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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[561]

No. 34.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Die Großmutter sah mich so erstaunt an, als habe sie bis dahin gemeint, das kleine Wesen könne nur singen und nicht sprechen, am allerwenigsten aber sie selbst anreden. Ilse zog sich hinter den Vorhang zurück und winkte mir angstvoll, zu schweigen; sie mochte durch mein unerwartetes Hervortreten einen Anlaß zu neuer Geistesstörung bei der Kranken befürchten. Aber meine Großmutter blieb vollkommen ruhig; ihre Augen hafteten unverwandt auf meinem Gesicht. Diese Augen, vor denen ich mich immer so entsetzlich gefürchtet, wenn sie im Vorüberlaufen unstät und irr über mich hinflackerten, waren sehr schön; über ihren dunklen Glanz breitete sich freilich ein unheimlicher Schleier, aber es lag Seele darin, bewußtes Denken.

„Komm einmal her zu mir!“ unterbrach sie das minutenlange Schweigen.

Ich trat dicht an das Bett.

„Weißt Du, was es heißt, Jemand lieb haben?“ fragte sie, und ihre gebrochene, tonlose Stimme nahm einen innigen Klang an.

„Ja, Großmutter, das weiß ich! Ich habe Ilse so lieb, so lieb, daß ich’s nicht sagen kann – und Heinz auch!“

Um ihre Lippen zuckte ein leises Beben, und sie schob unter unsäglicher Mühe ihre auf der Decke liegende Rechte nach mir hin.

„Fürchtest Du Dich vor mir?“ fragte sie.

„Nein – nicht mehr!“ wollte ich hinzusetzen, aber ich verschluckte die zwei letzten Worte und bog mich zu ihr hin.

„Nun, so gieb mir Deine Hand und küsse mich auf die Stirn!“

Ich that, wie sie geheißen, und seltsam, in dem Augenblick, wo meine Lippen das gefürchtete Gesicht berührten, und meine Hand von den großen, kalten Fingern umschlossen und sanft gedrückt wurde, zog ein neues, süßseliges Gefühl in meine Brust ein. Ich wußte auf einmal, daß ich an diesen Platz gehörte, ich fühlte das geheimnisvolle Band des Blutes zwischen Großmutter und Enkelin, und hingerissen durch dieses plötzliche Erkennen setzte ich mich auf den Bettrand und schob sanft meinen Arm unter ihren Kopf.

Ein beglücktes Lächeln glitt durch die großen, starken Züge; sie legte sich in meinem Arm zurecht, wie ein müdes Kind, das einschlafen will.

„Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut – ach!“ flüsterte sie und schloß die Augen.

Ilse aber stand hinter dem Vorhang des Bettes; sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.

Es trat wieder Todtenstille ein. Sie wurde nur unterbrochen durch das leise Aufstöhnen der Kranken und ihre schweren, regelmäßigen Athemzüge, und durch das unausgesetzte leise Schnurren in dem hohen, hölzernen Standgehäuse der alten Uhr, deren großes blinkendes Zifferblatt gespenstig herüberstarrte, und die zu jeder Pendelschwingung weit und langsam aushob wie eine kranke Brust zum Athemholen.

So war abermals eine lange, bange Zeit verstrichen; es hatte bereits Eins geschlagen. Da wurde draußen das Hausthor geöffnet, und Heinz schritt in Begleitung eines anderen Mannes durch die Tenne; er brachte also, wider Erwarten, den Arzt gleich mit.

Ilse athmete sichtlich auf und winkte mir, ihm am Bett Platz zu machen; ich zog vorsichtig meinen steifgewordenen Arm an mich und ließ das Haupt der Kranken behutsam in die Kissen sinken. Sie schien weiter zu schlummern; sie gab auch kein Zeichen, daß sie es höre, als die Zimmerthüre leise geöffnet wurde, und die Männer eintraten.

Da stand auf einmal der alte Pfarrer des nächsten Dorfes im vollen Ornat inmitten des Zimmers, während Heinz, den Hut in der Hand, ehrfurchtsvoll im Hintergrund verblieb … Sie sah feierlich ergreifend aus, die ehrwürdige Gestalt des Geistlichen im schwarzen Talar, das Gebetbuch in den Händen haltend. Ilse aber fuhr empor, als sähe sie ein Gespenst; sie stürzte zurückwinkend auf ihn zu, allein es war zu spät – in demselben Moment, als fühle sie den Blick des Eingetretenen, schlug meine Großmutter auch die Augen auf.

Ich wich zurück, so sehr entsetzte mich die furchtbare Verwandlung in den Zügen, die sich eben noch so friedsam geglättet hatten.

„Was will der Schwarzrock?“ stöhnte sie.

„Ihnen Trost bringen, so Sie dessen bedürfen,“ versetzte der alte Mann mild, ohne sich durch die rauhe Anrede beirren zu lassen.

„Trost? … Ich habe ihn bereits gefunden am unschuldigen Kindesherzen, in der Liebe, die sich dahingiebt, ohne zu fragen: wie glaubst Du, und was giebst Du mir dafür? … Lenore, mein gutes Kind, wo bist Du?“

Mir zitterte das Herz bei diesen sehnsüchtigen Tönen. Ich [562] trat rasch an das Kopfende des Bettes, so daß sie mich sehen konnte.

„Trost könnt Ihr mir nicht bringen, die Ihr mich hinausgestoßen habt in die grauenhafte Wüste, wo mir der Sonnenbrand das Gehirn ausgedörrt hat!“ fuhr sie zu dem Geistlichen gewendet fort. „Nicht einen Tropfen kühler Labung habt Ihr mir gereicht auf dem Wege, der nun, wie Ihr predigt, enden soll in die Hölle! … Ihr Unduldsamen, Ihr rühmt Euch, in Demuth vor Gott zu wandeln, und haltet doch jederzeit den Stein in der Hand, ihn auf Euren Nächsten zu werfen, und vermesset Euch, entehrendes Todtengericht zu halten am Grabe der Hingeschiedenen, die bereits vor ihrem Richter stehen! … Ihr falschen Propheten, Ihr rühmt Euch, zu dem Gott der Güte, des unendlichen Erbarmens zu beten, und macht ihn zum Lenker mörderischer Schlachten, zu einem grimmigen und eifrigen Gott, wie das Volk der Hebräer auch, das Ihr das verfluchte nennt! … Vollkommen preist Ihr ihn, und gebt ihm doch alle Gebrechen Eurer sündhaften Menschennatur, Eure Rachsucht, Eure Herrschbegier, Eure kalte Grausamkeit … Euer Mittler hat Euch eine Palme in die Hand gedrückt, Ihr aber macht sie zur Geißel –“

Der Geistliche hob die Hand, als wolle er sie unterbrechen, aber sie fuhr heftiger fort:

„Und mit dieser Geißel habt Ihr mich geschlagen und hinausgehetzt aus Eurem Himmel, da Ihr schwurt: Dein Vater, der Jude, der Dir das Leben gegeben, Deine Mutter, die Jüdin, die Dich genährt, sie sind verflucht bis in alle Ewigkeit! … Mann, mein Vater war der Weisesten Einer. Er hat gesammelt und aufgespeichert in seinem Geiste unermeßliches Wissen – und das sollte nutzlos verkommen in der Hölle, und dem geistig Beschränkten, der nie gedacht und nur geglaubt, würde mühelos das Himmelreich, wo doch dem Forschenden erst recht verheißen ist Wahrheit und Klarheit? … Und mein Vater,“ fuhr sie fort, „hat gebrochen dem Hungrigen sein Brod und dahingegeben, daß die Linke nicht wußte, was die Rechte that. Er hat verabscheut die Sünde der Lüge, des Geizes und des Hochmuths und hat verziehen seinen Beleidigern und nie gerächt, was sie ihm angethan – er hat Gott, seinen Herrn, geliebt von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe, und soll doch schmachten in der Hölle bis in alle Ewigkeit, weil das Wasser nicht über seinem Haupt ausgegossen ist? … Wohl, wohl, so will ich dahingehen, wo er ist – Ich gebe Euch Eure Taufe zurück! Behaltet Euren Himmel – Ihr verkauft ihn theuer genug, Ihr Tyrannen im schwarzen Rock!“

Mit dem tiefsten Erbarmen in seinen milden Zügen trat ihr der alte Pfarrer näher; aber da war keine Versöhnung mehr möglich.

„Lassen Sie das – ich bin fertig!“ sagte sie schneidend und kehrte das Gesicht nach der Wand.




6.

Leise, wie er gekommen, verließ der Geistliche das Zimmer. Unwillkürlich folgte ich ihm. So gewiß mich das Gebahren meiner Großmutter überzeugt hatte, daß einst schwere Missethat an ihr verübt worden sei, so schmerzlich leid that mir der alte Mann, der in der Kirche seine Hand segnend auf meine Stirn gelegt hatte. Er war mild und gut, er gehörte nicht zu Denen, die die unglückliche Tochter der Juden in die Nacht des Wahnsinns getrieben; er war willig und unverdrossen durch die Nacht geschritten, der liebevolle Greis, um einer Kranken die Tröstungen der Kirche zu bringen.

„Herr Pfarrer,“ sagte Ilse draußen auf dem Fleet zu ihm, „ihr dürfen Sie das nicht zurechnen, sie hat sich taufen lassen, und der’s gethan hat, war gut und christlich wie Sie, und sie hat ehrlich zu Christo gehalten … Da ist aber Einer gekommen – er mag’s verantworten – und hat geeifert und hat des Verfluchens und Verdammens kein Ende gewußt. Ja, da war das viele Unglück in der Familie immer und immer nur ein Strafgericht des Herrn! Und das hat ihr den Verstand genommen – er mag’s verantworten!“

„Ich rechte nicht mit ihr,“ entgegnete er sanft. „Weiß ich doch leider zu gut, daß falscher Eifer am Weinberg des Herrn viel edle Frucht zerstört! … Die Frau hat viel gelitten – Gott wird barmherzig sein! Mich schmerzt nur, daß ich nicht trösten durfte, wo ich es freudigen Herzens gekonnt hätte. Aber es widerstrebt mir, mit dem unerbetenen Beistand der Kirche auf eine Seele einzustürmen, die ohnehin im schweren Kampfe liegt, im Kampfe mit der Hülle.“ Er strich liebkosend mit der Hand über meinen Scheitel. „Gehe hinein zu ihr, sie wird Dich vermissen! … Ich wollte, ich könnte allen Trost unseres Glaubens auf Deine Lippen legen, auf daß der geängstigten Seele der wahre Friede werde.“

Ich kehrte sofort in das Zimmer zurück, während er ein Glas Wasser trank und dann, ohne zu rasten, den Dierkhof verließ.

„Wo ist das Kind?“ hörte ich die Kranke schon draußen im Gange wiederholt fragen.

„Da bin ich, Großmutter!“ rief ich eintretend und flog auf das Bett zu. Sie war ganz allein. Heinz, den wir bei ihr zurückgelassen, war fortgegangen, ich vermuthete, aus Furcht vor Ilse, da er eigenmächtig den Geistlichen mitgebracht hatte.

„Ach ja, da bist Du, mein kleines, schwarzbraunes Täubchen!“ sagte sie zärtlich und seufzte erleichtert auf. „Ich meinte schon, Du seiest mir nun auch abgewandt und mit ihm hinweggegangen in Haß und Verachtung.“

Ich protestirte. „So darfst Du nicht denken, Großmutter!“ rief ich lebhaft. „Er hat mich zu Dir geschickt und ist unsäglich gut, und ich – ich weiß gar nicht einmal, wie es ist, wenn man haßt und verachtet.“

„Das heißt, Du liebst die ganze Welt,“ sagte sie schwach lächelnd.

„Ach ja, das habe ich Dir ja schon gesagt! Ilse und Heinz, und Spitz und Mieke, und die gute, alle Föhre drüben auf dem Hügel und den blauen Himmel –“

Ich verstummte plötzlich und schämte mich – es war ja nicht wahr, was ich da sagte; diese volle hingebende, friedsame Liebe für die ganze Welt besaß ich gar nicht mehr! Gerade heute war ich ein zorniges, ungeberdiges Geschöpf gewesen – sollte ich ihr das sagen?

Ich saß wieder auf dem Bettrand, und sie hielt in ihrer Rechten meine Hand; die Finger umschlossen sie so fest, als sollte sie nie, nie wieder losgelassen werden – dabei sanken ihr langsam die Lider über die Augen. Sie hatte vorhin so kraftvoll und energisch gesprochen, und ich war so über alle Begriffe unerfahren, daß ich bei diesem Anblick nicht im Entferntesten mehr an Erschöpfung dachte; aber nun legte ich auch meine Linke liebkosend um ihr Handgelenk; ich wußte recht gut, daß da der Lebensstrom in regelmäßigem Tact unaufhörlich klopfen mußte – zu meiner tiefsten Bestürzung wurde mir allmählich klar, daß es unheimlich still unter dieser kalten Haut blieb; nur selten, nach langen, herzbeklemmenden Pausen, schlug es einmal kurz und hart an meine Fingerspitzen.

„Wir sind wie der Thon in der Hand des Töpfers,“ flüsterte sie plötzlich. „Was sind wir, was ist unser Leben, alle unsere Herrlichkeit?“ Sie stöhnte auf. „Aber du bist unser Vater, und wir sind deine Kinder, erbarme dich unser, wie sich ein Vater seiner Kinder erbarmt –“

Sie schwieg wieder; mich aber überfiel eine unbeschreibliche Angst, ich hätte Alles darum gegeben, diese geschlossenen Augen offen zu sehen, und legte leise meine Lippen auf ihre Stirne. Sie fuhr empor, sah mich aber liebevoll und zärtlich an.

„Geh’, rufe mir Ilse!“ sagte sie schwach.

Ich sprang auf, und in demselben Augenblick rasselte zu meiner unaussprechlichen Erleichterung ein Wagen über das Pflaster des Hofes. Gleich darauf trat Ilse in Begleitung eines Herrn in das Zimmer.

„Der Herr Doctor ist da, gnädige Frau!“ sagte sie und ließ den Arzt an das Bett treten.

Das Gesicht meiner Großmutter zeigte sofort wieder einen festen, gespannten Ausdruck. Sie schob dem Arzt die Rechte hin, um sich den Puls untersuchen zu lassen, und sah ihn aufmerksam an.

„Wie viel Zeit geben Sie mir noch?“ fragte sie kurz und bestimmt.

Er schwieg einen Moment betroffen und vermied es, ihrem Blick zu begegnen.

„Wir wollen einen Versuch machen –“ sagte er zögernd.

„Nein, nein, bemühen Sie sich nicht!“ unterbrach sie ihn. [563] Sie sah mit einem schattenhaften Lächeln an der linken Körperseite nieder. „Das ist bereits dem Staub verfallen!“ sagte sie kalt. „Wie viel Zeit geben Sie mir noch?“ wiederholte sie unabweisbar nachdrücklich mit geschärfter Stimme.

„Nun denn – höchstens eine Stunde.“

Mir stürzte ein Thränenstrom aus den Augen, und Ilse flüchtete in ein Fenster und preßte das Gesicht gegen die Scheiben. Nur meine Großmutter blieb vollkommen ruhig. Ihre Augen hefteten sich auf den Silberleuchter an der Decke.

„Zünde an, Ilse!“ gebot sie, und während diese auf einen Stuhl stieg und Flämmchen um Flämmchen unter ihren Händen aufflackerten, wandte sich die Kranke zu dem Arzt.

„Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind,“ sagte sie, „und möchte Sie noch um einen letzten Liebesdienst bitten – würden Sie die Güte haben, niederzuschreiben, was ich dictiren werde?“

„Von Herzen gern, gnädige Frau, aber falls es sich um einen letzten Willen handeln sollte, so muß ich darauf aufmerksam machen, daß es ungültig sein wird ohne gerichtliche –“

„Ich weiß das,“ unterbrach sie ihn. „Allein dazu verbleibt keine Zeit. Meinem Sohne wird und muß mein letzter Wille auch in dieser Form genügen.“

Ilse brachte Schreibgeräth, und meine Großmutter dictirte:

„Ich vermache Ilse Wichel den Dierkhof mit seinen vollen Einrichtungen und allen Liegenschaften –“

„Nein, nein –“ schrie Ilse angstvoll und erschrocken auf, „das leide ich nicht!“

Meine Großmutter warf ihr einen strengen, zurechtweisenden Blick zu und sprach unbeirrt weiter: „als einen Beweis meiner Dankbarkeit für ihre unbegrenzte Hingebung und Aufopferung. … Ich vermache ferner meiner Enkelin, Leonore von Sassen, was ich an Staatspapieren noch besitze, und darf Niemand, wer es auch sei, ein Recht daran erheben.“

Ilse war emporgefahren und sah erstaunt nach ihr hinüber. Die Kranke deutete auf einen Schrank. „Da drin muß ein Blechkasten stehen. … Nimm ihn heraus, Ilse; ich habe völlig vergessen wie viel er enthält.“

Ilse öffnete den Schrank und stellte einen niedrigen Blechkasten auf den Tisch. Ein verrostetes Schlüsselchen steckte in dem Vorlegeschloß.

