegriffen und als verkehrt, als unvereinbar mit dem praktischen – sage hausbackenen – Leben verworfen hättest? Suchst Du nicht unsere Ideale zu zertreten, wo du kannst?“ –

„Ja, als giftiges Gewürm, als Hirngespinnste, die mit Moral und einem wirklich erhabenen Aufflug des Menschengeistes nichts gemein haben … Ihr in tiefster Seele Unadeligen! Ihr habt nicht einmal Raum für Dankbarkeit!“

„Ich würde Dir danken für das Brod, das ich gegessen habe – wenn ich nicht mehr von Dir zu fordern hätte!“ – brauste sie auf.

„Um Gotteswillen schweigen Sie, Charlotte!“ rief Fräulein Fliedner mit völlig entfärbtem Gesicht und erfaßte ihren Arm. Zornig schüttelte sie die alte Dame ab.

Herr Claudius maß, starr vor Ueberraschung, die dräuend gehobene Mädchengestalt von Kopf bis zu Fußen. „Und was forderst Du?“ fragte er mit der alten, vollkommenen Gelassenheit.

„Vor Allem Licht über meine Abkunft!“

„Du willst die Wahrheit wissen? –“

„Ja – sage sie – ich brauche sie nicht zu fürchten!“ stieß sie mit einer Art von Triumph heraus.

Er wandte ihr den Rücken und ging einmal im Zimmer auf und ab – es war so todtenstill, daß ich meinte, man müsse, das Klopfen der stürmisch aufgeregten Pulse hören.

„Nein, jetzt nicht – jetzt nicht, wo Du mich so tief gekränkt und beleidigt hast – es wäre unedle Rache!“ sagte er endlich vor ihr stehen bleibend. Er hob den Arm und zeigte nach der Thür. „Gehe – nie warst Du weniger fähig, die Wahrheit zu ertragen, als in diesem Augenblicke!“

„Ich wußte es!“ lachte sie auf und rauschte hinaus in den Corridor.

Fräulein Fliedner legte mir schweigend mit zitternden Händen einen frischen Umschlag auf den Kopf, dann ging sie hinüber, „um nur einmal nach den Herren zu sehen.“

Mir schlug das Herz – ich war allein mit Herrn Claudius. Er setzte sich neben mich auf einen Stuhl.

„Das war eine wilde Scene, nicht geeignet für diese erschrockenen Augen, die ich doch um Alles gern vor schlimmen Eindrücken behüten möchte!“ sagte er mit unsicherer Stimme. „Sie haben mich heftig gesehen – wie mir das leid ist! … Das schwache Vertrauen zu mir, das Sie mir heute gezeigt haben, ist nun wieder spurlos verflogen – ich kann mir das denken.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nicht?“ fragte er aufathmend und sein verschleierter Blick leuchtete. – „Eine Flamme züngelte mir nach dem Gehirn – ich kenne sie und habe sie stets unter meinen Fuß gezwungen, nur heute nicht, wo ich Ihren Aufschrei hörte und das Blut über Ihr blasses Gesichtchen rieseln sah.“ Er stand auf und durchmaß das Zimmer, als überwältige ihn der Eindruck nochmals.

Seine Augen schweiften über die Zimmerdecke und den altmodischen Kronleuchter.

„Das böse alte Haus!“ sagte er stehen bleibend. „Es webt ein schlimmer Zauber um diese Wände und Geräthschaften. … Ich kann jetzt begreifen, weshalb die Karolinenlust entstehen mußte – ich verstehe den alten Eberhard Claudius. … Meine schöne Urgroßmutter ist in diesen Mauern vergangen wie eine Blume – jenen schlichten, ruhigen Herzens gewählten Hausfrauen, deren genug hier geschaltet und gewaltet haben, sind sie eine stille, friedliche Heimath gewesen – einem abgöttisch geliebten Frauenleben aber ist das alte Haus stets gefährlich geworden.“

Mir ging die aufgeregte Stimme durch Mark und Bein. In diesen Tönen hatte er gewiß auch zu jener Treulosen gesprochen – wie war es möglich gewesen, daß sie ihn dennoch verlassen konnte? …

„Ihr unschuldiges Kindergemüth hat Sie instinctmäßig vor dem kalten, dunklen Vorderhaus zurückschaudern lassen,“ fuhr er fort, sich wieder zu mir setzend.

„Ja, das war im Anfang,“ unterbrach ich ihn lebhaft, „wo ich aus der Haide kam und jede unbekannte Mauer für einen Kerker hielt – das war sehr kindisch. … Auf dem Dierkhof ist’s ja auch nicht hell – da giebt’s alte blinde Scheiben genug, durch die die Sonne nur blinzelt, und in der Tenne ist’s kühl und dämmerig, mag auch draußen die ganze flimmernde Sonnengluth über der Haide liegen. … Nein, ich habe es jetzt lieb, das alte Vorderhaus, ich betrachte es mit ganz anderen Augen, und seit ich über Augsburg und die Fugger gelesen habe, ist mir’s immer, als müßten die Frauen mit dem Stirnschleier aus ihrem Rahmen steigen und mir in den Gängen und auf der breiten Steintreppe begegnen.“

„Ach, das ist die Poesie, mit der sich das Haideprinzeßchen auch die öde arme Heimath verklärt hat! … Sie würden mit ihr aushalten im alten Kaufmannshause und sich nicht hinüber in die Karolinenlust retten lassen?“

„Nein – es ist mir trauter und heimischer hier. … War denn Niemand im Vorderhaus, den die schöne Urgroßmutter lieb hatte?“ …

Was hatte ich denn gesagt, daß er zurückfuhr und mich wie versteinert ansah? …

[817] Da ging die Thür auf und Fräulein Fliedner trat mit dem herbeigeholten Hausarzt ein, gleich darauf kam auch mein Vater. Er war anfänglich sehr betroffen über meinen Unfall; aber nach Aussage des Arztes war nicht der mindeste Grund zur Besorgniß vorhanden. Eine meiner Locken fiel unter der Scheere, dann wurde ein kleiner Verband angelegt, nur durfte ich nicht mehr in die Nachtluft hinaus. Zum ersten Male schlief ich, bewacht von Fräulein Fliedner, im Vorderhause; und durch meine leichten Fieberträume ging eine kleine Gestalt; sie trug den Stirnschleier, wie die Hausfrauen der alten Claudius, und schritt durch die hallenden Gänge und die breite Steintreppe hinab; aber ihre Füße berührten die kalten Fliesen nicht, die ganzen Blumen des Gartens waren ja da hingeschüttet worden, und das kleine Wesen – ich wußte es unter einem unbeschreiblichen Glücksgefühl – war ich. …

(Fortsetzung folgt.)




Die Frauenbewegung in Deutschland.

Es war in den dreißiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts, als das Wort „Frauen-Emancipation“ in mannigfach frappirenden Tonarten zu uns herüberschwirrte. Wie alles oder vieles Neue kam es damals aus Paris und war aus den eigenthümlichen Rissen und Brüchen des dortigen Gesellschaftsbodens hervorgewachsen. Das Wort entbehrte nicht eines gewissen poetischen Zaubers, aber es fehlte ihm der anfrischende Reiz eines jungen Gedankens. Sein Athem war heiß und seiner Bewegung entströmten berauschende Gluthen. Auch war es in der That keine neue Wendung, die mit dem Ausdruck bezeichnet wurde. Die Umwälzung der geschlechtlichen Beziehungen, welche er herbeiführen wollte, war vielmehr thatsächlich schon vor der großen Revolution von 1789 in den höheren Pariser Gesellschaftsclassen sehr durchgreifend vollzogen worden, und sie hatte sich in den Zeiten nach der Revolution mit ansteckender Gewalt auch über andere große Schichten jener Bevölkerung verbreitet. Wer hat nicht gehört oder gelesen von diesem bacchantischen Kriege des Blutes gegen den Zügel der Pflicht, von dieser umsichgreifenden Lockerung oder Abwerfung der Ehe- und Familienbande, diesem offenen oder geheimen Hinaussetzen der Leidenschaft und des persönlichen Gelüstes über das zwingende Gesetz der Sitte? Diesem Kriege und dieser Befreiung wollten die neuen Emancipationsapostel zu öffentlicher Geltung verhelfen. Was aber, ihren Lehren nach, das Weib nicht mehr sein sollte, eine treue und wachsame Hüterin der sittlichen Schranken, das war es in weiten Kreisen des französischen Lebens schon längst nicht mehr gewesen. Hat doch einer der Hauptpropheten des modernen Frankreich, der Philosoph und Geschichtschreiber Michelet, in einem seiner neueren Bücher („La femme“) das schmerzliche Geständniß abgelegt, daß der Ehebruch leider in Frankreich eine „National-Institution“ geworden und das Institut der Ehe überhaupt im Absterben begriffen sei!


Auguste Schmidt und Louise Otto-Peters,
die beiden Vorsteherinnen des deutschen Frauenvereins.


