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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[421]

No. 26.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Ein Held der Feder.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Der Winter war vergangen; mehr als sechs Monate lagen zwischen jener Herbstnacht, die für so manches Leben verhängnißvoll geworden war, und dem Frühlingstage, der heute seine sonnige Pracht über B. ausgoß. Sechs Monate voll Schnee und Eis, voll neuer blutiger Kämpfe, voll neuer Siege und Triumphe. Jetzt war der furchtbare Streit geendet! Niedergeworfen in seinem letzten verzweifelten Ringen, erschöpft, bezwungen selbst im Herzen seines Landes, gab der Feind sich endlich überwunden. Der „letzte Krieg um den Rhein“ war ausgekämpft, fortan schützten neue Grenzen ihn und das Reich, das er durchströmte.

In den Rheinlanden war es gewesen, wo der erste Blitz des drohenden Kriegswetters aufzuckte, wo man am meisten gebangt und gezittert, am heißesten gebetet, weil hier die Gefahr am nächsten drohte, die Rheinlande waren es nun auch, die zuerst die Sieger, die Schützer begrüßen durften, und wie einst den Ausziehenden die Hoffnung, so wogte jetzt den Heimkehrenden der Jubel in tausendstimmiger Begeisterung entgegen.

Auch B. blieb nicht zurück in der Siegesfreude und dem Festesglanz, der sich über all’ die Städte und Flecken ringsum ergoß, auch hier wehten die Fahnen von Thürmen und Dächern, umkränzten sich Fenster und Pforten, wogte festlich buntes Leben überall. Das Haus des Doctor Stephan, sonst stets das erste, wenn es galt einen Sieg zu feiern, gehörte diesmal zu Denen, die kahl und schmucklos, mit geschlossenen Thüren und herabgelassenen Jalousien verkündeten, daß man dort einen Gefallenen zu beweinen habe. Der Tod seines Neffen und die Rücksicht auf die noch hier weilende Schwester des Verstorbenen legten dem Stephan’schen Ehepaare diese Zurückhaltung auf, aber all’ die gerechte Trauer um Friedrich, und alle billige Rücksicht auf Jane konnten den Doctor nicht daran verhindern, „seinem Professor“, dessen Rückkehr auf morgen zu erwarten stand, einen festlichen Privatempfang zu bereiten, und da sein Haus außen keinen Schmuck zeigen durfte, so war er ganz heimlich, nur in Begleitung seiner Frau, in die inneren Wohnungsräume des Professors gedrungen, wo Beide bereits den ganzen Nachmittag herumhantirten.

In diesem Augenblick stand der Doctor hoch oben auf einer riesigen Leiter, im Kampfe mit den widerspenstigen Enden einer Guirlande begriffen, die sich durchaus nicht in die vorgeschriebenen Windungen des Namenszuges fügten, der über der Thür des Studirzimmers prangen sollte. Die Frau Doctorin stand am Fuße der Leiter und übte eine ziemlich schonungslose Kritik über die Kunstfertigkeit ihres Eheherrn, bald war ihr das Gewinde zu hoch, bald zu niedrig, bald wollte sie es nach rechts, bald nach links geschoben wissen, endlich behauptete sie gar, der ganze Namenszug sei schief; der Doctor änderte, schwitzte und brummte abwechselnd, zuletzt verlor er die Geduld.

„Du kannst das von da unten gar nicht beurtheilen, mein Kind!“ sagte er ärgerlich. „Geh’ einmal bis an die Thür zurück und beschaue Dir von dort die Sache. Auf den Totaleindruck kommt es an und nicht auf die mathematische Genauigkeit der Linien, der Totaleindruck ist die Hauptsache!“

Die Frau Doctorin ging gehorsam rückwärts, aber gerade in dem Augenblick, wo sie sich an die Thür lehnte, um den wichtigen Totaleindruck besser zu genießen, ward sie von außen geöffnet und der unvermuthet Eintretende fing mit einem Ausruf des Schreckens und Bedauerns die alte Dame, welche beinahe gestürzt wäre, in seinen Armen auf.

„Herr College,“ tönte die Stimme des Doctors im tiefsten Basse von der Leiter herab, „bleiben Sie gefälligst so stehen! Richtig! Und nun sagen Sie mir, ob die Guirlande zu hoch und ob der Namenszug wirklich schief ist.“

Doctor Behrend, an den diese Worte gerichtet waren, hatte anfangs erschreckt in die Höhe und dann nicht minder erschreckt auf die Frau Doctorin herabgesehen, denn er war beim ersten Theil der Anrede noch in dem Irrthum befangen, er solle genau so wie in diesem Augenblick, nämlich mit der alten Dame in den Armen, stehen bleiben. Jetzt ließ er sie mit einer höflichen Entschuldigung frei, um das betreffende Arrangement in Augenschein zu nehmen.

„Es ist sehr schön! Ganz ausgezeichnet, aber –“

„Ich sage es ja, der Totaleindruck!“ rief der Doctor triumphierend, indem er mit einem letzten Hammerschlage das Gewinde an die Thür fesselte, dann den Hammer bei Seite legte und von der Leiter herabkletterte, mit dem jüngeren, ihm seit lange befreundeten Collegen die Hand zu reichen.

„Ich wollte nachsehen, ob Walther’s Wohnung einigermaßen in Ordnung ist,“ erklärte dieser, „und finde zu meiner größten Ueberraschung hier festliche Anstalten. Sie bemühen sich sogar in Person –“

„Selbst ist der Mann,“ sagte der Doctor mit Selbstgefühl. „Hier sind wir noch nicht fertig, aber kommen Sie mit mir in [422] das Allerheiligste des Professors, da können Sie unsere Thätigkeit besser bewundern.“

Damit ergriff er ihn beim Arm und zog ihn in das Studirzimmer. Das „Allerheiligste des Professors“ sah heute allerdings anders aus, als zu der Zeit, da dieser darin zu arbeiten pflegte. Es zeigte überall Spuren von der ordnenden Hand der Doctorin, die grünen Vorhänge waren weit zurückgeschlagen und durch die geöffneten Fenster strömte das volle, blendende Sonnenlicht herein; der Schreibtisch, die Wände, selbst die Bücherschränke waren mit Blumen und Laubgewinden geschmückt, das Ganze hatte ein äußerst festliches Ansehen.

Seltsamerweise zeigte sich der junge Arzt wenig oder gar nicht erfreut darüber, er blickte schweigend und gedrückt im Zimmer umher, sagte etwas von „geschmackvollem Arrangement“ und „großer Freundlichkeit“, schien aber im Ganzen von der seinem Freunde erwiesenen Aufmerksamkeit eher peinlich, als angenehm berührt zu werden.

Zum Glück bemerkte der Doctor in seiner frohen Erregung nichts von dieser eigenthümlichen Gezwungenheit. „Nicht wahr, es macht sich so übel nicht?“ sagte er, sich vergnügt die Hände reibend. „So ganz ohne Sang und Klang soll unser Professor denn doch nicht in meinem Hause einziehen, das unter allen das erste Recht hat, ihn zu begrüßen. Draußen wird er freilich Empfang genug finden! B. hat ihn nun einmal als seinen Helden und Dichter auf’s Schild gehoben, und die Studirenden vollends sind ganz außer Rand und Band. Er ist der einzige von ihren Professoren, der mitgekämpft hat, und wie gekämpft! College, ich sage Ihnen, das hat einen Lärm gegeben, jedes Mal, wenn Ihre Briefe und die übrigen Nachrichten über ihn ankamen. Stadt und Universität schlug die Hände über den Kopf zusammen und seine Gedichte, die Sie uns hersandten, setzten nun vollends, wie der malitiöse Mr. Atkins sich ausdrückt, wie ebensoviel Brandraketen, Alt und Jung in lichterlohe Flammen. Sie wissen doch, daß die Universität einen Empfang beabsichtigt?“

„Ich hörte davon, habe aber den Herren gerathen, einstweilen noch keine Vorbereitungen deswegen zu treffen. Es ist sehr die Frage, ob Walther kommt.“

Der Doctor hätte vor Schreck beinahe die Blumenvase fallen lassen, die er soeben emporgehoben.

„Ob er kommt? Mein Himmel, wir erwarten ja morgen das Regiment mit der größten Bestimmtheit.“

„Gewiß! Aber ich zweifle sehr, daß Walther dabei sein wird. Nach seinem letzten Briefe, den ich heut Morgen erhielt, scheint er in H. zurückzubleiben und für’s Erste überhaupt gar nicht nach B. kommen zu wollen.“

Der Doctor setzte die Vase so heftig auf den Schreibtisch nieder, daß der Fuß zersprang. „Nun, so wollte ich doch, man machte einmal die ganze Militärstrenge gegen diesen widerspenstigen Lieutenant geltend, und zwänge ihn mit Gewalt dazu!“ rief er entrüstet. „So etwas ist denn doch noch nicht dagewesen! Als Kranker, als halb aufgegebener Patient reist er ab, und jetzt, wo er zurück soll, gesund, gefeiert, bewundert von aller Welt, jetzt will er in H. bleiben, will für’s Erste gar nicht herkommen – College, dahinter steckt irgend etwas! Sie haben sofort Urlaub erhalten, der Professor könnte auch längst hier sein, aber er flieht ja unser B. förmlich. Warum nahm er immer den Dienst zum Vorwande seiner Abwesenheit? warum will er jetzt, dem Dienste zum Trotz, fortbleiben? Die Sache ist nicht richtig! Beichten Sie mir einmal!“

„Ich weiß durchaus nichts darüber,“ sagte Behrend ausweichend. „Vielleicht sind ihm die Ovationen zuwider, mit denen man ihn hier zu empfangen gedenkt. Sie wissen ja, er konnte es nie ertragen, sich so in den Vordergrund gestellt zu sehen.“

„Zum Kukuk, so soll er es lernen!“ schrie der Doctor zornig. „Er muß jetzt in den Vordergrund! An dem Gelehrten haben wir uns die ängstliche Zurückgezogenheit noch allenfalls gefallen lassen, jetzt, wo er mit vollen Segeln auf den Dichter lossteuert, werden wir uns diese Grillen verbitten.“

Behrend schüttelte den Kopf. „Setzen Sie keine zu großen Hoffnungen auf Walther’s poetische Zukunft. Ich fürchte sehr, er legt mit dem Degen auch den Dichter bei Seite, vergräbt sich wieder unter seinen Büchern, verschließt sich ärger als je gegen die Außenwelt, und steht nach einem Jahre genau auf dem Punkte, wo er im Anfange des Krieges stand.“

„Er wird doch nicht!“ rief der Doctor erschreckt.

„Er wird es, seine Stimmung ist ganz danach. Walther bleibt mit all seiner Genialität ein unverbesserlicher Träumer, er hat nur die Energie des Augenblicks. Solche Naturen leisten in der Erregung und Begeisterung schlechterdings Alles; sobald ihnen dieser Anreiz fehlt, sinken sie wieder in ihre Träumerei zurück. Das Leben im Alltagsgewande vermag ihnen nichts zu geben, weil sie es einfach nicht verstehen.“

„Schöne Aussichten!“ sagte der Doctor, ärgerlich hin- und her gehend.

„Was in solchem Gelehrten- und Poetenkopfe Altes spukt, davon hat ein vernünftiger Mensch, wie Unsereiner, gar keine Idee!“

Behrend blickte gedankenvoll durch’s Fenster, wo zwischen den Büschen des Gartens hin und wieder ein dunkles Frauenkleid sichtbar ward.

„Im fehlt der Sporn zum Schaffen!“ sagte er ernst. „Ihm fehlt eine energische glühende Kraft, die ihm täglich und stündlich zur Seite ist und ihn immer wieder in’s Leben zurückreißt, die sich zwischen ihn und die Wirklichkeit stellt, für ihn den Kampf mit der Welt aufnimmt und ihm das giebt, was er nun einmal nicht besitzt, Ehrgeiz und Selbstvertrauen. Würde ihm das zu Theil, ich glaube, dann wäre seiner Zukunft das Höchste aufbehalten; wenn aber zu solcher Charakteranlage noch eine unglückliche Leidenschaft kommt –“

Hier fuhr der Doctor plötzlich herum und sah ihm mit grenzenlosem Erstaunen in’s Gesicht. „Eine unglückliche Leidenschaft! Um Himmelswillen, unser Professor ist doch nicht etwa gar verliebt?“

Behrend biß sich ärgerlich auf die Lippen. „Nicht doch! Es fuhr mir nur so heraus, es ist eine bloße Vermuthung.“

Der Doctor ließ sich jedoch nicht so leicht abweisen. „Nichts da! Sie haben sich verplaudert, jetzt heraus mit der Wahrheit! In wen ist der Professor verliebt? Seit wann ist er es? Weshalb ist die Liebe unglücklich? Am Ende gar eine Französin? Hindernisse von Seiten der Familie – Nationalitätenhaß – Nicht?“

„Ich weiß nichts darüber, Herr College.“

„Sie sind unerträglich mit Ihrem ewigen ‚Ich weiß nicht‘,“ grollte Stephan. „Sie wissen die Sache ganz genau, und meiner Discretion können Sie doch sicher trauen.“

„Ich wiederhole Ihnen, daß meine Idee sich auf eine bloße Vermuthung gründet. Sie kennen ja Walther’s Verschlossenheit, er hat nie auch nur ein Wort darüber zu mir gesprochen. Jedenfalls bitte ich Sie dringend, von meiner unfreiwilligen Indiscretion keinen Gebrauch zu machen, und etwa der Frau Doctorin –“

„Meiner Frau?“ Der Doctor warf einen Blick nach der Thür, die er zum Glück fest hinter sich geschlossen hatte. „Gott behüte! Die machte das ganze weibliche B. aufrührerisch mit der Entdeckung! Der Professor ist bei unseren Damen ohnehin schon zum Helden geworden; wenn ihn nun noch der Nimbus einer unglücklichen Liebe umgiebt, so kann er sich nicht retten vor all der romantischen Theilnahme. Wer hätte das von unserem schüchternen Gelehrten gedacht, als er hier am Schreibtisch saß, und ich ihm eine Vorlesung darüber hielt, daß an ihm körperlich und geistig eigentlich nichts mehr zu ruiniren wäre. Jetzt geht er in den Krieg, kämpft, macht Gedichte, verliebt sich – es ist himmelschreiend!“

„Ich muß fort,“ sagte Behrend, dem augenscheinlich daran lag, die Unterhaltung abzubrechen. „Sie entschuldigen mich für heut.“

„Gehen Sie nur!“ brummte der Doctor ärgerlich. „Aus Ihnen ist doch nichts herauszubekommen, aber lassen Sie den Professor nur erst hier sein, ich werde ihm den Kopf zurechtsetzen.“

Der junge Arzt lächelte flüchtig. „Versuchen Sie es! Ich habe bereits das Möglichste gethan, aber gegen diese krankhafte Schwermuth ist nun einmal nicht aufzukommen.“

Er ging und Stephan blieb äußerst verstimmt zurück. Die Freude an all den festlichen Anstalten war ihm durch die soeben empfangenen Nachrichten gründlich verdorben, er mußte sich sagen, daß der Professor, wenn er überhaupt kam, schwerlich in der Stimmung sein würde, den seinetwegen veranstalteten Empfang [423] zu würdigen. Es war nichts mit der gehofften Ueberraschung, seit Friedrich’s Tode ging überhaupt Alles verkehrt!

Der Tod ihres Neffen war dem Doctor und seiner Frau bei alledem doch sehr nahe gegangen, und es war für sie ein bitterer Tag gewesen, wo der, den sie als Diener hatten ausziehen lassen, als nächster Verwandter im Sarge zu ihnen zurückkehrte. Der Stachel, der Jane unaufhörlich peinigte und sie nicht zur Ruhe kommen ließ, hatte auch für sie einen Theil jenes Schmerzes in dem Gedanken, daß sie das so lange und angstvoll gesuchte Kind der Schwester, für dessen Auffindung Tausende vergebens geopfert waren, schließlich im eigenen Hause gehabt, ohne ihm auch den kleinsten Theil von all dem geben zu können, was ihm in so reichem Maße zukam. Und doch war der arme Bursche so dankbar gewesen für das Wenige, was er an Freundlichkeit von ihnen empfangen. Sie hörten immer noch seine treuherzigen Abschiedsworte: „Sie haben mir viel Gutes gethan in den drei Jahren; wenn ich zurückkomme, will ich’s redlich wieder gut machen, wenn nicht, vergelt’s Gott!“ – Er war nicht zurückgekommen.

Freilich, wer hätte auch in dem Friedrich Erdmann, den der Professor mit nach B. brachte, den verschwundenen Fritz Förster vermuthen können! Der Name, den seine Pflegeeltern auf ihn vererbt, vereitelte die Entdeckung, und eine zweite Namensänderung wurde auf’s Neue verhängnißvoll für ihn. Wäre die Schwester als Johanna Förster in das Haus ihrer Verwandten zurückgekehrt, es hätte den Bruder, der die Seinen ja in Amerika wußte, doch wohl zu einer Erinnerung, einer Aeußerung geführt, die Alles gelichtet hätte; das fremdklingende Jane Forest machte es unmöglich, und die untergeordnete Stellung Friedrich’s that das Uebrige. Den Diener hatte natürlich Niemand nach seinen Lebensschicksalen oder seinem früheren Namen gefragt, und Professor Fernow, der Beides kannte, stand in seiner einsiedlerischen Zurückgezogenheit dem Doctor viel zu fern, als daß dieser ihn zum Vertrauten von Familienangelegenheiten und Nachforschungen hätte machen sollen, die Jane, seit sie Atkins zur Seite hatte, mit ihrer gewohnten Selbstständigkeit so viel als möglich der Kenntniß des Oheims entzog. Der rettende Zufall, der so leicht mit irgend einem Worte, einem Zeichen zwischen die Geschwister hätte treten können, blieb aus, das entscheidende Wort wurde erst in der Todesstunde gesprochen. Vielleicht war es auch mehr als bloßer Zufall, es sollte eben nicht sein, dem Erben Forest’s sollte von all seinem Reichthum nichts zu Theil werden, als das prachtvolle Denkmal über seinem Grabe, und ihm nützte es ja auch nichts mehr, daß der junge Erdmann, an den man noch nachträglich geschrieben, den letzten Zweifel hob, wenn ein solcher noch möglich gewesen wäre. Er gab die geforderte Adresse seines Pflegebruders in B. bei dem Professor an und bestätigte im Uebrigen Wort für Wort, was man bereits wußte. Es gab dem Todten auch vor der Welt den Namen, der ihm rechtmäßig zukam, für alles Andere war es zu spät.

Das Verhältniß zwischen Jane und ihren Anverwandten war wo möglich noch kälter als früher, und sie ihrerseits that nicht das Geringste, es wärmer zu gestalten. Als sie, von Alison und Atkins begleitet, mit der Leiche ihres Bruders in B. anlangte, waren ihr Oheim und Tante mit herzlicher Theilnahme entgegengekommen, aber sie fanden keine Antwort darauf. Jane schloß sich in ihrer Trauer noch starrer ab als früher in ihrem Hochmuthe; sie trug auch dies, wie sie gewohnt war, alles Uebrige zu tragen, allein und schweigend. Der Doctor und seine Frau waren nicht im Stande, einen Schmerz zu begreifen, der dem Mitleid wie der Theilnahme unzugänglich blieb, und die vorgefaßte Meinung von der Herzlosigkeit ihrer Nichte galt ihnen jetzt als unumstößlich. In der That war diese eine zu energische, zu fest in sich abgeschlossene Natur, um sich so über Nacht zu ändern oder ihrem Charakter untreu zu werden. Was sie dem sterbenden Bruder im Moment der tiefsten Erschütterung gezeigt, daß sie wirklich ein Herz besaß, das zeigte sie eben keinem Andern, und was Doctor Behrend von Walther behauptete, das galt auch von ihr. Auch ihre Zukunft hing an einer fremden Kraft, und schon die nächsten Tage sollten darüber entscheiden, ob sie mit vollster Bitterkeit zu der alten Härte zurückkehren oder allmählich zu jenem Wesen werden sollte, das bis jetzt nur Einer in ihr kannte, gegen das sie selbst mondenlang angekämpft und dem erst die Todesstunde des Bruders wirklich die Bahn gebrochen.