„Es mag wohl lange, lange her sein, daß ich ihn nicht berührt habe,“ murmelte die Kranke und hob matt die Rechte nach der Stirne. „Es ist finster in mir gewesen – ich weiß es. … Welches Jahr schreiben wir?“

„Das Jahr 1861,“ entgegnete der Arzt.

„Ach, da mag Manches da drin verfallen und werthlos geworden sein!“ klagte sie, während er den Deckel zurückschlug. Auf den Wunsch der Kranken überzählte er die Papiere, die den Kasten bis an den Rand füllten.

„Neuntausend Thaler,“ berichtete er.

„Neuntausend Thaler!“ wiederholte meine Großmutter befriedigt. „Sie genügen, um die Noth abzuwehren. … Es muß auch noch eine kleine Schachtel in dem Kasten liegen.“

Ich sah, wie Ilse den Kopf schüttelte über diese plötzliche Geistesklarheit, die so leicht da anknüpfte, wo vor vielen Jahren der glatte Faden des ungetrübten Denkens abgerissen war. Der Arzt nahm eine unscheinbare Holzschachtel aus dem Kasten – sie enthielt eine Perlenschnur.

„Der letzte Rest der Jakobsohn’schen Herrlichkeit!“ flüsterte die Kranke wehmüthig vor sich hin, „Ilse, lege die Schnur um den kleinen braunen Hals dort! … Sie gehört zu Deinem Gesicht, mein Kind!“ sagte sie zu mir, während ich leise in mich zusammenschauerte unter der kühlen, schmeichelnden Berührung. „Du hast die Augen Deiner Mutter, aber die Jakobsohn’schen Züge. … Das Band hat viel Familienglück und schöne friedliche Zeiten voll Glanz gesehen; aber es ist auch mitgeflüchtet vor dem Scheiterhaufen und anderen grausamen Marten der christlichen Unduldsamkeit!“ Sie rang nach Athem. „Nun will ich unterschreiben!“ stieß sie nach einer Pause der Erschöpfung sichtlich beängstigt hervor.

Der Doctor legte das Papier auf die Bettdecke und drückte die Feder in die steife Hand. … Sie war unsäglich mühselig, diese letzte irdische Handlung, aber der Name, Clotilde von Sassen, geborene Jakobsohn, stand schließlich doch in ziemlich festen großen Zügen unter dem Document, das auch der Arzt als Zeuge mittels einiger Worte unterschrieb.

„Weine nicht, mein Täubchen!“ tröstete sie mich. „Komme noch einmal her zu mir!“

Ich warf mich sprachlos am Bett nieder und küßte ihre Hand. Sie trug mir Grüße an meinen Vater auf, und richtete ihre großen verschleierten Augen von meinem Gesicht hinweg fest und sprechend auf Ilse.

„Das Kind darf nicht verkommen in der einsamen Haide!“ sagte sie bedeutsam.

„Nein, gnädige Frau, dafür lassen Sie mich sorgen!“ versetzte die Angeredete in ihrer gewohnten knappen Kürze, obgleich ihr die Lippen schmerzlich zuckten und helle Thränen an ihren Wimpern hingen.

Noch einmal glitt die kalte matte Hand liebkosend über mein Kinn, dann schob mich meine Großmutter sanft, aber doch in jener ängstlichen Hast, die mit jeder Secunde geizt, von sich und sah starr nach einem der Fenster mit einem so seltsam ausdrucksvollen Blick, als wolle die Seele auf ihm bereits hinausfliegen in das All.

„Christine, ich verzeihe!“ rief sie zwei Mal angestrengt in die Lüfte, in die weite Ferne hinaus. … Sie war fertig, gerüstet. Sichtlich beruhigt rückte sie den Kopf in den Kissen zurecht, wandte den Blick nach oben und begann feierlich inbrünstig, wenn auch mit erlöschender Stimme: „Höre, Israel, unser Herr, unser Gott ist ein Einziger und Einiger! … Gepriesen sei der Name seiner Herrlichkeit –“ die Stimme erstarb in einem geflüsterten Hauch; sie neigte sanft und langsam das Haupt seitwärts.

„In Ewigkeit, Amen!“ vollendete der Arzt an Stelle des Mundes, der für immer verstummt war.

Er drückte ihr mit sanfter Hand die Lider über die Augen.




7.

Ich ging hinaus. Das erste tiefe Weh war über mich gekommen. Wie versteinert stand ich vor jenem unerbittlichen „vorbei für immer!“ das uns angesichts des ausgelöschten Lebens so völlig unglaublich erscheint.

Mit der ganzen enthusiastischen Zärtlichkeit, die so leicht aus dem jugendlichen übervollen Gemüth hervorquillt, hatte ich mich an die neugeschenkte Großmutter gehangen. Ich durfte das unaussprechlich süße Gefühl kosten, welches mir sagte, die Hingebung meines kleinen Herzens werde heiß gewünscht – und nun marterte mich der Gedanke, daß ich nicht genug gegeben, daß ich meiner Großmutter bei weitem nicht überzeugend genug ausgesprochen habe, wie sehr ich sie lieben wolle. Es war mir Bedürfniß gewesen, ihr zu versichern, daß ich sie auf den Händen tragen werde, wenn sie erst wieder gesund sei – statt dessen hatte ich sorglos die ganze kostbare Zeit verstreichen lassen und kindischer Weise von meiner Liebe für die ganze Welt gesprochen. … Das hatte sie gewiß am wenigsten hören wollen, sie, der man draußen in der Welt so furchtbar wehe gethan. … Und nun war sie gestorben, und ich konnte ihr dies Alles nicht mehr sagen. … Zu spät! Unsere ganze Ohnmacht und Hülflosigkeit liegt in dem niederschmetternden Wort!

Ich trat durch die Baumhofthür in’s Freie. Ein kräftiger Luftstrom, noch mit den Spuren der Nachtfeuchte im Athem, strich über die Haide her. Er blies dem Torfsumpf die große federweiße Schlafhaube ab und verdünnte sie zum zarten Spitzenvorhang, hinter welchem das Sonnenfeuer aufzuglühen begann. Rothgolden färbten sich die rauschenden Eichenwipfel, und das kleine Giebelfenster des Dierkhofes fing an zu blinken.

Wie trunken schwankten die Grashalme unter dem funkelnden Thau; aber aufgerichtet hatten sich alle wieder, über die meine Großmutter heute Nacht zum letzten Mal hingeschritten war. Die Fenster des Sterbezimmers, die ich nie anders als halbverhüllt gekannt hatte, standen weit offen. Ich schwang mich auf die Brüstung und sah hinein. Das Zimmer war leer. Die Vorhänge, jetzt im schräg einfallenden Morgenlicht smaragdfarben schimmernd, waren nach der Wand zurückgeschlagen und ließen die Lüfte über das Bett hinstreichen. … In eine so athemlose friedensvolle Stille hinein hatte das gequälte Gesicht des jungen Isaak wohl seit langen Jahren nicht gesehen. Die mächtige Gestalt, der das Blut so heiß und ungestüm in den Adern gekreist [564] hatte, dort lag sie hingestreckt unter dem weißen verhüllenden Tuche, nur kenntlich an der prächtigen grauen Flechte, die hervorgeschlüpft war und über den Bettrand hinabhing.

Eine aufgescheuchte Brummfliege zog summend an mir vorüber, und auf dem Silberleuchter an der Decke züngelten die gelben Flammen der Wachskerzen im Luftzuge unruhig hin und her. Das war Alles, was sich regte in dem weiten Zimmer, selbst die Uhr stand still.

Dagegen erscholl nun das erwachende Leben aus dem Vorderhofe herüber. Die Hähne krähten; Spitz fuhr kläffend unter die krakelnden und aufschreienden Hühner, und Mieke verlangte dumpf-brüllend nach der Hand, die ihr das strotzende Euter entleerte. Ueber das Dach her kam die Hauskatze; sie sprang geräuschlos in das Gras des Baumhofes und schlich mit grünfunkelnden Augen unter den Ebereschenbaum, auf welchem ein kleiner Vogel sorglos zwitscherte. Ich bog eben um die Ecke und scheuchte sie fort. Und droben im Reisernest auf dem Dache wurde unter eifrigem Geklapper Toilette gemacht, dann rauschte das Storchenpaar hoch über meinem Haupte hin zum Frühstück nach dem Sumpfe – Alles wie sonst! Nur vor dem Hause schreckte mich Fremdes und Ungewohntes zurück – ein Pferd wieherte in die frische Morgenluft hinaus, und an der niedrigen Umzäunung des Hofes stand mit rückwärts verschränkten Armen der Doctor und schaute über die mit Thau und Sonnengold förmlich überschüttete Haide hin.

Die kleine verstaubte Chaise, die ihn gebracht hatte, stand angeschirrt vor dem Hausthor, und drin auf dem Fleet sah ich Ilse stehen, fest und stramm wie immer. Sie hatte den Eßtisch sauber gedeckt, Tassen und Butterbrod auf der weißen Serviette geordnet und kochte Kaffee für den Arzt.

Ich trat aufgeregt zu ihr.

„Ilse, wie kannst Du das nur? Wie ist Dir das möglich in einem solchen Augenblick?“ rief ich zornig vorwurfsvoll.

„Sollen Andere dursten und hungern, weil ich Schmerz habe?“ fragte sie scharf und strafend. „Hast heute Nacht Deine Großmutter sterben sehen und hast doch nicht von ihr gelernt, daß man in den schlimmsten Stunden den Kopf oben behalten soll!“

Tief beschämt legte ich meine Arme um ihren Hals; denn das Gesicht, das sich mir erst jetzt voll zugewendet, schien wie erstarrt im Jammer, und das urgesunde Roth war bis auf den letzten Schein weggelöscht von den Wangen. Und doch rührten sich die Hände nach wie vor, und nicht die kleinste Pflicht durfte versäumt werden.

Der Doctor kam herein und der Knecht, der ihn gefahren, auch; ich ging ihnen aus dem Wege und trat wieder vor das Haus.

Die Enten des Dierkhofes, sämmtliche Schnäbel nach der Haide hinaus gerichtet, standen am geschlossenen Gatterthor der Einfriedigung, sie warteten sehnsüchtig auf den Augenblick, wo es geöffnet wurde und sie hinausrennen und sich kopfüber in den Fluß stürzen durften. Nur eine balgte sich noch mit einem weißen, zerflatternden Klumpen im Hofe herum – da war ja der Brief, den meine Großmutter heute Nacht vom Fleet aus fortgeschleudert und welchen Ilse nachher so emsig gesucht hatte! Er war bis vor das offene Hausthor geflogen. Ich öffnete den Enten das Gatter und nahm den befreiten Papierknäuel auf; er sah übel zugerichtet aus; das schmutzige Wagenrad war über ihn hingegangen, und der Entenschnabel hatte ihn halb zerfleischt.

Auf das Bänkchen unter dem Ebereschenbaum flüchtend, machte ich mich daran, das Papier auf dem Knie zu glätten und die auseinanderfallenden Stücke zusammenzufügen Es fehlte viel, zudem war die Handschrift eine sehr flüchtige; unter großer Mühe entzifferte ich folgende Stellen:

„Ich habe Dich nie belästigt, weil ich es Dir gegenüber für Ehrensache hielt, den eigenmächtig eingeschlagenen Weg auch selbstständig zu gehen … ‚Die Verlorene‘ hat Alles gethan, damit kein Schatten ihrer Laufbahn auf Dich zurückfalle – nie ist mein eigentlicher Familienname gegen Andere über meine Lippen gekommen, nie habe ich durch irgendwelche Erkundigungen nach Dir und meiner ehemaligen Heimath den Verdacht erregt, als sei ich mit den Sassens verwandt – es hätte sie wahrlich nicht geschändet; denn denke wie Du willst – ich sage es dennoch mit Stolz, man hat mich einstimmig das Wunder, den glänzendsten Stern unserer Zeit genannt.“ … Hier war ein Stück Papier abgerissen, es fehlte – aber auf der andern Seite des Bogens las ich weiter: „Nun ist ein schweres Unglück über mich hereingebrochen – wohin soll ich gehen, wenn nicht zu Dir? … Ich habe die Stimme verloren, meine kostbare Stimme! Die Aerzte sagen, eine Badecur in Deutschland könne sie mir zurückgeben. Aber ich stehe da mit leeren Händen; durch die gewissenlose Verwaltung Anderer ist mein Vermögen bis auf den letzten Groschen verloren gegangen, … Auf den Knieen liege ich vor Dir, die Du im Wohlleben schwimmst, die Du nie erfahren hast, was Noth, grimme Noth ist – ich könnte Dir viel erzählen von schlaflosen, qualvollen Nächten. … Vergiß nur einmal, nur auf eine Stunde, daß ich unfolgsam war, und gieb mir die Mittel, mich zu retten! Was sind einige Hundert Thaler für Dich, die“ – über das Folgende lief die breite schwarze Spur des Wagenrades, die ohnehin blassen Schriftzüge waren total zerkratzt und verwischt. Auf einem herabhängenden Fetzen des zweiten Blattes stand noch ziemlich lesbar die Adresse der Schreiberin, und auf einem andern die zwei Worte, die genügt hatten, meine Großmutter in schäumende Wuth zu versetzen, die Unterschrift „Deine Christine.“

Wer war diese Christine? Dieses Wunder, der glänzendste Stern unserer Zeit? …

Die Stelle „Auf den Knieen liege ich vor Dir!“ machte auf mein einfaches, unverbildetes Gemüth einen ungeheuer dramatischen Eindruck. Ich sah sofort das schlankste Ritterfräulein aus einem meiner Bilderbücher in die Kniee sinken und die weißen Hände flehend erheben. … Und die Stimme hatte sie verloren, ihre kostbare Stimme! … Meine Hände fuhren unwillkürlich nach dem Halse – wie mußte das entsetzlich sein, wenn man mit voller Brust aushob, um die Töne hinausklingen zu lassen, und die Kehle versagte und blieb stumm!

Weder Fräulein Streit, noch Ilse hatten je auch nur mit einer Silbe jener „Verlorenen“ gedacht, und doch mußte sie meiner Großmutter sehr nahe gestanden haben, denn sie war ihr letzter Gedanke gewesen. Jetzt erst erschütterte mich das feierliche „Christine, ich verzeihe!“ in tiefinnerster Seele; unwillkürlich mußte ich an den verlorenen Sohn denken, der im tiefsten, stillsten Herzenswinkel des Vaters doch das geliebte Kind geblieben war.

(Fortsetzung folgt.)


„Rumänier –“.

Das Land, das von den Karpathen und dem mächtigen Arm der Donau, kurz vor deren Einzug in das Schwarze Meer, umschlossen ist, der alte Zankapfel der drei Kaiser von Rußland, Oesterreich und der Türkei, das jetzt sogenannte Rumänien, ist in jüngster Zeit nicht nur Deutschlands Dynastien und Verkehrsbewegung näher, sondern auch weiter heraus in das Licht der Geschichte getreten. Ein deutsches Fürstenpaar sitzt dort auf einem nichts weniger als weichen Thron, im tagtäglichen Kampf mit der Halbcultur des gesammten Volks und dem noch schlimmeren Zustande der Bojaren.

Unser heutiger Artikel führt uns ein Bild aus dem Volksleben vor; wird auch der Schmuggel keineswegs nur von der untersten Classe ausgeübt, so hat er in ihr doch seine vorzüglichsten und meisten Vertreter. Einen Einblick in die höhere Gesellschaft, die Kreise der Bojaren, bietet uns ein anderer Artikel, den wir in einer der nächsten Nummern diesem nachfolgen lassen.

Zum Schmuggeln gehört das passende Terrain, und dieses bietet kein Gebirg in reicherem Maße als die Karpathen. Sie sind es, welche den Schmuggel zwischen dem österreichischen Siebenbürgen, dem Banat und Galizien und der rumänischen Bevölkerung der Moldau und Walachei so gewinnreich und verlockend zugleich machen.

Die Karpathen sind bekanntlich ein Rückengebirge, und man kann die Breite desselben im Durchschnitt auf neun bis zehn deutsche Meilen anschlagen. Alle Pässe derselben führen, mit Ausnahme des Rothen-Thurmpasses, den die Aluta durchströmt, aus

[565]

Rumänische Schmuggler.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz übertragen von A. van der Venne.