Auch Deutschland hatte gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, in der sogenannten Sturm- und Drangperiode seiner Dichtung, sowie noch später zu verschiedenen Malen einen Befreiungsantrieb ähnlicher Art sich regen sehen. Es waren dies aber rein literarische und dichterische Bewegungen, die keiner gesellschaftlichen Fäulniß entwuchsen, sondern nur von oben her einen Strom befruchtender und befreiender Gedanken in das stockende Volksleben sandten, ohne die Gesundheit seiner wesentlichen Grundlagen erschüttern zu können. Das innerste Wesen des deutschen Hauses, der deutschen Frau, Ehe und Familie blieb vielmehr unter allen wechselnden Strömungen des neueren Culturumschwunges, was es immer gewesen. Wie die Angriffsversuche eigener Dichter und Schriftsteller über diese geschützten und geheiligten Grenzen nicht hinauszudringen vermochten, so waren an ihnen auch die entzündlichen Einwirkungen französischer Emancipationslehren und ihrer Poeten und Philosophen spur- und folgenlos vorübergegangen. Damit soll nicht gesagt sein, daß sie bei uns nicht hier und dort verwirrendes Unheil angerichtet und einige unerquickliche Frauenerscheinungen zu Tage [818] gefördert hätten. Aber gerade diese Beispiele vermehrten die abschreckende Wirkung und hatten einen tiefen Ekel, einen gründlichen und allgemeinen Widerwillen zur Folge.

Welcher Vernünftige hätte das nicht als ein Zeichen von Gesundheit betrachten, hätte nicht über die spottende Entrüstung sich freuen sollen, mit der auch alle hellen und freisinnigen Richtungen eine so zweideutige Emancipationssucht von sich wiesen? Und dennoch hatte diese grundsätzliche Abwendung auch ihre schädliche Seite. Man schüttete das Kind mit dem Bade aus, und indem man von dem ganzen „Weiberkram“ nichts mehr wissen und hören wollte, schaffte sich die Meinung Raum, daß es in Bezug auf die Stellung und Lage der Frauen überhaupt nichts mehr zu ändern, zu bessern und zu fragen gäbe. So stand die Sache in den Jahren, welche der Revolution von 1848 folgten. Es waren das für Deutschland Jahre der Schmach und der unsäglichen Trübsal, aber auch Jahre des Reifens und Besinnens, der Klärung und Ernüchterung, die manchen bisher verirrten und in’s Blaue schweifenden Drang auf einen soliden Boden zu stellen und auf ihr „Körnchen“ berechtigter Wahrheit zurückzuführen wußten. Abgedrängt vom politischen Gebiete wandten sich damals viele denkende Geister der Nation mit emsigem Eifer den großen Humanitätsbestrebungen zu, und aus der Reihe von ernsten und dringenden Aufgaben, die auf diesem Felde ihren Blicken sich zeigten, streckte ihnen bald auch eine Frauenfrage sicht- und greifbar die flehende Hand entgegen.

Jawohl, es gab und giebt eine Frauenfrage. Unverkennbar und ohne allen Zweifel offenbart sie sich, aber nicht in einer angeblichen Knechtung und Rechtlosigkeit, sondern in einer fast durchweg vernachlässigten und unzureichenden Geistes- und Charakterbildung des weiblichen Geschlechts, in einem Mangel an geistiger und praktischer Ausrüstung für die Kämpfe des Lebens, in einer allzugroßen Beschränkung der weiblichen Berufs- und Erwerbskreise und in der unermeßlichen Fülle von Thorheit und Unglück, von Schmach, Versunkenheit und erbarmungswürdigem Elend, welche aus allen jenen Mängeln erzeugt und geboren werden. Wie so viele andere Uebel waren freilich diese Zustände schon immer und überall eine der traurigen und bösen Kehrseiten unserer gesellschaftlichen Oberfläche gewesen, aber erst die modernen Culturverhältnisse haben sie zu schlimmster, massenhaftester, das Wohl der Gesammtheit sehr ernstlich gefährdender Entfaltung gebracht. Mit declamatorischen Tiraden und philosophischen Speculationen, mit Gewährung von politischen Rechten und einem Verrücken der ehelichen Grundlagen ist hier nicht zu helfen. Soll vielmehr eine Heilung der furchtbaren Uebel möglich sein, so muß eben zu ihren eigentlichsten Quellen zurückgegangen, so müssen ihre Wurzeln mit scharfem Auge und kräftiger Hand erfaßt und bloßgelegt, so muß die Frauenfrage von allen unreinen, phantastischen und verwirrenden Zuthaten befreit und in den Augen aller Zeitgenossen das werden, was sie mit vollem Rechte ist und sein darf: eine volksthümliche Erziehungs- und Bildungs-, eine Erwerbs- und Berufsfrage.

Das erkannte man in Deutschland, und als es erkannt war, fanden sich auch begeisterte Männer und Frauen – unter ihnen voran der unvergeßliche Präsident Lette –, welche in Schrift und Wort, in Versammlungen und in der Presse mit aufopfernder Unermüdlichkeit für ihre Erkenntniß zu wirken begannen. Binnen Kurzem waren denn auch an verschiedenen Orten schon Vereine in’s Leben gerufen, deren Zweck und Aufgabe nicht allein in einer eifrigen Propaganda, sondern auch in einem praktischen Eingreifen, in persönlichem Bemühen und in der Herstellung von Instituten und Organisationen zur Verbesserung des Frauenlooses bestand. Veredelung und Vertiefung der weiblichen Erziehung und Bildung in allen Volksclassen, Ausbildung und Kräftigung der Fähigkeiten zur Selbsthülfe in den Schulen sowohl als später in Lehrerinnenseminaren, Gewerbs- und Fortbildungsschulen, Erweiterung und Vermehrung der Erwerbszweige, Forthülfe und Schutz für die verlassenen und vereinsamten Frauen durch Gründung von Verkaufs- und Vermittlungsstätten für weibliche Arbeiten, Zufluchtsstätten für alleinstehende Frauen etc. – das ungefähr sind die Losungsworte, um welche die neue Bestrebung bisher sich bewegte. Daß sie gänzlich freigeblieben von hohler Phrase, von dilettantischer Hereinziehung der hohen Socialpolitik, von unberechtigter Eitelkeit, die sich bemerkbar machen will, möchten wir nicht behaupten. Es trifft das aber nicht die Vereine als solche, deren Thätigkeit im Ganzen sich als eine durchaus segensreiche bewährt und erwiesen hat. In stiller Arbeit und unter großen Anstrengungen haben sie fortwährend viel guten Samen ausgestreut und hier und dort, z. B. in Berlin, eine Reihe von wahrhaft vortrefflichen und lebenskräftigen Humanitätsinstituten wie z. B. den Victoriabazar und das Victoriastift, die Volksküchen, Volkskindergärten, für ihre engeren und weiteren Zwecke geschaffen. Dieses Wirken aber konnte doch immer nur ein locales bleiben und mit seinen Erfahrungen und Leistungen für die Gesammtheit unseres Vaterlandes nicht recht nutzbar gemacht werden, so lange jeder Verein nur auf sich selber angewiesen und nicht durch ein geistiges Band, einen gemeinsamen Mittelpunkt mit allen anderen verbunden war. Der Mangel stellte sich vielfach als ein sehr fühlbarer heraus und es wurde ihm deshalb bereits im Jahre 1865 abgeholfen, wo in Leipzig die verschiedenen Localvereine zu einer neuen Bundesorganisation, einem „Allgemeinen deutschen Frauen-Verein“ sich aneinander schlossen.

Es ist hier nicht unsere Absicht, eine Geschichte dieser nunmehr sechs Jahre bestehenden Centralisation und eine Beschreibung der Einrichtungen zu bieten, durch welche sie den Zusammenhang vermittelt, einen Einfluß auf die Localvereine übt und von ihnen aus wiederum belebende Anregung empfängt. Wer das eingehender kennen lernen will, der möge sich einen Einblick in die mehrfach darüber erschienenen Schriften, in die Statuten der Vereinigung und in die sechs Jahrgänge der von ihr herausgegebenen vortrefflichen Zeitschrift „Neue Bahnen“ verschaffen. Daß aber das hier vertretene und geförderte Streben sich in der That auf einem gesunden und richtigen Wege befindet und daß es – trotz der leider noch verhältnißmäßig sehr geringen Betheiligung großer, zur Mitwirkung berufener Kreise – in einer beachtenswerthen und lebenskräftigen Entwickelung begriffen ist, wird manchen Fernstehenden erst vor Kurzem durch einen ebenso denkwürdigen, als erfreulichen Eindruck klar geworden sein. Nachdem die vierte Generalversammlung des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins“ im Jahre 1870 hatte ausfallen müssen, wurde sie am letzten 29. und 30. October in Leipzig abgehalten. Aus den verschiedensten, zum Theil sehr entfernten Gegenden und Städten hatten sich die Ausschußmitglieder und sonstige Teilnehmerinnen sehr zahlreich eingefunden und an den beiden Sitzungstagen war der geräumige Saal der Buchhändlerbörse von einer dichten, mit gespannter Aufmerksamkeit den Verhandlungen folgenden Zuhörermasse erfüllt. Die bekannte, um die Frauensache sehr verdiente Schriftstellerin Frau Louise Otto-Peters führte den Vorsitz mit Würde und Umsicht. Neben dem Rechenschaftsbericht und einer warmen Ansprache der Präsidentin drehte sich das Programm der Versammlung nur um volksthümliche Humanitäts- und Bildungsfragen, die von sieben oder acht Frauen in gediegenen und anziehenden, nach Inhalt und Form sogar vielfach ganz vorzüglichen Vorträgen behandelt wurden. (Von besonders praktischer Bedeutung erschien uns namentlich ein interessanter Vortrag der Frau Dr. Herz in Altenburg über weibliche Heilgymnastik.) In allen diesen Vorträgen zeigte sich aber nicht blos Talent, Wissen und Bildung, sondern auch voller Herzens- und Charakterernst, verbunden mit echter Weiblichkeit, die nur in einem einzigen Falle an fern liegende Emancipationsgebiete streifte.

