Die Gartenlaube (1870)/Heft 40
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No. 40. | 1870. |
Das Fußregiment der Preobraschenskischen Garden hatte die Wache im Winterpalaste bezogen. Es war im Frühsommer, aber die Czarin Katharina die Zweite schien noch immer nicht daran zu denken, das festliche Petersburg mit dem idyllischen Landaufenthalt von Zarskoje Selo zu vertauschen.
In der geräumigen weißgetünchten Wachtstube schliefen die Soldaten sitzend, aus Furcht, ihre großen festgewickelten Zöpfe zu beschädigen; in dem kleinen anstoßenden Officierszimmer lagerten Lieutenants und Junker von den verschiedensten Regimentern um einen langen schmierigen Tisch und spielten Onze et demi; sie spielten bereits den ganzen Nachmittag und spielten bis in die Nacht hinein bei dem spärlichen Lichte einer kleinen Oellampe, welche von der rußigen Decke herabhing. Nur Einer spielte nicht. Es war ein junger schlanker Officier mit blühendem Gesicht und großen hellblauen Augen unter dunklen Wimpern und dunklen Brauen, welche sich beinahe coquet von dem weißen Toupet abhoben. Er saß, die Beine weit von sich gestreckt, die Hände nach rückwärts in die Taschen seines grünen Uniformfrackes versenkt, in einer finstern Ecke und starrte vor sich hin.
Jetzt verließ auch ein Zweiter den Spieltisch; er athmete auf und blickte um sich, dann näherte er sich dem Cameraden in der Ecke.
„Du spielst nicht mehr, Koltoff?“ begann er, die Hand auf seine Schulter legend.
„Nein – und Du?“
„Ich bin fertig,“ erwiderte der Zweite. „Ich habe Alles verspielt.“
„Ich auch,“ sprach Koltoff, „aber bei Dir, mein lieber Lapinski, bedeutet das im Grunde nicht viel. Eine Carambole mit Deinem theueren Vater, eine Sittenpredigt, und damit gut. Ich bin ruinirt. Ich habe entsetzlich viel Schulden, wie Du weißt, und keinen Vater, der sie zahlen würde, nicht einmal einen Onkel, den ich beerben könnte; ich habe heute meine Gage verspielt in der wahnsinnigen Hoffnung, das Glück könnte mir lächeln und mir ein paar Tausend Rubel in den Schooß werfen wie neulich dem Grafen Saltikoff, und jetzt stehe ich da, ohne eine Kopeke, und in ganz Rußland giebt es Niemand mehr, der mir eine Kopeke leiht. Mir bleibt also nichts übrig, als mich zu erschießen.“
„Hör’ mir auf,“ erwiderte sein Freund. „Wie Du richtig bemerkt hast, gilt es nur eine Carambole mit meinem theuren Vater, und wir haben Geld.“
„Das heißt, Du hast Geld.“
„Nein, wir.“
„Ich kann doch nicht –“
„Was kannst Du nicht?“
„Von Deinem Gelde leben,“ sprach Koltoff; „die Ehre gebietet mir, mich zu tödten.“
„Ah! ich glaube, Du hast zu viel getrunken,“ erwiderte Lapinski, die Achseln zuckend; „aber sage mir lieber gleich, wie viel Du brauchst, es geht in Einem.“
Koltoff schwieg.
„Nun, wenn Du durchaus nicht willst,“ sprach Lapinski ärgerlich, „ich dränge meine Liebe und Freundschaft Niemandem auf.“
Damit stülpte er den dreieckigen goldbordirten Hut so heftig auf seinen wohlgepuderten Kopf, daß eine weiße Wolke aus demselben emporwirbelte, und verließ sporenklirrend die Wache; als er jedoch vor dem niedrigen Thore seines Wohnhauses stand und bereits den Klopfer in der Hand hatte, da fielen ihm die Worte seines Cameraden schwer und beängstigend auf die Brust; er kehrte um und ging mit raschen Schritten zu Koltoff’s Wohnung, sprang über die Planke, welche den Hof derselben umfaßte, und die morsche Holztreppe empor.
Durch die Thür seines Freundes fiel ein weißer Streifen Licht auf die Diele. Er war also gleichfalls nach Hause zurückgekehrt und noch wach. Lapinski klopfte. Keine Antwort. Er klopfte stärker und rief zugleich: „Um Gotteswillen, mach’ auf; Geld, es ist Geld da für Dich!“
Nun hörte er Schritte, dann wurde eine Lade zugeschoben, endlich öffnete Koltoff.
Lapinski erschrak über die Veränderung, die in so kurzer Zeit mit seinem Freunde vorgegangen war; das Haar hing ihm wirr in das bleiche Gesicht, die Augen waren tief in ihren Höhlen eingesunken und zeigten ein unheimliches unruhiges Feuer.
Lapinski hatte instinctmäßig, als wenn er ihn von einem Vorhaben abhalten wollte, seine Hand ergriffen und blickte verstört im Zimmer umher, ohne daß er etwas Verdächtiges entdecken konnte, dann näherte er sich rasch dem Tische, welcher in der Fenstertiefe stand und auf dem Koltoff zu schreiben pflegte. Dieser machte eine Bewegung, aber schon hatte der Camerad eine Lade hervorgezogen und in derselben die Pistole entdeckt, deren Hahn noch gespannt war.
„Also wirklich?“ stammelte Lapinski, mehr vermochte er im Augenblick nicht.
Beide schwiegen einige Zeit. Dann nahm Lapinski das Wort. „Habe ich Dir nicht gesagt, daß ich Dir Geld schaffen will?“
„Ich erkenne Deine treue Freundschaft von ganzem Herzen an,“ erwiderte Koltoff, „aber ich bin nicht im Stande, auf fremde [650] Kosten zu leben. Es handelt sich ja bei mir nicht um momentane Hülfe. Es fehlt jede Aussicht für die Zukunft, und wenn ich auch von Brod und Wasser leben und Spiel und Frauen für immer abschwören will, wie soll ich von meiner elenden Lieutenantsgage meine Schulden zahlen? Zuletzt wird mir doch nichts übrig bleiben, als – eine Kugel.“
„Sollte es wirklich keinen anderen Ausweg mehr geben?“ sprach Lapinski. „Laß uns nachdenken. Aber versprich mir vor Allem, nichts gegen Dein Leben zu unternehmen, ehe unser Witz sich nicht erschöpft hat. Gieb mir die Hand darauf.“
„Unter Bedingungen,“ entgegnete Koltoff.
„Gut,“ entschied der Erstere, „wenn wir binnen einem Monate zu keinem Resultate gelangt sind, steht es Dir frei –“
„Mich zu erschießen?“
„Zu erschießen, zu ersäufen, zu vergiften, rädern zu lassen, was Dir besser gefällt.“
„Abgemacht.“
Die Cameraden schüttelten sich herzlich die Hände.
„Aber was hast Du für ein Project?“ begann Koltoff.
„Vor der Hand noch gar keins,“ erwiderte Lapinski, „aber mir ist nicht bange darum. Gäbe es etwas Erfinderischeres auf der Welt als das Hirn eines Lieutenants? Also gieb Acht! Fangen wir gleich mit dem Kühnsten an. Stürze Orloff und schwinge Dich zum Günstling der Czarin auf.“
„Was fällt Dir ein!“ rief Koltoff.
„Warum nicht?“ meinte der Camerad. „Die Geschichte ist nur halb so lebensgefährlich wie das Erschießen, Du bist ein hübscher Junge, es muß Dir gelingen.“
Koltoff antwortete mit einem lauten Lachen.
„Warum lachst Du?“ fuhr Lapinski fort. „Heutzutage ist Alles möglich, Alles, sag’ ich Dir, das Wunderbarste und Seltsamste, genau so wie zu Zeiten des Kalifen Harun al Raschid. Aber ich sehe, zu einem solchen Wagestück hast Du nicht den Muth, oder ist Katharina die Zweite vielleicht nicht ganz nach Deinem Geschmacke? Ziehst Du die schwarzen Augen vor?“
„Genug des Spaßes!“ sagte hierauf Kolloff; „der Weg, den ich gehen soll, muß vor Allem ein ehrlicher sein.“
„Hm“ – Lapinski sann nach. „Ich hab’ es!“ schrie er plötzlich auf. „Ich hab’ es. Du mußt heirathen.“
„Heirathen? Nein, da will ich mich lieber erschießen,“ erwiderte der Lieutenant mit dem Ausdrucke wirklichen Entsetzens in dem jugendlichen Gesichte.
„Verloren bist Du einmal,“ lachte der Camerad, „so wähle mindestens die angenehmste Todesart und – heirathe.“
„Angenommen, ich könnte mich entschließen,“ sprach Koltoff, „wo fändest Du eine Frau für mich, eine reiche Frau, die dem armen verschuldeten Officier die Hand reichen würde?“
„Nichts leichter als das,“ erwiderte Lapinski; „ein reiches Mädchen zu finden, das Dich nimmt, aus purer Liebe nimmt, das hielte schwer: unsere Fräulein vom alten Adel und leeren Geldsack speculiren sämmtlich auf Generale oder mindestens auf einen reichen Bojaren vom Lande; aber eine Dame, die selbst ein großes Vermögen hat, kann sich schon den Luxus gestatten, einen Mann zu nehmen, den sie liebt.“
Koltoff lächelte. „Du hast vielleicht sogar schon eine Braut für mich in petto?“
„Warum nicht? Hundert auf einmal,“ sprach Lapinski, „ich habe darin schon manchem braven Menschen geholfen aus reinem Vergnügen an der Sache, und weil ich, wie Dir bekannt, in Allem Ordnung liebe und halte, so habe ich mir zu diesem Zwecke ein genaues Lexikon aller unserer heirathsfähigen Damen angelegt.“
„Wie?“ rief Koltoff immer heiterer, „ein Heirathslexikon?“
„Hier,“ fuhr Lapinski fort, ein ziemlich voluminöses Notizbuch hervorsuchend, „da hast Du es. Du findest sie alle beisammen, unsere Schönen, jede mit genauer Personbeschreibung, sowie Angabe ihres Vermögens, Charakters, Vorlebens und anderweitiger Verhältnisse.“
„Das ist in der That kostbar,“ lachte Koltoff. „Laß also sehen.“ Und die beiden jungen munteren Officiere begannen das Heirathslexikon zu studiren.
„Ich wäre dafür, alphabetisch vorzugehen,“ begann Lapinski nach einer Pause, „versuche bei der Ersten Dein Glück, und bekommst Du einen Korb, so belagere die Zweite und so fort von A bis Z.“
„Das wäre doch zu leichtsinnig,“ meinte Koltoff, „ich bin meinetwegen bereit, meinen Nacken dem Pantoffel einer Frau zu beugen, aber es muß ein Pantoffel sein, – eine Frau wollte ich sagen, welche ich liebe.“
„Wie ist also Dein Geschmack, blond, braun, schwarz?“
„Vor Allem lege ich auf ein bescheidenes Wesen Werth.“
„Dann erschieße Dich auf der Stelle,“ rief Lapinski, „im Reiche und am Hofe der nordischen Semiramis Katharina der Zweiten ein bescheidenes Wesen! Weißt Du nicht, daß unsere besten Frauen, von dem Beispiel oben verführt, mindestens Amazonen und Blaustrümpfe sind?“
„Was also thun?“
„Wenn Du schon zu gewissenhaft bist, alphabetisch vorzugehen, so laß das Fatum entscheiden,“ meinte der übermüthige Camerad.
„Wie?“
„Wie? Ganz einfach. Wir machen es wie die Araber, wenn sie ihren Koran um Rath fragen,“ erwiderte Lapinski, „wir stechen mit einer Nadel in mein Lexikon, und dort, wo die Spitze haften bleibt, dort hast Du Deine Braut zu suchen.“
„Gut.“
Lapinski nahm hierauf eine Nadel und verfuhr ganz in der Weise und mit dem Ernste orientalischer Fatalisten, dann schlug er das durchstochene Notizbuch auf. „Du hast ungeheures Glück,“ sagte er, nachdem er den Stich aufgesucht und geprüft. „Dein Schicksal führt Dich zu der zugleich schönsten und reichsten Dame meines Verzeichnisses.“
„Laß sehen!“ rief Koltoff erregt.
„Lubina Fürstin Mentschikoff,“ las Lapinski, „Wittwe des Fürsten Iwan, dreiundzwanzig Jahre alt, hohe imposante Gestalt, schlank, herrliche Formen, stolze, schöne Gesichtszüge, schwarzes Haar, schwarze feurige Augen, tiefe Altstimme. Charakter fest und verläßlich, Wesen gebieterisch, aber liebenswürdig und anmuthig, viel Geist, große Bildung, besitzt ein Vermögen von zwei Millionen Rubeln, vollkommen frei und unverschuldet, ist ihren Verwandten gegenüber vollkommen selbstständig. Ihr Ruf sowohl in ihrer Ehe, als seitdem, der beste. Besondere Bemerkungen: gilt als Männerfeindin.“
„Dient sie nicht in der Armee?“ fragte Koltoff.
„Warte. Richtig, ja. Sie dient im Regimente Simbirsk und hat den Rang eines Majors.“
„Das kommt ungelegen,“ meinte Koltoff.
„Weshalb? unsere Amazonen tragen ja sämmtlich Officiersepauletten, die Gräfin Iwan Saltikoff, die Fräulein Jadwiga Niewelinski und Sophia Narischkin und viele Andere, und Frau von Mellin commandirt sogar ein Regiment.“
„Aber ich bitte Dich,“ rief Koltoff, „wie soll ich es anfangen, meinem Vorgesetzten eine Liebeserklärung und einen Heirathsantrag zu machen?“
„Ich weiß nichts davon, daß dies gegen das Reglement wäre,“ entgegnete Lapinski. „Zu Deinem Glücke hat Peter der Große nicht im Entferntesten daran gedacht, daß es Lieutenants in Reifröcken und einen Major geben könnte, welcher der mediceischen Venus Concurrenz macht. Also fasse Dir ein Herz, es wird Dir nicht den Kopf kosten, beziehe jetzt ruhig Dein Bivouac, und morgen beginnen wir die Operationen, das heißt der Herr Lieutenant der Preobraschenskischen Garde wird anfangen, dem Herrn Major des Regimentes Simbirsk den Hof zu machen.“
„Und wenn mich der schöne Major für meine Kühnheit in Arrest schickt?“ lachte Koltoff.
„Dann tröstest Du Dich damit,“ erwiderte der Camerad, „daß Amor Dein Profoß ist.“
Es war gegen Mittag, als Koltoff am nächsten Tage von seinem Freunde aufgepoltert wurde, welcher in rosigster Laune, den Schnurrbart unternehmend aufgedreht, mit den großen Sporen klirrend, bei ihm eintrat.