Rumänien in Gebirgsstrombetten empor bis zur Wasserscheide des Gebirgsrückens und dann über einen Einschnitt in denselben tief und steil abwärts in die österreichischen Lande, zu denen die Karpathen fast überall schroffer, und also auch kürzer, abfallen, als sie auf der Ostseite aufsteigen. In alle diese Pässe münden viele Seitenthäler, die wieder Seitenthäler haben und die unter sich durch unzählige Pässe, welche alle das Gepräge des Hauptpasses wiedergeben, verbunden sind. Durch diese Gestaltung sind die [566] riesigen Karpathen, deren Miniaturausgabe etwa der Thüringer Wald ist, mehr als jedes andere Gebirge für Räuber- und Schmugglerbanden geeignet. Kam es ja doch erst vor etlichen Jahren vor, daß am Berge Orezu im Prahovathal am hellen Tage mitten auf der Chaussee, die bei einer vereinzelten Kritschma (Wirthshaus) haltende und eben die Pferde wechselnde Diligence aus Bukarest von einer im Gesichte geschwärzten Räuberbande angefallen und ausgeplündert wurde. Der wackere Conducteur des Wagens hatte damals die Geistesgegenwart, den Schlüssel zum eisernen Postkasten, in dem die Werthsachen waren, unbemerkt wegzuwerfen und zu erklären, er habe ihn nie bei sich. Die Kerle versuchten zu öffnen; es gelang ihnen zwar nicht, aber sie wurden doch erst durch eine Karawane von Fuhrleuten, die eben um die Felsenwand des Orezu oben kam, in ihrem Raubhandwerk gestört.

In Rumänien benutzt man zum Schmuggeln besonders gern den walachischen Gaul, d. h. so ein Mittelding zwischen Roß und Maulthier. Uebrigens sind diese Mitteldinger gar nicht zu unterschätzen, denn in dieser Halbrace von Pferden steckt mehr Klugheit und Rührigkeit, als man glaubt. Im Gebirg sind sie wunderbar huffest, in der Ebene angetrieben wie der wilde Sturm, und aus den Augen guckt bei aller Erbärmlichkeit des Leibes ein Etwas, das zwar Träumerei scheint, aber der Gaul kennt die Verschmitztheit seines Reiters und sympathisirt mit ihm.

Unter den Schmugglern Rumäniens findet man viele, welche, aus Mischehen entsprungen, ebenso gut Ungarisch wie Rumänisch sprechen. Zwar sind Mischehen zwischen Ungarn resp. Szeklern und Walachen im Ganzen selten; dennoch findet man sie, namentlich in den sogenannten sieben Dörfern am Fuße des Piatra-Marea (Großfels) im Burzenlande, wo große Dörfer mit einer aus Sachsen, Ungarn und Walachen bestehenden, etwa zwanzigtausend Seelen zählenden Bevölkerung sich aneinanderreihen.

Das Costüm ist dann ein ziemlich zusammengesetztes; da ist z. B. der Hut szeklerisch, der Gedanke, ihn zu schmücken, auch, der tolmanartige Umwurf nicht minder; etwaiges Lederzeug um die Schulter zeigt, daß der Bursche einmal im österreichischen Militär gedient hat; das Leinwandhemd aber hat dann oft walachischen Schnitt, und ein dreifach gestickter Gurt um die Magengegend erinnert gleichfalls an die walachische Nationaltracht. Die Fußbekleidung ist aber wieder häufig – wie z. B. auf unserer Illustration – nicht walachisch, denn der Walache trägt den sandalenähnlichen Bindschuh, Bindsch genannt; unser Reiter mit dem Kopfspalter in der Faust aber hat feste Stiefeln an. Ebenso häufig findet man wieder Vollblut-Walachen mit schäbigem Filzhut, schläfrig nachdenklicher Miene, der Adlernase, und dem ganzen Habitus des durch Druck und Zwang zum Gauner gewordenen Rumänen. Der Zwang (zila), unsere ehemalige Frohnde, ist eine furchtbare Geißel des armen Volks. Ein ergreifendes Bild dieses Treibens lieferte der rumänische Dichter Cäsar Bolliac[WS 1], in deutscher Bearbeitung mitgetheilt in Rud. Neumeister’s Buche „Daheim in Deutschland und Rumänien“. Der Inhalt der Dichtung giebt uns eine wenigstens für das nothwendigste Verständniß genügende Einsicht in die Sache. In einer rauhen Winternacht werden wir in eine Erdhütte geführt. Der alte Vater liegt krank auf dem Stroh eines Bettes, die alte Mutter und die junge Tochter spinnen. Aus ihrem Gespräch erfahren wir, daß die Eltern einst Besitzer eines stattlichen Bauerngutes gewesen, daß sie aber durch den Zwang, durch bestochene Richter, um dasselbe gebracht worden seien. Der Sohn des Hauses ist schon drei Tage lang auswärts, in Folge des Zwangs auf Nachtwache. Die Tochter hat aus dem Ertrage von ihrer Hände Arbeit dem kranken, hungernden und frierenden Vater eine Mahlzeit bereitet, eine Flasche Wein erschwungen und für Feuerung gesorgt, und eben soll die Mahlzeit beginnen, da pochen zwei Dorobanzen an die Thür und herein dringt mit ihnen – der Zwang. Sie nehmen Bett, Speise und Wein für sich in Anspruch und drohen gegen jeden Widerspruch mit Mißhandlungen. Um des Vaters Hunger zu stillen und dazu ein Ei und etwas Mehl zu erbitten, eilt das Mädchen zu einer Nachbarin. Unterwegs packt sie der Knecht vom Herrschaftshofe; die Bojarentochter hält Hochzeit, da sind Hände zur Arbeit nöthig. Mit Schlägen und Stößen wird das Mädchen zum Wollekrämpeln angetrieben. Nach drei Tagen kommt sie endlich heim – der Vater ist verhungert und erfroren, die Mutter liegt im Sterben, den Bruder hatten sie zum Soldaten eingestellt – und allein steht die Waise in der Erdhütte und unter solchen Gesetzen!

In der Regel ist der durch Zwang herabgekommene Walache ein grausamer, weil feiger Haiducke, so eine Art Turco, während der Ungar als ein rechter Josika Ferenz immer muthig in die Gefahr hineinreitet. Unser Künstler hat eine Gruppe von Schmugglern dargestellt, welche durch den walachischen Grenzcordon wohlbehalten hindurch gekommen sind. Dort hatten sie nur die Maut (wama) zu umreiten, ihrer Blutegel wegen, die sich in dem Kruge befinden, den der zweite Gaul trägt, über dessen Gepäck eine grobwollene Decke gebreitet ist. Blutegel sind nämlich ein sehr wichtiger hochbesteuerter Ausfuhrartikel aus Rumänien. Rohproducte en masse, wie sie zum Handel Rumäniens gehören, Getreide, Wolle, Vieh, Schweinborsten etc. etc., führen die Schmuggler natürlich nicht aus. Nun reiten sie abwärts und nun kommt für sie die schwierigere, die eigentliche Schmuggleraufgabe. Das Bild ist vortrefflich concipirt. Es gilt jetzt die österreichischen Mauthen zu umgehen. Ich sage Mauthen, denn fast in allen Pässen giebt’s dort eine österreichische Ober- und Untermauth, zwischen denen bis zur Grenze die bewaffneten Finanzwächter, Gensd’armen in weißer österreichischer Uniform, streifen. Dann ist die Aufgabe der Schmuggler jetzt, vor Allem die Chaussee unbehelligt zu passiren, um in den Schluchten der klippenreichen waldigen Gebirgskette zu verschwinden, an deren Fuße prachtvoll die sogenannten sieben Dörfer im Burzenland liegen, von denen schon oben die Rede war. Ist das gelungen, so haben die Schmuggler ihr gewagtes Spiel zu neunzig Procent gewonnen. Zwar haben sie dann noch eine schwierige Passage bergauf, aber drüben ist auch die verborgene Waldstelle nimmer fern, wo sie die mitgebrachten werthvollen Effecten für’s Erste unterbringen. Dann reiten unsere Schmuggler ruhig in ihre nahe Heimath und grüßen die Nachbarn mit ungarisch „Jonabod!“ oder walachisch „Bune soare!“ (Guten Abend!) und Niemand, obwohl Jedermann, weiß, wo sie herkommen. Wo sie ihre mitgebrachten Sachen versteckt haben, das bleibt natürlich Geheimniß. Der Gebirgsstrom schwillt an, die Donner brechen los und der Regen strömt. Das ist „gute Witterung“ für den Josika Ferenz. „Mihai, heut’ Nacht!“ so winkt er seinem Cumpan zu, und so etwa um elf Uhr machen sie sich Beide auf. Heut’ sind sie sicher. Und so ein paar Stunden nach Mitternacht, da kommen sie wieder nach Haus und breiten ihr „Tischlein deck’ dich“ aus. Da in dem Schlupfwinkel wird dann der Thee untergebracht und dort der Kaffee und da die Dulcacea (Dulceacea, walachische Süßigkeiten) und da der Ragat (türkische Süßigkeit), dort die Alba (desgleichen), da die Levante-Früchte, dort die türkischen Manufacturen aller Art, und am sichersten verborgen wird der türkische Tabak, der gute Tutun, weil der den Rauchern auch in Siebenbürgen am besten schmeckt und in ganz Oesterreich der Tabak bekanntlich Monopol ist. Was Wunder, daß der Josika seine Abnehmer findet, die ihm gut zahlen.

Auf dem Berge Pretial auf rumänischem Boden steht ein walachisches Wirthshaus. Dort habe ich oft solche Gestalten gesehen, wie sie das Bild zeigt, nicht nur wie sie aßen und tranken und den lustigen Hora mit der Walachin tanzten, sondern auch Deutsch buchstabirten. Ueber jenem in der wildesten Wildniß Europas gelegenen Wirthshaus steht nämlich die Devise: „Zum Sohn der Wildniß.“ Die Rumänen meinen uns damit. Nun wir sind ja Barbaren – eine Mißachtung, die wir uns von dieser Seite ohne Entrüstung gefallen lassen können.

Schließlich noch die Bemerkung, daß es eine besondere Kaste von Schmugglern an der österreichisch-walachischen Grenze nicht giebt. Die Schmuggler gehören zumeist den Rumänen und Szeklern innerhalb Oesterreichs an der siebenbürgischen und ungarischen Grenze (Banat) an. Dort leben an zwei Millionen Rumänen unter Oesterreichs Krone. Uebrigens hilft Alles Schmuggeln, der Bojar und die Bojarin so gut wie die Fuhrleute und die Kaufleute, der Sachse so gut wie der Ungar und Rumäne. Die Finanzwächter sind dort sehr verhaßt und namentlich ist nichts unliebsamer als das österreichische Tabaksmonopol. Viele Hausuntersuchungen und Nachforschungen nach Contrebande kommen namentlich vor in den „sieben Dörfern“ des Burzenlandes, denn dort wird auch der meiste Schmuggel getrieben, gerade weil hier die Pässe sehr nahe und günstig für solche Züge beieinander liegen.
R. R.



[567]

Eine feste Industrie-Burg an der Nordsee.


Die Kindheitsjahre des Handels liegen weit, weit hinter uns. Nicht mehr auf einige Meßwochen beschränkt sich das Geschäft – athemlos keuchend jagt das ganze Jahr hindurch ein Tag den andern vor sich hin, alle Länder der Welt sind mit wunderbaren Banden verknüpft, im engen Ring liegen sämmtliche Handelsgebiete beisammen und an Stelle der Messen sind die großen Centralmärkte getreten, welche Jahr aus Jahr ein als Stapelplatz der Erzeugnisse menschlichen Fleißes dienen. Der elektrische Funke und der Dampf sorgen dafür, daß die kolossalen Triebräder in der Maschine des Weltverkehrs keinen Augenblick stille stehen – der alte Zwischenhandel ward zum modernen Welthandel. Wenn früher Meßfreiheit das Palladium des Kaufmannsstandes war, herrscht jetzt die zollfreie Niederlage, entweder durch gewaltige Lagerhäuser vertreten, wie die Docks von London und Liverpool, oder durch Freihäfen, wie Hamburg und Bremen, die selbst nichts Anderes sind als riesige Docks, in denen täglich Massen der kostbarsten Güter aufgestapelt werden, um von dort aus ihren Weg zu allen Zonen zu finden.

Hamburg und Bremen haben die bei den bestehenden localen Verhältnissen für ihren und also auch für Deutschlands Welthandel unentbehrliche Freihafenstellung nach langen Kämpfen und mit schweren Opfern aufrecht gehalten. Als die tief eingreifenden Ereignisse des Jahres 1866 eine neue Zeit für Germaniens Völker anbahnten, als sich mit der Abrundung des Zollvereins das einheitliche deutsche Handelsgebiet bildete, wiederholte eine nichtkundige Handelspolitik die den Schwesterstädten schon seit den Zwanziger Jahren gemachten Vorwürfe, daß sie als „Factoreien des Auslandes“ gelten, sich particularistisch von dem großen Ganzen abschließen wollten – aber stets hat das bessere Verständniß den Sieg davongetragen; die leitenden Staatsmänner Deutschlands erkannten das Mittel zur Lösung der nationalen Aufgabe der Hauptstätten des deutschen Handels als richtig an, die Freihafenstellung blieb, und mit ihr ward den Welthandelsplätzen an der Elbe und Weser der internationale Verkehr unbeengt und ungeschmälert erhalten.

An die Hansestädte und namentlich an Hamburg, den bedeutendsten Handelsplatz des europäischen Festlandes (dessen Waareneinfuhr, nebenbei erwähnt, im Jahre 1869 57,525,301 Centner im Werthe von 427,863,770 Thaler betrug), trat aber die Frage heran, wie neben dem internationalen auch dem nationalen Markte sein Recht zu wahren sei. Für den deutschen Fabrikanten oder Kaufmann, der nach der bekannten zollvereinsländischen Gesetzgebung seine Waaren nicht von Hamburg frei wieder zurückführen konnte, war es nicht rathsam, seine Erzeugnisse, namentlich die Novitäten, den Wechselfällen eines einzigen, wenn auch großen Marktes preiszugeben. Seit dem 1. Mai 1870 aber, dem Tage der Eröffnung der Zollvereinsniederlage in Hamburg, hat der Zollverein auch von diesem Freihafen für sich und seine eigensten Handelsinteressen Besitz ergriffen. Jetzt kann der deutsche Fabrikant oder Kaufmann mit dem reichassortirtesten Lager an dem Weltmarkte Theil nehmen, ohne auf den inländischen Markt zu verzichten, da er für den Fall der Zurückdisponirung seiner Waaren oder eines Theils derselben nach dem Zollverein gegen die Weitläuftigkeiten des Ursprungsnachweises und die Gefahr der Verzollung geschützt ist; die sich gegenseitig unterstützende und ergänzende Wechselwirkung zwischen dem nationalen und dem internationalen Handel bleibt in voller Kraft. Das Bestehen dieser Niederlage ist demnach von unberechenbarer Tragweite für Handel und Industrie des gesammten deutschen Zollvereins.

Der gewaltige Gebäudecomplex, dessen Abbildung den Lesern der Gartenlaube vorgeführt wird, ist einzig in seiner Art, so wegen Großartigkeit der Anlage, wie wegen Eigenthümlichkeit der Einrichtung. Wir finden im gesammten Gebiete des deutschen Zollvereins keine ähnliche Schöpfung, die sich der hamburgischen Niederlage zur Seite stellen ließe. Die in allen größeren Städten Deutschlands bestehenden sogenannten „Packhöfe“ stehen unter ausschließlicher Controle der Zollbehörden. Die in Bremen errichtete Niederlage ist etwas günstiger gestellt; dort nimmt die Verwaltung des Etablissements an der Controle Theil und hat alle Schlüssel in Händen; in Hamburg dagegen ist ein abgetrennter Bezirk des Zollvereins entstanden, dessen Grenzen die Zollbehörden bewachen; innerhalb der Enclave aber ist dem Handel und Verkehr vollkommen freie Bewegung gestattet. Die aus dem Zollverein in die Niederlage einzuführenden Waaren passiren (gewöhnlich per Hamburg-Altonaer Verbindungsbahn) unter Zollverschluß die kurze Strecke, welche sie durch das Freihafengebiet zurückzulegen haben; aber wenn sie an ihrem Bestimmungsort angelangt sind, wird das Zollschloß vom Waggon genommen und die Güter dem Empfänger ohne irgend welche lästige Zollformalitäten überliefert. Er kann die Waaren in seinem eigenen Magazin, durch seine eigenen Leute lagern und auspacken lassen, sie in größeren ober kleineren Quantitäten verkaufen und versenden; er kann ohne jede amtliche Cognition alle zur Erhaltung der Waaren und zur Erleichterung des Verkaufs geeigneten Manipulationen vornehmen und sie namentlich je nach dem Specialbedarf eines überseeischen Landes adjustiren lassen. Selbst die Betreibung eines mit dem Manufacturwaarengeschäft eng verknüpften Fabricationszweiges, der sogenannten Confection (Verarbeitung von Zeugstoffen zu fertigen Fabrikaten), sowie die Anfertigung der zur Verpackung derselben nöthigen Cartons innerhalb der Niederlage ist gestattet worden und wird hiervon lebhafter Gebrauch gemacht. Neben mehreren anderen Confectionsgeschäften existirt dort eine bedeutende Corsetfabrik, die etwa hundertvierzig Arbeiterinnen innerhalb der Niederlage selbst beschäftigt.