Atkins hatte während des Winters gleichfalls seinen Wohnsitz in B. genommen; Alison dagegen war bereits nach wenigen Tagen wieder abgereist. Er mochte wohl fühlen, daß seine Gegenwart jetzt nicht geeignet war, Jane Trost zu geben; so nahm er denn seinen ursprünglichen Reiseplan wieder auf, den Herbst und Winter zu einer Tour durch die Schweiz und Italien zu benutzen, und stand jetzt, nachdem er im Frühjahr noch die größeren Städte Deutschlands besucht, im Begriff, nach B. zurückzukehren. Noch wußten der Doctor und seine Frau nichts von seinen nahen Beziehungen zu ihrer Nichte. Jane hatte sie davon mit keinem Worte unterrichtet; sie wußten nur, daß jetzt, wo das Jahr ihres Aufenthalts um und der Zweck desselben erreicht war, sie nach Amerika zurückkehren werde, und daß die Abreise auf den Anfang des nächsten Monats festgesetzt war. Es sollte Atkins überlassen bleiben, den neuen Verwandten einzuführen und ihnen die Mittheilung zu machen, daß Jane als Mrs. Alison die Rückreise antreten werde, da man es passender fand, die Ceremonie der Heirath hier im Hause der Verwandten zu vollziehen. Der übergroße Respect und die Unterordnung, welche diese stets dem Reichthum der jungen Dame gegenüber gezeigt, trug jetzt seine Früchte; man behandelte sie gleichfalls als untergeordnet und gab ihnen von den intimsten Familienbeziehungen erst in dem Augenblicke Kenntniß, wo man ihrer bedurfte, um eine längst beschlossene Verbindung mit den nöthigen Förmlichkeiten zu vollziehen.

In Atkins’ Wohnung befand sich dieser mit Alison, der erst vor wenigen Stunden angekommen und vorläufig bei ihm abgestiegen war; aber sein Wesen verrieth heute nichts von jener leidenschaftlichen, mühsam unterdrückten Ungeduld, die ihn damals bei seiner ersten Ankunft in B. sofort zu Jane trieb und ihm den Spott seines Begleiters zuzog; er stand jetzt so gelassen am Fenster und blickte so gleichgültig hinab auf die Straße, als eile es ihm durchaus nicht mit dem bevorstehenden Wiedersehen.

Der junge Amerikaner sah heut anders aus, als in jener Nacht, wo die entfesselte Leidenschaft ihn über alle Schranken hinwegriß. Er hatte in den sechs Monaten hinreichend Zeit gehabt, sich selbst wiederzufinden, und dies schien ihm auch im vollsten Maße gelungen zu sein. Er war wieder ganz der gemessene, ruhige Geschäftsmann, mit dem kalten berechnenden Blick und der conventionellen Glätte; was darunter verborgen war und sich einst so gefahrdrohend enthüllt hatte, war zurückgesunken in die Tiefe. Sein Antlitz sah aus, als habe es nie eine Erregung gekannt, nur Eins war dort zurückgeblieben, jener Zug feindseliger Härte und kalter Grausamkeit, der bei dem Zusammentreffen in S. zum ersten Mal hervortrat; er stand noch immer in seinem Gesichte, stand noch so fest eingegraben darin, als sei er während der ganzen sechs Monate auch nicht eine Secunde lang von ihm gewichen.

„Sie kommen sehr spät, Henry!“ sagte Atkins, der neben ihm stand. „Wir haben Sie früher erwartet.“

Alison wendete sich um und blickte ihn an. „Wir? Sprechen Sie auch in Miß Forest’s Namen?“

Atkins umging die Antwort. „Sie hätten früher kommen sollen,“ wiederholte er ernst. „Es war nicht rücksichtsvoll, Miß Jane dem ganzen Siegesjubel hier preiszugeben, der ihr nach dem Verlust, den sie erlitten, bitter sein muß. Wir könnten längst alle Drei auf dem Wege nach Amerika sein.“

Henry zuckte gleichgültig die Achseln, „Meine Reisedispositionen ließen keine Aenderung zu, überdies nahm ich an, man würde mir für jeden Aufschub dankbar sein. Mr. und Mrs. Stephan sind noch nicht unterrichtet?“

„Bis jetzt noch nicht.“

„Wohl, so werde ich mich ihnen heut, nach der Unterredung mit meiner Braut, als Verwandten vorstellen. Die drei Wochen bis zum Anfange des nächsten Monats sind hinreichend für alle die hier nothwendigen Formalitäten, und unmittelbar nach der Ceremonie treten wir die Rückreise an. Sie kennen doch meine Uebereinkunft mit Miß Forest?“

„Jane hat mir nur mitgetheilt, daß sie Alles gänzlich Ihrer Bestimmung überläßt, und daß ich mich wegen der Anordnungen einzig an Sie zu wenden habe.“

„Gut, ich bestimme es so!“ sagte Henry kurz, „also haben Sie die Güte, die nöthigen Vorbereitungen zu treffen.“

Er wandte sich wieder zum Fenster und blickte hinaus, Atkins schwieg eine Weile, plötzlich aber legte er die Hand auf seinen Arm.

„Das Regiment wird morgen zurückerwartet, Henry!“

[424] Alison blieb unbeweglich. „Ich weiß es!“

„Und Mr. Fernow kommt ebenfalls,“ fuhr Jener mit bedeutsamem Nachdruck fort.

Henry blickte ihn ruhig an. Wissen Sie das so genau?“

„Nun, er wird doch nicht zurückbleiben bei einem Empfange, der hauptsächlich ihm gilt!“

„Er wird nicht kommen!“ sagte Henry kalt. „Nach dem, was zwischen uns vorgefallen ist, betritt er das Haus nicht, so lange meine Braut darin weilt, oder ich müßte das deutsche Ehrgefühl nicht kennen.“

Atkins sah ihn zweifelnd an. „Nun, ich war nicht Zeuge Ihrer Unterredung, Sie müssen wissen, was von ihm zu erwarten ist, aber wenn er wirklich fortbleibt – sind Sie Miß Forest’s ebenso sicher?“

Henry gab keine Antwort, er lächelte blos in seiner unheimlichen Weise.

„Sie haben ihr Versprechen, es ist wahr! Wenn sie Ihnen nun aber jetzt die Erfüllung verweigerte?“

„Sie wird sie nicht weigern.“

Atkins schien diese mit großer Bestimmtheit ausgesprochene Ueberzeugung nicht zu theilen. „Sie könnten sich doch im Irrthum befinden!“ sagte er. „Jane ist nicht mehr in der dumpfen Betäubung, wie bei unserer Ankunft in B. Sie schweigt, wie gewöhnlich, aber ich weiß es, daß alle ihre Seelenkräfte jetzt auf einen Entschluß hinarbeiten, und dieser Entschluß wird schwerlich blinde Unterwerfung unter Ihren Willen sein. Sehen Sie sich vor!“

Henry lächelte wieder, es war ein fast mitleidiger Blick, mit dem er auf den Warner herabsah.

„Und glauben Sie denn wirklich, ich wäre im Stande gewesen, abzureisen und ruhig ein halbes Jahr lang fern zu bleiben, wenn ich mich nicht vorher nach allen Seiten hin gesichert hätte? – Ich habe Mr. Fernow gefordert, er verweigerte es mir damals bis nach beendetem Kriege, jetzt bindet ihn sein Wort und mir steht als dem Beleidigten der erste Schuß zu. Miß Forest weiß das, und sie weiß auch, daß ich ihn niederschießen werde, wenn sie sich nicht bedingungslos dem fügt, was ich zu beschließen für gut finde. Die Wahl ward ihr schon damals gestellt, als der Tod meines Schwagers einen Aufschub der Heirath veranlaßte und sie so energisch von mir Zeit für ihre Trauer verlangte. Ich habe sie ihr hinreichend gelassen, denn ich wußte, daß keine Sinnesänderung zu befürchten stand. Es gilt sein Leben! an der Angst halte ich sie fester, als an einem zehnfachen Schwur; sie wird nicht wagen, nur auch nur mit einem Worte zu widerstreben, sie kennt den Preis seiner Rettung.“

Atkins sah ihn fast mit Entsetzen an. „Und Sie wollen wirklich ihre Hand so erzwingen? Nehmen Sie sich in Acht, Henry! Jane ist kein Wesen, das sich geduldig opfern läßt, sie wird das gestörte Lebensglück an Ihnen rächen; Sie erkaufen sich die ersehnte Million mit einer Hölle im Hause.“

Alison’s Lippen zuckten verächtlich. „Beruhigen Sie sich, Mr. Atkins, über unser zukünftiges Eheglück. Ich glaube denn doch, daß ich meiner Gattin einigermaßen gewachsen bin. – Doch es möchte jetzt wohl Zeit sein, daß wir uns zu Mr. Stephan begeben; darf ich Sie bitten, sich fertig zu machen?“

Atkins zögerte noch einen Augenblick. „Henry,“ sagte er bittend, „was auch zwischen Ihnen Beiden erörtert werden mag – schonen Sie Jane, sie hat furchtbar gelitten in dieser ganzen Zeit.“

„Hat sie mich geschont?“ fragte Henry eiskalt. „Die stolze Miß Forest hätte mich bei Seite geworfen, wie eine unnütze Last, ruhte nicht zufällig ein anderes Leben in meiner Hand. Jetzt habe ich die Macht und setzt werde ich sie brauchen, der Trotz soll mir zu Boden um jeden Preis!“

Atkins stieß einen Seufzer aus, als er in das Nebenzimmer ging, um Hut und Handschuhe zu holen. „Das wird eine Ehe! Gnade uns Gott, wenn die Beiden erst Mann und Weib sind!“ –

Der formelle Theil des Besuches im Stephan’schen Hause war vorüber. Alison hatte den Doctor und seine Frau begrüßt und die bei einer solchen Visite unvermeidlichen Redensarten, Fragen und Antworten über sich ergehen lassen, aber diesmal verrieth er keine brennende Ungeduld, die Unterhaltung abzubrechen, sondern wartete ruhig, bis Atkins sie beendete und ihn zu Jane führte, die, trotzdem sie von seiner Ankunft wußte, in ihrem Zimmer geblieben war.

Auch hier gab es eine höfliche kalte Begrüßung, einige Worte über die Reise, die Ankunft und die letzten Orte des Aufenthaltes, dann zog sich Atkins zurück, Henry und Jane blieben allein.

Sie saß ihm wieder gegenüber, wie einst, als er um ihre Hand warb, nur bleicher als damals, sie war um so vieles bleicher geworden während dieses Winters, aber auch sie hatte sich in der langen Zeit wiedergefunden. Das Haupt erschien wieder aufrecht, die Züge fest und kalt und das Auge begegnete mit dem alten Trotze dem seinigen. Das war nicht die Haltung der Ergebung oder Unterwerfung, Atkins hatte Recht, sie wollte noch einen letzten Kampf wagen. „Wozu das nutzlose Ringen! Ich lasse dich ja doch nicht los!“

Vielleicht las Jane diesen Gedanken auf seinem Gesicht, denn ihre Stirn verfinsterte sich und ihre Lippen preßten sich fester aufeinander! Diese beiden Wesen, die sich in Kurzem vereinigen sollten für immer, sie standen sich jetzt so feindlich gegenüber, als gelte es einen Kampf auf Leben und Tod. Beide wußten es, sie waren einander ebenbürtig an Energie, an Willenskraft und Unbeugsamkeit, nicht einen Fußbreit Raum wollte Einer dem Andern gönnen, jetzt galt es zu zeigen, wessen Wille der stärkere war.

Henry hatte bereits seine Stellung genommen, er hüllte sich gänzlich in jene kalte Höflichkeit, die er schon bei der Begrüßung zur Schau getragen.

„Ich komme, Miß Forest, ein Versprechen einzufordern, das ich bereits vor Jahresfrist erhielt, und das mir hier an dieser Stelle wiederholt ward. Ihrer Trauer um den jungen Mr. Forest, der auch ich mich aufrichtig anschloß, ist wohl jetzt genug geschehen, und ich darf Sie bitten, den Tag unserer Verbindung festzusetzen. Mr. Atkins wünscht die genaue Kenntniß desselben, all’ der Umständlichkeiten wegen, die hier zu einer Heirath nöthig sind, und auch ich habe noch verschiedene Vorbereitungen für die Abreise zu treffen. Wir hatten den Anfang des nächsten Monats dazu bestimmt; Tag und Stunde, sowie die Art der Ceremonie bleibt natürlich gänzlich Ihrer Entschließung überlassen; ich erwarte Ihre Befehle in Bezug darauf.“

Jane athmete schwer. Der Eingang war meisterhaft gewählt, er machte jede Einwendung von vornherein unmöglich, aber so leicht sollte ihm der Sieg denn doch nicht werden.

„Sie haben mein Wort, Mr. Alison, es ist wahr, und ich bin bereit, es einzulösen, wenn Sie nach dem, was zu Ihrer Kenntniß gelangt ist, noch wagen, es einzufordern.“

Worte und Blicke glitten gleich wirkungslos an der Eiseskälte ab, mit der sich Henry gewaffnet hatte, er blieb vollkommen gelassen.

„Und weshalb sollte ich es nicht wagen, eine Hand zu fordern, die mir freiwillig zugesagt ward und mir auch freiwillig zu Theil geworden wäre ohne jenen – Zwischenfall, der in meinen Augen nur von sehr untergeordneter Bedeutung ist? Miß Forest ist denn doch ein zu kostbarer Besitz, als daß man ihn einer romantischen Aufwallung wegen opfern sollte, ich wenigstens bin nicht gesonnen, es zu thun.“

„Sie vergessen Eins!“ Jane’s Stimme verrieth unwillkürlich die furchtbare Erregung, in welcher sie sich befand. „Bisher hatten Sie die Macht, mich zu quälen, und Sie haben es redlich gethan, von dem Augenblick unserer Vermählung an fällt sie mir zu. Ein Weib kann dem Manne zum Fluche werden, wenn er sie hassen lehrt, wo sie lieben sollte – zwingen Sie mich in jenes Band, und ich werde es Ihnen sein.“

Aber auch diese so energisch herausgeschleuderte Drohung blieb machtlos gegen Henry’s Ruhe, er lächelte dazu, wie er vorhin zu Atkins’ Worten gelächelt hatte.

„Ich glaube schwerlich, daß wir den Roman, in den uns die deutsche Sentimentalität wider Willen hineingezogen, auch auf amerikanischem Boden fortsetzen werden, die Luft ist dort nicht günstig für dergleichen Extravaganzen, wir lassen sie besser hier zurück. Ich bin überzeugt, Mrs. Alison wird mein Haus so glänzend repräsentiren und in den Cirkeln unserer Stadt so unbedingt die erste Rolle spielen, wie Miß Forest es einst that, sie wird dafür Umgebungen finden, die ihrer würdig sind, und einen Gatten, dessen Name und Stellung ihr Ehre macht. Zu einer Schäferidylle wäre unsere Ehe ohnehin nie geworden, tragisch braucht sie auch jetzt noch nicht zu werden, und sollten Sie die Absicht haben, Miß, sie in dieser Weise zu gestalten, so würde das eben nur auf Ihren Antheil fallen, denn ich meines Theils besitze auch nicht die geringste Empfänglichkeit dafür.“

(Fortsetzung folgt.)
[425]

Deutsche Einquartierung im französischen Pfarrhause.
Nach seinem Oelgemälde für die Gartenlaube auf Holz gezeichnet von F. Ortlieb in München.

[426]
Die Krankheiten des Haupthaares und ihre ärztliche Behandlung.
Von Stabsarzt Dr. J. Pincus, Docent an der Universität zu Berlin.
II.


Sie hatten mich gefragt, ob man sich gegen die Krankheitsreize, welche die Kopfhaut treffen, zu schützen vermag, und ich hatte Ihnen geantwortet: gegen die meisten allerdings.

Diejenigen Schädlichkeiten, welche das Haar des Kindes oft dauernd in seinem Wachsthum beeinträchtigen, habe ich bereits erwähnt: Kopfausschläge, und bei Mädchen unsanftes Frisiren.

Bezüglich des späteren Alters habe ich in dem Aufsatz über „den Haarschwund“, den Sie ja nach Ihrer Angabe gelesen haben, schon erwähnt, daß die meisten Laien das allmähliche Hinschwinden der Haare für eine Schwäche des Gesammtkörpers oder der Kopfhaut halten, daß ich jedoch nach meinen Beobachtungen und Untersuchungen dieser Ansicht nur für wenige Fälle zustimmen kann und daß ich für die bei Weitem meisten Fälle den Haarverlust aus einer andauernden Reizung der Kopfhaut ableiten muß. In einigen Aufsätzen, welche ich in medicinischen Zeitschriften veröffentlichte, habe ich den Nachweis geliefert (und ich bitte Sie nur, mir hier einmal ohne ausführlichere Erörterungen auf’s Wort zu glauben), daß nicht ein einfacher Schwund, sondern eine Induration, das heißt eine Verhärtung der Kopfhaut dem Haarverlust zu Grunde liegt. Die Verhärtung ist aber Folge einer krankhaften Reizung. Es erfolgt diese Reizung entweder unmittelbar an der Kopfhaut selbst, oder (und dies ist der weit häufigere Fall) es wird die Reizung anderer Organe durch Vermittlung der Nerven auf die Kopfhaut übertragen.

Bezüglich der örtlichen Reizung unterliegt es zunächst keinem Zweifel, daß auch bei Erwachsenen eine andauernd zerrende Frisur, eine sehr schwere Kopfbedeckung, ein schlecht sitzender Helm, Hiebe auf den Kopf (Studenten-Duelle) einem von Hause aus etwas schwachen Haar erheblich schaden können. Noch bedenklicher ist eine Reizung, welche von Vielen geradezu für heilsam gehalten wird: die täglichen Brausebäder auf den Kopf. Ich selbst und eine große Zahl meiner Patienten, wir verdanken unsern vorzeitigen Haarverlust dieser unpassenden Anwendung des kalten Wassers. Schon das tägliche Waschen der behaarten Kopfhaut mit kaltem Wasser ist ein Reiz, der einen rascheren Haarwechsel hervorruft – aber das tägliche Brausen auf den Kopf (und dies sage ich besonders den zahlreichen Freunden forcirter Kaltwassercuren) viele Monate hindurch, zumal im ersten Mannesalter, greift das Haar gewöhnlich in hohem Grade an. Kann man durchaus (wegen des Gesammt-Befindens) die Brause nicht entbehren, so schütze man wenigstens den Kopf am besten, indem man ihn ganz außer dem Bereich des Wasserfalls bringt; geht das wegen der anderen Zwecke nicht an, dann durch eine Badekappe aus Wachstaffet.