„Zu den Waffen!“ schrie Lapinski. „Auf den Feind! der Krieg beginnt, zu den Waffen!“ und zu gleicher Zeit stellte er sich vor den Nachttisch und begann mit den Fäusten auf demselben Reveille zu trommeln.
Koltoff, der Selbstmörder, dehnte sich behaglich in seinem Bette und gähnte. „Was drängst Du so?“ sprach er langsam gedehnt, „wir haben ja nichts zu versäumen.“
[651] „Wir haben sehr viel zu versäumen,“ rief der Camerad; „Du vergißt, daß ich nur vier Wochen Zeit habe, um Dich zu verheirathen, mein Geliebter, und dann, wenn es nicht gelungen ist, bist Du toll genug, Deinem kostbaren Leben ein Ende zu machen. Also zu den Waffen, um so mehr als dies die Stunde ist, wo die Fürstin Lubina Mentschikoff nach den übereinstimmenden Berichten meiner Spione auf der Terrasse ihres Palastes die Morgenchocolade nimmt.“
„Du hast schon Spione?“ murmelte Koltoff erstaunt, indem er sich anzukleiden begann.
„Spione, gute Spione sind für eine geschickte und erfolgreiche Kriegführung unentbehrlich,“ antwortete Lapinski, „man muß über die Aufstellung und die Bewegungen des Feindes stets auf das Genaueste unterrichtet sein, um darnach seine Dispositionen treffen zu können.“ Der lustige junge Officier blickte auf seine Uhr. „Es fehlt eine Viertelstunde zu Zwölf. Genau vor fünfzehn Minuten ist unsere Göttin erwacht, in weiteren fünfzehn Minuten wird sie ihre Morgentoilette beendet haben und Schlag zwölf Uhr auf die Terrasse heraustreten. Also beeile Dich.“
In wenigen Minuten war Koltoff fertig, und die beiden Freunde durchschritten, ein französisches Kriegslied der Zopfzeit trällernd, die Straßen, welche zu dem Palaste der Fürstin Mentschikoff führten, aber sie näherten sich dieser feindlichen Festung, wie Lapinski das in schönem Renaissancestile erbaute, von einem weitläufigen Parke, im Geschmack von Versailles, umgebene Gebäude nannte, von rückwärts, durch ein schmutziges Gäßchen, das längs der Gartenmauer lief.
„Kein Mensch in der Nähe“ sprach Lapinski, „laß uns somit vor Allem recognosciren.“
Koltoff stellte sich auf seine Anordnung an die Mauer des Parkes und sein Camerad schwang sich auf seine Schulter und blickte hinein. „Auch im Garten ist Alles stille,“ meldete er „und weithin nichts zu entdecken. Wir können es also wagen, einzudringen.“
Ohne Weiteres schwang sich Lapinski hierauf von der Schulter seines Freundes auf die Mauer, und von dieser mit Hülfe eines Astes auf einen nahestehenden Nußbaum, von welchem er sich rasch zur Erde herabgleiten ließ.
„Warte,“ ertönte seine Stimme von innen, „ich will sehen, ob ich keine Bresche entdecke.“
Die Bresche fand sich nicht, aber dafür eine Gartenleiter, welche vor einer halbgestutzten Taxushecke aufgespreizt stand. Lapinski bemächtigte sich ihrer und schob sie über die Mauer, drüben wurde sie von Koltoff aufgefangen, der wenige Secunden darnach auf der Mauer erschien und die Leiter an sich zog, um dann bequem auf ihren Sprossen in den Garten hinabzusteigen. Die beiden Freunde näherten sich nun, durch die langen parallel laufenden Hecken verdeckt, dem Palaste, von dem eine geräumige Terrasse mit breiten Stufen gegen den Garten zu abfiel. Sie verbargen sich hinter einem großen Bosquet rother Rosen, etwa fünfzig Schritte von derselben entfernt.
Auf der Terrasse stand zwischen schlechten geschmacklosen Statuen der Venus und des Liebesgottes ein kleines Tischchen, für eine Person gedeckt, und vor demselben ein sammtner Armstuhl und ein Fußschemel von gleichem Stoffe.
Nicht lange, und ein Diener in gestickter Livrée nach französischem Schnitte erschien und brachte auf einem silbernen Brette die Chocolade, während ein zweiter die Flügelthüren weit öffnete.
Eine Dame trat mit raschem Schritte in stolzer gebieterischer Haltung heraus. Nach der Beschreibung des Heirathslexikons seines Cameraden konnte Koltoff keinen Augenblick zweifeln, daß es die Fürstin Lubina Mentschikoff war, aber die lebendige Erscheinung wirkte ganz anders, als das todte Wort.
Koltoff war in der ersten Secunde von der jugendlich majestätischen Gestalt, dem feinen geistvollen Gesichte, den großen blitzenden schwarzen Augen der schönen Amazone überrascht, in der zweiten geblendet, in der dritten bis zum Wahnsinn verliebt. Die Fürstin trug ihr dunkles, nur ganz leicht gepudertes üppiges Haar in einem großen, von einem hellrothen Bande zusammengehaltenen Knoten, über dem duftigen weißen Spitzennegligé einen Schlafpelz von rothem Atlas mit reichem Hermelinbesatz, nach damaliger Mode in der Taille knapp anschließend und dann in reichen Falten sich einbauschend bis zu der Schleppe, welche weit zurückfloß. Ohne daß sie nur im Geringsten ahnte, man beobachte sie, benahm sie sich doch bei ihrem Frühstück mit der ganzen coquetten Anmuth einer Rococodame, so daß der gute Lieutenant von der Preobraschenskischen Garde nahe daran war, alle Subordination bei Seite zu setzen und dem verführerischen Major vom Regimente Simbirsk glattweg zu Füßen zu stürzen.
„Nun, wie gefällt Dir Deine Braut?“ fragte Lapinski im Flüstertone.
„Du hast mich hierher geführt,“ erwiderte Koltoff, „nur um mich noch unglücklicher zu machen; wie soll ich nur eine Secunde hoffen, dieses herrliche Weib, diese Gottheit mein zu nennen, wo soll ich den Muth hernehmen, mich ihr zu nähern oder gar um ihre Hand zu werben?“
„Sehr gut, ausgezeichnet,“ sprach leise sein Freund; „Du bist verliebt, ja Du brennst lichterloh, wie ich sehe. Es geht also Alles nach Wunsch –“
„Wie?“
„Laß mich nur manövriren.“
„Was hast Du vor?“
„Du mußt ihr eine Liebeserklärung machen,“ fuhr Lapinski fort.
„Ja, aber wie soll ich das anfangen?“ fragte Koltoff ziemlich rathlos. „Ich kann doch nicht hier –“
„Ich denke nicht im Entferntesten daran,“ entgegnete Lapinski.
Indeß hatte sich, von dem Geräusche auf der Terrasse und dem Anblick der Fürstin angelockt, von dem Dache des Palastes herab sowie aus allen Büschen und Aesten eine zahlreiche Gesellschaft von Sperlingen, Finken, Zeisigen, Stieglitzen um die schöne Frau versammelt, welche ihr Brod zerpflückte und den schreienden und durch einander flatternden kleinen Bettlern die Krumen desselben zuwarf.
„Genug, Du wirst Dich doch nie sattsehen,“ fuhr Lapinski fort, „so reizend auch die Idylle gerade jetzt ist. Komm also, ich habe einen Plan, Du wirst heute noch die Bekanntschaft der stolzen Schönen machen. Was sage ich, heute! Auf der Stelle.“
Die beiden Officiere verließen hierauf ihr Versteck und den Park auf demselben Wege, auf welchem sie denselben betreten hatten.
Eine Stunde nach dem Frühstück pflegte die Fürstin Lubina Mentschikoff eine Spazierfahrt durch die Stadt zu machen und dann in der Caserne ihres Regimentes den Bataillonsrapport entgegen zu nehmen und die dringendsten dienstlichen Angelegenheiten zu erledigen.
Zugleich mit ihrer Equipage waren diesmal die beiden Lieutenants zur Stelle, welche sich indeß darauf beschränkten, den Palast und das Fuhrwerk aus weiter Entfernung zu beobachten. Der Wagen der Fürstin im Rococostyle war eine jener schwerfälligen Kriegsmaschinen, mit denen die eroberungslustigen Damen jener Tage zum Siege zogen, auf vier hohen Rädern ruhte ein viereckiger vergoldeter Kasten mit Glaswänden, welche die in demselben sitzende Dame von allen Seiten deutlich zu sehen gestatteten. Ein großer dicker Kutscher in rother Livrée mit großem dicken Zopf und einer weißen Halsbinde, welche gleich einem Riesenschmetterling unter seinem Kinn saß, leitete die schönen Holsteiner Pferde mit großer Würde.
Zwei Lakaien sprangen aus dem Palaste hervor der eine riß den Schlag auf. Die Fürstin folgte raschen Schrittes in einer Uniform, welche weibliche und männliche Toilette geschmackvoll verband; über die hohen schwarzen Reitstiefel, an denen gewaltige Sporen saßen, fiel eine reichfaltige sammetne Robe von dem Grün des russischen Soldatenkleides, welche, da sie von keinem Reifrock aus einander gespannt wurde, in natürlichen malerischen Falten fiel. Ein Ueberrock von gleichem Stoff und gleicher Farbe mit rothem Aufschlag und goldenen Litzen umschloß die Taille, an dem schwarzen Lackgürtel hing der Stoßdegen, auf dem weißen Toupet ruhte der dreieckige Hut mit weißem Federbesatz.
„Nun kaltes Blut und Geistesgegenwart!“ sprach Lapinski.
Die schöne Amazone war eben im Begriff ihre Handschuhe zu knöpfen, als ein alter Bettler, welcher bisher den Pferden schön gethan hatte, sie um eine Gabe ansprach. Sie warf ihm eine Münze zu, stieg elastisch in den Wagen, der Lakai schloß den Schlag und der Wagen rollte davon. Die Pferde gingen in ruhigem stolzem Trabe, aber nicht lange. Nach wenigen Schritten schon wurden sie unruhig, fielen in ein rascheres Tempo, begannen sich zu bäumen, zu wiehern und zeigten Lust durchzugehen. Der [652] Kutscher riß sie mit aller Kraft zurück, aber ein neuer Anlauf, den die Pferde nahmen, warf ihn vom Kutschbock herab und in den Straßenkoth. Die Pferde rasten mit dem schwerfälligen Wagen, welcher jeden Augenblick umzuwerfen drohte, davon, die Fürstin war in Gefahr – sie richtete sich vom Sitze auf und suchte das Fenster zu öffnen, vergebens. Der Pöbel schrie und lief dem Wagen nach, wodurch die Pferde nur noch scheuer wurden. Da, im entscheidenden Augenblick stürzte sich Lieutenant Koltoff dem Gespann entgegen, warf sich den Pferden in die Zügel und brachte sie zum Stehen. Lapinski war in der nächsten Secunde gleichfalls zur Stelle und faßte die Pferde, während Koltoff den zertrümmerten Wagenschlag öffnete und die Fürstin, welche, von Glassplittern verwundet, am Kopfe und an den Händen blutend, ohnmächtig geworden war, heraushob. Er trug sie auf seinen Armen in ihr Palais zurück und ließ sie auf einen Lehnstuhl, den die herbeigeeilte Dienerschaft im Thorwege aufstellte, nieder. Während ihre Kammermädchen ihr mit Wasser und Essenzen Hülfe leisteten, lag der junge Officier unbekümmert um die gaffende Umgebung vor ihr auf den Knieen und bedeckte ihre Hände mit Küssen. Endlich schlug die Fürstin die Augen auf, sah Koltoff lange und erstaunt an und fragte:
„Was ist geschehen? Wo bin ich?“
Der junge Officier erklärte ihr die Lage, in welcher sie sich befand, indeß kam sie selbst vollkommen zur Besinnung und dankte ihrem Retter mit einigen abgebrochenen Worten, dann erhob sie sich und zog sich, auf den Arm ihrer alten Amme gestützt, in ihre Gemächer zurück.
Koltoff suchte seinen Freund auf, welcher ihn mit einem selbstgefälligen Lächeln erwartete.
„Nun, Du dankst mir nicht einmal,“ begann er, „habe ich meine Sache nicht gut gemacht?“
Koltoff verstand seinen Cameraden nicht und sah ihn mit unzweideutigem Erstaunen an. „Du – wie soll ich das verstehen?“ stammelte er endlich.
„Hältst Du Dich für so einen Glückspilz,“ erwiderte Lapinski, „daß die fürstlich Mentschikoff’schen Pferde Dir zu lieb aus eigenem Antriebe durchgehen, damit Du die Ehre und das Vergnügen hast ihre Gebieterin zu retten?“
Koltoff war vollständig verblüfft. „Also Du hast – aber wie?“ stotterte er.
„Hast Du den alten Bettler bemerkt, welcher sich an den Pferden zu schaffen machte, während Deine Göttin einstieg?“ fragte Lapinski.
„Ja, nun?“
„Der geriebene Bursche hat dem einen Gaul, mit dem ich übrigens das lebhafteste Bedauern fühle, einen brennenden Feuerschwamm in die Nüster gesteckt.“
„In Deinem Auftrag?“ schrie Koltoff auf.
„Allerdings, damit Du Gelegenheit habest, der Fürstin das Leben zu retten,“ entgegnete sein Camerad mit vollkommener Seelenruhe.
„Du bist ja ein furchtbarer Mensch!“ rief Koltoff. „Bedenke, welches Unglück geschehen konnte!“
„Ich habe keinerlei Bedenklichkeit, wo es das Glück, das Leben eines Freundes gilt,“ erwiderte Lapinski. „Uebrigens ist Alles gut abgelaufen, wozu sich also jetzt über alle möglichen und unmöglichen Möglichkeiten den Kopf zerbrechen!“
„Aber wenn die Fürstin todt geblieben wäre?“
„Nun, so hätten wir sie beweint,“ entgegnete der leichtfertige Gardelieutenant, „und das Heirathslexikon von Neuem zu Rathe gezogen. Aber sie ist vor der Hand nicht gestorben und der Schreck, den der Herr Major trotz seiner schönen Uniform und seinem Degen ausgestanden, wird ihm hoffentlich nicht schaden. Du bist jetzt auf das Glänzendste bei der schönen Lubina eingeführt und ich kann es mir lebhaft vorstellen, wie sie jetzt aufgelöst auf ihrer Ottomane ruht und Du ihr im Traume erscheinst, schön wie Adonis, stark und muthig wie Hercules, von bengalischen Flammen effectvoll beleuchtet. Komm, mein Junge, trinken wir eine Flasche guten Weins –“
„Ja, das wollen wir,“ stimmte Koltoff bei, „auf das Wohl der Fürstin –“
„Was fällt Dir ein?“ lachte Lapinski; „auf jenen großen Unbekannten, der den Feuerschwamm entdeckt hat!“
Zu Straßburg auf der Schanz’.