Bei der großen Verschiedenartigkeit der Gegenstände ist es uns leider unmöglich, Einzelnes zu berühren. Sollen wir aber wenigstens den bedeutsamsten Glanz- und Schwerpunkt dieser fesselnden Verhandlungen hervorheben, so lag er unstreitig in der Rede des Fräulein Auguste Schmidt über „Das Wesentliche und Unwesentliche der Frauenfrage“. Nicht blos in der anmuthigen rednerischen Kraft ersten Ranges, durch welche diese Meisterin des Wortes schon ganze Männerversammlungen ergriffen und hingerissen hat, sondern auch in der schönen und ruhigen Klarheit der Beweisführung und des Gedankens, in dem hohen Aufschwung unerkünstelter Wärme und Innerlichkeit der Ueberzeugung, welche hier ihrer Erscheinung und Rede nicht zum erster Male etwas wirklich Apostelhaftes gab. Wer noch mit Zweifeln in die Versammlung gekommen, der wird wohl schon durch diesen so anspruchslosen und doch so achtunggebietenden Ausdruck überzeugt worden sein, daß das Streben der Frauenvereine ein echtes und daß es von einem Hauch sittlicher Weiblichkeit durchwärmt und gefördert wird. Wir glaubten deshalb unseren Leserinnen gefällig zu sein, indem wir neben das in dieser Nummer mitgetheilte [819] Portrait der Präsidentin auch das Bildniß der weithin verehrten Leipziger Erzieherin und Mitherausgeberin der „Neuen Bahnen“ setzten.

Wo aber solche Kräfte mit so viel begeisterter Tüchtigkeit und rastloser Anstrengung zu gemeinsamem Wirken sich vereinigen, da sprechen sie schon durch sich selber und ihr uneigennütziges Thun und Schaffen für die Reinheit und den Ernst ihrer Sache. Möchten darum alle Wohldenkenden im Publicum und namentlich in der Frauenwelt endlich ihre Pflicht thun und diese wichtige Bestrebung mit ihren Geist- und Geldmitteln kräftiger unterstützen, als es bisher geschehen ist. Was die Frauenvereine ihrem Wesen nach sind, das zeigt sich ja am deutlichsten an der Art ihrer entschiedenen Widersacher. Ihr Gegner ist nicht blos die gedankenlose Trägheit und stumpfsinnige Bequemlichkeit, sondern auch aller wüste Emancipationsschwindel, alle herausgeputzte Rohheit platter Männer- und Weiberseelen, in erster Reihe aber die professionirte Frömmelei, welche die Frauen gern durch das Diaconissenwesen in den Dienst des finsteren Muckerthums und der Inneren Mission ziehen, d. h. für ihre reactionäre Propaganda dressiren will. Werden die Frauenvereine zu einem durchgreifenderen Aufschwunge befähigt, so wird damit diesem Beginnen des rauhhäuslerischen Pietismus ein starker Gegensatz geschaffen.
F. v. D. 




Wanderungen durch Elsaß und Deutsch-Lothringen.
1. Die Burg der Riesen.


Burg Nideck ist im Elsaß der Sage wohl bekannt,
Die Höhe, wo vor Zeiten die Burg der Riesen stand;
Sie selbst ist nun zerfallen, die Stätte wüst und leer,
Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.
 Chamisso.


Wer kennt nicht die Sage vom Riesenspielzeug und der Riesentochter, welche den Bauer sammt Pferden und Pflugschaar vom Felde in der Schürze auf’s Schloß trug, die hübsche Sage, welche Chamisso in schlichter, einfacher Form so poetisch behandelte und dauernd der Nachwelt erhielt? – Ach, wie lange ist es schon her, daß ich „Das Riesenspielzeug“ lernte, damals in der entferntesten Ecke Preußens, auf der Schulbank in Thorn! Zu der Zeit dachte ich freilich nicht daran, daß ich jemals die Burg, als Burg in gut deutschem Lande, von Angesicht zu Angesicht sehen würde.

Es war im Frühjahre dieses Jahres, beim Antritte meiner längeren Reise durch Elsaß und Lothringen, als ich von Zabern aus der „Burg der Riesen“ einen Besuch abstatten wollte. Ich hatte am Abend im Gasthof „Zur Sonne“ liebe Landsleute gefunden und mit ihnen so spät in die Nacht hinein geplaudert, daß mir am nächsten Morgen das Aufstehen schwer genug fallen sollte. Aber drüben vom Schlosse her blies der preußische Hornist in lauten, langgezogenen Tönen zum dritten Male den Weckruf: „Habt ihr noch nicht lang’ genug geschlafen?“ und so schwang ich mich denn schnell heraus. Ein leichter Einspänner nahm mich für eine schwere Miethe auf, um mich nach Nideck zu fahren. Die Elsässer sind gute Kaufleute, welche aus der Gelegenheit Nutzen zu ziehen wissen, was ich auf meiner mehrmonatlichen Reise sehr oft erfahren habe.

Wir fuhren die Hauptstraße aufwärts südlich zur Stadt hinaus. Die Sonne stieg langsam empor und ein frischer, heiterer Frühlingsmorgen lag über Berg und Fluren, ein Morgen, der, wie das jubilirende Lied der Lerche, so recht aus Herzensgrund die Reiselust weckt.

Bäuerinnen in ihren interessanten elsässischen Costümen fuhren mit den Producten des Feldes auf Leiterwagen nach „Zabern“. Es fällt nämlich dort in der ganzen Umgegend keinem Elsässer ein, den französischen Taufnamen „Saverne“ zu brauchen, wie man denn dort überhaupt nur das „Alsasser Dütsch“ hört. Trotz ihrer deutschen Landessprache aber und ihrem im Grunde genommen noch ganz deutschen Wesen thun die vornehmen Bürger der Stadt doch schrecklich traurig, sondern sich vom Militär und den Beamten vollständig ab und sind in ihren Gesinnungen womöglich schlimmer auf uns zu sprechen, als die Metzer, deren Sprache beinahe ausschließlich französisch ist. War doch das Concert, welches unsere Regimentscapelle in diesem Sommer zum Besten der Armen von Zabern gab, nur von unserm Militär, vom Gemeinen bis aufwärts zum Officier, besucht. Der Bürger will dort kein Concert von einer deutschen Regimentscapelle hören, selbst wenn dasselbe zum Besten der Armen seiner Stadt gegeben wird, während man jeden Nachmittag von vier bis sechs Uhr auf der Esplanade in Metz Schaaren der vornehmen Welt sieht, welche dort den Concerten unserer Regimentsmusik beiwohnen.

Kehren wir jedoch zu unserer Fahrt zurück. Nachdem wir Mauersmünster, ein kleines Städtchen, in welchem eines der berühmtesten und ältesten Klöster des ganzen Elsaß liegt, und Goßweiler passirt hatten, nahm uns ein schöner Laubwald auf, durch den sich der Weg in mühsamen Windungen zur Berghöhe hinaufzieht. Mir sind die vielen Wälder, welche ich in den Vogesen gesehen, farbiger, glänzend grüner, die Moosdecken sammetner, die Vegetation üppiger vorgekommen als bei uns. Es giebt allerdings dort noch genug Wälder, in denen nie ein Axtschlag erklungen, nicht weil es Bannwald ist

– Und wer ihn schädigt,
Dem wachse seine Hand heraus zum Grabe –,

sondern weil das menschliche Leben und Treiben weit ab von ihnen wohnt. Man könnte daraus schließen, daß der Wildstand, namentlich an Hochwild, dort in den Wäldern ein ausgezeichneter sein müsse. Das ist aber nicht der Fall. Hochwild kommt wohl vor, aber nicht häufig, eher selten. „Es ist eben schon viel abgeschossen worden,“ sagen Einem dort die Jäger. Dafür giebt es aber noch viel Rehe, Auerhähne, wilde Kaninchen, Eichkätzchen (die beiden letzteren Wildarten werden zubereitet und gegessen) und eine Unzahl von Wildschweinen, denen man bei dem sehr bergigen Terrain schwer nahe kommen kann.