Es leuchtet dem Laien leicht ein, daß Schädlichkeiten, welche die Kopfhaut unmittelbar treffen, auch das Haar ergreifen können. Schwerer begreiflich möchte ihm meine Behauptung erscheinen, daß die Reizung anderer, von der Kopfhaut entfernter Organe sich durch Vermittlung der Nerven auf die Kopfhaut übertragen kann. Indeß diese Behauptung unterliegt keinem Zweifel, und wenn Sie nur sorgfältig Ihre eigenen Erfahrungen oder die Ihrer Bekannten berücksichtigen, so werden Sie selbst bestätigende Beispiele genug angeben können. Zwei Organgruppen sind es besonders, die ihre eigene Reizung auf die Kopfhaut übertragen: die Unterleibsorgane und die Centra des Nervensystems.

Bezüglich der ersteren muß ich Eltern und Erzieher eindringlich und freundlich mahnen, die Entwicklungs-Epoche ihrer Kinder und Zöglinge zu überwachen. In der Zeit, da der Knabe zum Jüngling, das Mädchen zur Jungfrau erblüht, da eine bis dahin nur geahnte oder nicht einmal geahnte Reihe mächtiger Empfindungen auftritt und der Phantasie eine concentrirte Richtung und eine lebhafte Färbung giebt, da wird durch den Mangel richtiger Leitung viel Lebensfrische gedämpft, viel Leid erzeugt: ein solches Leid ist die erhebliche Verschlechterung des Haarwuchses, die in ihren ersten Anfängen sehr bald auftritt, aber erst nach vielen Jahren recht auffällig wird.

„Worin soll die richtige Leitung der heranwachsenden Jugend bestehen?“

In der Aufklärung, in der freundlich warmen, keuschen Darlegung. Sie schütteln den Kopf? Sie zweifeln? Sie meinen: „Ist es nicht bedenklich, wenn ich meinem Sohne, meiner Tochter Aufklärung über die körperliche Entwicklung gebe? Hat es damit nicht noch einige Jahre Zeit, bis eigene Erfahrungen sie zum Nachdenken gebracht haben? Störe ich nicht vielleicht jetzt ihre glückliche, unbefangene Unwissenheit?“ – Ich aber antworte Ihnen: Ihr Sohn, Ihre Tochter bleiben nicht unbefangen, unwissend; Sie können das Ohr Ihres Kindes nicht abschließen vor dem Worte Fremder! Glauben Sie es mir, dem Arzte, der über diesen Punkt viel beobachtet, viel gesonnen und mit Aerzten, Lehrern und Lehrerinnen sehr eingehend gesprochen hat! Durch des Vaters Mund soll der Sohn, durch der Mutter Mund soll die Tochter vernehmen, welche Entwicklung ihr Körper erfährt und weiterhin erfahren wird; – so vernehmen sie es in Züchtigkeit und Milde, und wenn sie nun klar wissen, was sie vorher dunkel ahnten, so können sie trotz dem Wissen unbefangen bleiben, und sie bleiben leichter rein. Und wenn dann ihr Ohr von leichtsinnigen oder schlimmen Unberufenen Worte hört, vor denen wir sie schützen möchten, aber doch nicht schützen können, oder wenn ihnen schlimme Lectüre vor die Augen kommt, dann ist der schädliche Einfluß dieser Worte, dieser Bücher schon halb gebrochen.

Nochmals, ich bitte recht dringend, Aufklärung aus Ihrem Munde ist nöthig. Nun – Sie nicken zustimmend; das freut mich herzlich. Denn ich weiß: es fällt den Eltern oft recht schwer, ihre Zurückhaltung zu überwinden. Aber dies Ueberwinden ist nöthig, durchaus nöthig.

Unter den eigentlichen Krankheiten der Unterleibsorgane haben die acuten Entzündungen oft einen ungünstigen Einfluß auf die Farbe des Haares: sehr viele Fälle vorzeitigen und raschen Ergrauens sind daher abzuleiten. Unter den chronischen Störungen greifen die anhaltenden Katarrhe des Magens und Darmes und die Reizzustände der Leber das Haar oft sehr an. Eine Reihe von Erschöpfungszuständen, welche von chronischen Unterleibskrankheiten eingeleitet oder begleitet werden (Bleichsucht, viele nervöse Beschwerden), haben den gleichen unangenehmen Einfluß auf das Haar.

„Kann man bei dem Bestehen solcher Leiden das Haar durch besondere Maßnahmen schützen?“

Dasjenige, was ich Ihnen früher als die wichtigsten Momente der Pflege des Haares bezeichnet habe, verdient in solchen Krankheitszuständen eine ganz besondere Berücksichtigung Ihrerseits. Diese Krankheiten sind übrigens an und für sich in der Regel so deutlich, daß sie die Betroffenen veranlassen, ärztliche Hülfe zu suchen. Die Curmethoden, welche jene Leiden erfolgreich bekämpfen, kommen auch dem Haarwachsthum zu gut; oft genug schwinden jene Leiden, aber das Haar will sich nicht erholen; dann läßt sich zuweilen (freilich nicht immer) noch nutzreich eine örtliche Behandlung der Kopfhaut einleiten.

Stets behauptet, vielfach bestritten, aber nach meiner Meinung unzweifelhaft feststehend ist die reizende Rückwirkung der Reizungszustände der Centra des Nervensystems, namentlich des Gehirns, auf die Kopfhaut; angestrengte Geistesarbeit, starke Gemüthsbewegungen, stiller Kummer, andauernde Störungen des Schlafes – und das sind, medicinisch gesprochen, Reizungen des Gehirns – haben diese Rückwirkung auf das Haarwachsthum. Nun ist es unmöglich, Kummer, Sorge, Aufregung aus der Welt zu schaffen, und es liegt mir natürlich fern, geistige Anstrengung zu widerrathen, etwa damit das Haar nicht leide – aber die Erfahrung lehrt, daß eine tüchtige körperliche und geistige Organisation allen Widerwärtigkeiten und allen Geistesanstrengungen trotzt, ohne Schaden, auch ohne Schaden für das Haar – man stähle sich daher zu guter Zeit durch Uebung und Gewöhnung, um im Leid Kraftvorrath zu haben, und wer schwach ist, der meide – nicht die Anstrengung, aber wohl die Ueberanstrengung, und unabwendbares Leid trage er in milder Ergebung.

Uebrigens wird auch in solchen Zuständen die Beachtung der von mir gegebenen Regeln für die Pflege des Haares sichtbaren Nutzen für das Wachsthum desselben schaffen. –

Die Worte, die ich hier geschrieben, sie dringen, so weit die deutsche Zunge klingt; sie werden gelesen in tausenden von den Centralpunkten der Geistesarbeit isolirten Familien, die in der [427] Gartenlaube ihren einzigen ärztlichen Berather haben. Als ich jüngst im hiesigen neuen Rathhause bei dem Feste, welches die Stadt Berlin dem ersten deutschen Reichstage gab, von der Höhe der großen Treppe auf die Festversammlung, welche sich zu den Erfrischungssälen hinaufbegab, hinsah und in dieser Gemeinschaft edelster Männer jedes zweite Haupt glänzend kahl fand, da mußte ich, wie schon so oft bei ähnlicher Wahrnehmung in großen Versammlungen, des Satzes denken, den der alte schlesische Schulrath Menzel, ein würdiger Mann, in seiner Geschichte der Deutschen an die Spitze der Vorrede gestellt hat: „Unsere Voreltern behielten, wie die alten römischen Schriftsteller berichten, ihre Haare und ihre Zähne bis in’s hohe Alter unversehrt!“ Und heute? Ist unser Geschlecht entartet? – Wahrlich nicht! In der zweitausendjährigen Geistesarbeit, die wir vollbracht haben, hat unsere Organisation in ihrem Grundwesen keine Erschütterung erfahren – nur äußerlich etwas zerzaust haben uns die Kämpfe.

Ich habe die Ueberzeugung, daß die möglichst vielseitige Beachtung meiner hier gegebenen Rathschläge der heranwachsenden Generation ein dauerhafteres Kopfhaar schaffen wird, als wir haben. Man vermeide die angegebenen Entstehungsursachen der chronischen Haarleiden, so weit dies möglich ist, und wo man Gefahr fürchtet, da zähle man, wie ich in dem früheren Aufsatze angegeben habe, den Haarausfall. Das Zählen ist mühsam, lieber Leser, sehr mühsam! das weiß ich sehr wohl – aber es steckt die Mühe zwölfjährigen Zählens und Untersuchens mehrerer Hunderttausende von Haaren in dem Gesetz, das ich Dir angegeben habe: „in der Norm darf bei lang getragenem Haar nie mehr als der vierte Theil des Haarausfalls unter sechs Zoll messen,“ und es steckt die Arbeit von acht Jahre hindurch fortgesetzten vielen Tausenden von Versuchen in dem Medicament, welches ich Dir am Schlusse dieses Aufsatzes rathen werde. Ich sage Dir das nicht, um einen besondern Dank von Dir einzuernten, denn, so schwer meine Arbeit gewesen ist und noch ist, ich denke nicht gar zu groß von ihr. Vielmehr sage ich Dir das, weil ich es Dir sehr angelegentlich an’s Herz legen will, für Dich oder Deine Kinder auch Deinerseits die Mühe nicht zu scheuen, um Dich und sie zu bewahren, damit es Dir und ihnen nicht ergehe wie mir, der ich erst durch einen Schaden, welchen ich hinterher nicht wieder gut machen konnte, klüger geworden bin.

Sobald nun die Zählung ergiebt, daß der erste Beginn eines chronischen Haarleidens vorhanden ist, so rathe ich zu folgendem Medicament: Zwei bis vier Gramm (ein Achtel bis ein Viertel Loch) doppeltkohlensaures Natron werden in hundertachtzig Gramm (zwölf Loth, anderthalb kleine Kaffeetassen, zwölf Eßlöffel) destillirten Wassers oder durch ein engmaschiges Leinentuch filtrirten Regen- oder Flußwassers aufgelöst und davon bei sehr zarten Personen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen der Woche, bei Personen von sonst gutem Befinden an drei oder vier aufeinanderfolgenden Tagen der Woche ein bis zwei Eßlöffel voll mit einem recht weichen Haarpinsel oder einem kleinen Schwamm recht sorgfältig und andauernd, aber nicht rauh, in die Kopfhaut (besonders in den Vorderkopf und Mittelkopf – dies sind die am meisten gefährdeten Gegenden) eingerieben, so daß möglichst viel von der Flüssigkeit auf die Haut (nicht blos auf die Haare) kommt (man macht zu dem Zwecke, besonders bei langem Haar, an verschiedenen Stellen einen Strich mit dem Kamme); darauf werden Kopfhaut und Haare recht sorgfältig mit einem weichen, dünnen Tuche trocken gerieben und der Kopf die nächste Stunde vor Erkältung behütet. Die Einreibung kann zu jeder Tageszeit vorgenommen werden. Die übrigen Tage der Woche (Pause-Tage) wird das Haar in der sonst gewohnten Weise frisirt. Am ersten dieser Pause-Tage wird in die Kopfhaut und das Haar etwas Oel, von dessen Güte man sich vorher durch Riechen überzeugt, eingerieben. Schon nach wenigen Wochen wird eine Abnahme des täglichen Haarausfalls eintreten.

Die Arznei wird fortdauernd (fünf bis zwölf Monate) in der angegebenen Weise angewendet, bis die fortgesetzte Haarzählung ergiebt, daß die kurzen Haare zwischen einem Fünftel und einem Viertel des Gesammtausfalls ausmachen; dann wird einen Monat lang in jeder Woche um einen Tag weniger eingerieben (also ein bis drei Mal pro Woche). Wer nun für die Woche noch mehr als einen Einreibungstag hat, läßt jeden Monat einen weitern Tag pro Woche ausfallen. Ist man bis zu einem Tag für die Woche angelangt, so wird die nächsten drei Monate die Einreibung nur alle vierzehn Tage einmal angewendet! Damit ist die Cur beendet; sie dauert in der Regel zwölf bis achtzehn Monate. „Lange Zeit!“ sagst Du, lieber Leser – aber scheue die Ausdauer nicht! Ermüde nicht! denn es ist etwas Schönes, das Haupthaar bis in’s hohe Alter sich zu bewahren.

Nach Beendigung der Cur prüfe man von Zeit zu Zeit wiederum den Haarausfall: kurzdauernde Störungen brauchen nicht zu beunruhigen; sie sind Folge vorübergehender Reizzustände und schwinden von selbst; treten hingegen nach längerer Zeit wieder andauernde Abweichungen von dem normalen Verhältniß ein, so kehre man für zwei bis drei Monate zu dem Curverfahren zurück; gewöhnlich genügt es alsdann, wenn man für die erste Woche nur zwei Einreibungstage ansetzt und im zweiten Monat auf einen Tag herabgeht. Sehr selten (und dies fast nur bei sehr bedeutender erblicher Anlage) ist es nöthig, noch eine dritte Cur von gleicher Dauer eintreten zu lassen.

Ist die Kopfhaut sehr spröde oder die Schüppchenbildung sehr reichlich, so setze man der Arznei einen Eßlöffel voll reines Glycerin aus einer guten Droguenhandlung oder einer Apotheke hinzu. Selbstverständlich meide man, soweit dies angeht, die oben angegebenen Krankheitsreize, sowohl die directen auf die Kopfhaut als auch die auf die entfernteren Organe.

Hat die Familie einen Hausarzt, so theile man ihm die Absicht, die Cur anzuwenden, mit; es sind zuweilen wegen gewisser Eigenthümlichkeit der Constitution (Neigung zum Rheumatismus, nervöse oder Congestions-Kopfschmerzen) kleine Abweichungen von der angegebenen Methode nöthig, oder es ist die gleichzeitige Verabreichung innerer Medicamente erwünscht (bei Bleichsucht, bei chronischem Magenkatarrh); der Hausarzt wird gewiß gern die angemessenen Anordnungen treffen. Ich habe meine Behandlungsmethode bereits vor fünf Jahren in einem medicinischen Journal veröffentlicht, das ebenso wie dieses Blatt über den civilisirten Erdkreis verbreitet ist;[1] vielen Collegen wird daher mein Vorschlag bekannt geworden sein und sie werden gewiß gern mit ihrem Rathe zur Seite stehen; nur muß ich bitten, daß man dem Collegen nicht zumuthe (was thatsächlich ihm oft zugemuthet worden ist), den täglichen Haarausfall selbst zu zählen; das ist keine Arbeit für den Arzt und selbst, wenn er sich ihr unterziehen möchte: er hat keine Zeit für dieselbe.

Auf eine Nebenwirkung meiner Curmethode will ich noch aufmerksam machen, weil sie die Patienten zuweilen beunruhigt: das angewendete Medicament verändert nämlich in manchen Fällen die Farbe des Haares, es giebt ihr einen schwachen Stich in’s Röthlich-Blonde. Manchen ist diese Veränderung ganz erwünscht, die Meisten indeß ziehen ihre natürliche Farbe vor. Ich bemerke hierauf: wenn die Flüssigkeit nach dem Einreiben recht sorgfältig abgetrocknet wird, tritt die Veränderung der Haarfarbe gar nicht ein oder wird sehr unerheblich, und auch wo das sorgfältige Abtrocknen unterbleibt, tritt wenige Monate nach Beendigung der Cur die ursprüngliche Farbe unverändert wieder hervor.

Aber wohlgemerkt: die angegebene Heilmethode ist nur für das erste Stadium der chronischen Haarkrankheiten berechnet. Sobald hingegen bereits im Verlaufe mehrerer Jahre, also ganz allmählich eine sichtbare Verdünnung des Haarbodens eingetreten ist (zweites Stadium), sobald mithin die Veränderungen der Kopfhaut bereits erhebliche geworden, liegt eine schwerere Krankheit vor, die ich noch niemals in vollständige Heilung habe übergehen sehen. Nach meiner Meinung kann es sich für diese Fälle nur darum handeln, den Verlauf des krankhaften Processes zu verlangsamen, aufzuhalten, und hier ist, wie ich am Ende meines ersten Aufsatzes deutlich zu machen suchte, eine beständige Behandlung durch den Arzt nöthig, weil sich allgemeingültige Vorschriften nicht geben lassen.[2]

Und wenn Dein Arzt Dir sagt, er könne Dir nicht helfen, so bescheide Dich damit und gehe nicht zu einem Nichtsachverständigen, [428] der Dir eine glänzende Heilung verspricht. Denn glaube mir: Dein Arzt, und wenn er auch kein Specialarzt ist, weiß immer noch viel mehr von den natürlichen Functionen und den Krankheitsprocessen der Haut, als ein Laie, der einige medizinische Bücher gelesen hat und Haarwasser verkauft.

Und nun, lieber Leser, nehme ich freundlichen Abschied von Dir und bitte Dich, wenn Du bis hierher gekommen bist, zu gelegener Zeit Dir diesen Aufsatz und den ersten mit Muße noch einmal durchzulesen. Ich denke, ich darf sagen: ein guter Freund hat Dir gerathen.




Drei Tage in einem Karthäuserkloster.
Von Dr. Magg in Constanz.


Ich hatte im Anfang der Vierziger Jahre während meines Aufenthalts in Constanz manchmal von dem Karthäuserkloster Ittingen, gegenüber Frauenfeld, schweizerischen Cantons Thurgau, sprechen hören, und war begierig, dasselbe kennen zu lernen, als mich der Zufall in die Gesellschaft des P. Priors führte. Er hatte eines Tages auf der Villa des Herrn Grafen v. V. in G., bei dem ich zur Mittagstafel geladen war, Besuch gemacht, und blieb über Mittag. Er saß im weißen Ordenshabit oben am Tische, aß und trank aber nichts von Allem, was aufgetragen wurde, sondern hatte verschiedene Sorten Fische mitgebracht, die nach seiner Anordnung zubereitet wurden; an seiner linken Seite stand auf dem Boden ein Gesäß mit Wein aus den Klosterreben, die er mit einem Glas aus dem Gefäß schöpfte und sich baß schmecken ließ. Er war ein Mann von sechsundfünfzig bis achtundfünfzig Jahren, mittlerer Statur, hagerem Körperbau und schmalen Schultern; auf seinem ziemlich breiten Schädel saß ein sogenanntes „Pfaffenkäpplein“, das die Glatze bedeckte, und seinen Hinterkopf zierten graumelirte schwarze Haare, welche von einem ehemals ergiebigen Haarboden sprechendes Zeugniß gaben; die etwas gewölbte Stirn war nur von wenigen kaum bemerkbaren Furchen durchzogen; die hervorstehenden Backenknochen, die bleichen eingefallenen Wangen, die spitz zulaufende kleine Nase, sowie die vom Kopfe ziemlich weit abstehenden Ohren mochten wohl die Folge langjährigen Genusses der Fisch- und sonstigen Fastenspeisen, verbunden mit dem einsamen, contemplativen Zellenleben sein, das er fünfzehn Jahre lang im Kloster führte, bevor er von dem Convente seiner Schicksalsgenossen zum Prior gewählt wurde. Sein stechendes dunkles Auge verrieth jedoch, daß ihm während dieser langen Zeit des selbst auferlegten unnatürlichen Zwangs die Lebenslust nicht geschwunden war, und auf seinem länglichen, nichts weniger als ausdrucksleeren Gesichte konnte man deutlich die Spuren gut erhaltener Denkkraft lesen, wie er solche denn auch im Gespräche sattsam kundgab, ohne jedoch den tiefen Denker zu verrathen. Mit Vorliebe sprach er indessen von Pferden und von dem Pferdehandel, den er, wie man sagte, seit seiner Ernennung zum Vorstand des Klosters eifrig betrieb. Nach aufgehobener Tafel lud er mich ein, ihm einen Besuch im Kloster abzustatten, den ich ihm mit Vergnügen zusagte.