Bei Appenweiher die Melodie des alten Soldatenliedes im Eisenbahnwagen vor mich hinmurmelnd, begleitet von den Tactschlägen der Kanonade rings um die „wunderschöne Stadt“, hörte ich in meiner Nähe von einem muntern badischen Pionnier das Wort „Mundolsheim“ aussprechen; ich redete ihn an: „Wohin reisen Sie, Camerad?“ Antwort: „Ins Hauptquartier.“
„Ich auch.“
„Nu, da gehn wer mitenanner,“ rief er, streckte die Hand her, ich schlug ein und wir waren von da ab Reisecameraden. In Kork war scharfe Visitation; die gute Empfehlung des württembergischen Kriegsministeriums aber gestattete dem mürrischen badischen Gensdarmeriewachtmeister nicht, auch mich abzuweisen wie es den meisten Anderen, eben Angekommenen geschah, und so konnte ich mit Einbruch der Nacht, auf einer Munitionkiste sitzend, mitsammt meinem Pionnier und einem requirirten Elsässer Fuhrmann dem Rhein zufahren. Das von preußischen Landwehrleuten zum Zerplatzen volle Auendorf war bald passirt, und eben wollten wir durch einen dem Strome zuneigenden Landeinschnitt vollends zur Fähre kommen, als ein donnerndes „Halt!“ uns an den Fleck bannte. „Feldgeschrei?“
„Zündschnur!“
„Losung?“
„Heinrich!“
„Kann weiter!“
So klang’s vom Wagen zum Posten hinauf und herunter, und ein paar Augenblicke später standen wir am Ufer. Ein Zeichen über den Rhein hinübergegeben rief aus dem Dunkel der jenseitigen Büsche außer der allmählich zu uns heranschwimmenden Fähre das Blinken einer Reihe von Bajonneten hervor; drüben angekommen, fanden wir die ziemlich starke Wache, ebenfalls preußische Landwehr, noch in großer Aufregung über einen am Abend stattgehabten Vorfall. Noch bebend vor Zorn erzählte uns die Rheinwache, daß einer der Ihrigen, der dritte Mann einer Streifpatrouille, von etwa zwanzig in den Büschen versteckten Franzosen abgeschnitten und gefangen worden sei; das konnte der wackere Landwehrmann um keinen Preis hinunterwinden; lieber in Stücke hätte er sich reißen lassen, meinte er, als den Windbeuteln einen Cameraden zu lassen.
Weiter führte uns aber der Weg; den wallenden, wie dunkles Silber auch in der Nacht leuchtenden Strom verlassend, dagegen fortwährend begleitet von dem Wetterleuchten der fernen Geschützesblitze und dem rollenden Donner derselben, ging’s eine Stunde lang, oft auf Feldwegen, durch Busch und Wald. Der Pionnier hatte seinen Carabiner auf den Knieen, ich die Hand am Revolver, aber es kam uns kein offener Feind in den Weg, und so fuhren wir Nachts in Mundolsheim in einen jener mächtigen, mit stattlichem Steinthor gegen die Straße abgeschlossenen Höfe ein, um mit meinem Genossen in der Scheune ein ganz erträgliches Nachtquartier zu finden. Mein erster Besuch am nächsten Morgen galt dem Hause des Höchstcommandirenden, des Generallieutenants von Werder, und schon nach wenigen Minuten hatte ich einen vom Generalcommando unterzeichneten Paß in Händen, welcher mich berechtigte, überallhin, selbst zu den äußersten deutschen Vorposten zu gehen. Rittmeister von Lepell, preußischer Militärbevollmächtigter in Baden und hier Adjutant des Obergenerals, war der Aussteller, und in ihm lernte ich, wie auch am anderen Tage, in einer Reihe von anderen Trägern der verschiedensten Rangtitel des preußischen Officiercorps eine Reihe von Männern kennen, bei welchen ich nicht wußte, was in erster Linie mehr als rühmenswerth zu nennen wäre: ihre persönliche Liebenswürdigkeit und Gefälligkeit oder ihre in jeder Linie sich aussprechende ritterliche Soldatentüchtigkeit.
Früh am zweiten Morgen schritt ich rüstig fürbaß in schnurgerader Linie über die Felder auf die Straßburger Vorstadt
[653][654] Schiltigheim zu. Unweit Mundolsheim begegnete mir ein Kanonier mit stark verbundenem Kopfe, dabei aber munter ausschreitend und seine Pfeife rauchend; ich fragte nach seiner Verwundung, und er erzählte, daß er in dem vorgeschobensten Laufgraben gewesen sei, da sei „so ein Luder (eine Granate) über ihm geplatzt“, und habe ihm „was rinngeschmissen“, es schade aber nicht viel, habe dem Auge nichts gethan und in ein paar Tagen wolle er wieder „mit druff!“
Auf der weiten Ebene, die sich rings um die Festung zieht, und welche durchaus von den Geschützen derselben bestrichen werden konnte, wenn ihnen die Unseren nicht schon gar zu nahe auf den Leib gerückt wären, herrschte überall das regste Leben. Hier zogen Hunderte von Schanzarbeitern aus der Umgegend unter militärischer Führung den Laufgräben zu, denn dieselben können nur unter dem Schutze der zahlreichen, trefflich geleiteten Batterieen am Tage weitergeführt werden; dort jagte im vollsten Carrière ein Zug von Wagen mit Bomben zu der nächstliegenden Batterie, geleitet von den schmucken Reiterfiguren der blauen Ziethenhusaren; während an einer dritten Stelle wieder andere Arbeitermassen an Faschinen und Schanzkörben flochten und diese weiter schafften. Aber erst in Schiltigheim selbst entwickelte sich ein Vollbild der Belagerung. Die Bewohner des Ortes, theils scheu, theils stumpf herumstehend oder mit Frauen und Kindern Theile ihrer Habe aus den von der Festung her durch Granatenfeuer am meisten zugerichteten Häusern flüchtend; dann die Soldatenmassen (durchaus preußische Landwehr), welche bald in Zügen, bald in kleineren Truppen rasch und fröhlich an die ihnen angewiesenen Stellen zogen; dann wieder ansprengende Ordonnanzen, berichterstattende Officiere und lange Reihen von Proviantcolonnen. Das Alles bot ein bunt und reich bewegtes Leben und Treiben. Trotzdem aber war nirgends eine Stockung, nirgends eine Unordnung zu bemerken; wie an unsichtbaren Drähten geleitet, griff Alles ineinander, und auf allen Gesichtern der bärtigen Kämpfer lag der gleiche Ausdruck gehobener Kraft und unbedingten Vertrauens in die oberste Leitung und in den schließlichen Erfolg des Kampfes.
Auch hier öffnete mein Talisman aus dem Hauptquartier rasch die Herzen und den guten Willen der Officiere; geleitet von dem liebenswürdigen Oberstlieutenant von Schütz ging ich dieselbe Straße entlang, welche ein paar Stunden früher die französischen Kartätschen durchfegt hatten; Schritt für Schritt wurde die dadurch angerichtete Zerstörung umfassender, und bald waren wir nur noch von Ruinen umgeben. Ganze Häuserfronten lagen, wie sie einst gestanden, nun zerschmettert in der Straße, überall nur noch Trümmer, verkohlte Balken, geborstene und zerschossene Mauern; aus denselben Schießscharten aber, aus welchen noch vor wenigen Stunden französische Kugeln geflogen waren, lugten jetzt die Bajonnete eines preußischen Landwehrbataillons.
Meinen Begleiter rief leider seine Pflicht rückwärts; ich ging allein seitwärts durch Trümmer und Ruinen; erinnerte mich dabei der Worte des Kanoniers vom Morgen, der auf meine Frage, wie sie es machen, wenn sie ganz in Feindesnähe demselben mit einer Batterie näher auf den Leib rücken wollen, geantwortet: „Wir schleichen eben rann wie die Katzen!“ – und schlich, jeden Mauerrest als Deckung benützend, im Zickzack vorwärts; die Mündung eines Laufgrabens begann, ich trat durch dieselbe und stand nach zwanzig Schritten mitten in einer Zwölfpfünderbatterie, deren Bedienung mit fröhlichen Gesichtern am Erdwall saß und lehnte, um nach heißem Kampfe Herz und Kehle mit dem Inhalte eines in der zerschossenen Brauerei nebenan vorgefundenen Bierfäßchens zu kühlen; der Oberfeuerwerker sprang auf und mir entgegen, ich reichte ihm meinen Paß, und ein paar Secunden später gab mir schon einer der riesigen Torgauer Garde-Festungsartilleristen mit schmunzelndem Gesichte das volle Glas.
Wirklich komisch war es, wie die wackeren Leute, mich zeichnen sehend, sich sofort in Positur zu stellen suchten, damit Jeder auf dem Bilde auch recht gut getroffen werde; ich bat sie, ganz zu thun und zu treiben, wie wenn sie allein wären, denn daß in der Schußlinie des Chassepot (dessen Grüße uns über die Köpfe flogen und in die hinter uns liegende Wand eines ehemaligen Wirtschaftsgartens einschlugen) kein „richtiges Licht“ für Portraitsitzungen sei, hätte ich ihnen nicht aus einander setzen können. Mit einem fröhlichen „Auf Wiedersehen in Straßburg!“ schied ich von den Siegern, das waren sie; neun heiße Stunden lang hatten sie das Feuer der gegenüber liegenden weit stärkeren Batterien ausgehalten und erwidert, bis nach links und rechts zwei weitere deutsche Genossinnen enthüllt werden konnten, in den Kampf eingriffen und die Gegnerin spurlos unter Schutt und Trümmer begruben.
Mit nahezu erreichtem Zweck ging ich nun rückwärts den „Katzengang“, um das Treiben in den verbarricadirten Häusern zu sehen. Diejenige Mannschaft, welche Wachdienst hatte, stand wie angegossen an den ihr anvertrauten Stellen; die Uebrigen aber überließen sich dem jubelnden Hochgefühl der Siegeslust, denn eben war die Kunde des Sieges bei Beaumont eingetroffen, und in dem Hause, dessen Fenster von den Franzosen zu Schießscharten umgewandelt, dessen Außenwände aber von Kartätschensplittern zerhackt waren, erklang nun auf dem stehengebliebenen Clavier „Die Wacht am Rhein“; hell schallten die Jubellieder der begeisterten Kämpfer, die, nebenbei bemerkt, fast lauter verheirathete Landwehrleute waren, wie denn z. B. das hier die Wache habende Regiment von zweitausend vierhundert Mann zu Hause mit einander siebentausendunddrei Kinder hatte. Daß es unter solchen Verhältnissen von der obersten Leitung gewiß völlig sachentsprechend gehandelt ist, wenn die Festung nicht im Sturm genommen wird, ist selbstredend; mein freundlicher Begleiter zeigte mir auch vom Kirchhof St. Helena aus zwischen Schiltigheim und Straßburg die offenen Stellen des Glacis, an welchen, wie Jedem ersichtlich war, sofort hätte in die Stadt gestürmt werden können; er fügte aber bei:
„In ähnlicher Weise werden wir in den nächste zwölf bis vierzehn Tagen sämmtliche Batterieen im Umkreis der Stadt matt gelegt haben und die Festung fällt dann erschöpft von selbst; wir verschießen auf diese Weise allerdings noch acht- bis zehntausend Louisd’or (denn einen Louis kostet ungefähr jeder Schuß), aber es ist dies doch gewiß weit richtiger gehandelt, als wenn wir heute oder morgen bei einem Sturme ebenso viel von unseren wackeren Leuten dran wenden müßten.“
Wie der eherne Körper einer Riesenschlange sich enger und enger zusammenzieht und sein Opfer zuletzt in der unentrinnbaren Umarmung erstickt, so rücken Nacht um Nacht die Laufgräben vor, ihnen folgen die Batterien, legen die Gegnerinnen auf den Festungswällen matt, und so wird, vielleicht schon bis diese Zeilen in Ihren Händen sind, das Opfer gefallen sein.
Gründlich ermüdet von geistiger und körperlicher Anspannung der Kräfte langte ich am Abend wieder in Lampertheim an, hätte aber in der eigenen Heimath nicht besser gepflegt werden können, als hier von der Familie meines Quartiergebers, eines Elsässer Bauern, geschah; bis zum späten Abend saßen wir beisammen und sprachen über die alle Welt jetzt bewegenden Fragen, in erster Linie über die dem Elsässer am nächsten liegende, über den Rückfall an Deutschland.
„Wäre es denn nicht schlecht und gewissenlos von uns, wenn wir dem Staate, in dem wir geboren sind, und dessen Regierung wir Treue geschworen haben, nun auf einmal den Rücken kehren, weil er im Unglück ist, und ihn treulos verlassen würden?“
So sagte der wackere Bauer, und ich fand in dieser Aeußerung den Hauptschlüssel für das Verhalten der Elsässer im gegenwärtigen Kriege; denn wie der Stamm durchaus trotz des langen wälschen Regiments in Sprache, Familienleben und Wohnart deutsch geblieben ist, so muß gerade seine Weigerung, sich wieder mit dem deutschen Mutterlande zu vereinigen, als ein an sich hochzuachtendes, wenngleich irregeleitetes Stück deutscher Treue, mannhaften Worthaltens und unbeugsamer Thatkraft angesehen werden. Aber derselbe kerndeutsche Grundtrieb, welcher die kräftigen Menschen zu so sehr gegendeutschen Handlungen trieb, wird – so gewiß, als alle Wasser dem Meere zulaufen – in wenigen Jahren die wiedergefundenen Söhne mit ganzer Seele zu der hehren Mutter zurückführen, wenn sie ihres Gelübdes in der Fremde entlastet sind, wenn dadurch der Zwiespalt in ihrem Rechtsbewußtsein aufgehört hat und wenn sie die Krone der Macht und der Ehre, des Rechtes und der Wahrheit sehen und spüren, welche sich gegenwärtig aus dem Rathe der Vorsehung auf Germaniens Scheitel niedersenkt.