Wir befanden uns jetzt auf der Höhe und noch immer im Walde. Die Straße wurde breiter, fester und bequemer; nur selten hörten wir in der Waldeinsamkeit Hundegebell, und dann kam meistens eine kleine Waldblöße, auf der sich von grünem Plane ein Forsthaus mit blendend weißen Wänden abhob. Später brach sich die Straße abwärts Bahn durch einen hochstämmigen Tannenwald, und mit der Peitsche auf ein kleines, rechts am Wege liegendes Häuschen deutend, bezeichnete mir der Kutscher das Forsthaus Nideck. Wir hatten für die Fahrt acht Stunden von Zabern aus gebraucht! Es war ein Uhr Mittags, als wir vor dem Forsthause ankamen. Ein freundlicher Wirth, der Förster Stettner, kam uns entgegen und erbot sich bereitwilligst, den Weg nach der Burg zu zeigen.

Wir gingen direct in den Wald hinein, hin und wieder über eine gefällte Riesentanne kletternd. Neben unserm schmalen Pfade liefen mehrere Seitenwege, die ebenfalls in’s Holz führten. Der Förster, ein angehender Fünfziger, oder vielleicht etwas älter, gehörte nicht zu jenen verschlossenen, zugeknöpften Naturen, die dem „Dütschen“ oder „Prüßen“ eher aus dem Wege gehen, ihm lieber irgend einen boshaften Schabernak spielen, als ihm gefällig sind. Er ist vielmehr ein ehrliches, offenes Haus und scheint sich in die neue Wendung der Dinge mit verständigem Sinn gefügt zu haben.

Auf einem recht schlechten, noch mit Baumwurzeln und Steingeröll bedeckten Wege, der gerade im Bau begriffen war, schritten wir bergab weiter und ich hörte vom Förster mit Vergnügen, daß die deutsche Regierung zweifellos daran denken werde, den noch sehr wilden Zugang zur Burg durch bequemere Fußwege dem Touristen zu erleichtern.

Nach einer halbstündigen Wanderung zeigt sich im Walde eine lachende Gebirgsansicht, die so entzückend ist, daß die Versuche des geschicktesten Landschaftsmalers sie wiederzugeben kaum im Stande wären. Schon der ganze Eindruck des Bildes versetzt Einen in Staunen und Bewunderung; dazu kommt der feine, farbige, tiefviolette Duft der in schönen Wellenlinien aufsteigenden hohen Berge. Im Hintergrunde, aber gar nicht fern gerückt, begrenzt der hohe Moosberg das Bild; ihn überschneiden andere Berge, und von diesen hebt sich rechts eine steile, dunkle Felsenwand

[820]

Burg Nideck.
Nach der Natur aufgenommen von Rob. Aßmus.

[821] empor, auf der ein einsamer hoher Kegel steht, der den Eindruck einer Ruine macht. Links steigt eine andere Felsenbrüstung in die Höhe, mit Tannen, alten Edelkastanien, Buchen und Eichen geschmückt.

Das Nideck-Thal öffnet sich ungemein malerisch. Ganz unten zu unseren Füßen zieht sich ein schmaler Fußweg auf sammetner enger Wiese entlang, er führt dann weiter im Thale nach Ober- und Niederhaslach. Dies ist dasselbe Thal, welches Chamisso in seinem Gedichte erwähnt:

Einst kam das Riesenfräulein aus jener Burg hervor,
Erging sich sonder Wartung und spielend vor dem Thor
Und stieg hinab den Abhang bis in das Thal hinein,
Neugierig, zu erkunden wie’s unten möchte sein.

Mit wen’gen raschen Schritten durchkreuzte sie den Wald,
Erreichte gegen Haslach das Reich der Menschen bald,
Und Städte dort und Dörfer und das bestellte Feld
Erschienen ihren Augen gar eine fremde Welt. –

Das Thal wäre kirchenstill, wenn nicht einige vierzig Fuß unmittelbar unter uns, aus der Felsenwand, an deren Abgrund wir stehen, der Nideckfall sein Wasser brausend und schäumend hinabstürzte. Links geht der Weg im Zickzack zum Wasserfalle hinab, rechts zur Burg hinauf. Wir wählen den ersteren und haben in kurzer Zeit den schönen Fall vor uns. Waldbänke aus Eichenastwerk gezimmert laden zum Ausruhen ein.

Links oben auf der Felsenwand schaut, Bäume und Gebüsch hoch überragend, der alte viereckige Wartthurm der Riesenburg weit in’s Land hinaus. Rechts von ihm befindet sich noch ein zweiter Thurm, den wir jedoch vom Wasserfalle aus nicht erblicken. Die Landschaft ist echt gebirgig. Porphyrwände, Laub- und hin und wieder auch Nadelholz wechseln ab; hauptsächlich fallen uns wahre Prachtexemplare von alten Edelkastanien mit ihren schönen dickbemoosten Stämmen auf. Der Wasserfall wirft sich in silbernem Gischt steil von dem dunkeln Felsen hinab und nimmt dann seinen Lauf durch das Nideckthal. Von derselben Felsenwand stürzen die Holzschläger häufig Stammhölzer hinab, die dann unten im Thale auf Flößen weitergeschwemmt werden.

Ich habe auf meinen Wanderungen schon viele schöne Landschaften gesehen, ich wüßte aber keine, welche ich diesem prächtigen, romantischen Wald- und Gebirgsbilde an die Seite stellen könnte. Der Anblick dieses in weiter Einsamkeit liegenden Bildes, das die Natur wild und großartig componirt hat, wirkt so geheimnißvoll und bezaubernd, daß dort wohl jedem Wanderer die Trennung schwer werden wird. – Tritt man hinter den Bogen, welchen der Wasserfall bildet, der sich aus einer Höhe von nahe neunzig Fuß herabstürzt, so genießt man einen imposanten Eindruck des dicht über den darunter Stehenden hindonnernden Falles.

Wenn auch die Stätte, auf der sich die Burg befindet, nicht gerade „wüst und leer“ ist, denn wild und lustig grünende Gebüsche und Bäume umgeben sie und dickstämmiger Epheu hat die Burg längst mit seinen dunkelgrünen Gehängen poetisch umkränzt – so liegt sie doch völlig einsam und kaum erkennt man den Fußpfad, der zwischen Mauertrümmern, unter dichten Gebüsch fort, von einem Thurme zum andern führt. Mehr als diese beiden Thürme, welche aus kolossalen Mauern aufgeführt sind, ist von der ganzen Burg, deren Gründung man in das zwölfte oder dreizehnte Jahrhundert legt, nicht zu sehen.

Eine Menge Scherben von alten Gefäßen liegen dicht um die Thürme zerstreut. Die Scherben sind auffallend dünn, sehr dunkel, beinahe schwärzlich in der Farbe und außerordentlich hart. Einen derselben nahm ich mir zur Erinnerung mit.

„Ja,“ meinte der Förster, „wenn man hier nur graben könnte, da würde man gewiß Vieles für den Alterthumsfreund finden, denn hier hat noch kein Spatenstich die Trümmer und die Erde berührt.“

Der weithin sichtbare viereckige Thurm enthielt im Innern drei Etagen, er ist auffallend eng gebaut und hat früher wahrscheinlich als Wartthurm oder als Gefängniß gedient. Die außergewöhnlich langen Leitern, welche sich noch vor kurzer Zeit im Thurme befanden und durch deren Ersteigung man eine umfassende Aussicht vom Thurme genoß, sind wegen ihrer morschen Sprossen neuerdings weggenommen worden. Wahrscheinlich werden sie aber, wie der Förster mir sagte, durch neue ersetzt werden.

Eine üppige Flora umgiebt den andern Thurm. Waldmeister und Erdbeeren blühten unter den Büschen um die Wette, so dicht, als ob sie künstlich gesät wären, und dazu gesellte sich das wuchernde, dunkle Blattwerk des Immergrüns. Seltene Schmetterlinge umgaukelten munter die Blüthen des stillen Waldes, während oben in den Lüften Wespenbussard und Hühnerhabicht ruhig ihre Kreise zogen. Ich pflückte mir an dem Thurme der alten Riesenburg eine Hand voll Waldmeister zur Maibowle, die mir später nach vortrefflicher Bewirthung bei Herrn Stettner so ausgezeichnet mundete, wie noch nie eine.

Der Abend war eingebrochen, der Wald dunkelte und die Sterne leuchteten am tiefblauen Himmelszelt.

„Nun, erzählen, Sie zu Hause, wie Ihnen Burg Nideck gefallen,“ rief mir, die Hände schüttelnd, der Wirth beim Abschied zu.

„Ja wohl,“ entgegnete ich, „das werde ich thun und die Zeichnung sollen auch viele Tausende sehen!“

Der Wald war ruhig, das Mondlicht glänzte nur zuweilen zwischen den hohen Stämmen und „es flüsterte, wie in Träumen, die mondbeglänzte Nacht.“ Ich dachte an keine Gefahr, obgleich wir stundenlang durch den Wald fuhren und weit und breit kein Haus zu sehen war. Mein Revolver schlief während der ganzen Rückfahrt ruhig in der Tasche weiter.