Im August desselben Jahres machte ich eine Fußtour nach dem Kloster, bei dem ich Mittags zwölf Uhr ankam. – Wie groß war hier meine Enttäuschung! Ich hatte früher mehrere Beschreibungen der großen Einöde La Chartreuse, etwa vier Stunden nördlich von Grenoble, gelesen, in welcher in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts (1084) der berühmte Canonicus und Kanzler zu Köln und Rheims, Bruno der Heilige, seinen einsamen Wohnsitz aufgeschlagen, und 1086 mit sechs von seinen Freunden das erste Karthäuserkloster errichtet hatte. Die Schilderung dieser „Wiege des Ordens, welche fast unzugängliche, mit grausenvollen Abgründen umgebene Felsen bilden“, erfüllte meine Phantasie mit dem „fürchterlichen Schauspiel einer düstern, überall sich schreckvoll darbietenden Natur.“

Wie ganz anders war die Lage der Karthause, vor welcher ich jetzt stand! Ich war von Bergeshöhen herabgekommen und befand mich nun in einem reizenden Thal. An dem Eingang in’s Kloster zog eine frequente Landstraße vorüber. Fruchtreiche, mit allartigen Obstbäumen bepflanzte Felder dehnten sich stundenweit aus. Durch die üppigen Wiesen schlängelte sich ein schmaler Fluß (die Thur). Rechts und links umgaben Weinberge das Kloster, das mit der Rückseite an einer waldigen Felsenwand lehnte. Und all diese weiten Fluren, über welche mit Lust das Auge schweifte, waren, wie ich nachher erfuhr, freies Eigenthum der Karthause, die eine vortreffliche Landwirthschaft betrieb. Nachdem ich einige Zeit an diesem herrlichen Anblick mich ergötzt hatte, trat ich durch das offene eiserne Gitter in den weiten Hofraum, auf dessen linker Seite große Oekonomiegebäude, Stallungen und Arbeiterwohnungen standen, unter denen ihrer ganzen Länge nach sich Kellereien befanden, die mit den besten, von der Kloster-Administration selbst gezogenen Weinen reichhaltig gefüllt waren. Auf der rechten Seite stand ein schönes Haus, durch dessen breite Hallen man in das Innere des Klosters gelangte, das von außen eher einer Villa, als einem von beschaulichen Mönchen bewohnten Aufenthaltsorte glich. Neben demselben war, durch einen kurzen und engen Gang verbunden, ein längliches, einstöckiges, mit einer ziemlich hohen Mauer umgebenes Gebäude angebracht, in dem sich aneinandergereihte Zellen befanden. In diesen mußten die Mönche ihr beschauliches Leben zubringen, und aus ihnen führte ebenfalls ein enger Gang in die kleine Klosterkirche, die ihr Vorhandensein durch ein Thürmchen bemerklich machte, in welchem sich eine Glocke befand. An dem Klostergebäude war eine Uhr angebracht, die mit hellem Glockenton die Stunden verkündete. Sie schlug „Eins“, als ich den Eingang des Vorhauses betrat. Hier kam mir ein dicker Karthäuser entgegen und fragte nach meinem Begehren. Als ich ihm meine Bekanntschaft mit dem Herrn Prior mittheilte, bedauerte er, daß ich zu spät zur Mittagstafel komme, die bald werde aufgehoben werden, alsdann könne ich den Prior sprechen. Dies geschah auch um halbzwei Uhr. Ich wurde sehr freundlich aufgenommen und dem dicken Herrn, der mich an der Pforte begrüßte, empfohlen, der die zweite Größe des Klosters war, nämlich der Oekonomie-Verwalter, mit dem Titel „Schaffner“. Der Prior ritt bald darauf zum Thor hinaus und kehrte in den drei Tagen meines dortigen Aufenthalts nicht zurück.

Der Schaffner führte mich in einen geräumigen Speisesaal, wo ich mit dreierlei Fischsorten und ebenso vielerlei köstlichem Wein nebst Confitüren und zuletzt noch mit gutem Kaffee bedient wurde. Ich traf dort acht mir fremde Gäste, die an verschiedenen Tischen Tarok spielten, denen ich zusah und mit ihnen Bekanntschaft machte. Es waren Herren aus der eine Stunde weit entfernten Stadt Frauenfeld, von welchen zwei bei der dortigen Regierung als Mitglieder angestellt waren. Auf jedem ihrer Tische stand eine Maßbouteille, die, kaum geleert, mit einer vollen ersetzt wurde. Unterdessen wurde die Mittagstafel abgedeckt, sogleich aber wieder mit frischem Gedeck für etwa noch kommende Gäste zubereitet, und mit Confitüren und vollen Weinflaschen nebst Gläsern besetzt. Nach einer Weile führte mich der Küchen- und Kellermeister in den elegant eingerichteten Zimmern des Klosters herum, und zuletzt in den vor demselben schön angelegten Garten, wo er mich, durch Geschäfte abgerufen, allein ließ. Hier verweilte ich mit Wohlgefallen im Anblick der veredelte Früchte tragenden Obstbäume, der üppigen Gemüsebeete und der dazwischen angebrachten, von den verschiedensten Fischsorten wimmelnden Teiche, bis um sechs Uhr die Glocke zum delicatesten Nachtessen rief. Die Tafel war von den acht Mittagsgästen und meiner Wenigkeit besetzt. Schaffner und Küchenmeister blieben davon weg. Wir waren unter uns, lauter lebensfrohe Leute; die Unterhaltung wurde sehr lebhaft gepflogen. Nach neun Uhr entfernten sich die Gäste und traten ihren Rückweg nach der Stadt an. Mir leuchtete der Kammerdiener in ein elegantes Schlafzimmer, stellte das Licht auf einen in der Mitte stehenden runden Tisch, wünschte mir freundlich „gute Nacht“ und ließ mich allein. Da stand ich nun, seelenvergnügt über die glückliche Metamorphose meiner Erwartung einer schaurigen Einöde und eines langweiligen Aufenthalts in einem der Armuth geweihten Karthäuserkloster. Es fielen mir die folgenden Worte Shereir’s ein, die er in seinem „neuen Paris“ über die große Karthause bei Grenoble ausspricht: „Hier, wo man nichts hört, als den dumpfen Schall einer Glocke, scheint diese Glocke eure Seele abzurufen; wo man nichts sieht, als schweigende, durch Bußübungen gebleichte Menschen, ununterbrochen [429] in Betrachtungen versenkt, oder mit Beten beschäftigt, da wird man von sehr ernstem Nachsinnen ergriffen, und man zaget und zittert selbst bei dem Bewußtsein seiner eigenen Unschuld; wo man endlich nirgends den Fuß hinsetzen kann, als auf den Rand eines Grabes, da fühlt man, wie wandelbar die Grundlage aller Güter dieses Lebens, alles Glückes und Dessen ist, was dem Menschen so wünschenswerth und so beneidenswerth erscheint.“

Ich war eben im Begriff, über den Contrast zwischen den finsteren Schilderungen des Karthäuserlebens und unserer offenbaren Tagesschwelgerei nachzudenken, als ich wahrzunehmen glaubte, daß der vor mir an der Wand hängende Spiegel sich mit meinem Bilde im Kreise herumdrehe. Da warf ich einen beschaulichen Blick in mich selbst; ich fand, daß ich einen kleinen Begleiter aus dem Speisesaal mitgebracht hatte, der mich despotisch beherrschte, und es schien mir, daß es gerathen sei, der Natur den Tribut zu zollen, indem ich die weinmüden Augen schlösse, den unsichern Füßen Ruhe gönnte, dem wallenden Blut und den aufgeregten Nerven durch den Schlaf Erholung bereitete.

In dieser befriedigenden Erkenntniß des Guten und Bessern ging ich, mit dem trunkbeglückenden Selbstgefühl potenzirter Gescheidtheit, ungemessenen Schrittes nach der lockenden Bettstelle, indem ich anfing, mich langsam zu entkleiden.

Aber welche Ueberraschung weckte meine matten Blicke! Ein als „Ding an sich“ schon herzerfreuender Gegenstand zeigte sich – erschrecken Sie nicht, meine Damen – auf dem Nachttischchen. Es war eine mit hellglänzendem Wein vollgefüllte Halbmaßbouteille, an ihrer einladenden Seite ein zierlich geschliffenes Trinkglas präsentirend. So etwas war mir in meinem Leben nie vorgekommen. Voll Verwunderung rief ich aus: „Heiliger Bruno, halt’ ein mit Deinem Segen!“ Dann aber konnte ich der Verlockung zum Schlaftrunk doch nicht widerstehen, faßte die Flasche um ihre schlanke Taille,

und goß in das niedliche Glas
das lieblich blinkende Naß.

Ach! – das war köstlicher Karthäuser-Nektar, wie ich heute noch keinen getrunken.

Da trat hinter einer Wolke der volle Mond hervor und blickte schalkhaft durch’s offene Fenster, als wäre er neugierig zu erspähen, welche Excesse es in so vorgerückter Nacht im Kloster noch gebe. Sein geborgter Glanz sympathisirte mit meiner romantischen Stimmung. Ich löschte mein Licht und ließ ihn das Zimmer beleuchten, sank aber schon nach kurzer Zeit, von Morpheus’ zarter Hand berührt, auf’s weiche Flaumenbett, und der Gestalten bildende Traumgott gaukelte im unruhigen Schlaf meiner aufgeregten Phantasie buntscheckige Bilder vor.

Eines derselben weckte mich. Der Morgen graute. Rasch erhob ich mich von meinem weichen Lager und trat lichten Kopfs und heiteren Gemüths unter das offene Fenster. Majestätisch stieg die aufgehende Sonne über die Berge. Ich war entzückt über die wonnevolle Verheißung eines herrlichen Tages. Ein sehnsuchtsvolles Gefühl trieb mich hinaus in Gottes freie Natur. Schnell kleidete ich mich vollends an, enteilte den stillen Klostermauern durch die hohe offene Hinterpforte und bestieg durch das weglose Gehölz die Spitze der Anhöhe, an die das Gebäude sich anlehnte. Hier athmete ich wohlthuende frische Morgenluft und ergötzte mich an der viele Meilen weit vor mir ausgebreiteten Fernsicht, in deren Hintergrund mein spähendes Auge in der langen Kette himmelansteigender Alpen herumschweifte. Meiner innigen Betrachtung der großartigen Natur entzog mich nur der Doppelschlag der Klosteruhr, welche die fünfte Morgenstunde verkündete; das Geläute der Kirchenglocke tönte feierlich zu mir herauf und rief die Mönche zur Hora.

Es war heute Sonntag, dessen Feier um sechs Uhr mit einem Frühamte begann. Mit der Begierde, in meinem Inspectionsgeschäft ja nichts zu versäumen, wand ich mich so schnell als möglich durch das Gehölz hinab und trat andachtbereit in das Schiff der kleinen dunkeln Capelle, wo ich mich allein befand. Noch dauerte im vordern Chor die Frühmette, von nur vier Karthäusern gehalten. Meine Neugierde steigerte sich, als mein Blick auf zwei weiße Gestalten fiel, welche je auf der rechten Seite der beiden Seitenaltäre ausgestreckt und unbeweglich auf dem Boden lagen. Es waren zwei Mönche, die sich in dieser klosterüblichen Büßerweise durch stilles Gebet zum Messelesen vorbereiteten.

Nachdem sie aufgestanden waren, wurden sie von zwei in dunkele Habits gekleideten Klosterbrüdern mit Alba und Meßgewand versehen, betraten den Altar und verrichteten das Meßopfer, nach dessen Beendigung sie sich zu den anderen Vieren in den Chor begaben. Bald darauf nahm auf dem Hochaltar das Frühamt seinen Anfang. Der Celebrirende sprach das Eingangsgebet, und alsbald stimmten die in ihren Chorstühlen stehenden sechs Mönche aus dem vor ihnen aufgeschlagenen großen Buche den einstimmigen Choral „Kyrie eleison“ mit vollen Kehlen an; aber sie sangen, nein, sie schrieen ihn sechsstimmig, das heißt Jeder in einer andern Tonart, so grausenhaft als möglich für musikalische Ohren.

Zuletzt hielt ich’s nicht länger aus. Ich erging mich im Garten und bewunderte Gottes Allmacht in seinen unzählbaren Werken der Natur. Um sieben Uhr holte mich der Kammerdiener zum Kaffee. Nach eingenommenem Frühstück erbat ich mir die Erlaubniß, die Klosterbibliothek besehen zu dürfen, die mir sogleich geöffnet wurde. Es giebt wohl nicht leicht eine bedauernswerthere Erscheinung, als ein geistloser Mensch im übermäßigem Besitz irdischer Glücksgüter. Diese Wahrheit fand ich in dem kleinen Raume der Bibliothek bezüglich des Klosters urkundlich bestätigt. Vergeblich suchte ich drei Stunden lang in den wenigen Gestellen nach einem Werk der Wissenschaft oder Kunst. Eine einzige kleine Broschüre in lateinischer Sprache fand ich, die meine Aufmerksamkeit einige Zeit in Anspruch nahm; es war eine Elegie des heiligen Bruno über die Verachtung der Welt. Lauter Asceten in kleinem Format füllten die Fächer; die geistige Armuth personificirte sich in ihnen.[3] Dagegen hingen an der innern Seite der Thür eines Wandkastens fünf große Bannkarten über den ausgedehnten Güterbesitz des Klosters, worin dessen bedeutender Reichthum in Grundeigenthum auf’s Genaueste nachgewiesen war.

„Aus solchem Contrast des geistlichen Ueberflusses einer- und seiner Armuth andererseits wird wohl auch hier bald ein Dritter seinen Vortheil ziehen,“ dachte ich und ging, da es elf Uhr schlug, in den Speisesaal. Dort traf ich eine Anzahl Gäste, die doppelt so groß war als die gestrige. Es waren geistliche und weltliche Herren. Sie standen gruppenweise um die gedeckte Tafel, bis der Schaffner ihre heiteren Gespräche durch den Ruf unterbrach: „Benedicite!“ Nach einem stillen Gebete nahm die ganze Gesellschaft Platz, und nun wurde das Mittagsmahl aufgetragen.

Es kann hier nicht der Ort sein, eine Beschreibung der vielen auf die verschiedenartigste Weise zubereiteten Fischsorten zu vernehmen. (Fleischspeisen werden bekanntlich in Karthäuserklöstern nicht gegessen.) Jede Sorte wurde von passenden Gemüsen begleitet, und zu jeder Schüssel wurde ein anderer, an Güte den vorangegangenen übertreffender Wein aufgestellt und ohne Schonung getrunken, denn die Gemüse machen Durst und die Fische – wollen schwimmen. Von der Fischsuppe, die von der Fleischsuppe dem Geschmack nach kaum zu unterscheiden war, bis zu dem zuletzt aufgetragenen Fischschinken waren alle Speisen delicat und alle Weine vorzüglich, dennoch sehnte ich mich am zweiten Tage schon nach Fleischspeisen, und hätte es damals schon Liebig’sches Extract gegeben, so würde ich mir wahrscheinlich unter irgend einem Vorwand warmes Wasser verschafft und eine Suppe bereitet haben. Allein ich mußte mich umsomehr in mein Schicksal ergeben, als ich ja die Hauptsache, wegen welcher ich gekommen war, noch nicht inspicirt hatte, nämlich das eigentliche Karthäuserleben. Deshalb säumte ich nicht, nach aufgehobener Tafel den Schaffner zu bitten, mich mit demselben bekannt zu machen, wozu der gefällige Mann alsbald bereit war.

Er führte mich aus dem zweiten Stock hinab zur ebenen Erde, und dort kam ich nun plötzlich aus den weiten Gemächern des Hauses ist die engen Räume seines Anbaues, aus den Sälen des Ueberflusses in die Zellen der Armuth, aus dem Convente des Wohllebens in das Refugium der Enthaltsamkeit, aus der heitern Gesellschaft lebensfroher Menschen zu den allein wohnenden Einsiedlern!

Wir stehen vor einer geschlossenen Thür, an der mit großen Buchstaben das Wort „Silentium“ angeschrieben steht, das uns eine der beiden Grundregeln des Ordens: Verstummen und Entbehren, ankündigt. Der Schaffner öffnet und wir treten in einen schmalen Gang, der in seiner ganzen Länge an dem Eingang zu [430] den Zellen der Mönche vorbeiführt. Jede derselben bildet eine abgesonderte Räumlichkeit, vor der ein Gärtchen angebracht ist; letzteres ist mit einer hohen Mauer umgeben, über welche der Bewohner nicht hinaussehen kann. Jede Zelle ist durch eine Thür geschlossen, die nur zum Ausgang der Mönche in den Tag und Nacht zu bestimmten Stunden stattfindenden Kirchenchor und Morgens, Mittags und Abends zum Einbringen des Essens geöffnet wird. Wir traten in eine derselben, die mit allen andern gleichförmig gebaut und eingerichtet ist, und die aus zwei durch eine dünne Wand getrennten Zimmerchen besteht. In dem ersten befindet sich ein Tischchen, worauf ein Brevier und einige ascetische Gebetbücher liegen, ein Stuhl, und am Fenster eine Hobelbank, die dem Karthäuser zu beliebigen Arbeiten dient. Das zweite ist sein Schlafzimmer, in dem eine Bettstatt steht, die mit einem Stroh- und Kopfsack versehen ist, worüber eine wollene Decke liegt. Man erzählt von einem Sarg, in dem der Karthäuser schlafe, hiervon sah ich, wenigstens in diesem Kloster, keine Spur.

Aus dem Schlafcabinet gelangt man in das Gärtchen, das nur spärlich mit gewöhnlichen Feldblumen bepflanzt ist und an Armuth vollständig seinem Nutznießer gleicht.

Was die Mönche betrifft, so sind dieselben dem Bilde ähnlich, das ich Ihnen im Eingange meines Vortrags von dem Prior des Klosters entworfen habe: hagere Gestalten mit bleichen, bartlosen Gesichtern, eingefallenen Wangen und vom Kopf weit wegstehenden Ohren. Auf ihren Physiognomien ist nicht der geringste Ausdruck der Theilnahme an Freud’ oder Leid zu lesen, und ihr stieres Auge verräth nur den unverwandten Blick in ihr Inneres. Nur ein Einziger, in dessen Zelle ich bei meinem Besuche kam, machte hiervon eine Ausnahme. Er war ein Franzose, der nicht deutsch sprach und erst seit einigen Jahren im Kloster lebte. Auf erhaltene Erlaubniß, mit mir zu sprechen, erkundigte er sich lebhaft nach den Zuständen seines Vaterlandes und erzählte mir: er habe unter Napoleon dem Ersten als Officier gedient, sei mehrere Mal auf ungerechte Weise übergangen worden und habe zuletzt aus Lebensüberdruß sich entschlossen, seine noch übrigen Tage in der Einsamkeit des Karthäuserklosters zuzubringen. Im Fluß seiner Mittheilung unterbrach ihn der Schaffner und wir verließen die Zelle. Ich begab mich in mein Schlafzimmer, und stellte, um mir das thatsächliche Verhältniß recht klar zu machen, Vergleichungen an zwischen der Vergangenheit und Gegenwart des Ordens der Karthäuser. Wir sind anzunehmen berechtigt, daß dem Stifter dieses Ordens die hohe Idee vorschwebte, ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen und durch sein Beispiel Andere zur Nachahmung zu bewegen. Ob er durch Einführung der strengen Zucht den richtigen Weg betrat, Gottes Wohlgefallen zu erwerben, ist eine Frage, die heut zu Tage vom Richterstuhl aufgeklärter Religionsansichten ebenso entschieden verneint wird, als sie zu Bruno’s Zeit der ascetischen Frömmigkeit bejaht wurde. Soviel ist aber gewiß, daß der Geist des Ordens im Laufe von sieben Jahrhunderten in zwei Hauptbestimmungen von den Stiftungsregeln wesentlich abgewichen ist, in Beziehung nämlich auf das Gelübde der Armuth und des ununterbrochenen Stillschweigens: die Armuth verwandelte sich in Reichthum und das strenge Gebote der ewigen Verstummung ward gemildert durch die Erlaubniß zur zeitweiligen Mittheilung. In zweiter Reihe veränderte sich auch die mühsame Arbeit und die Entbehrung zu Gunsten der Mönche.