Eben dieselbe hohe Einsicht in die wahren Interessen der Verkehrsverhältnisse Deutschlands, welche die Zollbundesbehörden bei Constituirung der Freihafenstellung Hamburgs und Bremens geleitet hatte, trat auch bei den Verhandlungen wegen Gründung der Niederlage zu Tage. Die Niederlage gereicht dem Freihafen Hamburg, sowie dem gesammten deutschen Zollverein zu gleichmäßigem Vortheil; einer ihrer wesentlichsten Zwecke ist, sich zu der Bedeutung einer permanenten deutschen Industrieausstellung an der Nordsee zu erheben, und aller Voraussicht nach wird sie, wenn die Nachwehen des Krieges verwunden sind, das Ziel bald erreichen.

Werfen wir jetzt einen Blick auf die Gebäude, deren Bestimmung in obigen Andeutungen darzulegen versucht worden ist.

Stattlich genug nimmt sie sich aus, die auf unserm Bilde vorgeführte Hauptfront, welche dem gegenüber der Niederlage befindlichen Bahnhof der Hamburg-Altonaer Verbindungsbahn zugewandt ist, einige dreißig einzelne Gebäude, etwa achtzig Magazine (Lagerräume und Comptoire) enthaltend, zu einer einzigen großartigen in Rohbau ausgeführten Façade verbunden. Das in der Mitte liegende, mit einer Kuppel gekrönte Gebäude ist das Zollamt; neben demselben haben ein Post- und ein Telegraphenbureau Platz gefunden. Die gesammten Baulichkeiten bilden ein leicht verschobenes, etwa fünfhunderttausend Quadratfuß großes längliches Viereck, dessen eine Seite unsere Leser vor sich haben; die dieser gegenüber liegende Seite wird von dem großen allgemeinen Lagerschuppen eingenommen, von welchem nachher die Rede sein soll. Die eine der beiden kürzeren Seiten wird von mehreren einzelnen größeren Gebäuden, Magazine und Fabrikräumen enthaltend, ausgefüllt, die andere von dem großem Bahnhofsschuppen gebildet, von welchem Punkte aus die Niederlage durch die Schienen der Verbindungsbahn mit den Verkehrswegen aller Art land-, fluß- und seewärts in Berührung steht. Nur diese Gebäude selbst bilden die Zollgrenze; Mauern, Gräben oder Planken sind nicht vorhanden. Die nach außen gehenden Parterrefenster sind mit einem leichten zierlichen Drahtgewebe versehen, dessen rautenförmiges Muster recht gut mit dem Rohbaustil übereinstimmt.

Hat man eins der von höflichen Zollbeamten in ihren kleidsamen Uniformen beaufsichtigten Thoren durchschritten, so befindet man sich inmitten des geräumigen Vierecks, das noch freien Raum für den in Aussicht genommenen Bau von weiteren vierzig Häusern bietet. Größere unbebaute Flächen in nächster Umgebung der Niederlage sichern auch für fernere Vergrößerung noch Raum. Die inneren Façaden sind in Cementputz ausgeführt. Die abgebildete Rohbau-Façade liegt an der Nordseite; für die nach den übrigen Himmelsgegenden blickenden Fronten wurde auf Wunsch einiger der Mieter der helle Putz vorgezogen, weil durch die auf rothen Ziegelsteinen reflectirenden Sonnenstrahlen die Beurtheilung der Farben der Manufacturwaaren beeinträchtigt werden würde.

[568]

Die Zollvereins-Niederlage in Hamburg.

Die einzelnen Lagerräume und Comptoire, in denen der Miether vollkommen freier Herr wie im eigenen Hause ist, sind solide, einfach und praktisch ausgeführt; selbst in Hamburg finden sich wenige Waarenlager, die den hier vorhandenen zur Seite gestellt werden könnten. Diese theils zwei-, theils dreistöckigen Gebäude haben mindestens vierzig Fuß Front und fünfzig Fuß Tiefe. Um so viel wie irgend thunlich an Platz zu ersparen, sind innerhalb der einzelnen Gebäude fast gar keine Scheerwände gezogen; gußeiserne Träger stützen die Deckenbalken. Auf diese Weise sind die, nebenbei bemerkt, selbst in den Kellerräumen außerordentlich trockenen Magazine so geräumig und bequem angelegt, wie nur möglich, und der Miether kann sich das Lager einrichten, wie es ihm am besten paßt. Daß praktische Vorrichtungen zum Aufwinden von Waaren nicht fehlen, versteht sich von selbst.

Wer keine eigenen Lagerräume in Miethe nehmen will, lagert seine Güter in dem großen allgemeinen Lagerschuppen, der unter Aufsicht der Verwaltung der Niederlage steht, und zahlt eine billige monatliche Lagermiethe nach Verhältniß des benutzten Raumes. Der allgemeine Lagerschuppen ist zweiundvierzig Fuß breit, tausend Fuß lang und bietet somit in Keller und Parterre einen Lagerraum von circa vierundachtzigtausend Quadratfuß Flächeninhalt. Die gewaltige Länge des Schuppens erregt das Staunen des Besuchers, der ihn in seiner ganzen Ausdehnung durchwandert; das Gebäude ist, wie aus dem Gesagten hervorgeht, fast eben so lang, wie die auf unserer Illustration dargestellte Hauptfronte. Der Baugrund senkt sich sanft von Osten nach Westen; der Schuppen ist daher in mehrere Abschnitte getheilt, die durch schiefe Ebenen mit einander verbunden sind. Wenn man die Wanderung durch den Schuppen beendet hat und sich umdreht, um den Blick durch das Gebäude in seiner ganzen Länge schweifen zu lassen, glaubt man eine meilenweite Perspective vor sich zu haben, so sehr verstärkt das Gefälle des Baugrundes den Eindruck.

Längs des Schuppens läuft ein vom Bahnhofe sich abzweigender Schienenstrang, so daß die Güter unmittelbar aus den Waggons in den Lagerschuppen übergehen können; der Kaufmann wird wissen, welche bedeutende Summen hierdurch erspart werden. Der eiserne Dachstuhl, auf welchem ein Zinkdach ruht, zeichnet sich durch eine von Fachmännern als genial gerühmte Construction aus.

Der Schuppen wird nur zur Lagerung von Massengütern benutzt; auch zollfreie Güter, wie Wolle, Baumwolle, Getreide, Lumpen und dergleichen mehr, werden hier gelagert, und zwar wegen des umfangreichen zusammenhängenden Raumes, wie sich so vorzüglich den Wünschen des Kaufmannes entsprechend selbst in der Handelsmetropole Deutschlands kein zweiter findet. Diese Räume werden auch namentlich zur Lagerung von sogenannten bonificationsberechtigten Gütern verwandt, d. i. solchen Industrieerzeugnissen, wie Sprit, Zucker etc., die im Zollverein einer Besteuerung des Rohmaterials unterworfen sind und, wenn sie in’s Ausland geführt werden, auf Rückvergütung der Steuer Anspruch machen können – eine Maßregel, die der deutschen Industrie im Kampfe mit der ausländischen gleiche Waffen sichert. Dergleichen bonificationsberechtigte Güter müssen unter Verschluß der Niederlageverwaltung [569] gehalten werden, die hierfür, wie überhaupt für die ihr zur Lagerung im allgemeinen Lagerschuppen übergebenen Waaren, Niederlagsscheine nach Art der englischen „Warrants“ ausgiebt. Die Commandit-Gesellschaft Julius Horwitz belehnt bereits diese Niederlagsscheine ohne alle Formalitäten und die Hamburger Banken sollen auch dem Vernehmen nach dergleichen Geschäfte in gleicher Weise wie genannte Firma gern acceptiren, eine Einrichtung, die besonders dem deutschen Zucker- und Spritgeschäfte große Erleichterungen gewähren wird. Der deutsche Industrielle nimmt lieber von einer großen Commandit-Gesellschaft oder von der Bank einer Welthandelsstadt Vorschüsse auf seine Erzeugnisse, als von einer Provinzialbank, in deren Vorstand vielleicht seine Concurrenten Sitz und Stimme haben und auf diese Weise gewissermaßen Einsicht in seine pecuniären Verhältnisse erhalten. Welcher Vortheil für den Spinnerei- oder Webereibesitzer, wenn er bei günstigen Zeitverhältnissen große Einkäufe von Baumwolle machen, sie hier lagern und den Werth der Waare sofort wieder auf „Warrants“ entnehmen kann, um später nach Belieben über den Vorrath zu disponiren! Mit einem Minimum von angelegtem Capital kann er sich seinen Bedarf an Rohmaterial für Jahre hinaus sichern.

Wir hoffen in obigem kurzen Abriß unseren Lesern einen ungefähren Begriff von der Bedeutung der Zollvereinsniederlage Hamburg für das gesammte deutsche Verkehrsgebiet gegeben zu haben. Und wie groß diese ist, dafür spricht schon der Umstand, daß sich gleich in der ersten Zeit nach der Eröffnung (Mai 1870) weit über hundert Firmen als Miether meldeten, zu denen inzwischen noch innerhalb der kurzen Zeit des Bestehens des Etablissements, trotz der Kriegswirren, noch etwa sechzig hinzugetreten sind. Die vom Freihafengebiet umgebene Insel des Zollvereins wird von diesen Ansiedlern mit dem regsten Leben und Treiben erfüllt. Das Comptoirpersonal von verhältnißmäßig so zahlreichen Firmen, die hierher kommenden Käufer, die Hunderte von Arbeitern und Arbeiterinnen, welche theils in den Magazinen, theils in den verschiedenen Fabriken beschäftigt sind, prägen durch den stets lebendigen Verkehr dem Etablissement einen ganz eigenthümlichen Charakter auf, der von demjenigen der übrigen, ganz anders organisirten Niederlagen im Zollverein durchaus verschieden ist.

Innerhalb dieses in nächster Nähe des bekannten Hamburger Zoologischen Gartens belegenen neuen kleinen Stadttheils, der vom Mittelpunkte der inneren Stadt, der Börse, nur etwa fünfzehn Minuten entfernt ist, haben ferner außer dem Zollamte, den Post- und Telegraphenbureaux noch kleinere Geschäfte verschiedener Art, z. B. ein Restaurateur, Räume in Benutzung genommen. Schon bei Gründung der Niederlage seitens einer Actiengesellschaft wurde von dieser in Betracht gezogen, daß bei späterem starken Fremdenverkehr ein Hôtel in unmittelbarer Nähe der Niederlage vorhanden sein müsse. Dasselbe, für Rechnung der Gesellschaft hart an dem Bahnhofe der Verbindungsbahn erbaut, ist jetzt seiner Vollendung nahe und das monumentale, im Innern prachtvoll ausgestattete Gebäude gereicht durch seine imposanten architektonischen Formen der ganzen Umgegend zur Zierde.

Die Mehrzahl der bisher eingezogenen Firmen gehört dem Handelsstande Hamburgs an; zweifellos werden auch Handel und Industrie des deutschen Binnenlands bald durch hervorragende Namen hier vertreten sein. Das Recht zur Benutzung der Niederlage steht allen dem Deutschen Reiche Angehörigen unter gleichen Bedingungen zu.

Für Elsaß und Lothringen wird die Niederlage von ganz besonderer Wichtigkeit sein. Der hervorragenden Industrie der neuerworbenen Provinzen bieten sich hier erhebliche Vortheile, welche auszubeuten die bekannte Intelligenz der betreffenden Kreise nicht ermangeln wird. Für ihren bedeutenden Export öffnet sich der großartige Weltmarkt, der Absatz nach dem Binnenlande wird nicht durch Zollschranken gehindert – Bedingungen, welche so vortheilhaft nirgends anderswo vorhanden sind.

Die Niederlage ist von einer Actiengesellschaft mit einer Million Thalern Gründungscapital, wovon bisher siebenhunderttausend Thaler eingezahlt sind, errichtet; der hamburgische Staat betheiligte sich bei Zeichnung der Actien mit dreihundertdreiunddreißigtausend Thalern und gab das Terrain unentgeltlich her. Die sich in jeder Beziehung ausgezeichnet bewährende bauliche Ausführung leitete der hamburgische Architekt Hugo Stammann. Was die gesammte Anlage, ihre Conception und ihre Durchführung trotz mannigfacher Hemmnisse, zu deren Beseitigung es voller drei Jahre bedurfte, betrifft, so sind die Bestrebungen der patriotischen Männer, welche nach wackerer Arbeit dies Haus unter Dach und Fach brachten, vom schönsten Erfolg gekrönt worden. Das vorgesteckte Ziel ward erreicht, dem Zollverein ist innerhalb seines Freihafengebiets eine Freistätte für die Erzeugnisse seiner Industrie begründet und die directeste Betheiligung am großen Weltmarkte Hamburgs gesichert. Das Etablissement ist in einer der bei der feierlichen Eröffnung am 1. Mai 1870 gehaltenen Reden, wegen der Abwesenheit aller unnöthig den Verkehr beengenden Formen, mit Recht der echte Sprößling aus der Ehe, welche der Zollverein mit der Freihafenstadt eingegangen ist, genannt worden, und dieses Wort ist eingetroffen.
G. K.




Soldat und Sänger.
Ein Bild aus den Münchener Einzugsfeierlichkeiten.


Ein Heer von Gasflammen erfüllte am Abend des 17. Juli 1871 mit blendendem Glanze jene Hälfte des Glaspalastes zu München, welche für das Banquet, das die Stadt den Officieren der Tags vorher festlich eingezogenen siegreichen Truppen gab, abgegrenzt worden war. Glänzend in zweifacher Bedeutung des Wortes war aber auch die Gesellschaft, die sich in diesem reichgeschmückten Raume versammelte, und, fast verschwindend unter der Menge besternter und bekreuzter Uniformen, waren nur die Inhaber der verschiedenen Gemeindeämter und Würden und die Männer der Presse im schmuck- und geschmacklosen Frack.

Trotz der Liebenswürdigkeit des deutschen Kronprinzen und der übrigen fürstlichen Gäste begann doch die eigentliche Festlust erst, nachdem diese sich verabschiedet hatten. Erst von da an gab sich Jeder mit völliger Ungezwungenheit dem Genusse des Augenblickes hin. Die Flaschen kreisten rascher, der schäumende Champagner äußerte seine lösende Wirkung auf die Zungen, sowohl im engeren Gespräche unter den nächsten Tischgenossen, als in ernsten und launigen Trinksprüchen, die nun manch Einer loslegte, der es sonst vermeidet, öffentlich eine Rede zu reden.

An einer der Festtafeln saß mitten unter lauter Söhnen des Mars ein „Bürger bei der Stadt“ (Bürger im engeren Sinne, Vollbürger), dessen stattliche Leibesumrisse deutlich darthaten, daß es ihm in diesem irdischen Jammerthale gar nicht schlecht ergehe. Sein Vater sel. war ein Preuße gewesen, und das mag wohl die Ursache sein, daß der wohlbeleibte Sohn, ein ehrsamer Handschuhmacher und Mitglied des Raths der Stadt München, in der Geschichte Preußens und seiner großen Männer vorzugsweise bewandert ist. Heute besonders gemüthlich angeheitert, ist er eben im besten Zuge mit seiner lebhaften Schilderung der Waffenthaten des alten Fritz und der Kriegsabenteuer seiner Generale, besonders Ziethen’s mit seinen Husaren, deren Epigonen in den Kämpfen gegen den corsischen Eroberer sich nicht minder mit Ruhm bedeckten. Da kann ein alter Herr mit weißem Haupthaar und ditto Vollbart, der im rothen, verschnürten Husarenrocke in der Nähe sitzt, sich nicht länger halten. Freudig bewegt, „gedenkend jener Herrlichkeit“ längst entschwundener Ruhmestage, springt er auf. „Bei den Ziethenhusaren bin ich ja auch gewesen, habe die Befreiungskämpfe mitgeschlagen und bin Anno dazumal auch als Sieger mit in das französische Babel eingezogen, wie in unseren glorreichen Tagen, die noch mitzuerleben mir der Herr gegönnt hat, Sie, meine werthen Herren Cameraden,“ ruft der rüstige Graubart, stürzt dann auf den Gevatter Handschuhmacher zu und streckt ihm mit den Worten die Hand entgegen: „Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle – Baron Elsholtz, dereinst Rittmeister im dritten Ziethen-Husarenregimente!“ Nun ging’s los. Kaum hatten die beiden Männer, Jeder ein Braver in seiner Art, sich herzhaft die Hände geschüttelt, als der weiland Husar von einem dichten Kreise von Kriegern sich umringt sah, die Alle dem alten Helden in das noch jugendfrische Auge sehen und ihn begrüßen wollten.