Unter allen Partien des Elsaß bleibt diejenige nach Burg Nideck eine der interessantesten. Wird das Reisen in den neudeutschen Provinzen gemüthlicher geworden sein und der Bewohner nicht mehr so zähneknirschend uns ansehen, so werden auch die Gäste zahlreicher herüberkommen und dadurch den neuen Landsleuten in den einsamen Thälern mehr Geld zu verdienen geben, als dies die Franzosen gethan, welche sich bisher wenig genug um das schöne, malerische Elsaß und Lothringen gekümmert haben.
Robert Aßmus.




Wie man in England ißt und trinkt.


„Sage mir, wie Du ißt; ich will Dir sagen wer Du bist.“ Ich weiß nicht, ob schon vor mir Jemand diesen weisen Ausspruch gethan hat. Eine Dame meiner Bekanntschaft wandte denselben praktisch an. Hatte sie ein Mädchen zu miethen, dann schloß sie nicht früher mit derselben definitiv ab, bis sie Gelegenheit gehabt hatte, sie beim Essen zu beobachten.

„Was ist der Mensch? – halb Thier, halb Engel“ habe ich als Knabe oft mit Verwunderung in der Kirche gesungen. Bei der Ausübung thierischer Verrichtungen kann man am besten beurtheilen, wie viel vom Thiere in jedem Menschen steckt. Da aber Jeder danach strebt, den Nebenmenschen weis zu machen, daß man mehr Engel als Thier sei, so gehört schon einige Beobachtungsgabe dazu, an einem civilisirten Mittagstisch herauszufinden, wie viel Karat Engel in jedem der Anwesenden steckt. Fräulein von Löffelgans will für eine zweiundzwanzigkarätige Dame gelten und ißt sich zu Hause satt, wenn sie zu einem Diner eingeladen ist. Die natürlichsten Esser findet man im zoologischen Garten, und zur Zeit der Fütterung kann man den Charakter der Thiere am besten beobachten. Wer das mit Verstand thut, wird bei jedem Diner die Löwen, Hyänen, Pelikane etc. herausfinden. Das Thema ist ein sehr complicirtes und weitläufiges, und ich muß es den Lesern überlassen, es für sich auszuführen, und mich darauf beschränken mitzutheilen, wie man in London ißt.

Daß der menschliche Körper einer Oellampe gleicht, ist eine alte Geschichte und die daraus hervorgehende Consequenz ebenfalls, daß die Völker warmer Länder weniger Oel auf diese Lampe zu gießen haben als die kalter. Daß die Eskimos Thran saufen, ist keine aus ihrem schlechten Charakter hervorgehende Niederträchtigkeit, ebenso wenig wie es eine besondere Tugend voraussetzt, daß sich der arabische Räuber mit einer Handvoll Datteln begnügt. Daß die Engländer große Fleischesser sind, bringt ihr Klima mit sich.

Ein deutsches und ein englisches Frühstück sind zwei durchaus verschiedene Dinge. Viele Deutsche schaudern förmlich bei dem Gedanken, mit nüchternem Magen Fleisch zu essen, allein in England gewöhnt man sich daran und kehrt ungern in Berlin zu [822] dem Kaffee und den zwei Brödchen der Rechnungsräthin Pfennigmucker zurück. Engländer ziehen beim Frühstück durchweg den Thee dem Kaffee vor, und der Deutsche in England thut es meistens ebenfalls und um so mehr, als der Thee gut und der Kaffee gewöhnlich schlecht ist. In Deutschland begreift man das nicht, weil hier das Verhältniß umgekehrt ist. Das liegt theils am Material, zum größten Theil jedoch an der Bereitung. Daß man das lauwarme Gebräu, welches man in Berlin Thee nennt, mit etwas Arac oder Rum versetzt, oder ihm einen Vanillezusatz giebt, ist eine Verbesserung; in England würde man es als eine Barbarei betrachten. Die Engländer trinken meistens schwarzen Thee, doch wird er auch häufig mit grünem gemischt. Grüner Thee, wie wir ihn in den Läden sehen, ist jedoch Humbug; kein Chinese würde ihn anrühren, denn er ist eigens für den europäischen Markt fabricirt. Grüner und schwarzer Thee wachsen auf demselben Strauch, nur besteht ersterer – wenn echt – aus den ersten jungen Blättern; aber seine Farbe in getrocknetem Zustande ist gelbgrün und nicht blaugrün, wie wir ihn erhalten. Diese Farbe ist künstlich hervorgebracht und verdankt ihren Ursprung den Amerikanern. Ein amerikanisches Haus hatte eine ungeheure Lieferung von grünem Thee übernommen, und da derselbe nicht in der genügenden Quantität in Canton herbeigeschafft werden konnte, so suchte man durch Färben nachzuhelfen. Es ist übrigens ein Irrthum anzunehmen, daß diese Farbe durch das Trocknen des Thees auf Kupferplatten hervorgebracht werde, wenn es auch im Pierer steht. Der Proceß wird allerdings auf erhitzten Kupferplatten vorgenommen, allein nur, weil das Material in China mehr im Gebrauch ist als Eisen, und nicht des Grünspans wegen. Gefärbt wird der Thee mit Curcuma und Berliner Blau. Blaugrün wird er gefärbt, weil die Chinesen sich dem europäischen und amerikanischen Aberglauben fügen.

Die Form, in welcher der grüne Thee zu uns kommt, ist gleichfalls künstlich, und was wir Kugel- und Gunpowderthee nennen, ist Humbug und wird auf folgende Weise erzeugt: die noch feuchten Theeblätter werden nach dem Färbungsproceß in dichte Bündel zusammen gepreßt und dann von chinesischen Arbeitern, die sich dabei mit den Händen an einer quer durch das Zimmer laufenden Stange halten, mit den bloßen Füßen getreten. Nach vollendetem Proceß sind alle Blättchen in kleine Kügelchen zusammengerollt. Wohlfeilere Sorten werden selbst aus Theestaub und Gummi fabricirt. Wer nicht glaubt, daß der blaugrüne Thee gefärbt sei, betrachte einmal den ersten Aufguß.

Der feinste Thee kommt gar nicht zu uns, den trinken die Chinesen selbst. Mandarinen machen sich damit Präsente. Der feinste ist der sogenannte Affenthee. Er wächst auf Felsen, welche den Menschen unzugänglich sind, und Affen sind abgerichtet, die Blätter abzupflücken und in ihren Maultaschen herabzubringen.

Die Chinesen trinken den Thee ohne Zucker und Milch und benützen nur Regenwasser. Brunnenwasser läßt häufig die besten Theile im Thee unaufgelöst. Man verbessert die auflösenden Eigenschaften des Wassers, indem man demselben eine kleine Messerspitze voll doppeltkohlensaures Natron zusetzt. Das thun in England die armen Leute, wodurch sie viel Thee ersparen.

Daß der Thee nur gebrüht und nicht gekocht werden darf, weiß jede Hausfrau, allein in Amerika kocht man ihn häufig und besonders thun das die Negerköchinnen. Der Thee verliert dadurch sein Aroma. Guter Thee darf nicht braun wie Bier, sondern muß dunkelgoldgelb sein. Da sehr viel auf die Bereitung ankommt, so wird der Thee gewöhnlich auch von der Hausfrau am Tische selbst bereitet. Bei uns gießt man erst den Thee in die Tasse; in England thut man zuerst Zucker und Rahm hinein. Das gehört Alles eigentlich in ein Kochbuch, doch schadet es auch hier nichts.

Eine Dame ißt nur ein Ei beim Frühstück; Herren mögen zwei essen; nehmen sie drei, so macht die Hausfrau erstaunte Augen. Trotz dieser Mäßigkeit werden in London eine ungeheure Anzahl von Eiern verbraucht. Es giebt große Geschäfte, die nur mit Eiern handeln, welche sie aus allen Theilen Großbritanniens und hauptsächlich Frankreichs in großen langen Kisten erhalten, die aber häufig nach dem Stroh schmecken, in welches sie gepackt sind. Frischgelegte Eier – new-laid eggs – sind sehr gesucht und kosten drei Mal so viel als andere.

Schlechte Eier sind leicht zu erkennen, indem man sie gegen eine Gasflamme hält; scheint das Licht durch, dann sind sie gut. Ein anderes Mittel ist noch besser und sicherer. Man prüfe die Eier vor dem Kochen mit der Zunge; das breite Ende muß warm, das spitze kälter sein. Sind beide warm oder beide kalt, dann ist das Ei faul. Lange und auffallend große runde Eier enthalten junge Hähnchen, was ich anführe, da diese Notiz den Kopf nicht beschwert, aber vielleicht mancher Hausfrau angenehm ist.

In England ißt man die Eier, wie bei uns, nur mit Löffeln, welche an der Spitze abgerundet und nicht so weit sind, wie gewöhnliche Theelöffel. In Holland schüttet man meist den Inhalt auf einem Teller aus; in Amerika schüttet man ihn in ein Glas oder einen Porcellanbecher, oder läßt es durch den Kellner oder Diener thun.