Zur Zeit der Entstehung des Ordens wandelten die Karthäuser durch Arbeit und Kunst Wald und Wüste in Gärten um, und brachten Leben dahin, wo früher nur Todesstille geherrscht hatte; Pflanzen und Kleienbrod war ihre Nahrung, Quellwasser ihr Getränk, Beten, Lesen und Bücherabschreiben ihre Beschäftigung und eine grobe Kutte ihre Kleidung. In der jetzigen Zeit ist die ganze weite Gegend, vielleicht großentheils durch die Vorgänger der Klosterbewohner, in gesegnete Fluren umgewandelt, und die Hobelbank in den Zellen, sowie das spärlich bepflanzte Gärtchen sind sprechende Zeugen davon, daß Unterhaltung und Erholung an die Stelle der schweren Arbeit getreten sind. Anstatt Pflanzen und Kleienbrod aßen zur Zeit meines Besuches die Zellenbewohner Fischsuppe, Fische, Gemüse, feines Brod und Backwerk, dazu tranken sie Mittags und Abends je ein halbes Maß guten Karthäuserweines. Es blieb also von den ursprünglichen strengsten Bußübungen nur noch die Einsamkeit, welche durch den häufigen Chorbesuch bei Tag und Nacht unterbrochen wurde; sodann die Pflicht der eigenen innern Beschaulichkeit, die Jeden darauf eitel machen konnte, wenn es ihm beliebte, ein Geistes- und Gemüthsverwandter jener alten Weltweisen zu sein, welche vorgaben, das höchste Gut des Menschen bestände in der eigenen Beschaulichkeit und Gemüthsbetrachtung; ferner das Beten und Lesen im Brevier und in ascetischen Schriften, und endlich das Tragen einer nicht einmal groben (weißen) Kutte mit einer Kopf und Hals bedeckenden Capuze, die nach festgesetzter Ordnung hinauf- und herabgezogen werden mußte. Von einem Schlafsarg, wenn er jemals gebraucht wurde, so wie von der steten Erinnerung an den Tod durch das bekannt gewordene Karthäuser-Motto „Memento mori“, wenn es je eingeführt war, erhielt ich weder Kunde, noch hörte ich diesen Spruch aus dem Munde der Mönche.[4] Aus meiner Betrachtung zog ich den Schluß, daß diese klösterliche Lebensart – oder Unart – sich überlebt habe und ihrem Ende, das auch nach zwei Jahren eintrat, entgegen gehe, worin mich die etwas diplomatische Antwort des Schaffners auf meine Frage bestärkte: Wie es komme, daß alltäglich eine so splendide Bewirthung so vieler Gäste statthabe? der Schaffner nämlich erwiderte: „Wir wären schon lange aufgehoben, wenn unsere Gastfreundschaft von den regierenden Herren nicht mit so großem Wohlgefallen angesehen würde.“

Der Betrachtung müde und – ich gestehe es offen – vom Fischdurst getrieben, begab ich mich in den Speisesaal. Hier traf ich noch alle Mittagsgäste in der lebhaftesten Unterhaltung, die der eifrige Genuß des edlen Getränks von Minute zu Minute steigerte. Die Tafel war frisch gedeckt, und man setzte sich bald darauf zum Nachttische, der ebenso reichlich bestellt war und ebenso lange dauerte wie gestern. Mein Rückzug ging im gleichen geisterleuchteten Zustande vor und bisweilen neben sich, genau wie am vorigen Abend. Auf dem Nachttischchen lächelte mir wieder der holde „Schlaftrunk“ freundlich entgegen, und die Sirenenstimme des leeren Glases, das in Folge meines ritterlichen Auftretens in Bewegung kam und an der vollen Bouteille lieblich klingelte, lockte mich abermals unwiderstehlich in seine Nähe. Je vergnügter ich von dem Nektar trank, desto geheimnißvoller schien ich, nach Plato, auf den acht Kreisen des Himmels herumgetragen zu werden und die Harmonie der Sphären zu hören, bis Morpheus mir sanft die Augen zudrückte.

Der dritte Tag erschien mir im hellsten Glanze der Sonne. Um meine Inspection vollständig durchzuführen, bat ich nach dem Frühstück den Schaffner und den Küchen- und Kellermeister, mir die ökonomischen Einrichtungen zu zeigen, was sie mir sehr gern gewährten. In denselben lernte ich die Quellen des Klosterreichthums kennen. Alle Gebäulichkeiten waren geräumig und zweckmäßig hergestellt, die Scheuern voll von Feldfrüchten aller Art, die Stallungen gänzlich besetzt von wohlgenährtem und reichlich gehaltenem Vieh, die Küche vortrefflich eingerichtet, und im Souterrain der Gebäude lag ihrer ganzen Länge nach eine reichhaltige Bibliothek der ausgezeichnetsten Werke einer glücklichen Natur und des durch sachverständige Leitung segensreich wirkenden Fleißes, der sich schon beim Anblick der vielen großen Bücher einladend manifestirte und das Verlangen nach der Kenntniß des Inhalts steigerte – ich meine die Keller.

Nach Besichtigung all’ dieser Räume begaben wir uns zur Mittagstafel, die wieder von Gästen besetzt und mit Fastenspeisen aller Art bestellt war, welche den von der glühenden Sonnenhitze erregten Durst noch vermehrten. Ich will mit Wiederholungen nicht ermüden, sondern vielmehr bekennen, daß während des Essens mir der Appetit zu Fastenspeisen verging und ich aus Sehnsucht nach Fleisch laut hätte ausrufen mögen: „All’ mein Reisegeld um ein Stück Kalbsbraten!“

Gleich nach der Mahlzeit holte ich meine Reisetasche, warf noch einen Blick nach dem nächtlichen Träger des delicaten Schlaftrunks, nahm dankenden Abschied von den beiden gefälligen Vicevorstehern und eilte dem nächsten Orte zu, wo ich mich an Fleischsuppe und Braten labte, und dann die Fußreise weiter fortsetzte.

Ich schließe mit dem Wunsche, daß meine Schilderung einigen geschichtlichen Werth haben und meinen Lesern ebenso angenehm sein möge, wie mir die Rückerinnerung an den dreitägigen Aufenthalt in diesem Karthäuserkloster auch jetzt noch ist in meinem dreiundsiebenzigsten Lebensjahre! [431]

Im Fort Montrouge.


Schon bei der deutschen Belagerung von Paris, noch mehr aber in dem kaum beendeten Bürgerkriege ist von den siebenzehn Festungen, welche den Mauergürtel von Paris umgeben und soviel Unheil über die Stadt und ihre einst so reizende Umgebung gebracht haben, das Fort Montrouge am häufigsten mit den Forts Issy und Vanvres zusammen genannt worden und hat in beiden Belagerungen eine Rolle gespielt, die meinen Gang in dasselbe als gerechtfertigt erscheinen lassen wird.

Die Beschießung von Montrouge begann in der ersten Belagerung von Seiten der Deutschen am 5. Januar, und schon am achten waren die Casernen von Montrouge in Brand geschossen, bald darauf die Batterien desselben zum Schweigen gebracht und die Vertheidiger selbst in den Casematten ihres Lebens nicht mehr sicher. Es wird berichtet, daß Granaten von dieser Beschießung bis in den Luxembourg-Garten geflogen seien. Um so weniger ist es zu verwundern, daß sie nähere Ziele massiger trafen. Ich selbst sah, als ich am 7. Februar, also wenig über acht Tage nach dem Ende des Bombardements, in Paris mich auf der linken Seineseite bis ziemlich zum südlichen Ende der Stadt hin verirrte, dort Reihen von Häusern in Trümmern liegen, die bereits durch nagelneue hohe Bretterplanken abgesperrt waren.

Die Wirkung der deutschen Kugeln im Fort Montrouge selbst ward allerdings erst vollkommen offenbar, als, in Folge der Capitulation von Paris, am 29. Januar (1871) Soldaten des zweiten bairischen Armeecorps dieses und das Fort Vanvres besetzten. Ihnen erschien das Innere desselben so, wie unser Feldmaler F. W. Heine es uns in seinem trefflichen Bilde vor Augen gestellt hat. Er kam am 14. Februar dort an, also früh genug, um die Zerstörung noch in ihrem ganzen Umfange vorzufinden. Höchstens mag der Zugänglichkeit der Fahrwege etwas nachgeholfen worden sein. – Auf unserm Bilde dehnt im Hintergrund sich ein Häusermeer, aber in Schatten gehüllt, die Stadt Paris aus. Deutlich zu erkennen sind nur, von der Linken zur Rechten, der Triumphbogen de l’Etoile, der Invalidendom, die Notre-Dame-Thürme, das Pantheon, Montmartre etc. Im Mittelgrund, vor der Stadt, sehen wir das Dorf Montrouge mit seinem damals noch vollständig erhaltenen Kirchthurm. Auf den Straßen, die vom Fort aus zu sehen sind, oder zu ihm führen, ist endlose Bewegung bald von ausquartierenden Regimentern mit ihrem grotesken Hausrath, bald von Artillerie-, bald von Proviant-Colonnen, Ordonnanzen, Marketendern und Allem, was beim Waffentanz hier mitmacht oder aufspielt.

Das Fort selbst ist arg mitgenommen. Von der großen Caserne in der Mitte des Platzes stehen nur noch einige Wandtrümmer aufrecht, alles Andere ist in Grund und Boden geschossen. Eine gewaltige Bresche an der Nordseite (nach Paris hin) sehen wir bereits bis zur Hälfte ihrer Höhe mit Sandsäcken zugestopft. Sandsäcke, Schanzkörbe und Faschinen spielen überhaupt eine große Rolle im Artilleriekampf, und so haben wir sie auch hier allenthalben bald in Haufen, bald zerstreut und zerfetzt in diesem Bilde vor uns. Auch die vielen Bäumchen, welche die Franzosen längs der Wälle und Wege angepflanzt hatten, trugen die Spuren der deutschen Bomben und Granaten. Hier und da standen große eiserne Kessel, die wohl als Wasserbehälter zum Feuerlöschen dienen sollten.

Die bairische Infanterie, welche die deutsche Besatzung des Forts bildete, hatte es nicht leicht, eine Unterkunft in dem Trümmerhaufen zu finden. Sie mußte sich mit denselben Räumen begnügen, welche die Zuflucht der Franzosen während der dringendsten Zeit gewesen waren: mit den Casematten. Die Soldaten litten hier wirklich Schweres; sie konnten den Cognacgestank und das Ungeziefer nicht verbannen; ja, tagelang mischte sich dazu noch ein unausstehlicher Leichengeruch, bis sie nach genauem Nachforschen endlich einen nur einige Fuß tief verscharrten Franzosen entdeckten, dem seine Cameraden hier sein Grab angewiesen hatten, weil sie wegen des deutschen Granatenregens draußen dies Todtengräbergeschäft nicht zu verrichten gewagt hatten.

Zahlreiche Gruppen im Fort bildete damals die preußische Festungsartillerie, welche die Aufgabe hatte, die Breschen auszuflicken, die Geschützstellungen wieder zugänglich zu machen, alle nicht transportablen Geschütze zu demontiren und gegen Paris hin neue Batterien anzulegen. – Gebrauch ist bekanntlich davon nicht gemacht worden, und als der Präliminarfriede namentlich diese Südforts am 7. März in die Hände der französischen Parlaments-Regierung zurückgab, ist der Abschied von Fort Montrouge keinem Deutschen schwer geworden.

Kaum zehn Tage nach dem Abschluß des Präliminarfriedens und der Etablirung der französischen Regierung in Versailles ging in Paris das Unkraut auf, dessen Samen während der vier Belagerungsmonate mit vollen Händen ausgestreut worden war: aus ehemals fleißigen Arbeitern waren durch den gezwungenen bewaffneten Müßiggang Massen von Straßenlungerern geworden, die, aller Arbeit entwöhnt, den Militärsold auch nach dem Kampfe fortbeanspruchten und die das rechte Material waren für die sogenannte internationale Socialdemokratie, welche hier zum ersten Male Lassalle’s hochdröhnenden „Massenschritt der Arbeiterbataillone“ gegen eine „feige Bourgeoisie“ zur Aufführung bringen konnten. – Wie sie es thaten, weiß nunmehr die ganze Welt. Wir haben hier nur mit der Rolle zu schaffen, welche Fort Montrouge bei dieser zweiten Belagerung von Paris abspielte.

Bekanntlich waren die den Franzosen von den Deutschen übergebenen Forts von Pariser Nationalgarden besetzt worden. Schon am 15. März erklärten die Nationalgarden von Montrouge, daß sie den von der Regierung zum Commandanten der Nationalgarde ernannten General d’Aurelles de Paladine nicht als solchen anerkennen würden, sondern einen gewissen „Henry“ dazu erhoben hätten. Am 28. März ward auch auf Fort Montrouge die rothe Fahne aufgepflanzt, man rüstet sich gegen einen Angriff durch die Linientruppen von Versailles, und somit beginnt mit diesem Tage die zweite Belagerungszeit der Forts. Am 3. April operirten die Rothen in drei Corps von Montrouge, Issy und Vanvres aus, über hunderttausend Mann stark, gegen Versailles. Kanonendonner und Gewehrfeuer ebenso stark, als vergeblich. Am 5. April Artilleriegefecht zwischen den genannten drei Forts und den Versailler Batterien, welche sich jetzt der deutschen Verschanzungen bedienten, um mit französischen Geschossen Das zu vernichten, was die Deutschen geschont hatten. Die ernstliche Operation gegen das Fort begann erst am 13. Mai, nachdem die beiden getreuen Nachbarn Issy und Vanvres bereits lahm gelegt, dagegen Ivry und Bicêtre mit Montrouge noch die Hauptstützen der Rothen im Süden von Paris waren.

Bei der Uebergabe von Vanvres, am 14. Mai, war auch Montrouge, und zwar unterirdisch, betheiligt. Ein Theil der Besatzung hatte das Fort, nachdem die Zugbrücke auf Befehl des Commandanten Ledrux zerstört worden war, durch einen unterirdischen Gang verlassen, welcher in die Ebene bis in die Nähe der Straße von Chatillon hinabführte; dort freilich waren die Flüchtigen dem Kugelregen von mehreren Seiten bloßgestellt und erlitten noch schwere Verluste. Etwa tausend Mann betraten einen unterirdischen Gang, der Vanvres mit dem Fort Montrouge verband. Mit echtfranzösischem Leichtsinn hatten sie weder für kundige Führer gesorgt, noch Lichter und Fackeln mitgenommen, sondern tappten blind in die Finsterniß hinein. Vierzehn Stunden lang irrten diese Unglücklichen in den unterirdischen Gängen herum, geriethen zum Theil in unterirdische Steinbrüche, wo sie durch Schlamm und Wasser sich durcharbeiten mußten, so weit sie nicht durch den Fall verunglückt oder durch Ermüdung, Angst und entsetzliche Luft zu Grunde gegangen waren. In Gruppen von Zwanzig bis Hundert fanden endlich die zu ihrer Rettung entgegengeschickten Katakomben-Arbeiter den traurigen, halbverschmachteten Ueberrest und brachten ihn in Sicherheit, theils nach Montrouge, theils nach Paris.

Nachdem noch am 18. und 21. Mai das Fort bedeutende Stürme abgeschlagen und am 24. noch einmal mitgewirkt hatte, das linke Ufer von Paris mit einem Kugelregen zu überschütten, schlug am Abend dieses Tages auch seine Stunde, und der Morgen des 25. Mai sah die Tricolore der nationalen Republik auf den Wällen des Forts flattern. In wie weit es jetzt von unserem Bilde noch richtig dargestellt wird – was kommt darauf an! Für uns hat es seine Rolle vollständig ausgespielt.

H.
[432]

Fort Montrouge am 14. Februar 1871.
Nach der Natur aufgenommen von unserem Feldmaler F. W. Heine.

[433] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[434]
Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.
Nr. 7 In französischen Quartieren.
IV.


Auf unserem Vormarsche gen Orleans hatten wir vierzehn Marschquartiere, und dabei war ich heute bei einem Pächter, morgen bei einem Fabrikanten oder einem Rentier, übermorgen bei einem Priester untergebracht. Mit der Zeit aber gewinnt man an diesem Wechsel von Persönlichkeiten und Verhältnissen Geschmack, und wer Interesse daran findet, den Leuten ein Bischen in die Töpfe und in die Kammern des Hauses und des Herzens zu gucken, der konnte sich bei dieser Weise, durch das Land und unter Leute zu kommen, vollauf Genüge thun und hatte hinreichende Gelegenheit, über das französische Haus und das Leben und Weben in demselben manche Beobachtung zu machen, die einem unter anderen Verhältnissen Reisenden wohl vorenthalten blieben. Ein Quartierbillet, das nach dem Gesetze von 1792 dem Inhaber Quartier und einen Platz am Feuer einräumt, ist viel günstiger als ein Eisenbahnbillet, mit dem man wohl französische Städte und Hôtels kennen lernen, aber niemals den Pulsschlag nationalen Lebens im Innern der Häuser belauschen kann.

Das französische Haus und die Lebensweise in demselben ist bei Weiten weniger mannigfaltig und individuell als in einem deutschen. Es existiren zwar wohl auch Abweichungen, zum Beispiel zwischen einem Fischerdorfe in der Normandie und einem Flecken in dem Departement Basses Pyrénées, aber diese werden immerhin nicht so erheblich und charakteristisch sein, als die zwischen einem Dorfe des Schwarzwaldes oder des bairischen Hochgebirges und der Gegend um Pillkallen oder Aurich in Ostfriesland. Die französische Regierung hat seit dem Regime Richelieu’s eifrigst dafür gesorgt, daß die Eigenthümlichkeiten der einzelnen französischen Landestheile möglichst verwischt, und daß Land und Volk über einen Kamm geschoren werden. Wirklich ist dieses Ziel im Laufe zweier Jahrhunderte erreicht worden. Zum Beweise, bis zu welchem Grade in Frankreich Alles uniform geworden ist, will ich das erste beste Stück aus der häuslichen Wirthschaft herausnehmen, und so an dem kleinen das Große veranschaulichen. Mit dem Uebertritt über die französische Grenze bekommt man zum Milchkaffee ein Gefäß, das man im letzten bairisch-pfälzischen Grenzdorfe nicht kennt, welches jedoch eine halbe Meile weiter im ersten französischen seinen Anfang nimmt und dem man von da an durch ganz Frankreich begegnet, den sogenannten bol, einen schüsselartigen Napf von Porcellan oder Thon, in dem ein Eßlöffel liegt; dazu erhält man heiße Milch und in einer kleinen Flasche kalten Kaffee-Extract, den man in die heiße Milch gießt. Dieses Gefäß ist typisch durch das ganze Land, typisch wie die Einrichtung und die Lebensgewohnheit des französischen Hauses, typisch wie der Kamin und das ausgezeichnete Bett.