[655]
„Haben Sie Madame Simon nicht gesehen?“ Mit dieser Frage trat am Morgen des 19. August in dem Dorfe Mars la Tour ein sächsischer Officier an meinen Wagen. Eigenthümliche Frage! Man ist an hundert Meilen von der Heimath, in feindlichem Lande; von einem von Blut noch rauchenden Schlachtfelde muß man schon wieder zu einem anderen eilen, wo gesunde Glieder, um überall mit anzupacken von großem Werthe sind, wo jede Minute Gewinn eine heilige Pflicht ist, und nun diese Frage: „Haben Sie Madame Simon nicht gesehen?“ Der Fragende muß wohl etwas von dem sonderbaren Eindrucke seiner Worte in meinen Mienen gesehen haben; denn er fügte alsbald seiner Frage die Worte bei: „Nun, Madame Simon aus Dresden, die mit dem sächsischen Johanniterdepôt hier sein soll?“
„Nein! Adieu!“
„Adieu!“
Als ich aus dem Dorfe hinausfuhr und die Straße nach Doncourt, St. Marie aux Chênes und St. Privat la Montagne einschlug, begegnete mir ein großer, offener, mit Stroh und Kisten bepackter Leiterwagen; mitten auf demselben thronte, gleichsam als unumschränkte Herrscherin, eine dicke Frau in den vierziger Jahren, mit rothem, vergnügten Gesichte, angethan mit einem dunkel carrirten Shawl und einem runden, dunklen Strohhut – die könnte man als Madame Simon aus Dresden taxiren, dachte ich mir in einer ironischen Anwandlung der Gedanken.
Ich kam nach Doncourt. Die enge Straße des kleinen Ortes war von einer dreifachen Colonne gestopft. Truppen und Wagen mit Proviant, die nach um das Schlachtfeld gelegenen Orten hingingen, und Wagen mit Verwundeten, die davon herkamen, machten sich die Passage streitig. Nachdem die Cernirung von Metz bereits in der Nacht vom Achtzehnten zum Neunzehnten, unmittelbar nach dem siegreichen Tage bei St. Privat und Gravelotte, beschlossen worden war, befanden sich die zu der Cernirungsarmee bestimmten Truppen bereits in Bewegung, um die Cantonnements um Metz herum zu beziehen; diese Truppen brauchten Lebensmittel, die Verwundeten, wenigstens die von leichten Verletzungen Getroffenen, brauchten Beförderungsmittel, um nur aus der Atmosphäre der Schlachtfelder zu kommen und der sicheren Heilung entgegenzugehen, aber in der Nähe des Kampfplatzes, im Andrängen der Massen, ist der Vorbereitung neuer militärischer Operationen war eine geordnete, ruhige Entwickelung, wie man sie in der preußischen Militärverwaltung gewohnt ist, nicht gut zu erreichen.
Welche Masse von Menschen, welche Bewegung, welches Fluthen, Wogen und Schwirren durcheinander! Dort vor dem Hauptquartiere des Prinzen Friedrich Karl stehen kriegsgefangene Franzosen, in den bunten, halb zerrissenen oder zerschossenen Uniformen so fröhlich und wohlgemuth dreinschauend, als wären sie die Sieger des gestrigen Tages, während unsere Landsleute ernst und bewegt auf die Züge der Verwundeten schauen, die noch immer nicht enden wollen, auf die schwer Blessirten, die vorläufig nach der Dorfkirche gebracht werden. Nach den Soldaten, die in Marschcolonnen durch das Dorf ziehen, streckt sich da und dort aus dem Stroh der Transportwagen ein Arm aus, mit dem Namensruf der Vorbeimarschirenden. Der Angerufene tritt aus dem Glied: „Herrgott – Du Junge bist’s! Na, haben sie Dich auch angekrepelt?“
„Es geht. Ich kann immer noch zufrieden sein – immer besser noch so, als draußen eingebuddelt zu werden, wie so Viele.“
„Hör’ ’mal – weißt Du nichts von meinem Bruder?“
„Todt!“
„Todt – so – so – hm – Na – Adieu – halt’ Dich wacker.“
Und der Soldat, der eben die Todesnachricht erhalten, tritt in das Glied zurück, und über seine Lippen, seine Züge zuckt etwas, was bisher in seinem deutschen Herzen geschlummert hat, was aber jetzt aus den klaffenden Wunden, aus dem Blute des Schlachtfeldes, aus dem Todesröcheln der Sterbenden aufgestiegen ist, wie ein Engel mit dunkeln Fittigen und dem Flammenschwerte – der Geist des Hasses und der Rache!
Ich fuhr das ganze Terrain der gestrigen Schlacht ab – Verneville – Amanvillers, wo das neunte Armeecorps unter General von Manstein mit wahrhaftem Heldenmuth den wüthenden Vorstößen des französischen Centrums von Morgens bis Nachmittags Stand gehalten hatte, wo die Artillerie dieses Corps im Verein mit der des dritten Corps die feindlichen Batterieen zum Schweigen gebracht hatte, nicht ohne bedeutende Verluste an Menschen und Pferden. An den Leichnamen der letzteren konnte man ganz deutlich die Linie erkennen, in welcher die Batterie aufgestellt war, und doch wurde wacker fortgefeuert – so leicht lassen die Holsteiner einmal nicht locker, und die ersten, die aufhörten, waren die Franzosen.
Von da ging es nach Montigny la Grange. In dem Orte fiel mir ein Haus auf, in dessen oberem Theile die Granaten recht anständige Oeffnungen gerissen hatten. Ein Mann in Blouse und Strohhut stand unter der Thür, mit den Anzeichen jener Apathie und Indolenz, welche die Verheerungen des Krieges über die Einwohnerschaft dieser Landestheile gebracht haben. Man muß sein weiches Herz für diese harte Zeit in einen Feldpostbrief packen und nach Hause schicken, hier kommt es Einem immer in die Quere und verrückt den Standpunkt, welcher in den Worten des ersten Napoleon ausgesprochen ist: Das ist der Krieg! Das einzige und praktische Hülfsmittel gegen alle Aufregungen des Herzens ist der Gedanke: Wie wären die Franzosen mit uns verfahren, wenn sie Sieger gewesen wären? Der Besitzer des Hauses und eines bedeutenden Anwesens erging sich, als ich mich mit ihm in ein Gespräch einließ, in eine Fluth von Klagen über den Krieg, von Verwünschungen über den Kaiser. Was kann man dabei anders thun, als die Achsel zucken und schweigen? Ich frug ihn am Ende seiner Klagen, woher der ungeheure Riß im Dache des Hauses käme. „Von einer preußische Granate,“ war seine Antwort. „Der Marschall Canrobert lag bei mir im Quartiere. Man hörte von Mittag an die Kanonen, und daß eine Schlacht im Gange wäre – thut Nichts. Das Diner für den Marschall war um drei Uhr angesagt, und der Marschall setzte sich zu Tische: Die Kanonade wurde stärker. Die Champagnerflaschen wurden eben in Eis gestellt – der Marschall wollte auf den Sieg trinken. Die Ordonnanzen kamen – der Marschall blieb bei Tische. ‚Ah bah, die Preußen sind nicht so schnell und unhöflich, sie lieben selbst den Champagner viel zu sehr, um einen Andern im Genusse desselben zu stören‘. Die Meldungen kamen, der rechte Flügel sei in Gefahr, angegriffen zu werden. ‚Eh bien, ich greife ihn selbst an – den rechten Flügel dieses Hühnerbratens,‘ versetzte er lachend, als die Schüssel und zugleich der Eiskübel mit dem Champagner gebracht wurde. Er hob die Flasche, goß ein Glas ein, hob dasselbe und sagte zu den Officieren, die mit ihm bei Tische saßen: ‚Also, meine Herren, auf den Sieg!‘ Da schlug die Granate in das Dach, und ohne einen Tropfen Wein getrunken zu haben, sprang der Marschall vom Tische auf.“
Wie anders unsere Heerführer! Wenn zum Beispiel Prinz Friedrich Karl zum blutigen Strauße ausgeritten ist, bleibt das einfache Mittagessen oft tief bis in die Nacht servirt, und der Siegeswein nach St. Privat – nach Vionville bivouakirte der Prinz – war saurer Landwein, der für die folgenden Tage aus Vorsicht erst zu einem Glühwein umgeschaffen wurde.
Von Montigny ging es nach St. Privat. Hier war das Todtenfeld der Franzosen. In Haufen lagen die Leichen umher; wo die Kämpfenden keine Deckungen durch Erde- oder Steinaufwürfe hatten, konnte man ganz deutlich die Tirailleurlinien sehen, wie sie von den Unseren, die ihnen auf dreihundert Schritt nahegekommen waren, niedergestreckt worden waren. Bis auf dreihundert Schritte an den Feind hinan – dann ist die Macht, ist der Zauber der Chassepots gebrochen, dann schaut das grause Antlitz des Todes den Feind an. So war es in St. Privat, wo die preußische Garde Schrecken und Vernichtung in die Reihen des Feindes brachte, und das Entsetzen und die Wuth darüber starrt Einem aus tausend und abertausend todten Franzosengesichtern entgegen. „Die Wacht am Rhein“ war das Kampflied der Garde geworden; unter dessen Klängen stürmten sie die Anhöhe hinan, das deutsche Lied war der Franzosen Grabgesang bei St. Privat.
[656] In dem Dorfe war kein Haus mehr, das unversehrt gewesen wäre. In der zunächst nach St. Marie zu gelegenen Reihe war jedes Ruine – ausgebrannt oder zerschossen. Von der Kirche, die gerade in der Schußlinie der Gardeartillerie lag, waren nur noch die nackten Mauern übrig geblieben, kein Fenster, keine Thür nicht hier noch an einem anderen Hause, nicht ganz und nicht halb vorhanden. Die leeren Fenster- und Thürluken machten den Eindruck wie blinde Augen in einem Menschenantlitze. Und das ganze Dorf ein einziges großes Lazareth – eine Jammerstätte der Menschheit – ein Golgatha der Civilisation. Kein Raum war in dem Dorfe von vielleicht siebenzig Häusern zu finden, der nicht mit Verwundeten angefüllt gewesen wäre; die Stuben, die Küchen, die Böden, die Scheunen, die Ställe waren zu Leidensstätten umgewandelt worden, und als zuletzt die bedeckten Räume bei dem immer neuen und immer massenhafteren Andrängen von Blut und Wunden nicht mehr ausreichten, wurden auf der Straße Strohlager ausgebreitet und die zerschossenen, von Anstrengung des Kampfes und Blutverlust erschöpften Soldaten so lange hier niedergelegt, bis anderweitig zu ihrer Unterbringung Platz geschaffen war. Deutsche und Franzosen lagen durcheinander. Das Blut erzeugt eine Gemeinschaft der Herzen, die allen Haß überwindet. Der größte Heroismus begann sich hier auf den Schmerzenslagern von Stroh zu zeigen.
„Nicht eine einzige Klage,“ so versicherte mich später einer unserer Aerzte, „hatte ich aus dem Munde eines einzigen Soldaten darüber gehört, daß er im Dienste des Vaterlandes vielleicht Siech für sein ganzes Leben geworden und nun hier fast hülflos, von Schmerz und Fieber heimgesucht, liegen müsse. Sie klagten zwar über die Schmerzen der Wunden aber ihr Gemüth blieb rein von jeder Verbitterung. Sie sahen auch recht wohl ein, daß die Sache im Augenblicke sich nicht anders bewältigen lasse, und ergaben sich darein. Manche hatten an sechsunddreißig Stunden unverbunden liegen müssen; das waren zwar nur Ausnahmen, aber diese waren da.“
Welchen Contrast dagegen boten die Verwundeten der Franzosen! Nicht alle, aber sehr viele ergingen sich in den entsetzlichsten Verwünschungen gegen den Kaiser, die Regierung, gegen Gott und Menschen.
Und wenn es nur allein die Schmerzen, die Wunden gewesen wären, wenn nur nicht ein Schmerz über die armen Soldaten gekommen wäre, der noch viel schwerer zu ertragen war – der Hunger – der Hunger! In dem ganzen Dorfe war nicht ein Stückchen Brod aufzutreiben; vorher hatten die Franzosen Alles weggenommen. Die Colonnen mit Proviant mußten in kürzester Zeit wohl herankommen, aber für den Augenblick that Hülfe Noth, um die Entkräfteten durch Speise aufzurichten die Schmachtenden zu laben. Die Aerzte waren in größter Sorge und Rathlosigkeit, wie gegen den grimmigsten aller Feinde, den Hunger, Hülfe zu schaffen war. Da stiegen an einer Stelle zwischen zwei zerschossenen Dorfhäusern Rauchwolken auf, und ein Duft begann allmählich sich zu verbreiten, der gegen den Brandgeruch, welcher die Atmosphäre erfüllte, nur um so kräftiger wirkte.
„Das riecht gerade,“ fragte einer der Lazarethärzte zu einem Collegen, „als ob hier in der Verwüstung wieder eine Herdstätte aufgerichtet wäre, auf welcher kräftige Bouillon gekocht wird.“
Und wirklich, da kamen schon dienende Wesen die Dorfstraße herab; in der Hand trugen die Einen dampfende Kessel, die Anderen Näpfe und Löffel von Blech, wieder Andere Brod.
„Madame Simon,“ trat der Anführer der anrückenden Colonne an den Arzt heran, „läßt Ihnen sagen, daß sie hier eingerückt sei und ihr Hauptquartier aufgeschlagen habe und daß Sie, Herr Stabsarzt, nur zu sagen brauchen, wie viele Portionen Sie für Ihre Verwundeten bedürfen; Frau Simon sagt, es muß geschafft werden.“
„Frau Simon aus Dresden hier? Gott sei Dank! Nun ist uns wenigstens nach dieser Richtung hin geholfen. Dachte ich mir’s doch, daß uns die wackere Frau nicht im Stiche lassen würde. Ich will gleich selbst zu ihr hin. Was ist in den Kesseln?“
„Kräftige Reissuppe mit kleinen Fleischportionen.“
„Vortrefflich! Geben Sie den Verwundeten einen dieser Blechnäpfe voll, nicht mehr – der Zustand der Leute macht Diät nothwendig – nur so viel, als zur Labung und Erhaltung der körperlichen Kraft nöthig ist. Ich bin sogleich wieder hier.“
„Wer ist diese Frau Simon?“ frug ich den Arzt begleitend.