Man ißt zum Frühstück außerdem Fische; zum Beispiel zur betreffenden Jahreszeit frische gebackene Heringe. Beefsteaks sind meistens auf dem Rost gebraten; allein trotzdem daß sie in England zu Hause sind, habe ich doch nur in Deutschland ein wirklich gutes Beefsteak gegessen, weil man hierzu meist die Lende verwendet. Wenn Euch ein deutscher Wirth ein „englisches“ Beefsteak vorsetzt, welches inwendig roh ist, dann sagt ihm, daß es keinem Engländer einfalle, rohes Fleisch zu essen. Der beim Durchschneiden herausfließende Saft muß blaßroth gefärbt sein.

Hammelcotelettes, ebenfalls auf dem Rost gebraten, sind zum Frühstück beliebt. Senf zum Hammelfleisch zu essen, wird als Barbarei betrachtet, und beim Essen von Fischen ein Messer zu gebrauchen, schneidet einer Engländerin geradezu in’s Herz. Man schneidet sich ein zierliches Stückchen Brod, nimmt dieses in die linke Hand und in die rechte Gabel. Ist der Fisch hart gebacken, dann darf man auf möglichst discrete Weise ein Messer brauchen. Das Messer in den Mund zu bringen, wie wir das in Deutschland noch häufig sehen, ist in England geradezu Hochverrath gegen die gute Sitte. Legt man seine Messer und Gabel so auf den Teller, daß sie einen Winkel bilden, so zeigt das dem Bedienten an, daß man von demselben Gericht noch etwas wünscht; legt man sie parallel neben einander, so nimmt der Bediente den Teller weg. Fragt die Hausfrau, ob man noch eine Tasse Thee wolle, so sagt man: ich danke, ja, oder: ich danke, nein. Wird man nicht gefragt und wünscht noch eine, so sagt man: I will thank you for another cup of tea. Wird man sehr genöthigt, was übrigens gar nicht Sitte ist, und will man diesem Nöthigen ein Ende machen, dann sagt man: I thank you, I had rather not (ich danke Ihnen, ich ziehe es vor, nicht zu nehmen).

Nicht selten findet man auf dem Frühstückstisch einen mit einer Serviette bedeckten Teller, auf welchem eine Substanz liegt, die wie geriebener Parmesankäse aussieht; es ist gedörrtes Rindfleisch, welches mittelst eines Instruments geschabt ist.

Fast auf keinem englischen Frühstückstisch fehlt Brunnenkresse; nicht die kleine krause, die man bei uns in den Gärten zieht und oft zu Namenszügen verwendet, sondern die große, mit fleischigem Stiel, die an den Bächen wächst. Diese Pflanze wird in der Umgegend von London in großen Massen künstlich gezogen und von Engroshändlern auf einen eigens dazu bestimmtem Markt gebracht. Hier kaufen dieselbe Hunderte von armen Frauen und Kindern, die man zur Frühstückszeit water-cressy! schreiend in allen Straßen sehen kann und womit sie sich ein paar Schillinge sauer genug verdienen. Ich habe zwar ungeheuer viel Leute gesehen, welche die Kresse kaufen, allein verhältnißmäßig wenige, welche sie essen; sie gehört aber auf den Tisch und wechselt manchmal mit Radieschen ab.

Sauce ist in England etwas ganz Anderes als bei uns. Die englische Sauce wird nicht in der Küche gemacht, sondern in Flaschen in den Läden verkauft. Sie ist eine Zusammensetzung pikanter Abkochungen, und man hat dergleichen für Fisch und Fleisch. Anchovissauce, Harveys, Catchsup und wie sie alle heißen, sind auf allen englischen Tischen zu finden. Außerdem hat man noch allerlei scharfe und pikante Präparate, die in Indien gemacht und zum Fleisch gegessen werden. In dieselbe Kategorie gehöre auch ein gelbes Pulver, Curvin[WS 1], welches sehr beliebt ist, aber einer deutschen Zunge anfangs wenig mundet und wie Medicin schmeckt. Eine Sauce, die von der oben erwähnten Form abweicht, ist Apfelsauce, die gewöhnlich zu Schweinebraten gegeben wird; bei uns nennt man’s Aepfelmus oder Aepfelcompot. Auch zu gekochten Fischen ißt man eine Art Sauce mit Austern oder kleinen Krabben; doch ist das schon eine französische Neuerung. Was wir Sauce nennen, heißt gravy. Die Jus, welche aus dem Braten auf die Schüssel fließt und sich in einer eigens dazu angebrachten Vertiefung sammelt, heißt dish gravy.

[823] Um zwölf oder ein Uhr nimmt der Londoner sein Luncheon, meist abgekürzt Lunch (Löntsch) genannt, ein. Es besteht meist nur aus Brod, Butter, Käse oder kaltem Fleisch, und man trinkt Bier oder ein Glas Wein dazu. In Familien, welche Kinder haben, die noch nicht der Schulstube entwachsen sind und daher zum eigentlichen Diner nicht zugelassen werden, ist dieses Lunch ein einfaches Mittagessen, dessen Stelle es auch vertreten muß und bei dem die Gouvernante präsidirt.

Zu Mittag speist man in London zwischen fünf und acht Uhr. Das Mittagessen in Familien ist meistens einfach und besteht oft nur aus einem Braten und Zubehör. Eine Suppe ißt man sehr selten, und wenn es geschieht, ist sie gewöhnlich so stark mit Cayennepfeffer gewürzt, daß man meint, ein junger Teufel sei darin abgesotten. Fisch wird manchmal vor dem Braten gegeben und die beliebtesten Arten sind Turbot, Sole, Haddock, Makrelen oder Mullet. Die Braten sind Roastbeef, Hammelrücken oder Schlägel, oder manchmal auch nur ein Schulterblatt, Geflügel oder Wildpret; selten Schweinebraten und noch seltener Kalbsbraten. Eine Hammelsschulter scheint als das gemeinste Gericht betrachtet zu werden, und aus dem Gast, dem man diese kalt vorsetzt, macht man sich nicht viel. Davon kommt die englische Redensart To give him the cold shoulder (ihm die kalte Schulter geben), was soviel heißt, als Jemand geringschätzig oder gleichgültig behandeln. Im Frühjahr ißt man Lammbraten, meistens mit mintsauce (Pfefferminzkrautsauce), die sehr beliebt, mir jedoch ein Gräuel ist. Englands Stolz ist aber und bleibt das Roastbeef, und ich glaube nicht, daß es besseres Rindfleisch irgendwo in der Welt giebt. Der Grund davon liegt in der rationellen Thierzucht der Engländer, die von keinem Volk der Erde mit solcher Beharrlichkeit und Erfolg getrieben wird. Obwohl es nicht hierher gehört, so mögen ein paar Worte darüber, gleichsam als Tischunterhaltung, einen Platz finden.

Man betrachtet in England die Thiere als für den Dienst und Nutzen des Menschen vorhanden und trachtet danach, solche Thiere zu gewinnen, welche seinen speciellen Zwecken am besten entsprechen. Die englischen Pferde sind berühmt durch ihre Schnelligkeit. Die Vollblutpferde stammen von einem arabischen Hengst, allein man vergleiche einmal ein arabisches Pferd mit einem englischen Rennpferde; welche Verschiedenheit! Mag sein, daß dem Laien das arabische Pferd viel schöner erscheint; allein in Bezug auf den Zweck – Schnelligkeit – ist es mit ihm nicht zu vergleichen. Am wunderbarsten erscheinen mir die Veränderungen, welche die Engländer durch rationelle Züchtung, respective Paarung mit Hunden fertig gebracht haben. Für jede besondere Art der Jagd haben die Engländer nach und nach bestimmte neue Hunderacen gezüchtet, die für dieselbe am zweckmäßigsten sind.

Aehnliche Resultate sind in Bezug auf diejenigen Hausthiere erzielt worden, welche zur Nahrung dienen. Bessere und zweckmäßigere Ochsen zum Schlachten giebt es nirgends als in England. Die illustrirten Zeitungen bringen zu Zeiten Abbildungen solcher Preisthiere. Man staunt über die ungeheuren Dimensionen aller derjenigen Theile, welche zum Essen bestimmt sind, während Kopf und Füße, die für diesen Zweck nutzlos sind, durch ihre unverhältnißmäßige Kleinheit Verwunderung erregen. Schneidet man diese letzteren ab, so bleibt ein fast viereckiger Rumpf für den Fleischer übrig.

Geflügel mit weißem Fleisch, wie Hühner und Truthühner, ißt man in England nie anders als in Begleitung von gekochtem Schinken – rohen ißt man überhaupt nicht – oder Ochsenzunge, weil das Hühnerfleisch nach dem Geschmack der Engländer zu trocken ist. Mir scheint es eine Barbarei, da der grobe Geschmack des Rauchfleisches den feinen des Geflügels verdeckt. Nach dem Braten folgt eine pie (Pei), Pastete, oder vielleicht ein Pudding. Sehr beliebt sind Fruchtpasteten. Eine eiserne, von innen und von außen glasirte, längliche, mäßig tiefe Schüssel wird mit Aepfelschnitten, Kirschen, Johannisbeeren etc. angefüllt und die erforderliche Quantität Zucker herzugethan. In das Centrum der Schüssel stellt man eine umgekehrte Obertasse und das Ganzem wird dann mit einem feinen Teig bedeckt und dieser am Rande der Schüssel befestigt. So zugerichtet kommt die Schüssel zum Backen in den Ofen. Sehr beliebt sind Rhabarber-Pasteten. Deutsche bekommen Leibweh, wenn sie daran denken; allein wenn man sie in England ißt, findet man sie ganz vortrefflich. Der Geschmack des Rhabarbers hat außerordentliche Aehnlichkeit mit dem von Stachelbeeren. Man ißt nämlich nicht die Wurzel, sondern die sehr fleischigen Blätterstiele. Ich glaube, es ist nicht länger als dreißig Jahre, daß ein Gemüsegärtner die ersten vier Bündel Rhabarber auf den Londoner Markt brachte, wovon er zwei wieder mit nach Hause nehmen mußte. Heut zu Tage kann man an jedem Markttage eine große Menge vierspänniger Wagen davon ankommen und verkaufen sehen. Rhabarber ist eins der populärsten Gemüse in England.