In jeder französischen Küche baut sich ein gewaltiger Kamin auf; an einer Kette, die in die Hinterwand eingefügt ist, hängt der Wasserkessel, unter demselben ist das Feuer angezündet und um dasselbe herum werden die verschiedenen Töpfe und Schmorpfannen gestellt. Alle Arbeit muß knieend verrichtet werden; zur Bequemlichkeit hat man niedrige Strohstühle mit Lehnen, auf denen sitzend man den Geheimnissen des Herdfeuers lauschen kann. In größeren und feineren Häusern sind neben dem Kamin auch noch Herde gebaut, dieselben haben Bratröhren und an der Oberfläche Vertiefungen von glasirten Kacheln, die mit Kohlen gefüllt und auf welche dann die Casserole gestellt werden. Das ist aber nur für Leute, die zum Diner wenigstens drei Platten und eine Revenue von mindestens fünfzehntausend Franken haben. Für die minder gut situirten Existenzen reicht der Pot au feu aus.

Einen gewissen Luxus findet man selbst in der bescheidensten Haushaltung, so den Marmorkamin im Wohn- oder Schlafzimmer und darauf die übliche Stutzuhr. Wie hatten uns im vergangenen harten Winter diese Kamine zur Verzweiflung gebracht! Nie, niemals, und wenn wir einen kleinen Wald in den Feuerraum legten, hatten wir im Zimmer das behagliche Gefühl, das ein deutscher Ofen verbreitet; vorn briet man und im Rücken setzten sich die Eiszapfen an. Wenn man den Franzosen dann sagte: „Seht ’mal, Ihr guten Leute, was Ihr doch bei Eurer sonstigen Sparsamkeit für arge Verschwender seid! Mit dem Holze, das Ihr an einem Tage für Euren Kamin braucht, heizt eine deutsche Hausfrau einen deutschen Ofen acht Tage lang. Das Zimmer wird badwarm und Allen darin wird es pudelwohl, aber mit Euren verwünschten Kaminen kommt man nie zu einem Gefühle des Behagens?“

„Eh-bien, was wollen Sie?“ war darauf die Antwort. „Wir sind es so gewöhnt, wir müssen das Feuer sehen.“

Darin sind die Franzosen wie die kleinen Kinder; vor dem Kamine sitzend, die Füße auf das garde-feu gestellt, arbeiten sie unaufhörlich mit der Feuerzange in der Gluth umher, legen sorgfältig ein Köhlchen auf das andere, erzählen sich was und bilden sich ein, sie wärmen sich. Dabei frieren sie wie die Betteljungen im Januar, haben rothe Hände und rothe Nasen, aber sie sehen das Feuer. Dabei existirte für uns auch noch die Annehmlichkeit, daß in den kleineren Orten der Fußboden mit Backsteinen ausgelegt war. Mancher von unseren Soldaten wird’s an seinen Füßen für sein Lebenlang spüren. Die Franzosen allerdings hatten einen Schutz gegen diese eisige Fußbodentemperatur. Sie trugen über den Strümpfen schwarze wollene Söckchen und bargen die Füße in warmen Holzschuhen, die nach Façon und Farbe das Aussehen von lackirten Stiefeln haben. Später allerdings, als unsere Soldaten einsahen, daß ihre Lederstiefeln für dieses Parquet nicht Schutz genug boten, bedienten sie sich ebenfalls mit Vorliebe dieser Holzschuhe, die zierlich gemacht und zugleich praktisch sind. Eine gewisse Berechtigung für diese Art der Feuerung und überhaupt für die Kamine liegt in der Milde des Klimas der dortigen Gegenden; der vergangene Winter war eine Abnormität.

Seit dreißig Jahren hatte man in Frankreich noch keinen solchen Thermometerstand gekannt wie im verflossenen December und Januar; die Lorbeerbäume, die im Freien überwintern, erfroren sammt und sonders. Wir ließen vom Hofe die größten Holzscheite holen und schoben davon drei, vier auf einmal in den Kamin; zur Hälfte lagen sie in der Gluth, zur Hälfte noch im Zimmer, so daß man sie, um das Feuer zu unterhalten, nur weiter vorzuschieben brauchte. Dadurch allein war es möglich, eine einigermaßen erträgliche Temperatur herzustellen. Für größere Räumlichkeiten reicht der Kamin nicht aus. In den Gerichtssälen und Localen, in den öffentlichen Gebäuden hat man eiserne Oefen, die mit Kohlen oder Coaks geheizt werden; auch ist vielfach die Luftheizung in Anwendung gebracht; auch schon in Privathäusern fängt man an, eine praktischere Heizeinrichtung herzustellen, indem man ein Mittelding zwischen Ofen und Kamin erfunden hat. Mein Wirth in Pithiviers, der Vorsteher der dortigen Jesuitenerziehungsanstalt, der immer eine kleine Bosheit gegen uns auf der Zunge hatte, sagte mir eines Tages, als ich ihm einen kleinen Vortrag über Oefen und Heizmethode hielt und es sonderbar fand, daß er für sein neues Haus diese neue Erfindung nicht benutzt hatte: „Allerdings hätten wir diese Kamine einführen können, aber wir lieben sie schon um ihres Namens willen nicht; ob ihres Sparsystems nennt man sie bei uns preußische Kamine.“

„Aber Sie sehen, hochwürdiger Pater, daß das preußische Sparsystem vortreffliche Früchte trägt, denn nur dadurch konnten wir ein solches Heer ausrüsten, so viele Kanonen gießen lassen. Ich kann Ihnen also nur rathen, es auch bei Ihnen einzuführen. Ihre Zöglinge werden sich viel wohler dabei fühlen, es sei denn, daß sie in majorem dei gloriam sich die Knochen im Leibe entzwei frieren müßten.“

Im Ganzen und Großen habe ich auf unseren Zügen durch die französische Provinz an häuslichen Einrichtungen nichts gefunden, was mir besonders imponirt hätte, geschweige denn, daß dieselben den Vorrang vor den deutschen beanspruchen könnten. Im Gegentheil, das französische Haus wird vom norddeutschen an praktischer Solidität, vom süddeutschen an elegantem Comfort übertroffen. Zu der Heimathlichkeit, Wohnlichkeit und Traulichkeit des deutschen Hauses fehlt dem französischen ein wesentliches Merkmal, die gute Wäsche. Wie das Quantum des Verbrauchs an Seife ein Maßstab für den Culturzustand eines Volkes ist, so ist es die Wäsche für den Grad häuslichen Behagens. Damastdecken zum Beispiel, wie sie bei uns jede nur ziemlich situirte Hausfrau besitzt, habe ich in Frankreich nur zweimal gesehen, bei [435] dem Prinzen von Beauffremont auf Schloß Brienne-Napoléon und in der Präfectur von Orleans, sonst nirgends. Die Tischwäsche, Tischtücher, Servietten bestehen aus gewöhnlicher Leinwand, von der Qualität, wie man sie in Deutschland zur Nachtwäsche nimmt; die französische Leinwand ist fester, kerniger als die unsrige, dafür erscheint sie aber auch gröber und unebener als diese.

Zu der wohnlichen Stimmung des deutschen Hauses fehlt es dem französischen wesentlich an einem Möbel, das sich bei uns überall eingebürgert hat, gleichviel ob es mit den schwellendsten seidenen Polstern oder mit einer harten Seegrasfüllung hergestellt ist; ich meine den Kanon philiströser Behaglichkeit, den Schauplatz süßer Ruhe, den Gegenstand, der einen Crebillon zu einem etwas frivolen, aber höchst amüsanten Buche begeistert hat, ich meine das Sopha. Nur in vornehmen Häusern, und da nur in den Empfangszimmern, findet man dergleichen, sonst nicht, Fauteuils überall, aber Sophas nur in Ausnahmen. Diese scheinen zu dem Bette gerechnet zu werden, wie das Sopha im Grunde nur aus dem Bette entstanden ist. Unter Ludwig dem Vierzehnten empfing eine Dame von Stande im Bette liegend ihre Besuche. Ein französisches Bett ist aber auch nicht nur der Inbegriff des höchsten Luxus, sondern auch der süßesten Annehmlichkeit; es ist der Capital- und Prachtschmuck des französischen Hauses von dem Palast bis herab zur Hütte. Mag eine Wirthschaft noch so ärmlich und miserabel sein, das Bett wird man immer gut bestellt finden. Die Bedeutung, die für eine deutsche Haushaltung ein reichgefüllter Wäscheschrank, hat für die französische das Lager, auf dem man Nachtruhe hält. Bekanntlich gehören die Franzosen unter die Nationen, die am wenigsten reisen; wenn man sie nach dem Grunde dieser Erscheinung fragt, so wird der Eine sagen: ich habe kein Geld zum Reisen, der Andere: ich bin zu faul dazu; aber Jeder wird dem noch beifügen: ich finde anderwärts unser Bett nicht wieder. Und darin hat er vollkommen Recht.

Der Wirth, bei dem ich in Orleans während unseres ersten dortigen Aufenthaltes wohnte, erzählte mir von einer Rheinreise, die er mit seiner Frau gemacht hatte. Unendlich drastisch und drollig war die Schilderung der Manipulationen, die er machte, um sich mit den kurzen, schmalen deutschen Betten abzufinden. So ein französisches Bett ist aber auch ein kleines Gebäude. Dem Umfange nach ist es so breit als lang und besteht in einer sehr schweren, massiven Bettlade aus polirtem Nußbaum- oder Mahagoniholz. Ich rede hier nur von mittleren Haushaltungen, in feineren Häusern findet man solche von Acajou- oder von vergoldetem Holze. Diese Bettlade ist ein so gewichtiges Möbel, daß, um sie zu bewegen, auf dem Fußboden kleine Schienen liegen, auf denen sie in messingernen Rädern geht. Nur so kann sie von einem Dienstmädchen beim Aufbetten bequem und leicht von der Wand in die Mitte des Zimmers und ebenso wieder zurückgeschoben werden. Der Boden der Bettlade ist von einer Stahlfedermatratze ausgefüllt, die aber von ganz anderer Construction ist, als die in Deutschland gebräuchlichen. Schmale, biegsame Holzstäbe laufen in der Länge des Bettes und werden am Fuß- und Kopfende von kleinen starken Spiralfedern von Draht festgehalten. Auf diesem etwas gewölbten elastischen Unterboden liegt eine dichte Matratze, die halb mit Roßhaaren, halb mit Schafwolle gefüllt ist, so zwar, daß eine Lage mit der andern abwechselt. Darauf liegt ein leichtes Federbett und auf diesem noch zwei dünnere Matratzen des nämlichen Inhalts wie die erste. Ueber die oberste ist eine sehr feine, weiche wollene Decke gespannt und über diese erst das Laken gebreitet. Dasselbe hat wenigstens die doppelte Länge des Bettes, an dessen Kopfende ein großer runder, ebenfalls mit Schafwolle und Roßhaaren gepolsterter Pfühl liegt. Dieser wird in das Laken eingewickelt, dann geht dasselbe bis an das Fußende, wird hier umgeschlagen und reicht wieder herauf bis unter den Pfühl, also bis an die Halshöhe dessen, der darin liegt. Die Decke des also construirten Ruhelagers richtet sich nach der Jahreszeit; im Winter bildet dieselbe eine weiche weiße Lamadecke, darüber man noch eine seidene Steppdecke legt, und ein von den Füßen bis zu den Knieen reichendes Federbett, mit Daunen gefüllt. Das Laken sowie die Couvertdecken sind am Fußende und an den Seiten unter der Matratze festgestopft; am Abend wird ein Zipfel oben am Pfühle zurückgeschlagen, und durch diese Oeffnung kriecht man nun hinein, wie in einen Sack. Kriechen ist aber nicht der eigentliche Ausdruck, es bedarf schon eines eleganten Turnerschwunges, um die nicht unbeträchtliche Höhe zu erreichen, aber dann wird man auch reichlich belohnt durch das vollste, süßeste, innigste Wohlbehagen. Man kann sich in die Länge und in die Quere legen, wie man Lust hat, man kann die Gliedmaßen nach allen Richtungen hin ausstrecken, und wer noch nicht müde ist, mag sich sogar durch gymnastische Uebungen den Schlaf präpariren. Raum ist genug vorhanden. So fand ich es überall. Dabei flackerte im Kamine lustig die Flamme, der rothe Schein derselben drang durch die Farben der von allen Seiten niederwallenden Bettvorhänge, rosiges Licht überfluthete Einen – man vergaß, daß man eigentlich auf einem Vulcane schlief, man vergaß die Franctireurs, die Mitrailleusen, Granaten und Gambetta, man athmete nur im Gefühle des wonnigsten Daseins, durch das Zimmer knisterte es wie eine leise Schlummermelodie und so schlief man seine acht, neun Stunden weg, bis am Morgen die Bettvorhänge sich öffneten, dunkle Augen unter schwarzem Haare und einem weißen Häubchen hereinschauten und französische Laute sich vernehmbar machten, in der Frage: „Monsieur veut-il avoir du feu?“ – Will der Herr Feuer? –

Wenn ein Corps in ein Departement oder in eine Stadt, in welcher vorher noch keine deutschen Truppen waren, einrückte, so machte der commandirende General desselben in einem Maueranschlage bekannt, was von Seiten der Einwohner den Officieren und Mannschaften geliefert werden mußte. Erstes und zweites Frühstück und Diner, die Beschaffenheit dieser Mahlzeiten unterschied sich nach dem Range der Officiere und der Mannschaften; erstere hatten drei Platten zu bekommen, bei letzteren war das Quantum des Fleisches und Weines normirt; nur in den fünf Cigarren per Tag war kein Unterschied, ebensowenig wie beim ersten Frühstück, das aus Kaffee mit Milch und Brod bestehen sollte. Im französischen Hause ist dieses nicht üblich; man genießt vor dem Frühstück, das um elf Uhr eingenommen wird, nichts, höchstens eine kleine Tasse schwarzen Kaffees oder Chocolade, und die Landleute ein Glas Wein mit einem Stücke Brod. Das zweite Frühstück richtet sich natürlich nach Stellung und Vermögen eines Hauses; zuerst wird ein Ragout gegeben, in dessen Bereitung die französische Küche bekanntlich Meisterin ist. Man ißt sich an den Champignons und Trüffeln für einige Tage krank, um, sobald man durch hartnäckiges Hungern den Magen wieder in Ordnung gebracht hat, doch wieder dem nämlichen Laster zu verfallen. In einfacheren Haushaltungen ist das feststehende Frühstücksgericht eine Schüssel gedünsteten Hammelfleisches mit Kartoffeln, die vortrefflich zubereitet ist.

Das Geschlecht der Hammel ist das allnährende Element der Franzosen in animalischer Beziehung; Hammelfleisch ist ihre Nahrung jeden Tag, mit und ohne Pilze, gekocht, gebraten, geschmort, als Ragout, Cotelette, Braten, Hammelfleisch ohne Ende bis zur Erschöpfung. Da eine Nation mehr oder weniger immer ein Product ihrer Nahrung sein wird, und da nach dem Volksglauben Hammelfleisch capriciös und hoffärtig machen soll, so mag es daher wohl auch kommen, daß den Franzosen im Laufe der Zeiten die Wolle so sehr gewachsen ist.

Nächst dem Hammelfleische bildete Geflügel eine stehende Platte unserer Mahlzeiten; anderes Fleisch, vornehmlich große Braten, waren schwer zu beschaffen, dagegen gab es an Geflügel keinen Mangel, namentlich solange noch die Cernirung von Paris dauerte und dieser Riesenmagen uns noch nicht alle Vorräthe der Provinz verschlang. Ich habe niemals größere, fettere und zartere Truthähne und Hühner gesehen und gegessen, als in den Gegenden der Loire und im Departement der Sarthe. Die Hühner von Le Mans und aus La Flêche haben ein europäisches Renommée. Was man dagegen von dieser Gattung in Deutschland erzeugt und selbst den Muth hat, gebraten auf den Tisch zu setzen, muß wie eine Ironie, wie ein Hohn auf das edle Geschlecht alles Gefiederten erscheinen. Einer meiner Bekannten, der als Officier im Felde steht und dessen Amusement zu Hause ein Hühnerhof ist, schrieb jüngst seiner Frau:

„Ich bitte Dich, liebes Kind, ehe ich nach Hause komme, allen unseren Hühnern die Hälse umzudrehen; ich kann sie jetzt nicht mehr sehen, noch weniger essen.“

In Orleans kaufte man einen fetten Truthahn für zehn Franken und in Le Mans ein Huhn um zwei und dritthalb Franken. Später allerdings in Fontainebleau mußten wir für ein Huhn einen Thaler achtzehn Silbergroschen bezahlen, aber da hatten wir auch Frieden, und die Franzosen das Recht, uns tüchtig zu prellen.

[436] Der Platte mit Ragout, um wieder zu unserem Dejeuner zurückzukehren, folgte meistentheils ein gebratener Vogel mit Salat, dann gab es apart ein Gemüse, meistentheils Rosenkohl oder Spinat, Sauerampfer, sehr häufig kamen auch weiße Bohnen, darauf eine Patisserie, irgend ein Kuchen, Aepfel und Nüsse, Mandeln, Traubenrosinen, Confitüren, Butter und Käse, und den Beschluß machte Kaffee.

Das Diner, das gewöhnlich um halbsieben Uhr eingenommen wurde, unterschied sich von dem Dejeuner durch das Auflegen eines Tischtuches, und den Inhalt des Pot au feu, durch die Suppe. In diesem durch den bekannten Ausspruch Heinrich’s des Vierten historisch gewordenen Gefäße wird ein großes Stück Rindfleisch mit einem Kohlkopf, allen Sorten Rüben, unter anderen auch Rettigen gekocht; in eine Suppenterrine wird Brod eingeschnitten und die Bouillon aus dem Topfe darauf gegossen, dazu werden der Kohl und die Rüben umhergereicht; eine andere Suppe bekommt man fast nie. Erst als ich den Wunsch nach einer Abwechselung äußerte, ließ man anstatt Brod das ABC in Nudelteig gedrückt in der Bouillon herumschwimmen. Hie und da wurde die Zahl der Platten noch durch eine Seezunge vermehrt, nach derselben und nach dem Rindfleisch gab man ein Ragout, dann Braten, und darauf ein Gemüse. Das Dessert blieb dasselbe wie beim Frühstück. Obst und Confitüren fehlen bei keiner französischen Mahlzeit; unter letzteren verstehen die Franzosen eine Marmelade aus Himbeeren oder Erdbeeren, Aprikosen, Pfirsichen oder Quitten, an die wir uns bald gewöhnt hatten, da sie, trotz der Versetzung mit Zucker, doch den lieblichsten Fruchtgeschmack bewahrten. Ein größerer Genuß war für uns das wunderschöne Obst. Wir saßen so mitten im Lande der Hesperiden drinnen; die Gegenden von Orleans bis Tours exportiren jährlich für Millionen von Franken an Obst nach England. Die Reben, die zuerst nach Deutschland unter Karl dem Großen kamen, waren Orleansreben. Wir hatten im Winter noch Trauben, Birnen von mehreren Pfunden an Gewicht, vornehmlich aber ausgezeichnete Aepfel.