„Die Vorsteherin eines Frauenvereins; den Namen des letzteren weiß ich nicht, thut auch nichts; aber Sie sehen, er wirkt in der That und die Vorsteherin an seiner Spitze am allerkräftigsten. Frau Simon ist mit einer wahrhaften Colonne von Material hier angekommen; sie dirigirt und leitet Alles; das ist eine Frau mit einer kräftigen Hand und festem Herzen, die überall da ist, wo man sie braucht, die Tausende unserer sogenannten Lazarethnäscherinnen aufwiegt. Da ist sie!“
Und richtig war es dieselbe, die ich heute Morgen auf dem Leiterwagen in Mars la Tour hatte einziehen sehen. Jetzt stand sie, wie ein Orchesterdirigent mit dem Stabe, mit dem Schöpflöffel hinter einer langen Reihe von brodelnden Kesseln, bald den Schaum von der Fleischbrühe abschöpfend, bald die Portionen austheilend; und je mehr der Arzt Portionen verlangte, desto fröhlicher wurde ihr Gesicht. Es wurde Alles geschafft, dafür ist sie die Frau Simon; und auf ihrem runden, freundlichen Gesichte lag ein sprechender Ausdruck jener werkthätigen Liebe, die nicht erst nach dem Seelenheile der armen Kranken fragt, sondern gleich das Feuer unter die Kessel legt, um ihnen Nahrung und Stärkung zu schaffen. Und welche Wohlthat hat sie ihnen erwiesen! Das müßte man sehen, wie die halb erstorbenen Lebensgeister beim Dufte gesunder Nahrung sich wieder belebten, wie die verwundeten Leiber sich aufrichteten und wie junge Vögel, die lange keine Atzung bekommen, die Lippen nach der lange entbehrten Erquickung ausstreckten. Und nicht nur für die Verwundeten in St. Privat, sondern auch für die in St. Marie schaffte sie noch dreihundert Portionen, die Dr. Bitterfeld durch die Diaconen der Colonne in Kesseln nach dem eine halbe Stunde entfernten Orte bringen ließ. Nun bat ich dieser seltenen Frau die ironische Stimmung, die ich ihr nach der Eingangsfrage entgegengebracht hatte, im Gedanken ab, denn nun begriff ich, wie Jedermann ein Recht hat, jeden und selbst den wildfremdesten Menschen zu fragen, ob er Frau Simon nicht gesehen habe.
Wenn nicht schon Chlum und Rosberitz 1866 den Beweis geliefert hätten, daß die preußische Garde keine Paradetruppe, sondern wahrhaft eine Elitetruppe ist, wenn es noch eines weiteren, blutigeren bedurft hätte – nun wohl denn, so hat diesen St. Marie aux Chênes und St. Privat geliefert. Die Straße nach ersterem Dorfe hinabgehend und an den Eingang desselben gelangend – begegnete ich einem Leichenzuge. Um eine Grabstätte rechts von der Straße stand preußische Infanterie; die näheren Abzeichen der Mannschaften, die weißen Litzen, die weißen Achselklappen und Knöpfe sagten, daß es das erste Garderegiment, das erste Infanterieregiment der preußischen Armee sei. Wenn man dieses Regiment mit seinen Leuten, von denen wenige unter sechs Fuß haben, in glänzendem Paradeanzuge mit den historischen Blechmützen Friedrich’s des Großen bei den Frühjahrsparaden in Potsdam gesehen hatte und wenn man es jetzt sah am Tage nach der Schlacht mit all’ den Spuren der blutigen Affaire! Das Regiment erwies seinem gefallenen Oberst und sechs Officieren die letzten militärischen Ehren. Unter den Klängen des Chorals „Jesus meine Zuversicht“ bewegte sich der Trauerzug mit den sieben Särgen der heldenmütigen Officiere zu den Gräbern, die in zwei Reihen gegraben waren. Nur wenige Cameraden, Vorgesetzte und Mannschaften, konnten das Grabesgeleite geben, die drei Handvoll Staub in die letzte Ruhestätte in fremder Erde nachzuwerfen; die meisten lagen an ihren Wunden darnieder. Wem sonst noch mit seinem Herzen, seinen Thränen und Klagen an diesen Gräbern ein Platz gebührt hätte, Gattinnen und Kinder, Eltern und Geschwister, sie waren Alle fern und vielleicht nur von einer bangen Ahnung dieser schmerzensvollen Stunde durchschauert. So entstand an diesem Tage auf der Wahlstatt von St. Privat ein Grab nach dem andern für die braven Officiere und die tapferen Mannschaften; und ein roh gezimmertes Kreuz erhob sich nach dem andern mit den Namen der darunter Ruhenden. Die preußische Garde-Infanterie, mit Ausnahme der dritten Infanteriebrigade, die bei Amanvillers gekämpft hat, hat ihr Feld des Sieges mit einem Feld der Gräber bezahlt. Die Todten der ersten Garde-Infanteriebrigade liegen beisammen, ebenso die der zweiten rechts und die der vierten links von der Straße. Die tapferen Sachsen, die mit Blut und Leben der Ihrigen den Lorbeer erstreiten halfen, liegen weiter oben bei Roncourt bestattet.
Einige Tage später fuhren zwei Wagen über die im Abendscheine ruhende Todesstatt. In dem ersten saß ein Herr und eine [657] Dame, aus dem folgenden wurde ein Sarg gefahren und befanden sich mehrere Arbeiter mit Werkzeugen zum Graben. Vor einem Grabe, an dem mehrere Kreuze aufgerichtet waren, wurde still gehalten. Der Herr und die Dame stiegen ab, auch die Arbeiter, die den Sarg abhoben. Die Dame, eine schlanke, mittelgroße Gestalt mit festem energischen Ausdruck und mit jenem unsagbaren Etwas in den Zügen, das ein bewegter, ungewöhnlicher Lebensgang in dieselben verzeichnet hat, Fürstin, Amerikanerin, und ihr Gemahl hatten vor mehreren Jahren durch ihre Schicksale viel von sich reden gemacht; sie waren durch dieselben mit in eine tragische Katastrophe jenseits des Oceans verwickelt, und waren die letzten und einzigen Treuen eines unglücklichen Fürsten, der jetzt in seinem Grabe gerächt ist. Die Dame ging langsamen, aber festen Schrittes auf das Grab zu und sank in stillem Gebet auf demselben nieder. Ihr Begleiter in Johanniteruniform – es war der in Heidelberg lebende, auch als Dichter rühmlichst bekannte Kammerherr v. Oertzen – nahte sich mit den Worten:
„Bestehen Durchlaucht wirklich darauf, dem traurigen Geschäfte beizuwohnen? Wäre es nicht besser für Sie, wenn Sie sich zurückzögen, bis die Arbeit geschehen ist?“
„Haben Sie keine Sorge, ich bin gefaßt, ich habe soviel Gewalt über mich. Ich war gekommen, meinen Mann zu pflegen, und finde ihn im Grabe. Ich will ihn wenigstens noch einmal sehen und dann in diesem Sarge mit mir nehmen.“
Die Leute machten sich an die Arbeit, das Grab zu öffnen. Ein Sarg wurde emporgehoben, geöffnet – die Leiche des Majors Fürsten Salm lag darin. Seine Gemahlin trat an den Rand des Grabes, um hinabzusehen, und brach mit einem Aufschrei des Schmerzes zusammen. …
In St. Marie war eine Gruppe gefangener französischer Officiere, die alle ihre Ordensdecorationen trugen und sich aus ihren Koffern funkelnagelneue Uniformen genommen hatten. Es war irgend eine Differenz mit den Cavalleristen entstanden, von denen sie escortirt wurden, sie sprachen sämmtlich mit lebhaftesten Geberden zu den schweren Reitern aus Westphalen oder Pommerland, sie wollten es diesen recht verständlich machen, aber die Reiter hatten unglücklicherweise in ihrer Dorfschule nicht Französisch gelernt, sie hielten nur den Carabiner aufgesetzt – das war ihre deutliche Antwort. Zufällig ritt der Commandeur der Feldgensd’armerie, Oberst K., vorüber, ein Französischsprecher, vor dem der selige Teschier Respect gehabt hätte. Er ritt an den Wagen heran und glich die Sache zwischen den Franzosen und der Escorte aus. Schließlich stellte sich der höchstgestellte der Officiere ihm vor.
„Colonel H.“
„Ah, Herr Oberst, freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen,“ versetzte der deutsche Camerad. „Sie waren vor ungefähr drei Wochen in Rohrbach.“
„Ja, gewiß – in der Suite des General Frossard,“ antwortete nicht ohne Befremden der Franzose.
„Ganz recht; Sie logirten dort in einem Gasthause, wo zwei junge Mädchen die Aufwartung hatten.“
„O, zwei Brünetten, allerliebste kleine Geschöpfe – deliciös!“
„Ich stimme Ihnen vollkommen bei. Die Herren, General Frossard an der Spitze, waren auch in einer vortrefflichen Stimmung. [658] In heiterster Scherzesstimmung fragten Sie die jungen Damen, was sie denn von Berlin, wohin Sie nun gingen, mitgebracht haben wollten.“
„O, das war nur Scherz mit den beiden kleinen Schwätzerinnen,“ versetzte schnell abweisend der Oberst. „Ich erinnere mich der Sache wohl – nur Scherz, Spaß. Weiter nichts.“
„Ich nehme es auch für nichts weiter, Herr Oberst. Schlimm für uns, wenn es Ernst gewesen wäre; es ist besser so, wie es gekommen ist, nur darum erzähle ich Ihnen die kleine Geschichte auch. Sie erinnern sich auch wohl, was sich die beiden kleinen Mädchen wünschten?“
„Es ist mir nicht mehr so genau erinnerlich.“
„Nun gut, so will ich es Ihnen sagen: un joli petit Prussien wünschten sie vom General sich mitgebracht, obwohl ihm, dem Franzosen, im ersten Augenblick ein solches Gelüste nicht ganz schmeichelhaft klang. Dennoch hat er das gewünschte Versprechen gegeben. Es sei! Einen kleinen netten Preußen. ‚Aber,‘ sagte die eine, die ältere der beiden Brünetten, sich an der Schürze zupfend und durch die Zusage des Generals offenbar noch immer nicht befriedigt, ‚so vornehme Herren haben oft ein kurzes Gedächtniß – und uns ist an einem kleinen hübschen Preußen wirklich viel gelegen!‘ Komische Auffassung der Französinnen, uns gerade als klein aufzufassen und zu wünschen, da wir doch nicht klein zu kriegen sind. ‚Eh bien! Herr General,‘ fuhr das Mädchen fort, ‚wollen Sie es uns nicht schriftlich geben?‘ Die Herren Officiere brachen bei diesem seltsamen Verlangen in ein lautes Gelächter aus, waren aber in einer so vortrefflichen Laune, daß Papier, Feder und Tinte gebracht und das schriftliche Instrument aufgesetzt wurde: Nous soussignés – promettons à Mesdemoiselles So und So – rapporter un petit joli Prussien en revenant de Berlin. Auf deutsch: ‚Wir Unterzeichnete – versprechen den Fräulein So und So – ihnen bei unserer Rückkunft von Berlin einen kleinen, netten Preußen mitzubringen.‘ Nun kamen der Reihe nach die Namen der Herren mit dem des Generals Frossard an der Spitze – der vierte oder fünfte war der Ihrige, Herr Oberst –“ „Ah, mais non –“ „Verzeihen Sie, ich habe das Actenstück gesehen, und habe mich herzlich gefreut, daß die Sehnsucht Ihrer beiden reizenden Landsmänninnen nach einem netten, kleinen Preußen so rasch befriedigt worden ist. Adieu!“
Wer die Schweiz schon besucht hat, kennt den wegen seiner herrlichen, weitumfassenden Aussicht hochberühmten Rigi. Beinahe in der Mitte der Schweiz erhebt er sich bis zu 5500 Fuß als ein von allen Seiten freistehender Berg, auf seiner westlichen Seite bespült von dem so majestätisch hingebreiteten, dampfbootbefahrenen Vierwaldstättersee. Auf seinen üppigen Alpentriften weiden im Sommer an dreitausend Kühe und zahlreiche Heerden von Schafen und Ziegen, einhundertundfünfzig Sennhütten liegen zerstreut umher und zahlreiche Wege führen hinauf bis zum höchsten Gipfel, dem Kulm, der, wie weltbekannt, sowohl des Abends bei Sonnenuntergang, als in der Frühe vor und nach Sonnenaufgang, eine Aussicht bietet, die außerordentlich, ja einzig ist.
Unter diesen Wegen sind einzelne, deren Steilheit wirklich nicht bedeutend genannt werden kann, wenn auch bisweilen zwei bis drei Fuß hohe Felsenstufen erstiegen werden müssen. Trotzdem werden nicht wenige von den halbhunderttausend Fremden, welche alljährlich den Rigi zu besuchen kommen mit Freuden von einem Unternehmen hören, welches schon von Beginn dieses Herbstes an jedem Rigifahrer zu Gute kommen wird, für die Zukunft aber geradezu von größter Tragweite ist. Drei schweizerische Ingenieure sind es, der Oberst Adolph Näff in St. Gallen, N. Riggenbach in Olten und Olivier Zschokke in Aarau, deren Scharfsinn und Ausdauer man die Rigibahn verdankt und diese selbst, deren Möglichkeit so lange bezweifelt und geschmäht worden war, in Augenschein zu nehmen, machte ich mich an einem schönen Morgen von Vitznau aus, einem stillen freundlichen Dörfchen am rechten Ufer des Vierwaldstättersees, auf den Weg.
Einige Minuten die Straße hinauf und ich befand mich vor dem noch im Baue begriffenen Bahnhofe. Ein kleines, aber schmuck aussehendes Haus, im Genre der Schweizerhäuschen, doch ohne die zierliche Schnitzarbeit derselben. Neben dem Wartesaale das Zimmer des Billeteurs, der Bahnbeamten etc.; im Ganzen wenig Interessantes bietend. Gleich einige zwanzig Schritte davon steht der Schuppen für Locomotive und Waggons. Zwischen den beiden Gebäuden liegt die Drehscheibe, welche die Locomotive auf die hier einmündende Linie bringt.
Von da aus trat ich nun meinen Marsch an; von Schwelle zu Schwelle, wie auf einer Treppe, emporsteigend. Im Anfange geht es eine Strecke ziemlich gerade fort und ohne besondere Steigung, so daß ich alle Muße fand, der Schienenlegung meine volle Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Ueber die kaum zwei Fuß voneinander entfernten eichenen Schwellen gehen zu beiden Seiten mit diesen zusammengefügte Balken die ganze Bahnstrecke entlang, so daß die Schienen förmlich auf einem Roste ruhen. Es liegt auf der Hand, daß dieses System angewandt werden mußte, um jeder Verschiebung, namentlich dem Herunterrutschen, vorzubeugen, und gewiß ist der Zweck dadurch vollständig erreicht. Wäre je eine Weichung möglich gewesen, so müßte sie gewiß schon jetzt zu Tage getreten sein, denn die Locomotive hat während des Baues der Bahn so schwere Transporte (Baumaterial) hinauf befördert, wie sie vielleicht nie mehr vorkommen.
In Mitte der Schienen liegt die feste, massive Zahnstange, in welche das Zahnrad eingreifen muß. Wie die Zahnstange aus geschmiedetem Eisen, so sind deren einzelne eingenietete Zapfen der Solidität wegen aus Gußstahl. Diese Schiene ist das einzige wesentlich Abweichende von einer gewöhnlichen Bahnlinie, und es erhellt daraus sofort, daß wir es mit dem bekannten amerikanischen Bergbahnsystem zu thun haben, das sich nicht nur als praktisch anwendbar, sondern auch als sehr solid bewiesen hat, abgesehen davon, daß seine Herstellung nicht unverhältnißmäßig theuer zu stehen kommt.