[570] In mir aber tauchten in diesem Augenblicke noch andere Erinnerungen auf. Elsholtz – der Name ist ja auch nicht unbekannt auf dem deutschen Parnaß! Kenn’ ich doch feine, geistreiche Lustspiele, attischen Witzes voll, und so manches frische, kernige Lied aus der gewandten Feder des alten Herrn, dessen schon Meister Goethe rühmend gedacht, und dessen poetische Ader heute noch nicht versiecht, der aber trotzalledem seit Jahren so viel wie verschollen ist. Wie kommt das? Er hat es wohl verschmäht, für sich Reclame zu machen, er hat sich in keine Ruhmesassecuranz-Gesellschaft auf Gegenseitigkeit aufnehmen lassen, und so ward er, der „zugleich ein Dichter und ein Held“, vergessen. Sein Stern erbleichte am deutschen Dichterhimmel, während so mancher Versifex, der sich selbst Dichter nennt und nennen läßt, ohne auch nur ordentlich Deutsch zu können, es zu einem „Renommée“ bringt, das freilich nur Ignoranten für baare Münze nehmen. Doch der heutige Abend hat ihn der unverdienten Vergessenheit entrissen.

Aus diesen Gedanken weckt mich eine gewaltige Rednerstimme. Ein hoher Militärbeamter hat eben einen der Tische bestiegen und bringt auf den rothen Husaren in begeisterten Worten einen Toast aus. Einen wesentlichen Antheil – ist der Grundgedanke seiner Rede – an der nationalen Erhebung und an der Befreiung des deutschen Vaterlandes vom fremden Tyrannen habe die damalige deutsche Jugend gehabt, und nicht minder habe ihr durch Körner und andere vaterländische Sänger im Liede verherrlichtes Beispiel zur Belebung und Kräftigung des Nationalgefühls unserer heutigen Jugend und dazu beitragen, daß diese mit gleicher Begeisterung auszog in den Kampf für des Vaterlandes Freiheit, Größe und Ehre und gegen denselben Feind gleich große Thaten vollführte. Es werde damit gewiß jeden Theilnehmer des schönen, erhebenden Festes erfreuen, zu vernehmen, daß Einer, der theilgenommen an jenen Siegen vor mehr als einem halben Jahrhundert, anwesend sei, und diesem Veteranen aus jener denkwürdigen Zeit zu Ehren fordere er die Versammelten auf, das Glas zu leeren.

„Hoch! hoch!“ und nochmal „hoch!“ schallt es aus Hunderten kräftiger Männerkehlen, und von diesem Augenblicke an ist der Veteran von 1813 der Gegenstand der allgemeinen, lebhaftesten Huldigung, der nunmehrige Mittelpunkt des Festes; Jeder will ihm die Hand drücken, Jeder ihm zutrinken. Er nimmt selbst das Wort und fügt an seinen Dank den Vortrag eines launigen Trinklieds. Man herzt und küßt ihn, Bürger laden ihn ein, sie in ihren Behausungen zu besuchen, wo auch ihre Frauen ihn begrüßen könnten; von einem Punkte des Saales zum andern wird der Veteran geschleppt, überall will man ihn haben, und so taucht der rothe Husar bald da, bald dort auf aus dem Kreise der ihn Umdrängenden, in der hoch erhobenen Hand den schlanken Kelch mit dem perlenden Schaumwein, womit er den ihm Zutrinkenden Bescheid thut, – ein unverwüstlicher Zecher, als stünde er noch im Mai seines bewegten Lebens. Und das ging so fort, bis der anbrechende Morgen mahnte, das Gelage zu enden. Man brach auf, und Viele steuerten auf dem Heimwege einen ziemlich schiefen Curs. Unserem Helden gab eine große Schaar seiner neuen Verehrer das Geleite, und Einige wollten ihn durchaus führen. Er aber wollte zeigen, daß er keiner Führung bedürfe, und der Beweis gelang, wenn auch der Schritt des alten Herrn nicht mehr ganz sicher, sondern durch die eben durchgemachte Zechcampagne etwas aus dem Gleichgewicht gebracht war.


Die Tage der Einzugsfeierlichkeiten waren vorüber, das Alltagsleben wieder in seine Rechte getreten. Für diejenigen geplagten Menschenkinder, die als Mitarbeiter der Tagespresse – vulgo Zeitungsschreiber –, um ihrer Berufspflicht zu genügen, nicht nur an all’ den verschiedenartigen Festlichkeiten Theil nehmen, sondern auch darüber eingebend Bericht erstatten mußten, waren diese Tage doppelt anstrengend gewesen und eine geistige und körperliche Abspannung die naturnothwendige Folge hiervon. So ging es auch mir, und ich dachte: ein Tag, tüchtig ausgenutzt, wird genügen, die erschlafften Kräfte wieder zu beleben, und so wanderte ich denn alsbald an einem herrlichen Morgen mit einem das gleiche Bedürfniß fühlenden Collegen nach dem Bahnhofe, um einen Ausflug nach dem Starnbergersee zu machen. Ohne einen bestimmten Feldzugsplan, lediglich froh, wieder einmal frische, reine Luft zu athmen, bestiegen wir in Starnberg einen Kahn und ließen uns zuerst nach Berg, dem bekannten königlichen Schlosse, hinüberrudern. Als wir so auf dieses unser nächstes Ziel lossteuerten, fiel uns ein anmuthiges Landhaus in’s Auge, das zwischen den das ansteigende Ufer bedeckenden Bäumen von der Höhe so einladend herunterlugte, daß es in uns die Lust erweckte, es näher zu betrachten und auch zu sehen, wer wohl darin hausen möge.

Gedacht, gethan. In Berg angelangt, stiegen wir den steilen Waldpfad hinan, und als wir die Höhe erreicht hatten, sahen wir uns vor einer Villa, die, von Blumenbeeten und Parkanlagen umgeben, auf ihrer Schwelle die Inschrift „Salve!“ zu tragen schien, wie wir denn auch schon auf dem Wege durch Mittheilungen der ländlichen Umwohner belehrt worden waren, daß jeder fremde Besuch dem gastfreundlichen Besitzer willkommen sei.

So traten wir durch das offene Pförtlein, welches die Umzäunung des Anwesens unterbrach, ohne Bedenken ein und sahen uns bald von einem bejahrten Herrn begrüßt, der in noch strammer Haltung sich mit der freundlichen Frage, was ihm das Vergnügen verschaffe, sich als den Herrn des Landsitzes kundgab. Aber diese Züge mußten wir schon einmal gesehen, diese Stimme schon früher gehört haben und zwar vor ganz kurzer Zeit. Und so war es. Während wir über unsere Persönlichkeiten Aufschluß gaben und den Zweck unseres Eindringens in sein Besitzthum nannten, fiel es uns wie Schuppen von den Augen: der hier vor uns stand, war ja – frohe Ueberraschung! – unser Banquetgenosse, der greise Ziethenhusar, frisch und lebhaft wie bei jener Festkneiperei. Der Alte vom Berge, in den sich der rothe Husar verwandelt hatte, war nicht minder, als wir, erfreut über dieses unerwartete Zusammentreffen, das Gelegenheit gab zum Austausch der beiderseitigen Erinnerungen an die im Glaspalaste zu München verlebten schönen Stunden. Unter seiner Führung promenirten wir nun in den weitläufigen Gartenanlagen, an deren Ende ein höchst origineller Kegelbahnbau unsere Aufmerksamkeit fesselte, dem ein mächtiger, wohl mehrhundertjähriger Eichbaum als Mittelpunkt und Stütze dient; besichtigten dann das Wohn- und Nebenhaus, wo wir wie überall mit dem feinsten Geschmacke in der Ausstattung die größte Einfachheit verbunden fanden; zuletzt erstiegen wir auch den Thurm, der eine entzückende Ausschau über die Alpenkette bis tief in das Salzburger Land hinein bietet.

Uns schien es nun Zeit uns zu verabschieden, unser Führer dagegen meinte, daß wir unsern Zweck vor der Hand nur halb erreicht hätten, weil zwar sein Haus und Garten nicht aber er selbst uns näher bekannt geworden sei. Und siehe, eine Flügelthür ward geöffnet und ein gedeckter, mit Flaschen und Speisen wohlbesetzter Tisch sichtbar, an welchem wir der herzlichsten Nöthigung gegenüber ohne allzu langes Widerstreben Platz und dann an dem kräftigen und pikanten Imbiß Theil nahmen, der nach dem Spaziergange ein gar angenehmes Labsal bot. Nachdem wir mit den trockenen Bestandtheilen reine Arbeit gemacht hatten, wurde noch energischer jenen flüssigen Stoffen zu Leibe gegangen, deren berechtigte Eigenthümlichkeiten schon in classischen Alterthum die gebührende Würdigung gefunden haben. Die Unterhaltung, die während der angestrengten Thätigkeit der Eßwerkzeuge sich nur in eingestreuten kurzen Bemerkungen geäußert hatte, floß nun rasch dahin wie das Bächlein, das unweit des Elsholtz’schen Besitzthums dem See zueilt, und unser jovialer Wirth entwickelte wieder jene jugendliche Lebhaftigkeit, die wir schon beim Festbanquet an ihm bewundert hatten, indem er bald amüsante Erlebnisse und lustige Streiche aus seinen Jugendjahren schilderte, bald in satirischen Glossen über politische, literarische, Bühnen-Zustände u. s. w. mit seinen Gästen wetteiferte.

Mein Wunsch, von den Schicksalen und dem Lebensgange unseres Gastfreundes mehr zu erfahren und zwar aus seinem eigenen Munde, wuchs durch all’ das immer mehr. Und ich gab ihm denselben durch die Bemerkung zu erkennen: „Wollen Sie, verehrter Herr Baron, unserem Verlangen, Sie selbst näher kennen zu lernen, vollständige Befriedigung verschaffen, so müssen Sie uns ein Bild von Ihrem Lebenslauf entwerfen; ich bitte also darum.“

„Wenn ich,“ erwiderte er, „von einer so bewegten, ereignißreichen Laufbahn, wie ich sie zurückgelegt habe, von meinen Wanderungen, Abenteuern und Bekanntschaften mit den bedeutendsten Persönlichkeiten des Jahrhunderts Ihnen nur die Umrisse zeichnen wollte, so müßte ich, da das Alter“ – fügte er lächelnd bei – „geschwätzig macht, Ihre Geduld auf eine starke Probe stellen. [571] Aber ich sehe schon, ich komme Ihnen doch nicht mehr aus; also sei es denn! Den Kaffee wollen wir aber, da der Tag so schön, und Sie jedenfalls nicht aus der Stadt herausgekommen sind, um auch hier in der Stube zu sitzen, im Freien trinken. Kommen Sie!“ Und er führte uns in die nach dem See zu gelegene Veranda, wohin inzwischen ein Diener den Kaffee und frisches Wasser brachte. Es ist ein reizendes Plätzchen, diese Veranda. Eine breite Lücke in dem grünen Blätterdache der Bäume, welche den wenige Schritte vor derselben abfallenden Berghang bekränzen, läßt das Auge über ein Stück des vom Strahle der Nachmittagssonne beschienenen blauen Seespiegels nach dem jenseitigen Gestade mit den zahlreichen Villen von Niederpöcking – von boshaften Zungen „Protzenhausen“ genannt – schweifen, während südwärts über die dortigen Baumgruppen hin einige schneebedeckte Häupter des Hochgebirges sichtbar sind. Nachdem wir eine Weile in stiller Beschaulichkeit das Auge an dem Anblick der herrlichen Wunder der Schöpfung geweidet, indessen unser Wirth die Tassen mit dem duftenden, braunen Mokkatranke gefüllt hatte, brannten wir Gäste uns Jeder einen Glimmstengel an. Der Baron aber, der auf unsere Frage, ob ihm nicht auch eine Cigarre beliebe, erklärte, daß er dem Genusse des – mit dem Gesundheitsapostel Ernst Mahner zu reden – „stinkgiftigen Schmauchkrautes“ nicht fröhne, ging nun an die gewünschte Erzählung seiner Erlebnisse.

„Bei der Erhebung des preußischen Volkes“ – begann er – „im Jahre 1813 bin ich, ein kaum achtzehnjähriger Jüngling, noch vor Vollendung meiner Studien dem Rufe des Vaterlandes folgend, als Freiwilliger in das dritte Ziethen-Husaren-Regiment getreten, habe an den Schlachten und Gefechten von der Katzbach bis an den Rhein Theil genommen und als Mitglied des vor der Schlacht bei Leipzig gebildeten Streifcorps unter Führung der Generale v. Thielemann und Orloff-Denisow die vielfachsten Mühen, Wagnisse und Gefahren bestanden, mich aber hiefür durch mancherlei Lustbarkeit und Gewinn entschädigt gesehen. Was ich damals durchgemacht, ist aus meinen zur fünfzigjährigen Jubelfeier der Leipziger Schlacht herausgegebenen ‚Veteranen-Liedern‘[1] – zu entnehmen. Durch mein geringes Gesangstalent und den Vortrag von mancherlei Liedern in verschiedenen Sprachen erwarb ich mir aber auch nicht blos den Beifall der Cameraden am Wachtfeuer, sondern auch die Gunst der Vorgesetzten und machte mich nicht selten eines Platzes an der wohlbesetzten russischen Generalstafel theilhaftig. Ebenso trug meine diensteifrige Verehrung für das schöne Geschlecht in Städten und Dörfern mir manche liebliche Frucht und verschaffte mir im damaligen Hauptquartier der verbündeten Monarchen zu Frankfurt am Main die Beiziehung zu den höchsten Cirkeln, wo der einfache Freiwillige in seinem abgeschabten Husaren-Pelze im Beisein von Kaisern und Königen und zum höchsten Erstaunen der gold- und silberfunkelnden, bekreuzten, besternten und bebänderten Umgebung von den schönsten Frauen sich mit Aufmerksamkeiten und Liebkosungen überhäuft sah.

Unter solchen Vorgängen aber,“ fuhr der Erzähler fort, „war der Freiwillige zum Officier befördert und einer neuen Bestimmung überwiesen worden, deren Antritt jedoch vor der Hand ihm versagt blieb, indem ich bei Ueberschreitung des Rheines am 1. Januar 1814 durch eine Verwundung am rechten Arme an der Fortsetzung des Marsches gehindert wurde. Diesseits des Stromes zurückgehalten, um meiner Heilung obzuliegen, nahm ich abwechselnd in Darmstadt und Frankfurt am Main meinen Aufenthalt. War derselbe auch ein unfreiwilliger, so entbehrte er doch keineswegs Annehmlichkeiten, besonders in Folge der mancherlei dort angeknüpften Bekanntschaften; unter diesen erwähne ich nur die mit dem berühmten Componisten Abt Vogler, welcher ein von dem Verwundeten gedichtetes Kriegslied in Musik setzte, dann mit Bürger’s Gattin und mit Helmine v. Chezy. Im März desselben Jahres war ich endlich wieder so weit hergestellt, daß ich unserer in Frankreich stehenden Armee nachfolgen und an ihrem Einzug in Paris Theil nehmen konnte. Im Juni in das Vaterland zurückgekehrt, führte mich der in Folge der Entweichung Napoleon’s von Elba wieder ausgebrochene Krieg abermals in’s Feld und im Juni 1815 zum zweiten Male nach Paris. Im August machte ich dem stolzen Albion einen Besuch und hatte in London die Ehre, dem Prinz-Regenten vorgestellt zu werden. Nach abermaliger Rückkehr in die Heimath suchte und fand ich eine Civil-Anstellung und zwar bei der Regierung in Köln, womit die Ernennung zum Officier bei der rheinischen Landwehr-Cavallerie verbunden war. Da jedoch diese Stellung meiner Neigung zu dichterischer Thätigkeit zu wenig Befriedigung gestattete, so gab ich dieselbe nach sechsjähriger Dauer wieder auf.