Mehrmals wurde ich von ganz gebildeten Leuten gefragt, ob wir in Deutschland auch Aepfel hätten. Wenn man ihnen dann antwortete, daß wir Aepfel, Birnen, Trauben und sogar Feigen in Fülle hätten, daß die Gärtner um Berlin einen Exporthandel mit Ananassen, die im Sande der Mark gezogen seien, trieben, dann wollte ihr Erstaunen kein Ende finden. Darin waren sie merkwürdig naiv; sie betrachteten sich wie das auserwählte Volk Gottes, berechtigt zum alleinigen Besitz aller Erdengenüsse. Wir Deutschen gingen nach ihrer Meinung noch in Thierhäuten umher und nährten uns von Wurzeln und Eicheln.

In Tours servirte man mir eines Tages einen Hummer. Mit etwas verlegener Miene frug der Herr des Hauses, ob ich das Gericht auch kenne und zu essen verstände. Ohne ein Wort zu sprechen, zerlegte ich den Hummer ganz kunstgerecht und fing dann an in einem Grade zu essen, daß für die Uebrigen fast nichts mehr übrig blieb, worauf der Herr des Hauses seiner Madame ganz verwundert zurief: „Il est connaisseur!“ (Er versteht sich darauf!) Dies zu zeigen war auch meine Absicht gewesen. Ebenso verhielt es sich mit den Weinen. Kam man in das Quartier, so sprachen die Wirthe ihr Bedauern aus, kein Bier zu haben; denn sie wußten, daß die Deutschen doch nur Bier tränken. Wenn aber eine Mahlzeit vorüber war, und sie die leeren Weinflaschen sahen, dann mußten sie sich auch sagen: Il est connaisseur! Nicht allein von meiner Wenigkeit, von uns Allen. An das Gute gewöhnt sich der Mensch leicht; unsere Soldaten haben nie so gut gelebt und werden es vielleicht auch nicht mehr, als in den Gegenden der Loire. Den saueren Rothwein der Mosel um Metz mochten sie schon nicht mehr, desto mehr mundeten ihnen die milden Weine der Loire und die von Burgund. Wie hätten sie ohne den Wein auch die furchtbaren Strapazen des Winterfeldzuges aushalten können!

Nach diesen Bemerkungen über das französische Haus werde ich in einem nächsten Artikel mit meinen Erlebnissen und Beobachtungen in französischen Quartieren auf unserm Vormarsch nach dem Süden fortfahren.

G. Horn.




Die Wiege des Königs.


In welcher wunderbaren Symbolik bewegen sich oft die Ereignisse! Wenige Tage sind es her, daß man in Paris die eherne Gestalt Napoleon des Ersten von ihrem hohen, stolzen Piedestale unter großem Jubel herabgestürzt, und wenige Tage sind erst dahin, daß man in Berlin unter Begeisterung des Volkes dem Könige Friedrich Wilhelm dem Dritten ein Denkmal der Ehren und Dankbarkeit aufgerichtet hat.

Jener hat die Nation, die ihn an ihre Spitze gestellt hatte, von jenem weltgeschichtlichen 18. Brumaire an verrathen und zum Opfer seines maßlosen Egoismus gemacht, und das ward sein Untergang. Unter Friedrich Wilhelm dem Dritten, der auf den Stufen des Thrones geboren ist, hat sich das Vaterland zu neuem, gesundem Leben emporgehoben, aus tiefem Fall und grenzenlosem Elend, und daß er dem großen Volkszuge die Bahn frei machte, das war seine Rettung, das war sein Verdienst und Ruhm, das wird sein Gedächtniß der Liebe und Ehren für alle Zeiten sein.

Wenn man durch die Straßen der Stadt Potsdam wandelt, die sich mit Vorliebe und mit Recht die zweite Residenz der preußischen Monarchie nennt, wenn man vom Bahnhofe aus die lange Brücke überschritten hat, wenn man das sich zu beiden Seiten derselben entfaltende Landschaftsbild in seiner reizenden Zusammenstimmung saftigen Baumgrüns mit dem klaren, frischen, blauen Wasserspiegel der Havel genossen, wenn man durch die an der Brückenseite gelegenen Colonnaden des Lustgartens, an der einstigen Wohnung Voltaire’s vorbei, um die Ecke des Stadtschlosses gebogen und durch die an der Stadtseite gelegenen Colonnaden das Gebiet des Schlosses verlassen und die eigentliche Stadt betreten hat, dann stößt man auf einen Asphaltweg, der vom Schlosse an durch die Stadt bis nach Sanssouci führte und für König Friedrich Wilhelm den Vierten gelegt worden war. Verfolgt man denselben etwa zweihundert Schritte weit, dann gewinnt man zu rechter Hand den Blick auf eine kurze breite Straße und von da auf einen kleinen Platz, der neue Markt genannt. Rechts in der ersteren, und zugleich die Ecke nach der Schloßstraße bildend, präsentirt sich ein stattliches im Aplombstyl des achtzehnten Jahrhunderts erbautes Haus. Es hat ein Erdgeschoß und eine Beletage, über derselben noch eine architektonisch reich verzierte Attika; fünf Fenster der Seitenfront gehen nach der Hauptstraße, die Façade liegt nach der Nebenstraße, sie hat zehn Fenster, über dem Eingange einen von zwei Bildsäulen getragenen Balcon, vor dem Hause stehen vier Lindenbäume. Es ist eins der vielen Häuser, welche Friedrich der Große aus eigenen Mitteln den Bewohnern Potsdams aufbaute; eigentlich ließ er den vorhandenen Gebäuden nur eine neue Façade geben. Die innere Einrichtung und die Rückseite aus Fachwerk blieben in dem Zustande, in welchem sie waren. Viele hatte er aber auch von Grund aus aufgebaut; er besaß zu diesem Zwecke eine große Sammlung von Kupferabbildungen der schönsten öffentlichen und Privatgebäude Europas; von diesen wurden die Copien oder Motive für die neu aufzuführenden genommen, und so kommt es, daß man in Potsdam steinerne Abbildungen von Whitehall, von Gebäuden des Palladio in Rom und von anderen hervorragenden Bauwerken in Paris, Venedig und Amsterdam sieht.

Der große König fand bei seinem Regierungsantritt eine Stadt von Häusern aus Fachwerk und Backsteinen und hinterließ eine solche von Palästen. Seine gewaltige schöpferische Kraft bethätigte er nach seinen Kriegsthaten in Werken des Friedens. Er ließ bauen im ganzen Lande, Canäle, Wege, Brücken und außerdem seinen lieben Potsdamern hübsche Häuser; unter die stattlichsten gehört das eben beschriebene. Daran stößt ein weniger hübsches; dasselbe sieht in seiner schmucklosen Einfachheit gegen die reiche Ornamentirung des Nachbarhauses wie der arme Mann neben dem reichen aus, die Fenster zeigen gar keinen künstlerischen Schmuck, es wendet mit vier Fenstern seine Seitenfront dem Markte zu, die Façade steht nach der Schwertfegerstraße, nach dieser Seite hin ist ein Fenster zugemauert. Und doch besitzt dieses Haus eine Bedeutung, welche das danebenstehende prächtigere nicht hat; dieselbe ist in einer Marmortafel ausgedrückt, welche [437] zwischen zwei der nach dem Markte gehenden Fenster eingefügt ist; auf dieser steht in goldenen Lettern geschrieben:

Friedrich Wilhelm III.
In seines Volkes Andenken
der Gerechte,
wurde in diesem Hause geboren.

Am 3. August 1870.
Die Stadt Potsdam.

Wie kommt die Wiege des Großneffen Friedrich’s des Großen, wie kommt der künftige Thronerbe von Preußen in dieses unscheinbare Haus, gegen welches selbst das Geburtshaus des Advocatensohnes von Ajaccio ein kleiner Palast ist? Umspielt seine Wiege etwa irgend ein romantisches Ereigniß? Trug vielleicht die Mutter nicht den Hermelin um ihre Schultern, um ihn über den schlummernden Säugling breiten zu können? Mußte der Vater, der spätere König Friedrich Wilhelm der Zweite, das Kind vor den Sonnen- und Blitzesaugen seines regierenden Oheims verborgen halten? Nichts von alledem! Potsdam war keine Stadt zu solcher Romantik gemacht, und Friedrich der Große hatte mit seinem achtundzwanzigsten Jahre, mit seinem Regierungsantritte, diese Anwandlungen für sich und sein Haus abgestreift. Der Vater des Kindes war der älteste Neffe des Königs, die Mutter eine Prinzessin von Hessen-Darmstadt, eine Frau, von der man nicht mehr viel Anderes weiß, als daß ihr Schicksal Leiden und Dulden war, jedenfalls eine vortreffliche Mutter.

Das Geburtshaus Friedrich Wilhelm’s des Dritten in Potsdam.
Nach der Natur aufgenommen.


Als der künftige Thronerbe sich verheirathete, wurde nach einer passenden Wohnung für den jungen Haushalt gesucht. Wohl besaß der König das geräumige Stadtschloß in Potsdam, er hatte außerdem das Neue Palais bauen lassen, Paläste, die Raum genug boten, aber er bestimmte deren keinen für seinen Neffen. Er wohnte zwar die meiste Zeit in Sanssouci, aber doch auch wieder eine kurze Weile in den beiden genannten Schlössern, so daß er sich durch eine zweite Hofhaltung gestört, beengt fühlte. Alternde Herren, die keine Frau haben, welche ihnen die Grillen abfangen kann, haben oft derlei Launen – genug, es wurde für den Thronerben ein Privathaus gemiethet, das oben beschriebene, am Neuen Markt gelegen, und als dieses sich nicht ausreichend erwies, nahm man das daranstoßende Bürgerhaus dazu und durchbrach die Zwischenwand, um so die Verbindung mit der Beletage des größeren, prächtigeren herzustellen. In dem nach der Schwertfegerstraße gelegenen Eckzimmer war das Schlafzimmer der Prinzessin von Preußen; da aber die Einwohner der gegenüberliegenden Häuser sehr neugierig waren und den ganzen Tag in den Fenstern lagen, um zu sehen, was da drüben für interessante Dinge vorgingen, so ließ die Prinzessin das Fenster zumauern und in diesem Zimmer hat der spätere König Friedrich Wilhelm der Dritte das Licht der Welt erblickt, in der ihm so schwere Anfechtungen aufbehalten sein sollten. Also keine Romantik, im Gegentheil: die Geburt des Fürstenkindes war eine sehr officielle.

Am 3. August 1770 nach acht Uhr wurde von den Thürmen der Stadt geblasen, soviel nur Posaunen in der Stadt zu finden waren; die Garnisonkirche spielte mit ihrem berühmten Glockenspiele einen Choral, um drei Uhr Nachmittags kam der König von Sanssouci in die Stadt geritten und hielt vor dem stattlichen [438] Hause am Neuen Markt. Am Eingang desselben hatten sich die Einwohner der Stadt versammelt, überall unter denselben war Freude und Bewegung, und die Leute zischelten sich in die Ohren: „Seht, der alte Fritz kommt, er will den kleinen Großneffen sehen!“ Fünf Tage darauf war die Taufe; da kam er wieder des Nachmittags, aber nicht auf dem Pferde, sondern im Wagen und mit glänzendem Gefolge; dann stieg er, empfangen von seinem Neffen, dem Vater des Kindes, der damals noch schlank und einer der schönsten Männer im Lande war, die Treppe in den ersten Stock hinauf, trat einen Augenblick in das Zimmer der hohen Wöchnerin, begrüßte dieselbe, dann ging er in das Taufzimmer zurück, allwo ihm die Großmutter des Kindes, die kluge, edle Landgräfin von Hessen-Darmstadt, den Täufling in die Arme legte. Er schenkte ihr sein Portrait in Brillanten, sowie der Wöchnerin einen Haarschmuck aus Brillanten; sonst pflegte er zum großen Heile seines Landes mit derartigen Geschenken nicht eben sehr tief in die Tasche zu greifen, aber bei dieser Gelegenheit ließ er es sich etwas kosten.

Der Geistliche der Hof-Garnisonkirche, der Patronatskirche, des königlichen Hauses, der Hofprediger Cochenius, verrichtete die heilige Handlung. Lange kann dieselbe nicht gedauert haben; die Herren vom geistlichen Amte kannten in dieser Beziehung die Ansichten des Königs. Nach etwa zwanzig Minuten kam er wieder die Treppe herab und fuhr nach seinem Sanssouci zurück. Von da aus hat er an den General v. Krokow geschrieben: „Ein für mich und mein gesammtes königliches Haus so interessantes Ereigniß hat mich mit der lebhaftesten Freude erfüllt, und was für mich dasselbe noch erhöht, ist der Umstand, daß das ganze Vaterland sie mit mir theilt. Möchte dasselbe dereinst auch die Freude mit mir theilen, diesem jungen Prinzen auf den glorreichen Pfaden seiner Vorfahren wandeln zu sehen!“ Auch Herr v. Voltaire hatte aus Ferney einen Gratulationsbrief geschickt, der sicherlich sehr geistreich und verbindlich abgefaßt war; waren die beiden großen Geister doch wieder gute Freunde, nachdem sie hart aneinander gerathen waren. Darauf schrieb ihm der König zurück: „Ich danke Ihnen für den Antheil, welchen Sie an dem Kinde nehmen, das uns geboren worden ist. Ich wünsche nur, es möge einst die Eigenschaften besitzen, die nöthig sind, daß dieser Prinz, weit entfernt, das Unheil der Menschen zu sein, vielmehr der Wohlthäter derselben werde!“

Als der Prinz geboren wurde, war der König achtundfünfzig Jahre alt, sein Leben ging abwärts; bisher war es mit der Nachfolge im preußischen Hause ziemlich schwach bestellt; um so größere Hoffnung setzte er nun auf den neugeborenen Sprößling des königlichen Hauses und auf dessen Erziehung. Er schrieb eigenhändig eine Instruction für den Hofmeister, den ehrlichen biederen Hofrath Behnisch, in welcher die denkwürdigen Worte vorkommen: „Er soll lernen, daß alle Menschen gleich sind, daß die Geburt nur eine Chimäre ist, wenn sie nicht durch das Verdienst unterstützt wird.“ Der König warf für ihn einen Etat aus, dessen Details er selbst aufschrieb, und dessen Summe noch heute für die Kinder des preußischen Hauses bis zum zehnten Jahre geltend ist. Derselbe belief sich auf etwa zweitausendfünfhundert Thaler, darunter waren zweihundertfünfzig Thaler für Bücher, Karten und Spiele. In den ersten Lebensjahren kam man damit wohl aus, aber später wurde es sehr knapp; der König gab nach einer Zeitfrist ein Taschengeld von zwei Friedrichsd’or monatlich und dazu den Rath, das Geld in Silbermünzen umzuwandeln, damit es einen recht großen Haufen mache, aber zu höheren Leistungen wollte er sich durchaus nicht verstehen.

In späteren Jahren geschah es, daß Friedrich Wilhelm der Dritte seine jungen Söhne mahnte, daß sie bedenken möchten, wie gut sie gestellt wären an Vergleich zu ihm in seinen Jugendjahren. Da sei es ein ganz besonderer und außerordentlicher Genuß für ihn und seinen Bruder, den Prinzen Ludwig, gewesen, wenn Behnisch sie in einen Kirschengarten führte und ihnen Milch und Kirschen geben ließ. Daher auch der einfache, genügsame, haushälterische Sinn, der dem späteren Könige bis an das Lebensende geblieben war und der in den Zeiten des Unglücks ihm über alle Entbehrungen des äußerlichen materiellen Lebens[5] leicht hinweghalf, wie er auch später zum Wiederaufbau des Staates ein so thätiger und kräftiger Mithelfer wurde. Als nach der Rückreise der königlichen Familie aus dem Exil von Königsberg im Jahre 1809 der Hofmarschall eines Tages den König fragte, ob wieder Champagner bestellt werden sollte, war dessen Antwort: „Nein, nicht eher, als bis meine Unterthanen wieder Bier trinken können.“

Wie jenes schmucklose Haus in einer der Nebenstraßen der Havelresidenz die Wiegenstätte, so war die ganze Stadt und das sie umgebende anmuthige, weite, grüne Gehege der Schauplatz geistigen Erwachens des jungen Prinzen gewesen. Hier wuchs er in der lichten Atmosphäre des Helden des siebenjährigen Krieges, des philosophischen Königs in das Leben und in die verwickelten Verhältnisse desselben hinein. Dem Vater, dem späteren Könige Friedrich Wilhelm dem Zweiten, war Friedrich der Große nicht sehr hold, er mußte in dessen Privatleben Unregelmäßigkeiten bemerken, die in ihm manche Besorgnisse für die künftige Regierung des preußischen Staates erweckten, um dessen Ruhm, Größe und Bedeutung es sich der alte Herr hatte so sauer werden lassen durch sein ganzes Leben. Desto größere Hoffnungen setzte er auf den heranwachsenden Großneffen, in dessen Naturell und Fähigkeiten sein Scharfblick viele edle, triebkräftige Keime entdeckte. Er überwachte die Erziehung, die Lehrer, den Gouverneur, er ließ sich regelmäßig Bericht über den Fortgang der Studien des jungen Prinzen erstatten, er hatte diesen viel um sich, er prüfte ihn oftmals selbst, und denkwürdig ist jene Scene in Sanssouci, welche Friedrich Wilhelm der Dritte vielleicht fünfzig Jahre später dem Bischofe Eylert bei einem Spaziergange in der Allee des königlichen Gartens erzählte.