Gleich oberhalb Vitznau schlägt sich die Bahn in scharfer Steigung, die sich bis zum Tunnel gleich bleibt, an den Berg, den sogenannten Vitznauer, stark hin und fordert hier den ersten Schnitt in die Nagelfluh des Bergkolosses. Die erste Schwierigkeit des Baues tritt zu Tage; oft reichten Böschungen nicht hin, und es mußten hohe Versicherungen angebracht werden, da das Terrain plötzlich ganz abfällt, einen steilen Abhang bildend oder eine tiefe Kluft öffnend. Die Felsensprengungen, die hier vorgenommen werden mußten, haben manchen schönen Kastanienbaum im Thal geknickt oder verstümmelt, und sie blicken traurig herauf auf das Werk der Menschenhände, hinauf an die himmelauftrebenden Felsen, in deren Schutz sie so manche Jahre friedlich grünten und blühten.
Je weiter hinauf ich steige, desto mehr fesselt die ganze Anlage der Bahn mein Interesse; ich habe noch nie eine Strecke gesehen, die so viel Abwechselung des Baues in so geringer Ausdehnung darbot. Hier mußte ein hoher Damm angelegt werden, dort ein Einschnitt in die Felsen, eine Versicherung, eine Böschung, eine Brücke, und daneben – welch’ eine prachtvolle Natur, welche bezaubernde Aussicht! Und je höher ich emporklimme, desto schöner, reicher, gewaltiger.
Die Bahn führt eine kurze Strecke durch einen Wald, und wie man wieder herauskommt, liegt das prächtigste Panorama vor uns ausgebreitet. Zu unseren Füßen das freundliche Vitznau, eine lange Strecke herrlicher Obstwald; darüber hinaus der Vierwaldstättersee; sein Spiegel kost mit der Sonne und wirft ihre Strahlen blitzend herauf. Ein Dampfschiff zieht einsam darüber hin und trägt seine Last hinauf gegen Gersau und Brunnen, hinab gegen Stansstad, Hergiswyl. Der Bürgenstock steigt düster heraus aus dem See und über ihn herein blicken die stolzen Häupter der Berneralpen, die Jungfrau, der Eiger, die Wetterhörner etc., weiter links der Uri-Rothstock, der Titlis und wie sie alle heißen, diese gewaltigen Gebilde der Vorzeit, die Träger des ewigen Schnees, glühend beim ersten Kusse der Sonne, purpurn bei ihrem scheidenden Strahle. Die Reihe schließend steht der groteske Pilatus, ernst, beinahe schaurig. Er wirft seinen Schatten tief in den See [659] und reckt seine Spitze hinauf in die Wolken. Der Pilatus ist der Freund dieser Luftgebilde. Der erste, der sich bei schlechtem Wetter in Nebel mummt, trägt er beim schönsten Wetter seinen Hut, wie eben jetzt. Wie manche schöne Sage knüpft sich an diesen stolzen, majestätischen Bergriesen; schon seinen Namen dankt er einer solchen. Der römische Landpfleger Pilatus, der Jesus dem Volke ausgeliefert, soll sich auf diesem Berge in einen See gestürzt haben aus Verzweiflung über seine Schwäche und noch jetzt muß er bei Donner und Blitz aus der Tiefe tauchen, ein Schreckenbild. – Von diesem Manne soll der Berg seinen Namen haben.
So blickt man hinaus in die herrliche Landschaft und kann nicht satt werden. Ich weiß nicht, wie lange ich gestanden habe, als mich plötzlich der Pfiff einer Locomotive emporschreckte.
Der Bahnzug kommt von oben herab; da ist aber keiner Gefahr auszuweichen; er läuft nicht schneller, als ein Pferd trabt, und dies ist seine gewöhnliche Geschwindigkeit. Er kommt immer näher und näher. Plötzlich, mit einem Ruck hält er an; ein Mann springt vom Wagen auf mich zu; es ist der Bauführer, mein Studienfreund. Er hatte mich erkannt, und da weiter keine Passagiere da waren, ließ er anhalten, und nun bot sich die beste Gelegenheit zur Besichtigung der Locomotive sowohl wie des Waggons.
Einen sonderbaren Eindruck macht die Locomotive mit ihrem aufrechtstehenden Kessel, der in dieser Weise angebracht werden mußte, um den Spiegel des Wassers überall in gleicher Höhe zu halten, was bei einem wagrecht stehenden Kessel nicht möglich wäre. Um dies noch besser zu erreichen, ist der Kessel so gebaut, daß er bei der Steigung der Linie senkrecht steht, auf ebenem Boden folglich schief rückwärts.
An die Stelle des Schwungrades treten mit einer Uebersetzung die beiden Kammräder, welche in die Zahnstange eingreifen. Die Furcht, daß bei Ausbrechen eines Zahnes ein Unglück entstehen könnte, ist völlig unbegründet, denn es treten beinahe zu gleicher Zeit deren drei in die Stange, so daß bei vorkommendem Falle das ganze Unglück höchstens in einem unbedeutenden Rucke bestehen könnte. Zu dem kommt als wesentlich hinzu die vortreffliche Bremsvorrichtung, mittelst welcher der Zug sofort angehalten werden kann. Es mag hier am Platze sein, alle anderen Maßnahmen für die Sicherheit des Fahrens anzuführen, um jedes Vorurtheil und mit ihm jede Furcht zu beseitigen.
Die angeführte Bremsvorrichtung, Hebelsystem, ist nicht nur bei der Locomotive, sondern auch bei jedem einzelnen Wagen angebracht, und da die Waggons nie zusammengekoppelt sind, kann also jeder einzelne Waggon leicht angehalten werden, was von besonderer Wichtigkeit beim Hinunterfahren ist. Beim Hinauffahren ist die Locomotive stets hinten, so daß die Wagen nicht gezogen, sondern geschoben werden, eine Anordnung, die von der großen Umsicht zeugt, mit der hier zu Werke gegangen wurde. Mein Freund erklärte mir, daß in der langen Zeit, in welcher die Bahn schon gebraucht worden, auch nicht der geringste Unfall vorgekommen sei, und der einzig denkbare wäre, daß ein Felsstück herabrollte oder sich ein kleinerer Stein in die Linie wälzte, der den Uebersetzungsrädern des Schwungrades Schaden zufügen könnte. Aber abgesehen davon, daß die Bahn während des Betriebes fleißig inspicirt wird, kann dergleichen bei einiger Aufmerksamkeit des Locomotivpersonals wirklich nicht vorkommen, da der Zug sich stets in der Gewalt des letztern befindet und rasch genug still gehalten werden kann, das Hinderniß zu beseitigen oder die Gefahr vorübergehen zu lassen.
Die Waggons, welche, um auf der Linie wagrecht mit ihren Sitzen zu stehen, über den Rädern eine keilförmige Unterlage haben, sind ebenfalls abweichend von denjenigen anderer Bahnen; es sind Omnibusse mit je einundachtzig Plätzen, fünfundvierzig im ersten und sechsunddreißig im zweiten Stocke. Die letzteren werden wahrscheinlich bei schönem Wetter und von keckeren Touristen benutzt werden, da sie ohne Verdeck und eben deswegen ein allerliebster Luginsland sind; das muß ein köstlicher Genuß sein, so hinauf oder hinunter zu fahren. Trotz der Einladung meines Freundes aber versagte ich mir denselben, da ich noch weiter die Bahnstrecke hinauf wandern wollte.
„Wir treffen uns wieder,“ rief er mir nach; der Zug rollte bergab und ich setzte meinen Stock ein bergauf.
Ich hatte wenig über fünfzig Schritte zurückgelegt, als die Bahn eine scharfe Biegung machte; links dunkle, bewaldete Abgründe, rechts groteske Gebirgswelt, vor mir der etwa hundertfünfzig Fuß lange Tunnel durch einen gewaltigen Nagelfluhfelsen. Wie man aus dem Tunnel heraustritt, schießt der Felsen beinahe senkrecht ab und fällt bis zu einer Tiefe von mindestens dreißig bis vierzig Meter. Oben steigt er allmählich himmelhoch hinauf, in glatten grauen Wänden, die schaurige Grubisfluh. Unten durch schießt schäumend ein Bach und wälzt sich brausend an dem Rande dieses gewaltigen Kessels hin, der eine Ueberbrückung erhalten hatte, wie sie von gleicher Schönheit kaum ein zweiter Viaduct aufweisen dürfte.
Auf zwei Gitterpfeilern schwingt sich die siebenundsiebenzig Meter lange Brücke über den Abgrund in einem kühnen Bogen auf das jenseitige Widerlager, um dort, rasch steigend, allmählich wieder aus der Schlangenwindung herauszukommen. Das diesseitige Widerlager ist der Felsen. Die Brücke sieht sich von Weitem etwas beängstigend an; namentlich wenn der Zug darüber geht, glaubt man jeden Augenblick, sie müsse unter der Last zusammenbrechen; aber so leicht sie auch scheint, so solid, so gut bewährt sie sich, und es ist kaum denkbar, daß der Winter von schädlichem Einflusse auf dieses Gitterwerk sein wird.
Die Aussicht von der Brücke ist überraschend schön; im Hintergrunde die himmelstürmenden Felsen, unter sich der tobende Bach, die finsteren Tannen, weiter hinab saftige Wiesen, schattige Obstbaumwälder, darüber hinaus der blitzende See, der majestätische Pilatus. Der majestätische Anblick ist um so überraschender, als der Gesichtskreis kurz vorher ein sehr beengter war.
Ich steige immer weiter auf dem Bahnkörper; oberhalb der Brücke nimmt die Steigung ab; bis zum Tunnel betrug sie nicht weniger als fünfundzwanzig Procent, jetzt ist dieselbe im Durchschnitt einundzwanzig bis zweiundzwanzig Procent. Mit der Abnahme der Steigung wird auch der Bau weniger schwierig, obschon noch hier und da eine Brücke über einer tiefen Kluft sich wölbt, oder der Linie eine Gallerie gesprengt werden mußte. Es ist das Gebiet der Alpen, welches nun beginnt, eine weiche Erdschicht tritt zu Tage und das Geröll und Gestein, von dem sich weiter unten die Hülle und Fülle bot, war hier gut zu verwenden.
Das Kaltbad ist erreicht; noch etwas darüber hinaus, bis ungefähr zur Höhe des sogenannten Staffels zieht sich die Linie fort und findet dort, wo alle Wege, die auf den noch einige hundert Fuß höheren Kulm führen, zusammentreffen, ihren Abschluß. Ein Stationsgebäude erhebt sich und der Passagier hat den ersten berühmten Aussichtspunkt des Rigi erreicht. Ich ließ mir eine Erfrischung geben, sah mich schnell um unter all’ den fremden Gesichtern, welche, die Augen im Berlepsch, die prächtige Aussicht bewunderten, und setzte dann meinen Fuß wieder rückwärts, gleichen Weges, den ich gekommen. Wie ungleich ruhiger läßt sich da die Landschaft genießen, wie wohl fühlt und hebt sich die Brust, wenn man so hineinwandert, entgegengeht all’ dem Herrlichen, das sich dem Auge darbietet! In kurzer Zeit war ich wieder bei der Brücke angelangt. Im Tunnel dampfte die Locomotive, die inzwischen wieder heraufgekeucht war; nun war es mir sehr lieb, eine Fahrt mitmachen und namentlich das so sehr gefürchtete Herabfahren wagen zu können. Ich stieg ein; die Locomotive setzte sich in Bewegung, der Waggon rollte nach; das ging so ruhig wie in einer Kalesche auf schöner Landstraße. Als ich ausstieg, brauchte ich nicht erst zu untersuchen, ob die Achseln noch da seien, eine Prüfung, die man bei unseren Eisenbahnen oft genug zu machen gezwungen ist. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Maschine fortbewegt, ist freilich keine rasende; ein recht guter Läufer wäre im Stande mit ihr Schritt zu halten, natürlich nur bergab. Dies erhellt schon daraus, daß sie, um die etwa siebzehntausend Fuß Länge der Bahn zu durchlaufen, eine Stunde Zeit verlangt, wie wenigstens für den Fahrplan vorgesehen ist. Regelmäßige Fahrten wird die Bahn während der Saison täglich höchstens drei haben, jedoch weitere nach Bedürfniß anordnen. Daß sie auf zahlreichen Zuspruch rechnen darf, ist wohl sicher, und sie hat es auch nöthig, denn die Kosten ihrer Herstellung erreichen die schöne Summe von 1,250,000 Francs.
Daß die Bahn dem Berge als solchem die Poesie raube, ist eine Behauptung, die jeden Haltes entbehrt; es wird weder das Eine noch das Andere, das bisher charakteristisch für den Rigi war, dadurch verdrängt werden; jedenfalls dürfte sie nur ein Mittel sein, ein noch geschäftigeres Durcheinander zu veranlassen. So werden die Schwarzseher bald verstummen müssen und man wird dem Unternehmen ein herzliches „Glück auf!“ zurufen.
[660]
(Fortsetzung.)
„Es ist ein Elend, – das Geld, – das leidige Geld!“ seufzte Victor neben Alfred hinschreitend, „wo das fehlt, bleibt doch der Mensch ewig ein Spielball der Verhältnisse! Wie viele traurige Beispiele rings um uns drängen Einem nicht die Betrachtung über die Macht auf, welche das Geld in allen Kreisen der Gesellschaft hat! Ist es nicht eine schmähliche Ironie sich sagen zu müssen, daß wir nicht einmal unsere Vornehmheit behaupten können ohne Geld? Denn wer verarmt ist, der verfällt dem Proletariat, sobald ihn in seinem Elend die moralische Kraft verläßt. Und wenn sich Einer einmal aus dieser Misère zu retten sucht und eine reiche Bürgerliche heirathet, um sich und seinen Nachkommen eine standesgemäße Existenz zu sichern, dann zeigen die Genossen gleich mit Fingern auf ihn und sprechen von einer Geldheirath.“
„Es ist auch ein großer Fehler,“ entgegnete Alfred ruhig, „daß Euch so wenige Möglichkeiten geboten sind, Euch Vermögen zu erwerben, und daß Ihr deshalb immer auf den glücklichen Zufall einer Erbschaft oder einer reichen Heirath angewiesen seid.“
„Je nun, als Soldat kann man sich kein Vermögen machen. Man lebt und stirbt für die Ehre. Deshalb ist auch wohl unser Beruf der uneigennützigste und aufopferndste von allen, und wir dürfen dafür ohne zu erröthen eine Entschädigung, die uns der Staat nicht bieten kann, vom Schicksal annehmen, wenn es uns eine solche in Gestalt einer reichen Frau oder einer schönen Erbschaft zuführt.“
„Du hast Recht von Deinem Standpunkt aus, aber nicht Alle unseres Standes sind ja Soldaten; die, welche es nicht sind, sollten mit ihren eingewurzelten Vorurtheilen brechen und sich vielseitigere Erwerbsquellen zu eröffnen suchen. Dein Vater war kein Soldat, hätte er seine entschiedenen Fähigkeiten genützt und nicht in vornehmer Unthätigkeit sein verfallendes Vermögen verzehrt, so wärst Du jetzt ein reicher unabhängiger Mensch.“
Victor blickte nachdenklich vor sich hin, ein bitterer Zug legte sich um den schönen Mund, der Alfred auffiel und sein Mitleid erregte, denn er zeigte ihm, wieviel Victor unter seinen drückenden Verhältnissen gelitten haben mochte. Er reichte ihm die Hand.