Da ein Zusatz von Pflanzennahrung dem menschlichen Körper nöthig ist, so essen die Engländer auch Gemüse; allein sie bereiten dieselben auf eine Weise, welche sie geradezu ungenießbar machen würde, wenn sie nicht von ganz ausgezeichneter Qualität wären. Man kocht die Gemüse blos in Wasser ab, drückt sie aus und servirt sie auf einer Platte mit Löchern, welche in einer Schüssel liegt. Irgend welches Fett an ein Gemüse zu nehmen, erscheint dem Engländer barbarisch.

Man hat in England sämmtliche Gemüse, welche wir in Deutschland haben, und noch einige, die man bei uns nicht ißt, wie zum Beispiel Pflanzenmark, eine gurkenförmige feine Kürbisart, und seakale (Seekohl), ein seltenes und sehr geschätztes, feines Gemüse. – Spargel ißt man in einem Zustande, in welchem man sie bei uns nicht mehr ißt, nämlich wenn sie geschossen sind. Kohlrabi gebraucht man nur als Viehfutter. Gurkensalat ißt man nur zu einer einzigen Speise, zu frischem Lachs.

Puddinge unterscheiden sich von Pasteten wie harte Krabben von weichen; – doch halt, wir essen ja noch nicht in Amerika und haben uns an soft crabs noch nicht den Magen verdorben. Ein Pudding enthält gewöhnlich auch Früchte, die aber nicht in eine Schüssel, sondern in einen Teig geschlagen sind, sind mit diesem nicht gebacken, sondern in einer Serviette gekocht werden. Es gehört ein englischer Magen dazu, diesen Teig zu verdauen, doch liegt er nicht viel schwerer darin als Knödel. Frische Blutwurst und andere Vettern aus der deutschen Familie derer von Schweinichen müssen sich gefallen lassen, in England Pudding gescholten zu werden. Den König der Puddings, Plumpudding, kennt Jeder, wenigstens dem Namen nach. Zur Weihnachtszeit wird er fast in jedem Hause gegessen und Schiffsladungen von Korinthen, Rosinen und Citronat werden dazu in England verbraucht. Ich esse Plumpudding, verstehe aber nicht Englisch genug, um ihn mit Gefühl und Verständniß zu essen. Gleich unverständlich ist für mich der Brautkuchen, der nicht selten über hundert Thaler kostet und wovon Stücke in eigens dazu gemachten dreieckigen Kästchen an die Freundinnen versandt werden. Dieser Brautkuchen ist, soviel ich davon verstehe, weiter nichts als ein höherer Grad von Plumpudding, mit einem zwei Finger dicken, marcipanartigen Zuckerguß; allein ein Stückchen davon unter das Kopfkissen einer unverheiratheten Jungfrau gelegt, bewirkt, daß sie das Bild ihres zukünftigen Gatten im Traume sieht. – Auf der niedrigsten Sprosse der Puddingsleiter steht der Erbsenpudding. Er ist weiter nichts als dicker kalter Erbsenbrei, den die armen Leute die Gemeinheit haben aus Hunger zu essen. Wer davon für einen Penny in seinem Magen besitzt, ist satt, träumt aber, daß er aus Versehen Nordwestwind verschluckt habe.

Nach Tisch ißt man Käse und Sellerie- oder Lattichsalat. – Der gewöhnliche Käse ist Chester; der feinste ist jedoch der Stilton, aber auch der theuerste. Ein solcher Käse, ungefähr zehn Zoll hoch und acht im Durchmesser, kostet etwa sieben Thaler. Er steht gewöhnlich auf einer Schüssel, die mit einem gehäkelten weißen Tuch bedeckt ist. Wenn der Käse gut ist, muß er inwendig grün verschimmelt sein und müffig schmecken. Sellerie weicht von dem unsrigen durchaus ab. Man ißt nämlich in England nicht die Wurzel, sondern das Kraut, und die Pflanze wird demgemäß erzogen. Sobald sie anfängt zu wachsen und eine gewisse Höhe erreicht hat, wird ihr unterer Theil mit Erde bedeckt und damit fortgefahren, so lange die Pflanze wächst. Auf diese Weise erlangen die Blattstengel eine große Dicke und Höhe und bleiben weiß; alle Kraft geht in die Stengel, die nicht selten zwei Fuß hoch werden. Bei Tisch stellt man sie in ein hohes mit Wasser gefülltes Glas und ißt sie mit Salz. Lattichsalat von ausgezeichneter Zartheit und Größe wird ebenfalls auf dieselbe ländliche Weise verspeist.

Vor dem Dessert wird das Tischtuch weggenommen und jenes auf den bloßen Tisch gesetzt. Es besteht ungefähr aus denselben Dingen wie bei uns. Zum Dessert werden die Kinder zugelassen. Auf ein Zeichen der Frau vom Hause erheben sich die Damen [824] und gehen in das Drawing-Room, die Herrn bei der Weinflasche zurücklassend.

Ehe man zu essen anfängt, spricht der Hausherr, oder wenn ein Geistlicher bei Tisch ist, dieser ein oft sehr langes Tischgebet und dasselbe wiederholt sich vor dem Abnehmen des Tischtuches. „Gesegnete Mahlzeit“ zu sagen, oder nach Tisch seinem Nachbar eine Verbeugung zu machen, oder der Frau vom Hause die Hand zu küssen, ist nicht Sitte.

Die Damen haben es gar nicht gern, wenn irgend ein Herr, in der Meinung galant zu sein, ihre Gesellschaft der Flasche vorzieht. Sie haben Allerlei unter sich zu reden, was die Herren nicht zu hören brauchen, und schlafen wohl auch gern ein Viertelstündchen in einem bequemen Lehnsessel. Kommen die Herren endlich, mitunter ziemlich angeheitert, in das Drawing-Room, dann wird Thee herumgegeben und dazu ganz außerordentlich dünne zusammengelegte Butterbrode, die als Sandwiches bekannt sind. – Damit enden die regulären Mahlzeiten der Engländer.

An Weihnachten kollern alle Truthähne in England ihr de profundis und nehmen Abschied von ihren Puten. Welchen Zusammenhang die christliche Religion mit dem Geschlecht der Puten hat, ist mir eins der vielen in ihr enthaltenen Mysterien. Der Truthahn heißt bekanntlich auch in Deutschland der Consistorial-Vogel und scheint mit der Theologie in irgend welchem Zusammenhange zu stehen. In England ist es eine Art von religiöser Pflicht, zur Weihnachtszeit einen Truthahn zu essen. Wer dazu nicht im Stande ist, kommt sich wie excommunicirt vor. So fromm die Engländer sich zu sein rühmen, so denken doch um die Weihnachtszeit neunundneunzig von hundert gar nicht an die Geburt Christi, sondern einzig an Truthahn und Plumpudding. Das Weihnachtsfest ist in Deutschland ein Fest für Herz und Magen, in England für Magen und Herz.

Ich habe freilich viel über englische Weihnachtsfestlichkeiten gelesen, die besonders auf dem Lande gefeiert werden; allein da die Familien der Engländer und besonders für einen armen Exilirten schwer zugänglich sind, so kann ich leider aus eigner Erfahrung wenig davon sagen, und muß die Leser auf die Beschreibungen anderer Reisenden hinweisen, die England unter glücklicheren Verhältnissen besuchten.
Corvin.




Blätter und Blüthen.

Schlaumeier auf glücklicher Fährte. (Mit Abbildung.) Hoch lastet der seit etlichen Tagen vom bleigrauen Himmel in mächtiger Fülle entsandte Schnee auf dem unter solcher Bürde fast brechenden Nadelwalde. Kein Luftzug hat die ruhig niedergefallenen Flocken ungleich verweht und in gleichen Massen lagert die flaumige Decke allüberall auf dem darunter verhüllten todtenstillen Forst.