Die große Wahrhaftigkeit des Herzens, die hohe Redlichkeit des Sinnes, die den späteren König gegen sich wie gegen alle Welt, im Privat- wie im Staatsleben kennzeichnete, diese offenbarte sich schon damals in dem etwa sechszehnjährigen Jünglinge. Der König zog aus seiner Tasche einen Band von Lafontaine’s Fabeln und ließ seinen Großneffen eine davon übersetzen. Derselbe löste seine Aufgabe zur großen Zufriedenheit des Königs, der ihn darum lobte und ihm die Wangen streichelte. Schließlich gestand denn Prinz Fritz, daß es darum so gut gegangen sei, weil er die nämliche Fabel bei seinem Informator vorher geübt habe. Bei diesem Geständnisse ging ein ernster Zug, eine Miene hoher Befriedigung über das Antlitz des großen Königs, und bewegt sprach er zu seinem künftigen Nachfolger die Worte:

„So ist es recht, lieber Fritz; nur immer ehrlich und aufrichtig. Wolle nie scheinen, was Du nicht bist; sei stets mehr, als Du scheinst. Fritz, werde etwas tüchtiges par excellence. Es wartet Großes auf Dich. Ich bin am Ende meiner Carrière und mein Tagewerk ist absolvirt. Ich fürchte, nach meinem Tode wird’s pêle-mêle gehen. Ueberall liegen Gährungsstoffe, und leider nähren sie die regierenden Herren vorzüglich in Frankreich, statt zu calmiren und zu exstirpiren. Die Massen fangen schon an, von unten auf zu drängen, und wenn dies zum Ausbruche kommt, ist der Teufel los. Ich fürchte, Du wirst ’mal einen schweren, bösen Stand haben. Habilitire, rüste Dich, sei firm; denke an mich. Wache über unsere Ehre und unsern Ruhm. Begehe keine Ungerechtigkeit, dulde aber auch keine.“

„Unter solchen Aeußerungen,“ erzählte der König dem Bischofe, „war Friedrich der Große in Sanssouci bis zum Ausgange gekommen, wo der Obelisk steht. ‚Sieh ihn an,‘ sprach er zu mir. ‚Schlank, aufstrebend, hoch und doch fest in Sturm und Ungewitter. Die Pyramide spricht zu Dir: ‚Ma force est ma droiture‘. Der Culminationspunkt, die höchste Spitze überschauet und krönet das Ganze, aber trägt nicht, sondern wird getragen von Allem, was unter ihr liegt; vorzüglich vom unsichtbaren, tief untergebauten Fundament. Das tragende Element ist das Volk in seiner Einheit; halte es stets mit ihm, daß es Dich liebe und Dir vertraue; darin nur allein kannst Du stark und glücklich sein.‘

Er maß mich mit festem Blick von der Fußsohle bis zum Scheitel,“ erzählte der König Friedrich Wilhelm der Dritte, „reichte mir die Hand, küßte mich und entließ mich mit den Worten: ‚Vergiß diese Stunde nicht.‘“

Es war das letzte Mal, daß der Jüngling und der Greis sich im Leben sahen, am 17. August 1786 in einer der Frühstunden stand im Schlosse von Sanssouci der Großneffe Fritz vor der Leiche des Mannes, der sieben Jahre lang halb Europa gegen sich in Waffen gesehen, der in das Königthum einen neuen Gedanken, den der höchsten Pflicht, gebracht hatte, dessen Name in dem fernsten bewohnten Winkel des Erdballes mit Ehrfurcht und Bewunderung genannt wurde, von dem ein zeitgenössischer Dichter singt: „Einziger, nie ausgesungener Mann!“ [439] Wie hätte der fürstliche Jüngling, nunmehrige Kronprinz, in dem Anschauen der Züge des großen Todten nicht des letzten Zusammenseins mit dem Leben gedenken müssen, und seiner letzten Worte, die er, ein theures Vermächtniß, dem ältesten hoffnungsvollen Sprossen seines Hauses in die Seele sprach, und der Mahnung, die wie ein letzter Abschied klang: „Vergiß diese Stunde nicht!“


Germania im Siegeskranze.
Für die Leipziger Friedensfeste modellirt von L. Albrecht.


Der spätere König hat sie auch nicht vergessen; er wurde oft genug durch die Tragik der Ereignisse, die über ihn, seinen Thron und sein Land hereinbrachen, daran erinnert, und daß ein prophetischer Geist es war, der da sprach: „Ich fürchte, Du wirst ’mal einen schweren, bösen Stand haben.“

Wie sehr der Weise und Prophet von Sanssouci Recht hatte, ist allerwärts bekannt und es kann darum nicht unsere Sache sein, hier nochmals auf die Geschichte jener ruhmlosen Tage, welche Deutschlands größte Erniedrigung bildeten, zurückzukommen, und auf die jener andern, in welchen sich Volk und König aus tiefem Sturze emporarbeiteten, die schmachvollen Fesseln fremder Gewaltherrschaft auf immer abzuschütteln. In diesem Ringen nach Rettung mochte dem König die Stunde vor dem Obelisk in Sanssouci in die Erinnerung, in den thatkräftigen Willen zurückgekehrt, jetzt mochte ihm die Offenbarung der neuen Zeit aufgegangen sein, daß die Zeit der einzelnen großen Individualitäten, wie Friedrich der Große, als der Lenker des Volkes vorüber sei, daß der König der Zukunft nicht wie eine Art Vorsehung über dem Volke stehen müsse, sondern in ihm selbst Blut von seinem Blute, Herzschlag mit seinem Herzschlage, daß die Mitthätigkeit des Volkes, das Zusammenwirken der Gesammtheit zur Erhebung und zur Ehre des Vaterlandes der neue Gedanke der neuen Zeit sei. In seiner Seele wachte wieder auf, was er schon damals, als er den Thron bestieg, gefühlt und gedacht hatte, er berief Stein in seine Nähe, den Mann, dessen Seele ein brennender Dornbusch war, er zog Scharnhorst und Gneisenau, Hardenberg in seinen Rath, und mit diesen Männern vollbrachte er die gesetzgeberischen Thaten, die den Staat auf einer neuen Grundlage erbauten, die Preußen in die erste Reihe der Culturvölker und nach und nach auf eine Machtstufe stellten, auf der es zu seinem großen deutschen Berufe heranwuchs.

Friedrich Wilhelm der Dritte erhob den großen Gedanken Scharnhorst’s zum Gesetz: das Volk ist die Armee! Er befreite den Nacken des Soldaten, der das fremde Joch abschütteln sollte, auch von dem Joche der entehrenden Fuchtel, er gab die Städte-Ordnung, er hob die Leibeigenschaft auf, er nahm von dem Bürger und Bauer den Alp weg, der Jahrhunderte auf ihnen lag, er entband die Kräfte seines Volkes zu freier Thätigkeit, und dieses Volk hat es ihm nie vergessen, aus freiem dankbarem Herzen jubelte es ihm zu, als er den Aufruf an dasselbe ergehen ließ: Frei sein von fremder Herrschaft oder untergehen! Und mit seinem Volke hat er seine Sache hinausgeführt zu einem glorreichen Ende.

Vor sieben Jahren legte König Wilhelm zum Andenken an jene große eiserne Zeit, zum Ehrengedächtniß des Königs und Vaters den Grundstein zu einem Denkmal auf dem Platze zwischen Schloß und Museum in Berlin. Die Enthüllung sollte am 3. August 1870, am hundertjährigen Geburtstage Friedrich Wilhelm’s stattfinden; Alles war zu dieser Feier vorbereitet, aber es sollte nicht sein. Statt auf den Festplatz in Berlin marschirten an diesem Tage unsere Truppen gegen den Feind; am 4. August hielten sie bei Weißenburg eine Nachfeier des Tages. Die Enthüllung der Statue Friedrich Wilhelm’s des Dritten war einer andern Zeit, einem bedeutungsvolleren Moment aufbehalten, dem 16. Juni, als man schrieb im ersten Jahre der Einheit Deutschlands, als unsere Truppen aus Feindesland wiederkehrend ihren siegreichen Einzug in Preußens und Deutschlands Hauptstadt hielten.

In sieben Monaten hatte Napoleon Bonaparte einst Preußen zertrümmert. Sieben Monate waren hinreichend, um 1870 dem deutschen Erbfeinde zu beweisen, wie weit der Staat Friedrich Wilhelm’s des Dritten sich aus jenem Falle wieder erhoben hat. Die Brust der unter dem Volksjubel dahin schreitenden Tapferen schmückt dasselbe Zeichen und Andenken jener eisernen Zeit, das eiserne Kreuz, das der König am 10. März 1813, am Geburtstage seiner im Andenken des Volkes verklärten unvergeßlichen Louise gestiftet hatte. Weihen wir inmitten des Festjubels einen Blick der Dankbarkeit, einen Gedanken der Pietät der Geburtsstätte des Mannes, der seinem Volke mehr als ein Gerechter war, wallen wir im Geiste hinaus in die hohe, weite grüne Allee von Sanssouci an die Stelle, wo er aus dem Munde des großen Königs wie einen Geistessegen die große Lehre empfangen hat: „Halte es stets mit dem Volke, daß es dich liebe und dir vertraue; darin allein kannst du stark und glücklich sein. Vergiß diese Stunde nicht!“
H. P.



[440]
Blätter und Blüthen.

Zahnoperation unter Schwierigkeiten. Die Besucher von Mauder’s Menagerie (der reichhaltigsten Englands), augenblicklich in Glasgow, waren am verflossenen Mittwoch (31. Mai) Augenzeugen einer gewiß in ihrer Art einzig dastehenden Operation, über deren Verlauf im Allgemeinen die Zeitungen zwar bereits berichtet haben, deren nähere Umstände wir aber unseren Lesern nach einer directen Mittheilung vom Operationsplatze her schildern können. Es handelte sich nämlich um nichts mehr und nichts weniger als einem ausgewachsenen starken Löwen einen hohlen Zahn auszuziehen.

Maccomo, der berühmte Löwenzähmer in Mauder’s Menagerie, hatte vor einiger Zeit diesem Löwen bei der Dressur einen derben Schlag über die Kinnlade versetzt, da ihn Erfahrung gelehrt, daß Schläge auf andere Theile des Kopfes, wenn das Thier gereizt wurde, ohne Wirkung blieben und ihn großer Gefahr aussetzten. Durch diesen Schlag scheint der Löwe ziemlich bedeutend verletzt worden zu sein; er wurde sehr niedergedrückt, fraß wenig, und was ihm gereicht wurde, mußte in feine Stücke geschnitten werden.

Herr Mauder erwähnte dieses Gegenstandes vorige Woche seinem Arzte, welcher sofort die Vermuthung aussprach, daß wahrscheinlich durch den erwähnten Schlag ein Zahn gelockert oder die Kinnlade zerschlagen worden sei. Er bot sich ferner an, den Löwen zu operiren, vorausgesetzt, daß Herr Mauder die Bestie sicher fesseln könnte. Diese freiwillige Offerte wurde nach kurzem Ueberlegen von Herrn Mauder angenommen und der Tag bestimmt. Zuerst wurden die Vorderfüße gesichert und mit starken Seilen an dem doppelt starken Eisengitter befestigt; sodann wurde der Kopf mit einem Lasso gefangen und ebenfalls mit Seilen derart angebunden, daß das Thier sich mit dem Vorderkörper so wenig wie möglich bewegen konnte. So gefesselt überließ man die Bestie ihrer Wuth, und schrecklich, aber zugleich erhaben war es anzuschauen, wie sie sich von der Umgürtung zu befreien suchte und dabei brüllte, daß es Einem Mark und Bein erschütterte. Den fürchterlichen Anstrengungen folgte nach einer halben Stunde vollständige Ermattung, und jetzt war der Augenblick gekommen, die Operation vorzunehmen.

Ohne Zagen bestieg der Doctor, von einem andern Arzte begleitet, eine vor dem Käfige aufgestellte Tonne; ein Stück Holz wurde dem Thiere vorgehalten und gierig schnappte es nach demselben und in den offenen Rachen wurde sofort eine Maulsperre geschoben. Nachdem der Rachen gehörig ausgewaschen, das Werk von einer Minute, steckte der unerschrockene Doctor seinen Arm in denselben, strich mit seiner Hand über die Zähne und fühlte im nächsten Augenblick, daß einer der Hinterzähne lose war. – Ueberzeugt, daß dies die Ursache des Uebels, machte er sich sofort daran, mit bereit gehaltenen Zangen den Zahn herauszunehmen.

Wahrhaft grenzenlos war nun die Wuth des Thieres, das Gebrüll ohrzerreißend, und die Angst um den waghalsigen Doctor unbeschreiblich. Unbeirrt setzte er jedoch das begonnene Werk fort und nach einigen Minuten hatte er die Genugthuung, den losen Zahn, der an der Wurzel angefressen und außerdem zerbrochen war, in seinen Händen zu haben.

Vollständig niedergebrochen durch Wuth und Schmerz, sank das stolze Thier zu Boden, während es aber ruhig dalag, schnitt der Doctor in das Fleisch der unteren Kinnlade und fand, daß dieselbe, wenn nicht gebrochen, so doch stark beschädigt sei. Der Zustand des Thieres ließ jedoch eine weitere Operation für diesen Tag nicht zu, und Herr Mauder will auch erst sehen, ob eine solche nöthig ist. Die neuesten Bulletins über den Zustand des hohen Patienten, der jetzt mit Fleischbrühe und Bordeauxwein ernährt wird, lauten günstig. Die ganze Operation mit Einschluß des Fesselns nahm nur anderthalb Stunden in Anspruch.

     London, Anfang Juni.
F. W. Reuß.

Die Rüge des Illustrations-Diebstahls, welche wir in Nr. 22 der „Gartenlaube“ veröffentlichten, hat uns noch einige andere Zusendungen eingebracht, die uns leider von der überraschenden Vielseitigkeit überzeugen, mit welcher dieses Gaunergeschäft der Illustrations-Fabrikanten unterster Ordnung betrieben wird. Einer unserer Leser weist uns eine lange Reihe der Gartenlaube entnommener Bildwerke in solchen periodischen Blättern nach, die allerdings durch ihre ebenso massenhafte als billige Production den Verdacht nicht reellen Geschäftsganges selbst herausfordern. Versteigt sich doch dieser Illustrations-Diebstahl bis in die Volksbilderbogen. Im Jahrgang 1867[WS 1] theilte die „Gartenlaube“ (S. 28 und 29) eine größere Illustration mit, welche den Heldentod des Prinzen Anton von Hohenzollern in der Schlacht bei Königsgrätz darstellt. Die bei Eduard Stange in Berlin erscheinenden buntbeklecksten Bilder aus dem „deutsch-französischen Krieg von 1870“ benutzen die ganze Hauptgruppe dieses Bildes, um sie ohne Weiteres vor die Speicherer Höhen zu versetzen, nur wird der Prinz hier nicht tödtlich verwundet, denn der ihn bei Königsgrätz auffangende Mann muß ja einen Turco beim Kragen fassen, sonst ist bis zu den Granatsplittern in der Luft Alles getreue, wenn auch spottschlechte Copie, unter die man eben flottweg statt „Königsgrätz“ – „Speicherer Höhen“ schrieb. –

Was nun die Rüge betrifft, welche wir über das Stuttgarter Illustrirte Blatt verhängen mußten, so müssen wir, zur Steuer der Wahrheit, hier nachtragen, daß der Herausgeber und Verleger der betreffenden Zeitschrift uns von seiner völligen Schuldlosigkeit an diesem unsauberen Treiben überzeugt hat und daß die ganze Schuld auf den Zeichner fällt, der außerdem wiederum von einem anderen, seinem Hülfszeichner, angeführt worden sein will. Der Verleger theilte uns noch mehrere von demselben Zeichner ihm gelieferte Illustrationen mit, und in der That waren auch zwei von diesen aus vier Bildern der Gartenlaube zusammengesetzt!

Die Unmöglichkeit für eine Redaction, derlei Unredlichkeiten sofort zu entdecken, liegt auf der Hand. Einer unserer Leser erklärt es für eine Pflicht des gesammten Publicums, die Redactionen auf solche perfide Kunststückchen aufmerksam zu machen, und das könnte allerdings das beste Mittel sein, Leute, welche sich zu den „Künstlern“ zählen, von solchen schmutzigen Erwerbswegen zurückzuschrecken.


Germania-Gruß den heimkehrenden Siegern. (Mit Abbildung.) Als die alte Schlachtenstadt Leipzig das große deutsche Sieges- und Friedensfest mitfeierte, schmückte den Marktplatz die Riesenstatue einer Germania, die als ein gelungenes Werk des Leipziger Bildhauers Louis Albrecht allgemeine Anerkennung fand. Das Standbild, aus vergänglichem Material für den augenblicklichen Zweck hergestellt, verdiente, nach einem vielfach ausgesprochenen Wunsche, wenigstens als Bild erhalten zu werden, und so entstand die Germania unserer heutigen Nummer.

Absichtlich haben wir diesen schönen Marktschmuck bis jetzt zurückgehalten und bringen ihn erst heute in die Oeffentlichkeit, um ihn unseren heimkehrenden Siegern als grüßende Germania aufzustellen, die ihnen den schwererrungenen Lorbeer entgegen hält.

Ja, sie verdienen eine solche Begrüßung, unsere Männer und Jünglinge der Waffen und Thaten. Noch ist der Jahrestag nicht erreicht, an welchem im Jahre 1870 Deutschland durch die Kriegserklärung Frankreichs aus seiner langen Friedensgewohnheit aufgerüttelt worden war, und schon ist einer der furchtbarsten Kämpfe zwischen den beiden mächtigsten Militärstaaten der Welt entschieden und der Herausforderer liegt, aus tausend Wunden blutend, am Boden. Wie zur Wacht am Rhein das Idealbild der Jungfrau Germania die Völker führte, wie sie mit Schild und Schwert in Bildern und Liedern voran in die Schlachten zog, so tritt sie heute, die hehre Belohnerin der großen Thaten, mit der Reichskrone auf dem Haupt und dem Lorbeer- und Eichenkranz in der Hand, den heimkehrenden Helden entgegen und begrüßt sie an den Marken der Länder, an den Thoren der Städte und beim Siegesfeste vor den Königsburgen. Möge die Germania der Gartenlaube auch ihr bescheiden Theil zur Verherrlichung der Siegesheimkehr beitragen und Gott den Segen, den er über den Auszug unserer Heere verbreitete, nun auch über deren Einzug ergießen!


Druckfehler. Nr. 23, Seite 381, Spalte 2, Zeile 36 streiche das Komma und lies: Munificenz unserer Fürsten.


Nicht zu übersehen!
Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung.

Aus den vielen interessanten Beiträgen, welche für das nächste Quartal der Gartenlaube bereits druckfertig vorliegen, heben wir, abgesehen von den fortlaufenden Kriegserinnerungen sowie den Berliner Einzugsbildern, nur die des novellistischen Theils hervor. Außer den Schlußcapiteln der E. Werner’schen Novelle „Ein Held der Feder“ wird derselbe eine kurze Erzählung von E. Vacano unter dem Titel „Das Geheimniß des alten Kärner“ enthalten und dann Anfang August mit dem Abdruck des längst erwarteten Romans beginnen:

„Das Haideprinzesschen“
von E. Marlitt.
Die Redaction.

manicula  Zur Beachtung! manicula
Um die Nummernbezeichnung unserer Zeitschrift, deren Nr. 1 bereits Ende December vergangenen Jahres ausgegeben worden ist, wieder in genauen Einklang mit der Wochenzahl des laufenden Jahres zu bringen, sind wir genöthigt, das Erscheinen der Gartenlaube in der nächsten Woche ausfallen zu lassen. Die erste Nummer des neuen Quartals (27) wird in gewohnter Weise am 7. Juli hier expedirt werden.
Die Verlagshandlung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Virchow’s Archiv für pathologische Anatomie und klinische Medicin.
  2. Ich habe in Folge meines ersten Aufsatzes eine große Anzahl Briefe durch die freundliche Vermittlung der Redaction erhaltet; – die meisten erheischten Hülfe für einen sehr vorgeschrittenen Grad des zweiten Stadiums; ich habe diese letzteren Briefe unbeantwortet lassen müssen, nicht aus Mangel an Menschenfreundlichkeit gegen den Hülfe Suchenden, sondern in Folge der vorhandenen Unmöglichkeit, die gewünschte Hülfe zu gewähren. Wo ich glaubte, nützen zu können, habe ich geantwortet. Freundlichen Dank Denjenigen, welche durch Einsendung besonders beschaffener oder besonders langer Haare meine Sammlung bereichert haben.
  3. Jetzt erst erfahre ich, daß sich in der Bibliothek zu Frauenfeld viele Bücher aus jener der Karthause, worunter auch Incunabeln, befinden sollen. Jedenfalls haben außer den drei Vorstehern die Zellenbewohner keinen Gebrauch davon gemacht, und ich erzähle nur das, was ich selbst gesehen habe; wenn mehr vorhanden war, so hat man mir es nicht gezeigt.
  4. Diese Bußordnung mag vielleicht auch nur in dem von Rancé im siebenzehnten Jahrhundert gestifteten, weit strengeren Orden der Trappisten eingeführt gewesen sein; ich habe nichts davon wahrgenommen.
  5. Vorlage: „Leaens“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 1869