„Ich habe Dich hoffentlich nicht verletzt?“
„O nein, Du hast nur den Nagel auf den Kopf getroffen – und ich bin der Nagel!“ sagte Victor düster.
„Höre, Victor,“ flüsterte Alfred ihm zu. „Wenn Du je in Verlegenheit kommst, so hoffe ich doch, daß Du keinen Augenblick anstehst, mich als Deinen Bruder zu betrachten.“
„Ich danke Dir, ich borge nie, da ich nicht wüßte, wovon ich es zurückgeben sollte, und Geschenke, die ich nicht durch irgend eine Gegenleistung wett machen könnte, nehme ich ebensowenig an. Ich habe Gottlob keine Schulden, und es ist mir bisher immer gelungen, den Schein zu bewahren. Aber dieses ‚den Schein bewahren‘ – ist eine nichtswürdige Arbeit! Die beste Kraft vergeudet man in erbärmlichen Kniffen, kleinlichen Raffinements, beständigem Laviren – und zuletzt geht die ganze Mannheit der Seele darüber verloren. Du sagtest mir als fünfzehnjähriger Knabe ein Wort, das ich damals nicht begriff, Du sagtest: ‚Ich würde von Niemandem Almosen annehmen, gäbe es mir ein Fürst oder ein Bauer, lieber würde ich sterben!‘ Ich habe dies Wort allmählich verstehen gelernt und werde es nie vergessen.“
Alfred sah ihn teilnehmend an, sein Herz neigte sich immer mehr dem Vetter zu. Da fuhr sich dieser plötzlich mit der Hand über die Stirn, als wolle er die trüben Gedanken verscheuchen, und als fiele es ihm jetzt erst ein, sagte er:
„A propos! was ist denn aus dem kleinen allerliebsten Mädchen geworden, mit dem ich vor sechs Jahren immer spielte? Das war ein süßes Ding! Ist sie noch hier?“
„Natürlich!“ warf Alfred kurz hin.
„Ach, höre, da mußt Du mich gleich zu ihr bringen. Sie wird ein schönes Mädchen geworden sein, wie?“
„O ja!“
„Dann, bester Alfred, laß uns nicht säumen, mich ihr vorzustellen, ich freue mich wirklich darauf, diese Kinderbekanntschaft zu erneuen.“
Alfred biß die Lippen zusammen und schwieg.
Wenige Stunden später gingen die jungen Männer zu Höslis. Sie wurden vom Diener in den Garten geführt, wo Frau und Fräulein Hösli beieinander in einer Laube saßen.
Anna war gerade damit beschäftigt, eine Puppe für Frank’s Kinder anzuziehen, die, Gott weiß wie, mit ganzen Gliedern aus der Zerstörungsperiode von Aenny’s Kindheit gerettet und einer bessern Nachwelt aufbehalten worden war. Da die Toilette der kleinen Dame eben erst begonnen hatte und sich noch auf ein etwas knappes, vermuthlich von einer kleineren Puppe stammendes Hemdchen beschränkte, warf Anna erschrocken ein Tuch über den anstößigen Lederbalg, als sie die beiden Herren von Weitem kommen sah, und raffte in der Eile Strümpfchen, Höschen und was sie erwischen konnte, zusammen.
„Das ist Victor,“ rief sie vergnügt ihrer Mutter zu und zwang sich mühsam sitzen zu bleiben, – sie wäre ihm so gerne entgegen gelaufen, wenn es sich nur geschickt hätte.
Sie konnte Victor nicht recht erkennen, die Sonne blendete sie; als er aber vor ihr stand in seiner ganzen Pracht, da sprang sie unwillkürlich und tief erröthend auf und eine seltene Befangenheit kam über sie, so daß sie nicht einmal merkte, wie ihr die Puppe vom Schooße glitt. Erst als dieselbe prasselnd auf den Steinboden der Laube fiel und Victor sich danach bückte, griff auch sie zu und hüllte sie schnell wieder ein. Aber ach, der niedliche Wachskopf, der so lange allen Stürmen von Aenny’s wilder Laune getrotzt hatte, er lag zerbrochen auf der Erde! „Meine Puppe hat den Kopf verloren,“ stammelte sie in sichtlicher Verlegenheit.
„Verliere nur Du ihn nicht auch!“ flüsterte rasch Frau Hösli nur für Anna verständlich auf Englisch und ein unzufrieden prüfender Blick streifte das erglühende Mädchen, dessen Augen mit Bewunderung an Victor hingen.
„Der Joseph hat eine Nase!“ schrieen die Kinder des Dorfes Goldbach bei Zürich durcheinander.
„Eine Nase?“
„Ja, ja, eine rechte Nase von Fleisch, man kann sie anfassen, sie sitzt fest.“
Das ganze Dorf strömte zusammen und umringte staunend einen hübschen jungen Menschen, der mit einem Ränzel auf dem Rücken des Weges von Zürich her kam.
So viel Geschrei um eine Nase muß natürlich einen besonderen Grund haben, denn es ist ja doch etwas Selbstverständliches, daß jeder Mensch eine Nase hat – und darüber ist gar nichts weiter zu reden. Aber bei dem Joseph war das anders, der hatte gar keine gehabt, sie war vergessen ihm mit auf die Welt zu geben, und jetzt erst nach zwanzig Jahren nachgeliefert worden. Daher das Aufsehen, welches die Nase des Joseph erregte. Man hatte sie gar zu lange erwarten müssen und ihre Abwesenheit hatte zu viel Unheil angestellt, als daß ihre Ankunft nicht zum Ereigniß werden sollte für Jedermann.
„Nein, Joseph! Wer hat Dir denn die Nase angeflickt?“ fragte ein Bauer und griff ihm fast ängstlich nach dem fraglichen Theile, der sich nur durch eine eigenthümliche bläuliche Blässe von anderen normalen Nasen unterschied.
„Der muß mehr können, als Brod essen,“ meinte ein Anderer, „der das zu Stande brachte.“
„So etwas ist ja seit Menschengedenken im Dorfe nicht gehört.“
„Erzähl’, Joseph! Erzähl’, wie’s gegangen ist!“ schrieen Alle durcheinander und umringten den Burschen. „Kein Mensch hat gewußt, wo Du hingekommen bist; Du warst ja auf einmal verschwunden, wie von der Erde verweht!“
„Und’s ging Euch ab, daß Ihr so lange Keinen hattet, an dem Ihr Euren Spott und Eure Bosheit auslassen konntet, denn dazu war ich ja doch nur gut!“ sagte Joseph bitter. „Jetzt drängt Ihr Euch um mich und wißt des Fragens kein Ende, und wenn ich noch ein Loch statt einer Nase im Gesicht hätte, schrieet Ihr höchstens: ‚Pfui Teufel, der Joseph ist wieder da!‘ Und ich müßte [663] mich, so schnell ich könnte, auf dem Anger verstecken, damit nur Eure Augen nicht beleidigt würden.“ Er schritt rasch weiter, während er so sprach, und der Schwarm folgte ihm unverdrossen, denn die Neugier war doch größer als die Beleidigung.
„Aber Joseph, Du warst auch gar zu scheußlich anzusehen!“ entschuldigte sich ein lümmelhafter Ackerknecht. „Den Mädels verging ja Essen und Trinken, wenn Du kamst!“
„Ja wohl – ich war garstig und arm dazu – und es war so lustig einen armen Teufel zu mißhandeln, der sich nicht wehren durfte, weil er mit seiner kranken Mutter auf Gemeindekosten ernährt wurde! Seit ich auf der Welt bin, habe ich nichts gekannt als Hunger, Spott und Schande –! Das vergißt sich nicht so rasch, wißt Ihr?!“
„Wie er jetzt reden kann!“ riefen die Leute, die gar nicht aus ihrem Erstaunen herauskamen. Denn der unglückliche Mensch hatte früher nur unverständlich lallen können, weil ihm die Nase fehlte und der Luftstrom, ohne sich formen zu lassen, durch die fast dreieckige Oeffnung ging. Deshalb hatten sie ihn auch Alle für eine Art Halbsimpel gehalten und ihn nicht besser behandelt als ein Thier, eher schlechter, denn das Thier brachte ihnen Nutzen, aber die elende Mißgeburt war der Gemeinde nur lästig und zu nichts brauchbar als zum Viehhüten.
„Ist’s denn nur auch der Joseph?“ fragten Einige, denen in ihrer grenzenlosen Verwunderung der Gedanke an eine Mystification aufstieg. Sie fanden Anklang.
„Am Ende ist er’s gar nicht!“ stimmten Mehrere bei. „Am Ende ist’s Einer, den er hergeschickt hat, daß er uns für Narren halte!“
„Freilich bin ich’s,“ sagte Joseph und hielt vor einer baufälligen Hütte an; „fragt nur meine Mutter, die wird’s Euch schon sagen!“
Er trat in die Hütte und der ganze Schwarm, soweit der kleine Raum es gestattete, mit ihm.
Joseph’s Mutter schleppte sich den Eintretenden mühsam entgegen, sie musterte Joseph mit erstaunten neugierigen Blicken und fragte nach seinem Begehr.
„Da seht Ihr’s, er ist’s gar nicht, die eigene Mutter müßte ihn doch kennen,“ schrieen die Zweifler, die immer mehr Anhang fanden.
„Nu warte, Bürschli, – wir wollen Dir das Zumbestenhaben austreiben!“ drohten die Leute und hoben die Fäuste auf.
„Mutter!“ rief der bedrängte Dorfdemetrius. „Müetti, kennt Ihr denn Euren Sohn nicht mehr?“
Da zuckte es über das Gesicht der kranken Frau, ein Erkennen und doch Zweifeln, weil das Erkannte gar zu unbegreiflich war. „Herr Jesus, kann’s denn sein? Du – Ihr – wärt der Joseph? Aber – nein – Ihr, Ihr habt ja eine Nase!“
„Ja, Mutter, ich habe eine – und ich bin doch der Joseph! Glaubt’s nur, gute Mutter! Ich hab’s Euch nicht sagen wollen, wohin ich ging, weil ich ja nicht wissen konnte, ob’s gelingt, und dann hättet Ihr nur neuen Kummer gehabt und das ganze Dorf hätte mich ausgelacht. Ich war in der Stadt, Mutter, und habe mich operiren lassen; schaut her! Da und da könnt Ihr die Narben noch sehen. Glaubt Ihr nun, daß ich’s bin?“
Die Frau hatte jetzt Alles begriffen; aber die Freude, die über das arme, nur an das Elend gewöhnte Weib kam, war zu groß! Sie war einst fast irrsinnig geworden vor Schrecken, als sie die Mißgestalt geboren, und sie hatte das entsetzliche Geschöpf doch treulich als Mutter gesäugt und geliebt. Alle die Mißhandlungen, die es erlitt, jedes Scheltwort und jeder Schrei des Abscheus, der ihm galt, hatte ihr Mutterherz tausendfach zerfleischt, und sie hatte nicht mehr gewagt, sich unter andere Mütter mit „rechten Kindern“ zu stellen, denn sie sahen so verächtlich auf sie und ihr armes Kind herab. Und jetzt, jetzt war das Alles mit Einem Schlage anders, ihr Sohn war aus einem Schreckbild zu einem hübschen Menschen verwandelt, er war kein Ausgestoßener unter den Anderen mehr! Sie konnte es nicht fassen; es wirbelte ihr im Kopfe und flimmerte ihr vor den Augen; und sie fiel Joseph taumelnd in die Arme. „Mein Sohn, – mein Sohn – hat eine Nase!“ war Alles; was sie sagen konnte.
Die Umstehenden waren ganz still geworden, und als ein paar kleine Buben anfangen wollten zu lachen, gaben ihnen die Männer Ohrfeigen.
Die Mutter schluchzte eine Weile wie betäubt an der Brust des wiedergeborenen Sohnes; dann hob sie den Kopf und befühlte leise, leise mit zitterndem Finger die Nase, welche Joseph mit so vielem Stolz sein Eigen nannte.
„Hält sie auch fest?“ fragte sie besorgt.
„Ganz fest, verlaßt Euch drauf, Müetti!“
„Nun, unserm Herrgott sei Dank und dem braven Mann, der Dir geholfen hat!“ sprach sie unter heißen Thränen.
„Ja, Mutter, das ist wirklich ein braver Mann; ich meine, so einen giebt’s nicht zum zweiten Male auf der Welt. Vor sechs Wochen kam er in einem Wagen hier durch, und als er mich sah, ließ er halten und fragte mich, wer ich sei und ob ich mich nicht operiren lassen wolle – er wolle mir eine Nase machen. Ihr könnt Euch denken, daß ich einschlug, und er wollte mich gleich mitnehmen; ich sagte ihm aber, ich müsse zuerst meiner Mutter Adieu sagen, und so folgte ich ihm anderen Tages nach. O – Ihr könnt’s glauben, bei dem Manne ist man wie im Himmel!“
„Wie heißt er?“ riefen die Mutter und die Leute alle zusammen.