Ein Cur-Aufenthalt in Marienbad verschaffte mir das Glück, nicht blos Goethe’s Bekanntschaft zu machen, sondern auch, mit ihm unter einem Dache wohnend, täglich in seiner Nähe und bei den Abendgesellschaften Carl August’s von Weimar Zeuge der tiefen Neigung des siebenzigjährigen Dichterfürsten für Fräulein v. L. zu sein. Von seinen Rathschlägen und Segenswünschen begleitet, bereiste ich dann Italien, Sicilien und kehrte über Frankreich nach mehr als einjähriger Wanderung nach Deutschland zurück.

In Berlin ward mir im Jahre 1825 die Freude, mein Lustspiel ‚Kommt her!‘ auf dem dortigen königlichen Theater zur Aufführung kommen und in wenigen Wochen über ganz Deutschland verbreitet zu sehen. Meine Tragödie ‚König Harald‘ wurde gleichfalls angenommen, die Darstellung jedoch nach inzwischen erfolgtem Intendanten-Wechsel nicht weniger als neun Jahre lang hinausgeschoben. Ein anderes Lustspiel ‚Die Hofdame‘, welches ich in Italien geschrieben hatte, veranlaßte Goethe, nachdem ihm durch meine Berliner Freunde ein Exemplar zugekommen war, zu einem anerkennenden Schreiben an mich, welches hinwiederum die Quelle eines einjährigen Briefwechsels wie auch andauernden persönlichen Verkehrs zwischen uns wurde. Im nächsten Jahre ging ich nach München, wo ich schon zwei Jahre vorher einen auf acht Tage, zum Besuche des Octoberfestes, beabsichtigten Aufenthalt im Wechsel literarischer Arbeiten mit Zerstreuungen aller Art auf ebenso viele Monate ausgedehnt hatte, und übernahm daselbst die Redaction der Zeitschrift ‚Eos, Blicke auf Welt und Kunst‘, die ich im October 1828 mit der Leitung des Hoftheaters zu Gotha vertauschte, welche ich jedoch gleichfalls bald wieder niederlegte. Nachdem ich auch nach diesem Rücktritte meinen Aufenthalt mehrfach gewechselt, und inzwischen die Gräfin Josephine v. Törring-Seefeld mir Herz und Hand gereicht hatte, ward mir im Jahre 1837 die Vertretung der sächsischen Herzogthümer am Münchner Hofe übertragen, deren ich im Jahre 1852 auf eigenes Verlangen enthoben wurde. Nun aller dienstlichen Bande los und ledig, gründete ich mir nach meinen vielen odysseischen Irrfahrten auf diesem Fleck Erde hier, wo ich jetzt, wie Sie sehen, festsitze, ein eigenes Heimwesen und genieße auf demselben ein otium cum dignitate, indem ich nach Lust und Laune mich bald mit literarischen Arbeiten beschäftige, bald meinen Kohl und andere Dinge baue, zum Beispiel absonderlich ausgestattete Kegelbahnen, wie Sie gleichfalls gesehen haben.

Damit bin ich nun zu Ende.“

„Aber auch die Sonne,“ bemerkte ich, einen Blick nach Westen werfend, „wird mit ihrem heutigen Tagewerk bald zu Ende sein. Sie steht schon hübsch niedrig, und es ist daher an der Zeit, daß wir aufbrechen und nach Leoni hinunterwandern, um das Dampfboot, das uns wieder heimführen soll, nicht zu versäumen.“

Unser liebenswürdiger Gastfreund ließ es sich nicht nehmen, uns auch noch das Geleite dahin zu geben. In Leoni angelangt, hatten wir noch so viel Zeit, um in dem dortigen Wirthsgärtchen, welches die Wellen des Sees bespülen, ein Glas Bier zu trinken, und so saßen wir denn noch eine kleine Weile beisammen, bis das Dampfboot heranbrauste und zum Abschied drängte. Mit einem herzlichen Händedrucke lud uns der Baron ein, ihn in seinem Tusculum recht bald wieder zu besuchen, und dahin fuhren wir nun, dem ungemüthlichen Treiben und Drängen in der staubigen Stadt wieder entgegen, doch voll freundlicher Erinnerungen an die Stunden, die wir zugebracht beim Alten vom Berge, dem Veteranen aus den Befreiungskämpfen.
Eugen Gugel.



[572]

Straßen-Execution nach der Einnahme von Paris.
Nach einer Bleistiftskizze von F. W.

[573]
Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.
Nr. 9. Aus den Aufzeichnungen einer Pflegerin. II.


Auf einem freien Platze voll großer Bäume in Ars sur Moselle stand das zum Lazareth eingerichtete Schulhaus, ein so schönes großes Gebäude, wie ich in einem deutschen Dorfe kein ähnliches gefunden. Deutsche Hülfe mangelte noch; man war genöthigt, von der Gemeinde bezahlte französische Wärter und Wärterinnen anzustellen, letztere zum großen Theil die Demoralisirtesten unter der demoralisirten Fabrikbevölkerung. Wie schlecht die Kranken, besonders die Deutschen, in solchen Händen gepflegt, welche schmutzigen Scenen vorgekommen, ist leicht begreiflich, ebenso wie die Freude des Doctors, endlich deutsche Pflegerinnen für seine Patienten zu erhalten. Jede von uns erhielt einen der vier Säle angewiesen. Der weibliche Doctor bat sich sofort die Schwerverwundeten und Amputirten aus und erhielt den Parterresaal des linken Flügels, wo sie alsbald begann, Wärter und Wärterinnen umherzujagen und sie mit allen möglichen Aufträgen in geziertem Französisch zu überschütten. Nie habe ich ein größeres Talent in Ausnutzung ihrer Umgebung gesehen als in diesem Frauenzimmer. Froh, auf einige Zeit von ihr befreit zu sein, folgten wir dem Stabsarzt in die übrigen Säle. Saal Vier in der Beletage des rechten Flügels ward mir zugewiesen. Vor allen Dingen mußten die beiden Wärterinnen entfernt werden, sollten die Kranken die ihnen nöthige Ruhe haben. Die Aeltere der Beiden, eine Person mit dreistem Wesen, falschem Chignon auf dem sorgfältig frisirten Haupte und zerrissenen Schuhen an den Füßen, wurde auf ihre Bitten einstweilen beibehalten, mußte indeß nach einigen Tagen in Folge obscöner Vorfälle entlassen werden. Die Jüngere, kaum sechszehn Jahre alt, indessen weit gemeiner und dreister noch als ihre Gefährtin, sprang bei unserer Ankunft laut auflachend mit nägelbeschlagenen Schuhen durch den Saal, daß die Dielen zitterten und die Schwerkranken aufstöhnten, als ginge jeder Tritt über ihren zerschossenen Körper. Sie mußte noch denselben Abend mit Strenge hinausgewiesen werden, da sie sich durchaus nicht gutwillig fügen wollte und einige übermüthige reconvalescente Franzosen ihre Partei ergriffen.

In den anderen Sälen mag es ähnlich gewesen sein; es blieben nur drei ältere Frauen zum Aufspülen und zum Aufwaschen der Säle zurück. Außerdem hatten acht französische Wärter die schmutzigen Arbeiten zu verrichten, je zwei in jedem Saale, Einer zum Tagesdienst, der Andere für die Nacht. Ein Lazarethgehülfe in jedem Flügel ging dem Arzte zur Hand und schaffte die Medicamente herbei. Bonner Studenten der Medicin, die sonst keine Beschäftigung gefunden, sollten uns beim Verbandanlegen hülfreiche Hand leisten; ich erinnere mich jedoch nicht, sie je zu diesem Zwecke in meinem Saale gesehen zu haben. Bald hörten ihre Besuche im Lazarethe auch auf. Der Stabsarzt liebte sie ohnehin nicht allzu zärtlich, und als sie sich weigerten, die Nachtwachen zu übernehmen, setzte er ihre Entfernung durch. Später erhielten die beiden oberen Säle zwei freiwillige Pfleger, die fleißig halfen, Saal Drei einen jungen Kaufmann aus Hof an der Saale, Saal Vier einen jungen Mann aus der Nähe von Bonn. In den unteren Sälen verbanden die Lazarethgehülfen. Der Stabsarzt und später ein ihm beigegebener Assistenzarzt hatten die Kranken täglich zwei Mal zu besuchen. Oberstabsarzt W. sprach einige Male die Woche vor, später größtentheils in Begleitung des Generalarztes, Geheimraths Dr. Busch, dessen gütiges Gesicht den Kranken Allen willkommen war, wennschon sein Erscheinen meistens die schrecklichsten Operationen nach sich zog.

Von den Verwundeten nahmen die beiden Deutschen in meinem Saale anfänglich, als die am schwersten Getroffenen, meine ganze Sorge in Anspruch. Der Eine, ein junger schöner Mann, bereits verheirathet und Vater von vier Kindern, lag unbeweglich mit zerschmettertem linken Unterschenkel in Gypsverband. Der 14. August hatte ihn auf’s Schmerzenslager geworfen, von dem er, wenn Alles gut ging, erst nach Monaten, vielleicht in Jahresfrist, erstehen konnte. Wohl kannte er die lange Zeit, die seine Heilung erheischte, aber keine Klage wurde laut. Stets freundlich und dankbar für die geringste Hülfe, konnte ihn nur der Gedanke an Frau und Kind, die sich daheim in Wesel um ihn grämten, traurig stimmen. Sein Name ist mir entfallen, die Nummer des Regiments, zu dem er gehörte, habe ich nie gewußt, aber die „liebe Gypsfigur“, wie wir ihn nannten, wird stets in meinem Gedächtnisse bleiben. Ebenso liebenswürdig war mein „guter Lipper“, eine prächtige Figur aus der Nähe von Detmold, dessen linker Unterschenkel, gleichfalls zerschmettert, leider keinen so guten Verlauf genommen hatte wie die Verwundung seines Nebenmannes. Furchtbar war der Anblick des bereits brandig gewordenen Beines und noch furchtbarer die Schmerzen, die der Arme litt. Zweimal vierundzwanzig Stunden hatte kein Schlaf seine Qualen gemildert, keine Speise ihn erquickt, ohne daß ein Schmerzenslaut über seine Lippen gegangen. Als ich ihn das erste Mal sah, versuchten seine vor Schmerz zuckenden Lippen mir zuzulächeln, während in seinen blauen Augen Thränen standen.

„In zwei Tagen wollen sie mir mein Bein abschneiden, liebe Schwester,“ sagte er traurig, „und so viel Schmerzen es mir auch verursacht, ich verliere es doch nicht gern. Auch werde ich nun meinen armen Vater nicht länger ernähren können; er ist schon alt und meine Schwestern sind Beide kränklich. Die eine hütet seit Jahren das Bett, die andere hat schon monatelang die Stube nicht verlassen können. Als Bierbrauer hatte ich in Lippe einen schönen Verdienst, aber das ist nun für immer vorüber; wer will einen Krüppel in seine Dienste nehmen?“

Ich tröstete ihn, so gut ich es vermochte, und bedauerte aufrichtig, einen so sanften Kranken verlieren zu müssen, denn alle neu Amputirten wurden, so lange es noch heiß war, in die unweit gelegene Markthalle gebracht, da der Geruch des eiternden Stumpfes in geschlossenen Räumen die Luft zu sehr verpestet hätte.

Als der Aermste zwei Tage später auf seine Bahre gehoben und durch den Saal getragen wurde, da war gewiß Niemand, der nicht tiefes Bedauern für den freundlichen blonden Deutschen gehabt, so sehr die Kranken auch gegen die Leiden ihrer Mitbrüder abgestumpft waren.

„Adieu, liebe Schwester! Meinen Dank für Ihre Güte! Mit Gottes Hülfe wird Alles gut vorübergehen; ich hoffe auch, daß die Aerzte mir mein Knie noch lassen werden. Glauben Sie nicht auch, daß ich nur den Unterschenkel verlieren werde?“

Ich wagte nicht Nein zu sagen, obgleich ich wußte, daß durch die Verzögerung der Amputation der Brand um sich gegriffen hatte und der Mann nur durch Verlust des ganzen Beines gerettet werden konnte. Wie sehr freute er sich aber, mich am Nachmittage neben seinem Lager in der Markthalle zu sehen!

„Es ist ganz gut abgelaufen,“ war die Antwort auf meine besorgten Fragen, „und ich habe lange keine so starken Schmerzen mehr als vor der Operation. Aber wie weit man mir mein Bein abgeschnitten, weiß ich nicht; nachzusehen ist mir verboten, und ich habe immer das Gefühl, als besäße ich noch das ganze Glied. Glauben Sie wohl, daß ich Schmerzen in der großen Zehe und in der Hacke verspüre, gerade so, als läge letztere zu fest auf – und doch habe ich weder Hacke noch Zehe dort,“ setzte er traurig hinzu. „Ich darf indessen nicht klagen, ich glaube, ich bin noch am besten dran von Allen, die hier liegen.“

Fast mußte ich ihm beipflichten, sah ich in die bleichen, schmerzverzogenen Züge, die uns umgaben. In dem großen Schuppen, an dessen Vorderwand ausgespannte Tücher die Kranken nothdürftig gegen Sonne und Regen schützen, liegen dreiundsechszig zum Tode verwundete Krieger in harten Betten, ja, selbst auf den schmalen Tischen, die in der Mitte des Raumes aneinandergereiht sind. Den Meisten hat der Tod bereits sein Siegel aufgedrückt, und der pestartige Geruch, den sie verbreiten, ist ein sicheres Zeichen, daß sie bald von ihren Leiden erlöst sein werden. Kein Wunder, daß der gute Lipper sich in das Lazareth der großen Schule sehnt; auch ich bin froh wieder dorthin zurückkehren zu können, habe ich doch in der kurzen Zeit meines Hierseins die armen Kranken bereits herzlich liebgewonnen und danke Gott, daß einstweilen unter ihnen kein Todescandidat ist.

Drüben im Saal Drei sieht es schlimmer aus. Hart an der Thür ruht still und bleich ein junger Mann, fast noch ein Knabe, mit feinen geistreichen Zügen und großen dunkeln Augen. Sohn eines angesehenen Pariser Advocaten, war er freiwillig mit ausgezogen, sein bedrohtes Vaterland zu retten und die verhaßten [574] Deutschen zu vernichten. Bei Gorze traf ihn die feindliche Kugel. Mit zerschossenem Haupt, aus welchem das Hirn hervorquoll, hatten die Preußen den Jüngling gefunden und nach Ars gebracht, wo er trotz der sorgfältigsten Pflege langsam dem Tode entgegenging. War sein Ende still und schmerzlos, so litt sein Camerad an der andern Seite des Saales desto furchtbarer. In die Seite geschossen, war der Kinnbackenkrampf hinzugetreten, ein Zustand so qualvoll, wie er kaum gedacht werden kann. Brüllend und um sich schlagend wälzte er sich auf seinem Lager umher, nicht im Stande Trank oder Speise zu sich zu nehmen, und unser einziger Wunsch war, nur seine Leiden bald geendigt zu sehen. Fünf Tage und Nächte dauerte seine Qual und schrecklich war sein Tod. Vierundzwanzig Stunden lang wehrte er sich verzweiflungsvoll, und als der französische Priester die Sterbegebete über ihn sprach, stöhnte er laut auf und heiße Thränen entstürzten seinen Augen. Wohl mochten ihn feste Bande an das Leben fesseln; das einzige Wort, welches seine vom Krampfe gefesselten Lippen zu bilden vermochte: „Marie!“ rief er in allen Tönen der Verzweiflung.