Da kommt früh am Morgen Buschklepper Füchslein, der rothpelzige Hallunke, bei seinem Umherschleichen im Revier unter anderen auch auf eine einzelne Fährte, die der jagdkundige Patron sofort als die eines kranken Wildes erkennt, obwohl kein Tröpflein Schweiß es ihm verräth, wenn auch ein paar winzige Spritzlein frischen Darminhaltes, die der Verletzung eines jedenfalls tief waidewund angeschossenen Rehes bei seiner Flucht entfallen sind, dafür zeugen. Dieses genügt aber natürlich dem buschschwänzigen Wilderer und gewiegten Kenner solcher Merkmale hinlänglich, die angenommene Fährte auch beharrlich zu verfolgen, und richtig! auf einer kleinen Blöße, umschlossen von alten Fichten, die mit ihren schneebelasteten und dadurch tief niedergedrückten Zweigen den Boden streifen, liegt, hingebettet auf weit gespanntem, blendendem Bahrtuche, ein verendeter Rehbock. Jedenfalls hat diesen Tags vorher ein Aasjäger, der es nicht der Mühe werth erachtet, nach seinem Schuß strenge Nachsuche zu halten, was ihm mit Hülfe des „weißen Leithundes“, des Schnees, ja so leicht geworden sein müßte, an- und zu Holze geschossen, und dadurch Meister Reinecken leichten Kaufs einen so überreichen Gewinn verschafft.

Schon ist der glückliche Strolch bis auf kurze Entfernung an die ihm so mundrecht hingelegte Beute herangekommen, als er plötzlich von der Fährte des Verendeten abbiegt, um sich erst durch Umkreisen desselben genau zu versichern, ob dabei auch Alles geheuer. Dann erst, nachdem sich der Mißtrauische durch mehrmals eingeholten Wind und schärfste Beäugung des verlockenden Preises vollkommen überzeugt hat, daß hier sein Todfeind, der Mensch, ihm keine Falle gestellt, vielmehr ihm nur in die Hände, oder besser gesagt, in den Rachen gearbeitet habe, geht er, doch immer noch mit aller nur erdenklichen Vorsicht, endlich daran, den so mühelos errungenen Braten anzuschneiden. Höchst charakteristisch ist hierbei der Ausdruck seines hämisch verschmitzten Gesichtes, indem er im Vorgeschmack des seiner wartenden köstlichen Mahles die Lefzen schmunzelnd emporzieht, daß die scharfen Eckzähne seines stattlichen Gebisses glitzernd unter der aufgeworfenen Lippe hervorblinken. Hierauf gönnt er aber zuvörderst allein der spitzfindigen Nase den Hochgenuß, sich tief in den waidewunden Anschuß des Opfers zu versenken, um danach erst mit wahrhaft wollüstiger Gier den eigentlichen Schmaus zu beginnen. Und nicht eher, als bis sich der Schwelgende zum Uebermaß gesättigt, weicht er lichtscheu dem höher und höher aufsteigenden Tag, und verläßt endlich die kostbaren, noch so reichlich vorhandenen Reste seines Fundes, um nun aber schleunigst in seinem Bau, oder, da es schon spät geworden, vielleicht auch nur im Schlupfwinkel einer nahen Nothröhre einzufahren, und hier bis zu seiner jedenfalls schon am Abend erfolgenden Wiederkehr behäbig der Ruhe zu pflegen.
Guido Hammer.




Ein Märchenerzähler. Von den windigen Franzosen ist der halb scherz-, halb ernsthafte Einfall angebracht worden: „es giebt keine Kinder mehr“, und die wackeren Deutschen haben natürlich nichts Eiligeres zu thun gehabt, als diesen auf der Hohlheit und Unnatur der französischen oder vielmehr Pariser Erziehungszustände basirten Ausspruch auch in Deutschland gelten lassen und in Anwendung bringen zu wollen. Wie es scheint, mit Unrecht. Denn alljährlich noch flattert, wenn der Christbaum sich mit brennenden Kerzen zu schmücken beginnt, eine ganz stattliche Menge Märchen- und Bilderbücher hinaus in die Welt, und wo diese sind, da müssen ja doch auch noch Kinder sein, welche sich mit lachender Miene an den bunten Bildern vergnügen und an den anmuthigen Märchen erfreuen. Trifft es der Märchenerzähler ganz besonders gut, so lauschen über die Köpfe der Kleinen vorgebeugt auch die Erwachsenen im Kreise seinen abenteuerlichen, seltsamen Geschichten, und ein solcher Erzähler ist, wie ja allbekannt, H. C. Andersen, dessen reizende, phantastische „Sämmtliche Märchen“, in der deutschen Uebersetzung von Julius Reuscher und mit über hundert trefflichen Illustrationen ausgestattet, soeben bei E. J. Günther in Leipzig in neuer stattlicher Ausgabe erschienen sind.

Die Auflage ist die siebente und verdient schon darum auf’s Wärmste empfohlen zu werden, weil zur Illustrirung dieser humor- und gemüthvollen Erzählungen diesmal vom Verleger auch Oscar Pletsch herbeigezogen worden ist, der denn zu den schon vorhandenen Bildern Thumann’s, Hosemann’s, Pocci’s und Ludwig Richter’s noch eine Anzahl neuer Zeichnungen geliefert hat, die in ihrer Naivetät, kindlichen Auffassung und künstlerischen Durchführung sich den besten Leistungen des renommirten Künstlers an die Seite stellen. Eltern und Kinderfreunden sei darum Andersen’s Märchenbuch in dieser Ausgabe auf’s Wärmste empfohlen.




Australischer Schlangenhandel. Der Curator und Secretär des Australischen Museums zu Sidney, Herr Gerard Krafft, hat in einer ausführlichen Zuschrift, für die wir ihm auf diesem Wege besten Dank sagen (die Photographien wurden an Dr. Brehm abgeschickt), eine Bitte an uns gerichtet, von deren Gewährung er bei der weiten Verbreitung der Gartenlaube sich besondern Erfolg zu versprechen scheint. Er bittet nämlich, an die Liebhaber von lebenden Schlangen das dringende Ersuchen richten zu dürfen, ihn nicht weiter mit ihren Aufträgen belästigen zu wollen. „Seit geraumer Zeit,“ schreibt uns Herr Krafft, „habe ich viele freundliche Briefe erhalten, in welchen man um allerhand kriechendes Gewürm bittet; man hat sich selbst die Zeit genommen, genaue Verhaltungsmaßregeln in Betreff der Versendung u. dergl. beizulegen; man hat versprochen, alle wirklichen Unkosten zu bestreiten, und man hat gewöhnlich mit den Worten geschlossen, daß man der nächsten Sammlung mit Ungeduld entgegensieht. Da jeder Brief etwa zwölf Silbergroschen kostet und da ich die Herren Schlangenliebhaber in den meisten Fällen nicht einmal dem Namen nach kenne, so hoffe ich, daß sie es nicht ungütig aufnehmen, wenn sie von mir auf ihre Briefe keine Antwort erhalten haben. – Wer australische Pflanzen haben und bezahlen will, der kann solche von Herrn C. L. Salmin in Hamburg erhalten. Dieser Herr handelt mit dem genannten Artikel, hat hier in Australien große Verbindungen und ist in jeder Hinsicht zuverlässig. An ihn wird sich Jedermann mit dem gewünschten Erfolge wenden; mich aber bitte ich dringend für die Zukunft mit ähnlichen Aufträgen zu verschonen.“




Zum Kartenspiel unserer Soldaten im Felde. Christian Sell hat in einem seiner letzten Artikel, wie die Leser der Gartenlaube sich wohl noch erinnern werden, es als auffallend erwähnt, daß er deutsche Soldaten im Felde nur ein einziges Mal habe Karten spielen sehen, und hat daran die Frage geknüpft, woher diese eigenthümliche Erscheinung wohl rühren möge. Ein Freund unseres Blattes, der den Feldzug mitgemacht hat, schreibt uns nun:

„Schon zu Anfang des Krieges betrachtete man die Karten, die man daheim scherzend das ‚Teufelsgebetbuch‘ genannt hatte, als etwas Gefahrbringendes für denjenigen, der sie trägt. Natürlich gab es auch Einzelne, die diesen an Rasttagen so begehrten Artikel nicht allzu leicht im Stiche ließen und eine Karte bei sich führten. Als aber zufällig gerade von diesen Mehrere in den ersten Schlachten fielen, so ward die Furcht vor den Karten von nun an ziemlich allgemein – namentlich wollte Niemand, sobald es in’s Gefecht ging, von einer Karte in seinem Tornister oder in seiner Hosentasche wissen. War dann die Schlacht vorüber oder kam ein Ruhetag, so wären freilich die Karten hochwillkommen gewesen; aber sie waren nun einmal fortgeworfen und da blieb denn unseren Braven im Felde nichts Anderes übrig, als sich die Zeit ohne sie zu vertreiben. Und das ging auch.“




Kleiner Briefkasten.

Ferd. M. in Regensburg. Ihr Wunsch ist rasch in Erfüllung gegangen. Soeben ist von den in Nr. 46 der „Deutschen Blätter“ besprochenen „Fröhlichen Heldengedichten von Fr. Hofmann“ Nr. I.Die Eselsjagd“ erschienen und bei Ed. Wartig in Leipzig zu beziehen. Wir empfehlen das flott illustrirte Heftchen unsern Lesern als eine erheiternde Beigabe zu jedem Weihnachtsgeschenk.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vermutlich gemeint: Cumin