Einen grellen Gegensatz zu der geduldigen Ergebung und dem Heldenmuth, womit die Kranken unseres Lazareths meist ihre Leiden trugen, bildete ein Officier, an dessen Krankenlager ich acht Tage nach meiner Ankunft die Nachtwache übernommen. Ein Schuß durch die Schulter, der den Knochen zerschmettert und die Nerven zerrissen, hatte bei Mars la Tour seinem tapfern Vordringen ein Ziel gesetzt. Wie die meisten verwundeten Officiere der Privatpflege der Einwohner von Ars übergeben, lag er in einem Hause desselben Hofes, den wir bewohnten. Leider trug er nicht dazu bei, das Urtheil der Franzosen über die Eindringlinge milder zu stimmen. Nicht nur daß er mit seinen Hausleuten in beständigem Hader lebte, auch seinem treuen Burschen war er ein tyrannischer Herr und suchte selbst seinen Befehlen mit der blanken Waffe Nachdruck zu verschaffen. Die jungen Mediciner, die abwechselnd bei ihm die Wache übernommen, behandelte er wie seine Sclaven, und als er gar dem Einen dieser freiwilligen Pfleger eine Ohrfeige angeboten, weigerten sich sämmtliche Studenten, noch ferner seine Stube zu betreten. Auf sein Verlangen nach weiblicher Pflege mußte ich hinüber, und nachdem mein Tagewerk im Lazareth beendet und das frugale Abendessen eingenommen war, trat ich den sauern Gang an. Beim Eintritt in das verpestete Gemach, dessen Fenster nur selten geöffnet werden durften, ruhte der Kranke in Decken und Shawls eingehüllt in einem bequemen Fauteuil am Fußende des Bettes. Mein „guten Abend“ wurde nicht erwidert, mein Erscheinen überhaupt nicht beachtet, er hatte zu viel zu thun, seinen Burschen in Athem zu erhalten. Endlich wurde er es müde, den geduldigen Menschen zu quälen, und er rief nach der „barmherzigen Schwester“. Mit harter befehlender Stimme verlangte er einen neuen Verband um seine Schulter, aber kaum angelegt, riß er ihn wieder los und befahl in sein Bett gebracht zu werden. Es geschah mit Hülfe des Burschen, und dieser bat demüthig um Erlaubniß, zur Ruhe gehen zu dürfen. Nachdem der bis zum Umsinken Ermüdete eine halbe Stunde auf Antwort gewartet, wurde ihm die Erlaubniß, sich zu entfernen. Behaglich war es mir eben nicht, allein zu sein bei dem Manne mit den starren Augen und dem heftigen Wesen. Keine Secunde konnte er ruhen, warf die furchtbar beschmutzten übelriechenden Kissen umher, stieß die Decken zurück und sprang wieder auf, das an der Erde bereitete Lager aufzusuchen. Aber auch hier keine Ruhe, kein Schlaf. Bald waren die Polster zu weich, bald zu hart, bald zu hoch, bald zu niedrig gelegt; nein, er mußte abermals in’s Bett, um gleich darauf wieder aufzuspringen. So ging es die ganze Nacht hindurch; nur in sehr langen Zwischenräumen drückte ein fieberhafter Schlummer die starren Augen zu, und ich benutzte die wenigen Augenblicke der Ruhe, das Fenster zu öffnen und die kalte reine Nachtluft einzuathmen, da der schauderhafte Geruch im Gemach mich fast erstickte. Auch der arme Diener hatte keine Ruhe.

„Rufen Sie den Burschen!“ herrschte er wenigstens zehn Mal während der Nacht, und der Todtmüde, dessen Lager die nackte Erde in einer dunkeln feuchten Kammer war, erhob sich seufzend, des strengen Herrn Befehle entgegen zu nehmen.

Niemals begrüßte ich den Morgen freudiger als nach dieser Nachtwache. Nachdem ich mit anbrechendem Morgen das Gemach in Ordnung gebracht, das unsaubere Lager neu gedeckt und dem ungeduldigen Patienten das Frühstück gereicht hatte, eilte ich aufathmend hinüber in unser Quartier, wo ich mich gegen neun Uhr ganz erschöpft von der vierundzwanzigstündigen Arbeit auf’s Lager warf.

Als ich nach einigen Stunden der Ruhe in das Lazareth zurückkehrte, traf ich nur noch fünf von meinen Patienten an, alle Reconvalescenten waren plötzlich evacuirt worden. Außer der lieben „Gypsfigur“ theilten nur vier Franzosen das Gemach. Charakteristisch an allen unseren französischen Patienten war das Verlangen nach warmer Kopfbedeckung, selbst während der heißesten August- und Septembertage. Da es an Nachtmützen fehlte, so mußten große bunte Tücher dem Mangel abhelfen. Seltsam sahen sie aus, diese dunkeln bärtigen Gesichter mit dem bunten Kopfputz und dem weißen oder blauen Schleier, den man ihnen zum Schutz gegen die Unzahl der ekelhaften Fliegen gegeben.

Zwei von diesen Franzosen waren Männer, die weder lesen noch schreiben konnten, wie denn die größte Zahl meiner französischen Kranken nicht die geringste Schulbildung besaß. Eine Kugel hatte dem Einen das linke Fußgelenk zerschmettert, eine andere, als er bereits am Boden lag, den rechten Unterschenkel verwundet; ein außergewöhnlich heftiges Wundfieber schien seinem Leben ein Ziel zu setzen. Zwei Wochen kam keine Speise über seine Lippen.

Niemand war über diesen Mangel an Appetit froher als meine „Drücker“, Leute, die, ohne wirklich krank zu sein, sich aus einem Lazareth in’s andre drücken, um von den Kämpfen und Strapazen verschont zu bleiben. Natürlich leiden alle „Drücker“ angeblich an Rheumatismus, ein Uebel, dessen Nichtvorhandensein kein Arzt beweisen kann, selbst wenn er davon überzeugt ist, und natürlich haben die „Drücker“ einen immer regen Appetit, dem die Krankenkost keineswegs genügt. Alle Speisen, welche die Kranken unberührt bei Seite setzen, verfallen dem „Drücker“, alle übriggebliebenen Stücke Brod weiß er sich anzueignen. Ueberzeugt, daß meine beiden „Drücker“ nicht allzu heftig von ihren rheumatischen Schmerzen gequält würden, trotz der gebeugten Haltung und dem schleppenden Gange, der sich einstellte, so oft der Arzt hereintrat, konnte ich mich doch nicht entschließen, diese Ueberzeugung laut werden zu lassen; denn die beiden armen Schelme mit ihrer Angst vor feindlichen Kugeln und ihrer Sehnsucht nach Weib und Kind dauerten mich. Hatte doch der Aeltere, ein rheinischer Jäger, vier Kinderchen daheimgelassen, der Jüngere sich voll Schmerz von drei kleinen Krausköpfen losgerissen. Uebrigens waren meine „Drücker“ dankbar für die Schonung, die ihnen gewährt wurde, und halfen wo sie konnten, bald als Mundschenken bei den Verwundeten, bald beim Ordnen des Verbandzeuges – und eben heute bei den Vorbereitungen zum Empfang neuer Kranken, die bereits angesagt waren. Gegen Abend hielten die mit Stroh gefüllten Leiterwagen auf dem freien Platze vor dem Lazareth, freiwillige Krankenträger hoben die Stöhnenden herab und trugen sie in die von den Reconvalescenten geräumten Säle. Bald waren alle frischgedeckten Betten gefüllt.

Eben war ich mit der Waschoperation der Einzelnen beschäftigt, als mit den Worten: „Ach Gott, Schwester, kommen Sie doch mit in die kleine evangelische Schule!“ der getreue Eckart in den Saal stürzt. – Getreuer Eckart war der Spitzname eines freiwilligen Krankenpflegers aus Baiern, der, ohne im Lazareth eine bestimmte Anstellung zu haben, für alle Säle herbeischafft, was eben nöthig, sei es eine Badewanne, eine Scheuerfrau, Eis zu Umschlägen oder dergleichen. – „Gott, Schwester, welch ein Elend! Heute Morgen hat man siebzehn Verwundete in die kleine Schule gebracht, auf etwas Stroh gelegt und dort vergessen. Sie liegen dort halbverschmachtet, wir müssen hin und Hülfe schaffen!“

„Aber lieber Eckart, meine armen Kranken sind seit gestern nicht gewaschen und zudem ist es Zeit zum Verbinden, ich kann wirklich nicht abkommen.“

„Sie müssen, Schwester, Sie müssen, wir können die Armen bis morgen nicht ohne Hülfe liegen lassen.“

Ich gebe zuletzt seinem Drängen nach und folge ihm in die am andern Ende des Fleckens gelegene evangelische Schule. Welches Elend in diesem durch eine niedrige Holzwand in zwei Theile geschiedene Raume! Im vordersten liegen sie dicht beisammen in ihren staubigen mit Schmutz und Blut bedeckten Uniformen, die mühsam über die zerschossenen Glieder gezwängt sind. Hier lehnt Einer halb aufrecht an der Holzbekleidung; die starren Augen und schweren Athemzüge lassen errathen, daß seine Brust durchbohrt [575] und eine Besserung wohl kaum zu hoffen ist. Neben ihm ruht bleich und todesmatt ein französischer Corporal, dessen zerschossener Unterkiefer es ihm unmöglich macht, sich der ihm zur Seite knieenden Landsmännin verständlich zu machen. Sein Nachbar, ein Unterofficier mit verwundetem Fuß, läßt sich die Suppe trefflich schmecken, die ihm ein armes französisches Weib reicht, welche, als sie von den vergessenen Verwundeten gehört, sammt ihren Nachbarinnen herbeigeeilt war, um mit einem Theil ihres eben bereiteten Diners die Hungernden zu sättigen. Auch die Cameraden, welche die Armen zuerst gefunden, schleppen herbei, was eben aufzutreiben ist, und freuen sich, wenn ihr eigenes Abendbrod den Leidenden mundet.

„Hier, oller Junge, iß und laß Dir de Bulljong gut bekommen,“ tönt eine tiefe Baßstimme hinter der Holzwand hervor, „wirst och woll Hunger haben, he?“

„Ja, den habe ich, aber die Augen brennen mir so und ich kann auch nicht alleine essen,“ antwortet eine weinerliche Stimme.

„Der arme Kerl ist durch beide Augen geschossen,“ flüstert mir ein junger siebzehnjähriger Elsässer, mit zerschossener Hüfte, zu. „Auch sein Verstand scheint gelitten zu haben, er muß gefüttert werden, wie ein kleines Kind.“

Rasch eile ich zu dem Unglücklichen im zweiten Raum, in welchem acht Verwundete liegen. Ein schmächtiger, blutjunger Mensch sitzt mit verhülltem Haupt auf dem Strohlager; sein starker, bärtiger Camerad sucht, über ihn gebeugt, den armen Geblendeten zu füttern, aber so gut der Wille, so groß ist seine Ungeschicklichkeit.

„O, wäre doch die Schwester da!“ jammert der Arme und läßt trostlos das Haupt auf die Brust sinken.

„Hier ist eine Schwester,“ tröste ich und kniee an seinem Lager nieder.

„Eine Schwester, ach Gott, eine Schwester!“ jubelt er auf und greift nach meinem Kleid welches er krampfhaft festhält. „Ach, Schwester, Sie dürfen mich nicht verlassen, auch in St. Marie hatten wir eine Schwester und sie war mir so gut, o, so gut, ich habe geweint, als man mich von ihr fortgenommen.“

Geweint! als ob die armen ausgeschossenen Augen noch Thränen hätten. Aber er kannte sein Unglück noch nicht; stets sprach er von der Zeit, in welcher er wieder sehen könnte, und seine Cameraden wagten nicht, ihm seine Hoffnung zu rauben.

„Ja, Camerad, wenn Du sehen kannst, dann kommen wir Alle zu Dir uf Deinen Hof in der Mark und trinken wollen mer alsdann, daß die Haide wackelt,“ bestätigt sein bärtiger Freund.

„Daß die Haide wackelt,“ nickt der Arme, und ein Strahl der Freude fliegt über das junge Gesicht.

Nachdem er gefüttert, seine Wunden verbunden und mit Eis gekühlt sind, muß ich den Armen, so leid er mir thut, verlassen. Am liebsten hätte ich ihn mitgenommen, wäre nicht die Furcht gewesen, der Stabsarzt möchte ihn rauh zurückweisen. – Es dunkelte schon, als ich zu meinen Patienten zurückkehrte. Im Hausflur traf ich Dr. Freitag und bat ihn, sich der Unglücklichen anzunehmen bis zu deren Evacuirung, was er jedenfalls auch gethan haben wird. Mir selbst war es unmöglich, den folgenden Tag nach ihnen zu sehen, auch glaube ich, daß sie Ars schon am nächsten Morgen verlassen hatten.

Leider sollte ich mich überzeugen, daß die Siebenzehn in der evangelischen Schule nicht die Einzigen waren, die man vergessen, oder richtiger gesagt, vernachlässigt hatte. Zwei Tage nach dem Besuch der evangelischen Schule brachten um die Mittagszeit freiwillige Krankenträger einen Franzosen in meinen Saal, der im heftigsten Delirium lag, wild um sich schlug und mit lauter Stimme französische Lieder sang. Auf meine Frage, was dem Armen fehle, wurde mir zur Antwort, daß er, in’s Kreuz geschossen, den Abend vorher mit einer Anzahl Verwundeter von St. Privat gebracht worden sei und wegen Ueberfüllung der Lazarethe die Nacht im offenen Leiterwagen habe zubringen müssen. „Ueberfüllung der Lazarethe“ – und in dem unsrigen, dem besten in Ars, waren wenigstens zehn Betten frei! Die empfindliche Kälte, die während der Nacht geherrscht, und die Sonnenhitze des folgenden Tages, der der Verwundete schutzlos ausgesetzt, hatten dem ohnehin Schwerkranken eine Gehirnentzündung zugezogen, der er nach dreitägigen schrecklichen Kämpfen erlag, ohne auch nur einen Augenblick seine Besinnung wieder erlangt zu haben.




Blätter und Blüthen


„Sie roch nach Petroleum.“ (Mit Abbildung, Seite 572.) Als ich, etwa ein Jahr nach dem Untergang der letzten Maninischen Republik von Venedig in Folge der Eroberung der Stadt durch die Oesterreicher, mit einem deutschen in Venedig wohnenden Freunde eine Gondelfahrt in den Lagunen nach dem Lido hin machte, kamen wir auch an der Insel San Servolo vorüber, auf welcher ein großes Spital und Irrenhaus sich befindet.

„Das ist der traurigste Ort der Welt“ – äußerte hier mein Freund, mit dem Ausdruck tiefer Theilnahme nach dem Irrenhaus hinüberzeigend. „Wie viel edle Gesinnung und feinste Bildung, wie viel Geist und Muth gingen durch das Unglück dieser Stadt zu Grunde und sind dort drüben mit ewiger Nacht bedeckt!“

„So hart hat das Schicksal die tapferen Kämpfer bestraft?“ entgegnete ich.

„Nein! Nicht die Kämpfer! Das Schwerste hatten auch in diesem Kampfe die Frauen zu tragen, und sie sind ihm zu Hunderten geistig erlegen.“

Und nun erzählte mein Freund mir Vieles über den Antheil der venetianischen Frauen und Jungfrauen an der Erhebung der Stadt gegen Oesterreich, von dem ich allerdings in den Zeitungen wenig gelesen hatte. Er berichtigte vor Allem die Anschauung der Touristen über den Charakter der italienischen Frauenschaft, die von den Straßen, Promenaden und von den Theatern aus ihre Schlüsse zögen, ohne das italienische Weib des Hauses zu kennen. „Wenn die Charaktertüchtigkeit des italienischen Mannsvolks nur zur Hälfte an die der Frauen hinanreichte, was wäre dann Italien ein beneidenswerthes Land!“ Das behauptete er nicht nur, sondern bewies es mir mit einer Reihe von Beispielen höchster Opferfähigkeit und Hingabe für die allgemeine Sache aus den untersten wie aus den höchsten Kreisen. „Haynau,“ sagte er, „hatte seinen gefährlichsten Feind erkannt, als er in Brescia Frauen auch aus den höchsten Ständen auspeitschen ließ, und diese Unthat hat mehr als alles Andere dazu beigetragen, Oesterreichs Herrschaft in Italien unmöglich zu machen. Hier, in Venedig, aber kam, als der Aufruhr niedergeworfen war, als die Männer und Jünglinge massenhaft zu flüchten versuchten oder in die Gefangenschaft abgeführt wurden, über die armen Frauen die härteste aller Nachwehen, das bis auf’s Aeußerste erregte heiße Blut sollte plötzlich ordnungskühl werden, der Schmerz sollte sich still in die Winkel verkriechen, aber das war zu viel für Geist und Herz solcher Naturen – und der Irrsinn war der unheimliche Retter der Verzweifelnden. Es sind verehrungswürdige Opfer, die dort und in manchem anderen Irrenhaus am unglücklichsten sind, wenn lichte Augenblicke über sie kommen.“

An jenes Gespräch in den Lagunen muß ich heute denken, so oft ich von den Unthaten der Pariser Frauen und der Commune höre. Wir erfahren auch von dort nur den letzten Act ihrer Betheiligung an dem Aufruhr und sind, wenn wir sie mit Revolver, Messer und Petroleumflasche wüthen sehen, sofort geneigt, Steine gegen sie zu erheben. Und doch muß auch hier Vieles vorausgegangen sein, um alles menschliche Gefühl aus dem Weibe hinauszuhetzen, bis nur noch die Furie übrig bleiben konnte. Nun ist es freilich eine alte Erfahrung, daß der Mensch zu äußerster Grausamkeit nie leichter, als im Bürgerkriege, verführt wird und am entsetzlichsten in dem Kampfe politischer oder religiöser Parteien. Es könnte ein erhebender Gedanke sein, daß das Ideale die Macht hat, die Leidenschaften mit der höchsten Kraft auszurüsten, wenn nicht schließlich das Thier im Menschen allein zum Durchbruch käme.

Die sogenannten „Versailler“ behaupten allerdings, daß Das, was die Wuth der Commune zum Aeußersten reizte, die Massenerschießungen, erst dann ihren Anfang genommen, als die Gegner mit dem Anzünden der Häuser begonnen hätten; – aber die „Pariser“ behaupten, daß die Brandfackel sich an diesem Feuer des unmenschlichen Massenmordes entzündete. Auch in Paris hatten die Frauen sich dem Kampf der Männer angeschlossen, und auch in Paris standen gegen sie die Haynaus auf, nur nicht mit der Peitsche, sondern gleich mit Pulver und Blei. Die Tagesberichte aus dem Straßenkampf von Paris haben haarsträubende Executionen geschildert, und wir würden es vermeiden, ihre Zahl mit einer neuen zu vermehren, wenn die von einem unsrer Berichterstatter uns mitgetheilte nicht einen Blick in eine solche bis zur Rachewuth gehetzte Frauenseele eröffnete und zugleich ein Beispiel wäre, wie cynisch der Leichtsinn mit dem Leben spielte.

Der erste der großen Barricadenkämpfe, der sich vom Concordienplatze rechts gegen die Barricade St. Florentin, welche den Eingang zur Rivolistraße versperrt hatte, dann durch die Rue Royale, rings um die Kirche St. Madeleine und links bis in den Boulevard Malesherbes ausbreitete, war seinem Ende nahe, die nördlichen Prachtgebäude der Rue Royale standen in hellen Flammen, die Insurgenten wichen auf allen Seiten zurück und die Versailler drangen vorwärts, da stürzte aus einem der brennenden Häuser ein Weib in der Volkstracht mit einem Revolver in der Faust und flüchtete zwischen dem Kugelregen hindurch über die Leichenhaufen auf der hohen Freitreppe glücklich in die Madeleine. Als die Truppen auch diese Kirche stürmten, gelang es der Frau, wieder zu fliehen, aber schon am Eingange in den Boulevard de la Madeleine brach sie vor einem der Gefallenen zusammen und ward gefangen. Kolbenstöße schreckten sie auf, aber kaum auf den Beinen, erhob sie den Revolver; ein Faustschlag von hinten her entwaffnete sie, man band ihr die Hände fest und sofort begann das summarische Verfahren.

[576] „Wer bist Du, Weib?“ schrie der Officier sie an.

„Wer ich bin? Eine Wittwe seit zehn Minuten, eine Wittwe, eine Mutter ohne Söhne, ohne Tochter. Und Ihr seid Schurken seit Jahr und Tag! Des zweiten Decembers Knechte, der Preußen Gefangene, der Versailler Mitverbrecher! Pfui, Ihr Schandsöhne Eurer Mütter! O meine Kinder, wie wart Ihr so tapfer und so schön und so gut! Da liegt mein Jüngster, an seiner Leiche habt Ihr mich gefangen, in der Rue Royale liegt mein Gatte mit zerschmettertem Gehirn, auf der Madeleinetreppe mein anderer Sohn. Was wollt Ihr noch von mir? Laßt mich los, ich muß meine Todten rächen!“

Den Officier schien ein Gefühl von Rührung zu beschleichen, aber schon stand ein Anderer neben ihm, der das Losungswort des Tages ausrief: „Lieber zehn Unschuldige erschießen, als eine Schuldige laufen lassen! Sie riecht gewiß nach Petroleum!“

„Du lügst!“ schrie das Weib. „Mutter Péchon ist keine Mordbrennerin!“

„Sie riecht nach Petroleum!“ übertobte sie das Brüllen der blutgierigen Soldaten. Und Alle drängten sich zum Beriechen der Unglücklichen herbei und bestätigten hohnlachend ihre Entdeckung. Das Ende war nun kurz. „Tritt an die Wand dort!“ herrschte der Officier ihr zu. Sie sprach kein Wort mehr. Noch einen Blick tiefster Verachtung für die Männer, die eine Wittwe und Mutter erschießen wollten – und mit einem Knalleffect war’s abgemacht. Die Sieger zogen weiter, – und Mutter Péchon war gerichtet, denn „sie hatte nach Petroleum gerochen“.

Es gehört auch zum Verhängniß sinkender Völker, daß sie den einzigen Retter ihrer Zukunft nicht erkennen. Wie in Italien ist’s auch in Frankreich und wohl auch in Spanien, kurz, bei der ganzen romanischen Race. Das männliche Geschlecht ist, gegen die Vorzeit, in seinem Werthe zurückgegangen, ist einer ansteckenden Verwahrlosung wahrer männlicher Tugenden verfallen. Nur den Müttern kann es gelingen, eine neue bessere Generation zu erziehen, zumal wenn sie selbst erst vom Gängelband der Pfaffen befreit sind.

H. v. C.


Der Heerwurm im Salon der Gartenlaube. Durch die Zeitungen läuft die Nachricht, daß sich wieder einmal der Heerwurm, jene oft aus Millionen von Maden zusammengesetzte, kriechend den Laubwald durchschleichende schlangenartige Erscheinung gezeigt habe, und zwar unweit Stolberg am Harz, hoch oben im prächtigsten Buchenwald und quer über den Weg nach Breitenstein dahinziehend. Und man schließt die Berichte mit der Bemerkung: „Die Frage: woher? wohin? ist noch nicht hinreichend gelöst, um mit Sicherheit die Natur dieser Erscheinung erklären zu können.“

Diese Erklärung wird die Gartenlaube in einem ausführlichen und illustrirten Artikel auf das Vollständigste bringen; heute theilen wir hierzu nur eine einleitende Beobachtung mit.

Herr Forstmeister Beling zu Seesen am Harz erfreute uns schon vor einiger Zeit mit einer gediegenen Forscherarbeit über den Heerwurm, wie er ihn auf dem Harz selbst beobachtet hatte. Auf unsere Bitte um die Illustrationen, die man zu seiner Abhandlung nothwendig wünschen müsse, schrieb er uns, daß eine seinen Ansprüchen völlig genügende Abbildung von Larvenzug, Puppe und Fliege ihm noch nicht vorgekommen sei und daß er uns lieber in den Stand setzen wolle, selbst einen Heerwurm vor uns sich bilden zu sehen und von unserm Thierzeichner abbilden zu lassen. Und so geschah es.

Es kam eine Kiste an, bei deren Oeffnung uns etwas angegangener Buchenlaubstreuduft entgegenstieg, und zwischen den zum Theil schon stark skeletirten Blättern hing, kroch und lugte das kleine Leben Tausender von Larven der soldatischen Trauermücke (Sciaria militaris), wie der Marschfreudigkeit der Maden wegen wohl das Thierchen getauft worden ist.

Wir, d. h. der Thierzeichner und die gewöhnlichen Insassen der Gartenlaube, trugen unsern naturwissenschaftlichen Schatz in Herrn Ernst Keil’s Gartensalon und verfuhren nun genau nach Vorschrift unseres Gewährsmannes. Wir legten zwei große gefeuchtete Pappebogen auf einen Tisch und beförderten die Larven (Maden) aus ihrer Blätterumhüllung auf die eine Pappe, die andere für den geordneten Marsch des Zugs rein haltend.

Die Geschöpfchen, sehr ähnlich den Käsemaden, nur heller, durchscheinender und mit glänzend schwarzen Köpfchen, sagten durch ihr Benehmen uns gleich in der ersten Minute ihrer Beobachtung, warum sie bei ihren Processionen oder Heerzügen so traulich und erbaulich zusammenhalten und sich nicht von ihrem anscheinlichen Gänsemarsch abbringen lassen. Wir schüttelten sie erst einzeln aus dem Laub heraus, ohne sie gleich zu einem Haufen zusammenzuschieben, der natürlich sofort seine Marschcolonne gebildet haben würde. So aber sahen wir, daß jedes der vielen einsam und alleine umherliegenden Würmchen in seiner Verlassenheit ein recht hülfloses Thierchen ist. Ohne sich weit von der Stelle zu wagen, hebt es unaufhörlich das Köpfchen nach allen Richtungen, nach der ihm unentbehrlichen cameradschaftlichen Hülfe ausspähend. Sobald es aber mit einem andern zusammenkommt oder, wenn der Zufall das zu lange anstehen läßt, man ihm einen Cameraden zuschiebt, so hängen die Kerlchen sofort aneinander und es kriecht immer der eine über den andern fort, hebt dann den Kopf und sucht umher, bis der andere so weit auf ihm wieder vorwärtsgekrochen ist, daß er selbst den Kopf ducken muß. Dann kriecht er wieder über den andern, und so helfen ihrer Zwei sich vorwärts, während das einzelne Würmchen kaum vom Flecke kommt. Vielleicht deutet dies Uebereinanderkriechen an, daß ihre Körperbeschaffenheit diese Art der Fortbewegung ihnen vorschreibt. Bei der Benutzung des lieben Nächsten als glatte Unterlage bleibt es, auch wenn drei- und vierhundert oder tausend übereinander kriechen: immer sind nur die oberen Schichten in Bewegung, alle kriechenden ducken die Köpfchen; sobald sie aber an die Spitze kommen, wo sie dann den Kopf mit bilden, erheben sie selbst die Köpfchen und eben nur so lange, bis die nächsten, bis jetzt unten gewesenen Schichten über sie hinwegkriechen, und so fort.

Es dauerte gar nicht lange – denn da, wo das Glück einzelnen solcher Züge nicht günstig sein wollte, spielten wir etwas Schicksal und schoben frische Truppen in ihre Marschrichtung –, so bewegten sich viele, bald kürzere, bald längere einlinige Züge zwischen den Streutheilchen auf der feuchten Pappe dahin, immer die je Ersten am lebhaftesten mit erhobenem Kopfe die Richtung suchend, bis das Zusammentreffen einzelner Linien begann und damit die Bildung immer dickerer Fäden und Schnuren. Je mehr die einzelnen Züge sich der zweiten, reinen Pappe näherten, desto mehr wurde die Richtung Aller zu einer gemeinsamen. Das geschah aber wieder in verschiedenster Abwechselung. Während fünf und sechs Glieder starke Züge sich rasch zu einem Strang zusammenschoben, liefen ein- und zweigliedrige noch lange Strecken nebeneinander her, bis sie sich aneinander schlossen; ja, vom dicksten, schon kleinfingerstark angeschwollenen Strange zweigten an mehreren Stellen wieder Züge links und rechts ab, machten eine Art Recognoscirungsbogen und kehrten dann zum großen Zuge zurück. Auf der frischen Pappe kam die stahlfarbig glänzende, durch die Beweglichkeit der sich vorwärts windenden Theile fortwährend schimmernde gesammte Trauermückenlarvengemeinde als leidlich stattlicher Heerwurm an, in der That eine kleine Schlange darstellend, die schon einen Begriff geben konnte, wie eine solche Masse von Armsdicke und Vielellenlänge, die im kühlen düstern Wald über den Gehsteig dahinschleicht, eine gar schöne Gelegenheit zu schauderhaften Erlebnissen, gruselnden Sagen und handfestem Aberglauben abgeben konnte. Auch nach dieser Richtung hin beachtet der Beling’sche Artikel alles nur Wünschenswerthe.

Während unser Heerwurm auf der reinen Pappe bedächtig dahinschob, muß ihn plötzlich ein Lichtblitz von der Zwecklosigkeit seines so bereitwilligen Spazierganges getroffen haben, denn der so stattlich breite Kopf ward plötzlich uneins. Wie der unpraktische Doppelkopf des weiland römischen Reichsadlers deutscher Nation, gingen zwei Köpfe nach entgegengesetzten Richtungen auseinander und die beiden anhängenden Theile zerrten am Leib des Heerwurms, wie ehedem Preußen und Oesterreich am deutschen Bundesleib – ja der eine, nach rechts hinstrebende schob sogar ohne alle Ueberlegung über den Pappenrand dem Abgrund zu, während nach links ein starker Strang sich ablöste und viele kleine ihm sich nachvereinzelten. Da wurde uns das Bild zu politisch-anrüchig. Unser Heerwurm hatte seinen Zweck erreicht, er war dem Zeichner verfallen und wird als Holzschnitt in der Gartenlaube wieder auferstehen.

Aber auch seine eigene leibliche Auferstehung hat er bereits gefeiert. Als der Mohr seine Schuldigkeit gethan hatte, ließ Herr E. Schmidt, unser Thierzeichner, den ganzen Herrwurm in die Laubstreu zurückmarschiren und in der Kiste heimtragen. Schon nach etwa acht Tagen überraschte er uns mit den aus den Larven gewordenen Puppen und den aus den Puppen ausgeschlüpften kleinen Fliegen, und so hat Herr Forstmeister Beling durch das interessante Naturschauspiel, das er uns verschaffte, uns zugleich in den Stand gesetzt, seinen Aufsatz in der That auf das Vollständigste zu illustriren.




Aus Schwaben.Drei Kreuzträger des Eisenbahn-Capitals“ in Nr. 31 dieses Blattes berühren einen sehr wunden Fleck unserer gesellschaftlichen Zustände. In theilweiser Berichtigung, beziehungsweise als ein Beispiel, wie viel wenigstens geboten werden soll, theile ich mit, wie es in diesem Punkte in Württemberg steht. Sämmtliche Bahnen sind Staatsbahnen, mit wenig Ausnahmen. Von Anfang an, seit sechsundzwanzig Jahren, stehen die Bahnwärterhäuser unmittelbar an der Bahn. Zuerst etwas klein und bei zahlreicher Familie beschränkt, schon lange aber zweistöckig, von gefälliger Bauart, bieten sie mit einem Gärtlein daneben, an das sich meist noch ein Stücklein Land anschließt, einen freundlichen Anblick.

Die Gehalte der Bahnwärter und ähnlicher Angestellter steigen von hundertdreißig bis hundertsiebenzig Thaler; im Fall keine freie Wohnung da ist, wird Entschädigung mit dreiundvierzig Thalern gewährt. Hierzu kommt noch freie Dienstkleidung. Dienst sechszehn Stunden auf den Tag, beziehungsweise acht Stunden Nachtdienst.

Es sind dies keine glänzenden Zustände, sie bieten aber ein bescheidenes Loos, das die Gründung einer Familie erlaubt. Das Leben ist im Süden außerdem billiger als in der Mitte und im Norden des deutschen Reiches.

G.



Kleiner Briefkasten.

Eduard F. in Estland. Ueber die Wunderheilcuren des Frl. v. S. in Stuttgart mit Nachcur von ganz einfachen Gebeten: anonym! Wir müssen wissen, wer uns derlei mittheilt. Wer der Oeffentlichkeit Personen mit dem vollen Namen zur Rüge überantworten will, muß von selbst die Pflicht fühlen, seinen eigenen Namen zu nennen und für die Wahrheit seiner Angabe die Verantwortung auf sich zu nehmen.

H. A. Ihre Anfrage giebt uns zu der wiederholten Erklärung Anlaß, daß der der Gartenlaube beigegebene „Allgemeine Anzeiger“ mit der Redaction der Gartenlaube durchaus nichts zu thun hat, sondern daß dieser „Allgemeine Anzeiger“ das völlig selbstständige und mit unserem Blatte in Nichts zusammenhängende Unternehmen eines Dritten ist.

Fräulein D. v. C. Sie wünschen zu wissen, ob ein Herr Ulrich von Hutten, baierischer Artillerie-Hauptmann, 1867 auf einer Reise nach Paris Ihr Fahrgenosse, noch am Leben sei, und wo? Ist’s diesem Herrn möglich, so macht er Ihnen vielleicht das Vergnügen, uns Kunde von sich zu geben. – Die zweite Anfrage müssen wir Ihrer directen Besorgung überlassen. Geheim- und Hausmittel empfehlen wir nicht, falls nicht dieselben durch anerkannt tüchtige Aerzte geprüft und uns empfohlen worden sind.

A. Z. in Breslau. Gesandtes Manuscript „Jeanette“ ist unbrauchbar und in den Papierkorb gewandert.

A. S. in Prag. Daß die Gartenlaube keine deutsch-feindlichen Artikel aufnehmen wird, versteht sich doch wohl von selbst; der sonst so wackere „Tagesbote“ ist also mit seiner Voraussage, bezüglich der Rasch’schen Beiträge, im Irrthum.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Leipzig bei J. J. Weber 1864.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Cezar Bolliac, Vorlage: Cäsar Kolliac