„’s ist ein ganz junger Doctor und doch schon so geschickt, er heißt Herr Doctor-Baron von Salten. Er ist erst seit einem Vierteljahr Arzt; aber die Leute sagen, er thue Wunder, und die Leute, die dabei waren, als er mich operirte, haben ihm alle großes Lob gegeben.“
„Hm,“ sagten die Bauern, „was man heutzutage nicht Alles machen kann! Aber Joseph, – was hast denn dafür bezahlen müssen?“
„Nichts, gar nichts!“ sagte Joseph. „Er hat mir noch was dazu gegeben, und er will auf’s Dorf kommen und mit dem Herrn Lehrer und Pfarrer über mich sprechen, wie mir weiter zu helfen sei!“
Die Leute schlugen die Hände zusammen. Aber die alten Weiber draußen vor der Thür schüttelten die Köpfe und flüsterten unter sich: es sei doch eine Sünde, wenn man sein Gesicht anders mache, als der liebe Gott gewollt. Denn wenn der liebe Gott den Joseph habe ohne Nase zur Welt kommen lassen, so habe er wohl gewußt warum, und der Joseph habe da nicht eigenmächtig daran herumpfuschen sollen. Es hatte eine gar eigene Bewandtniß mit dem Joseph, das wußten sie alle. Seine Mutter hatte seinen Vater gegen den Willen ihrer Eltern geheirathet. Es war ein blutarmer Anstreicher von Zürich, und als sie ein halbes Jahr verheirathet waren, fiel der Mann von einem Gerüst herunter und war todt. Die Frau kam in’s Dorf zurück und sechs Monate später gebar sie den Joseph. Dem armen Kinde fehlte die Nase. Das war die Strafe für den Ungehorsam gegen ihre Eltern, und wenn der Joseph jetzt auch in seiner Eitelkeit diese Strafe abgewendet habe, so werde der liebe Gott sie schon wo anders zu packen wissen. – So erzählten sich die alten Weiber, und sie hatten sich so fest in die Fäden ihrer interessanten Unterhaltung eingesponnen, daß sie fast nicht mehr schnell genug auseinanderkamen, als ein herrschaftlicher Wagen vor der Hütte anfuhr.
„Das ist er, das ist der Herr Doctor-Baron!“ rief Joseph und stürzte nach dem Wagen hin, den Schlag zu öffnen.
Wenn ein Fürst angekommen wäre, es hätte nicht mehr Aufsehen erregen können als die Ankunft des Wunderdoctors, der den Leuten nach Belieben andere Gesichter machte. Alles drängte sich heran, grüßte, knixte – Alfred konnte mit seiner Mutter kaum den Fuß aus dem Wagen setzen, ohne auf ein paar Bauernfüße zu treten, die dicht umherstanden. Er schaute sich nach einer Richtung um, von wo Pferdegetrappel erscholl und gleichzeitig die herrliche Gestalten Anna’s und Victor’s hoch zu Roß sichtbar wurden, die in vollem Galopp nachgesprengt kamen. Jetzt fuhren die Leute auseinander und hielten sich in stummer Verwunderung von fern.
„Herr Doctor-Baron,“ sagte Joseph freudestrahlend, „hier ist meine Mutter, die möchte Ihnen gerne auch für meine Nase danken, wenn Sie ’s erlauben.“
Die kranke Frau überschwemmte Alfred’s Hand buchstäblich mit Thränen und Küssen, während Alfred zerstreut auf Anna blickte, die wenig Sinn für dies Schauspiel zeigte und sich angelegentlich mit Victor unterhielt.
„Nun, Mutter,“ flüsterte der junge Doctor Adelheid zu, „ist das nicht ein reicher Lohn für alle Mühe?“
„Ich verstehe Dich, mein Sohn,“ sagte sie gerührt und wandte sich nach Aenny um.
[664] „Fräulein Anna, wollen Sie nicht absteigen und mit uns in die Hütte treten? Sie wünschten doch auch die Wohnung des armen Joseph zu sehen!“
„In Gottes Namen!“ sagte Anna fast ärgerlich, in ihrem Gespräch mit Victor unterbrochen zu sein. Dieser sprang sogleich ab, um ihr zu helfen, und hob sie ohne Weiteres mit starken Armen vom Pferde. Sie lachte und erröthete. Alfred sah ihnen zu, wie sie sich neckten. – Dann wandte er sich bleich, aber ruhig zu seinem ehemaligen Patienten.
Wir in Deutschland sehen, wie aller Orten Liebesgaben für unsere Verwundeten und Kranken im Feld sowohl, als auch für die wackere Armee gesammelt werden, aber wir haben keinen rechten Begriff davon, in welcher Art sie zur Vertheilung kommen, und es wird deshalb dem Leser vielleicht interessant sein, in kurzen Worten die Beschreibung eines solchen Depôts zu erhalten, das, in seiner Mannigfaltigkeit wenigstens, wahrlich nichts zu wünschen übrig läßt.
Courcelles ist ein Hauptort für den Zusammenfluß aller in’s Feld geschickten Waaren, da es gegenwärtig, von Saarbrücken aus, den Endpunkt des Eisenbahnstranges gegen Metz zu bildet. Hier findet man darum auch alle jene Vorräthe, deren Weitertransport nicht bewältigt werden konnte oder wenigstens nicht bewältigt wurde, so daß jetzt Hunderte von Fässern mit gutem Zwieback, Tausende von Säcken mit Mehl, Weizen, Bohnen, Reis, Erbsen, Speck, Rauchfleisch und Gott weiß was sonst, im Freien liegen geblieben sind und dort nicht allein verderben, sondern auch noch mit helfen die Luft zu verpesten.
Und was ist die Ursache dieser furchtbaren Verwüstung? Ich selber kann kein Urtheil darüber fällen, aber wie mir von Leuten gesagt wurde, die recht gut einen Einblick dahinein gewonnen haben konnten, so liegt es all der bureaukratischen Verwaltung der Intendantur einzig und allein. Unter diesen sind eine Menge höherer Beamten, sehr vornehm und sehr klug, aber – nichts weniger als praktisch und dabei außerordentlich vorsichtig keine Verantwortung selber zu übernehmen, die sie sich eben vom Halse halten können. An Fuhrwerken fehlt es nicht – einzelne sind, wie ich aus Erfahrung weiß, immer zu bekommen, und manches Werthvolle hätte gerettet werden können, aber dazu muß der Beamte erst den Befehl geben, ein anderer contrasigniren, ein dritter sein Gutachten abgeben, kurz es sind eine Masse von vollkommen unnützen Weitläufigkeiten nicht etwa nöthig, sondern sie werden verlangt, und darüber verfaulen Güter zum Werthe von Hunderttausenden, die ein praktischer Geschäftsmann, wenn er allein an der Spitze der Verwaltung stand, ohne größere Ausgaben gerettet und dem Heere erhalten hätte. Jetzt fängt man allerdings an Schuppen zu bauen, aber – über die schon halb verfaulten und verdorbenen Waaren, und was wieder gut und frisch ankommt, wird ebenfalls im Regen und auf den feuchten Boden abgeladen.
Doch darüber wollte ich jetzt nicht sprechen, sondern dem Leser eine kurze Schilderung eines der Depôts geben, die von sogenannten „Liebesgaben“ gefüllt und in Stand gehalten werden, und besonders unter der Oberaufsicht der Johanniter stehen. – Das in Courcelles ist das Musterbild eines solchen Waarenlagers im Felde, und wenn mich schon die an der Eisenbahn und den Schienenstrang entlang aufgespeicherten und verdorbenen Waarenvorräthe an das Jahr 1849 in Californien bei San Francisco erinnerten, so paßte dieser große Bretterschuppen mit seinen dort aufgespeicherten bunten und vielfältigen Massen ganz vortrefflich zu dem Bild aus jener Zeit, ja schien sogar unbedingt dazu zu gehören.
Es war in der That nichts weiter als ein Schuppen oder ein großes, aus rohen Brettern zusammengeschlagenes Holzhaus, das sogar mit einigen Fenstern versehen ist. Da drinnen aber sah es und sieht es bunt und wild genug aus, und der ganze, weitgedehnte Raum ist mit Kisten, Fässern, Säcken, Ballen, Paketen, Rollen, Werkzeugen, Blechgefäßen und sonstigen wunderlichen Dingen – die sich später als zum Verbandzeug gehörig herausstellen – angefüllt.
Charpie und Bandagen nehmen dabei den größten Raum ein, und werden trotzdem jetzt wenig verlangt. Dann kommen zahllose Kisten mit Cigarren, von denen freilich ein großer Theil nur zur Desinfection bestimmt scheint, denn man findet Sorten darunter, die den besten Menschen böse machen könnten. Da stehen Blechgefäße für Arm- und Kniebäder, Schienen für alle möglichen Gliedmaßen, Krücken sogar, Kisten mit Instrumenten ganze Wände voll Speckseiten und Schinken, Zwieback, getrocknete Aepfel und Pflaumen, Tonnen mit Häringen, Chocolade, Fässer mit gebranntem Kaffee, Massen von Ueberzügen, wollene Decken, Leibbinden, Matratzen, Stockfisch sogar, Kisten mit Wein und Spirituosen – wenn auch diese in geringem Maße, obgleich die größte Nachfrage danach ist. Seife kann man ebenfalls bekommen, Hemden, Kämme, Streichhölzchen und tausenderlei andere Kleinigkeiten – aber Nichts für Geld.
Ein Mann mit hundert Thalern in der Tasche kann hier mit größter Bequemlichkeit verhungern, wenn er sich nicht Lebensmittel auf andere Weise zu verschaffen weiß. „Armer reisender Handwerksbursche; seit drei Tagen keinen warmen Löffel im Leibe gehabt“ – damit kommt man durch. Wie die Handwerksburschen existirt man hier nur von „Liebesgaben“, und solche Zustände muß man wirklich sehen und sie selber mit durchmachen, um sie zu glauben.
Die Johanniter haben die Oberaufsicht über dieses Depôt, und es ist vielleicht gut, vorher ein Wort über die Johanniter selber zu sagen, die schon in vieler Weise angefeindet und sogar mit dem Namen „Schlachtenbummler“ belegt worden sind.[1]
Thatsache ist, daß die gesunden Officiere und Soldaten ihnen nicht besonders grün sind, weil sie besonders gute und bequeme Quartiere für sich in Anspruch nehmen, keine Noth leiden und in vielen Stücken bevorzugt sind. Die Verwundeten dagegen haben wohl sämmtlich ihren wohlthätigen Einfluß gefühlt, und im Ganzen bin ich fest überzeugt, daß sie viel Gutes gestiftet haben und noch stiften.
Treten wir zum Beispiel[WS 1] in das Depôt von Courcelles, so fällt uns zuerst die kleine schmächtige, in einen grauen Mantel oder Ueberzieher geknüpfte Gestalt eines jungen Mannes mit dem Johanniterkreuz vorn in die Augen, der, mit einer Brieftasche in der Linken, einem Bleistifte in der Rechten, vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit unzerstörbarer Geduld und Gutmüthigkeit dem Andrange der Bittenden oder Hülfsbedürftigen gegenübersteht und jeden Wunsch erfüllt, den er erfüllen kann. Es ist der junge Baron von Cramm, der diesen wahrlich nicht leichten Geschäftszweig unternommen hat und wie ein Commis in einem Waarengeschäft durchführt, nur daß er kein Geld einnimmt oder Rechnungen ausstellt.
Ein Soldat tritt herein – er hat draußen jetzt über drei Wochen im Bivouac gelegen und sieht bleich und abgerissen aus. „Ach, wenn ich Sie um ein Hemd bitte dürfte und vielleicht eine Leibbinde, die Nächte werden sonst gar so kalt draußen.“
Er erhält gar keine Antwort, aber ein freundliches Kopfnicken und einen Zettel, auf dem sein Bedarf als Quittung steht.
„Ach, Herr Baron,“ kommt ein Anderer, „dürfte ich wohl um eine wollene Jacke bitten?“
„Wollene Jacken sind nicht mehr da, aber noch einige paar Strümpfe und Leibbinden – die –“
„Cigarren hätten Sie wohl nicht mehr?“ kommt ein Dritter, „unsere ganze Compagnie hat keine mehr – oder ein Bischen Tabak?“
Er erhält eine ganze Kiste Cigarren und etwas Tabak.
„Bin Lieutenant von So und So,“ stellt sich ein Officier vor, „und bitte um Liebesgaben für das oder das Lazareth.“
„Was brauchen Sie?“
„Ja, was haben Sie?“
„Das, das, das und das und das.“
Ein ganzer Zettel wird jetzt ausgefüllt: Verbandzeug, Kisten
[665][666] Rothwein, Cigarren, Rum, Cognac, Opium, einige Pfeifen, Tabak, Reis, Kaffee, Bohnen. Der Zettel wird einem der Heilgehülfen übergeben; der Wägen hält schon draußen, in einer halben Stunde ist er beladen und rollt seinem Bestimmungsorte, Hülfe und Erquickung bringend, entgegen.
Ununterbrochen geht es so fort, den ganzen Tag. Viele der „Liebesgaben“ waren ursprünglich wohl nur für die Verwundeten und Kranken bestimmt, aber die Gesunden bedürfen ebenfalls dringend der Hülfe, um nicht selber krank zu werden, und wenn der Proviantmeister der Armee den Leuten auch wohl genügende Nahrung schafft, so fehlt es ihnen doch immer an tausend Kleinigkeiten, die den Geist frisch und den Körper gesund halten, und hier ist es denn, wo fast stets die Liebesgaben helfen müssen.
Jetzt kommt ein Bote von den Vorposten herein, die seit Wochen keinen Tropfen Wein gesehen und doch den gefährlichsten und beschwerlichsten Dienst zu verrichten haben. Wollene Strümpfe und Unterjacken werden am meisten verlangt und fehlen leider überall. Die Leute zogen mitten im heißen Sommer aus, und die Nächte werden hier, besonders auf den hohen Hügelrücken, schon recht bitter kalt, und Ruhr und Erkältungen sind dann die Folgen. Er bekommt, was eben entbehrt werden kann, und zieht vergnügt wieder ab.
Aber das nimmt kein Ende, der Andrang dauert fort, die Bedürfnisse scheinen unerschöpflich – nicht so die im Depôt befindlichen Vorräthe. Charpie und Verbandzeug ist allerdings auch zur Genüge vorhanden, aber die „guten Dinge“ gehen auf die Neige. Die letzte Kiste Rothwein muß geschont und darf nur mehr in einzelnen Flaschen ausgegeben werden – Käse und Sardellen vergriffen – ebenso Rum und Cognac. Drei Eisenbahnwaggons mit neuen Liebesgaben sind allerdings schon wieder eingetroffen, aber noch nicht ausgeladen – das kann erst heute Abend geschehen. Ein Bote aus dem Lazarethe kommt und bittet um Erfrischungen.
„Wollen Sie Verbandzeug?“
„Nein, das haben wir im Ueberfluß – aber wenn Sie vielleicht etwas Rothwein –“
„Wenn Sie morgen früh kommen, können Sie Alles bekommen –“
„Und heute gar Nichts mehr?“
„Ja, was wünschen Sie denn?“
„Erfrischungen.“
„Wenn Ihnen mit Heringen oder Speck gedient ist –“
Der Mann zieht ein saueres Gesicht, aber es kann Nichts helfen – er muß bis morgen warten, und morgen verabfolgt ihm Baron Cramm wieder mit der größten Liebenswürdigkeit, was eben die neuen Wagenladungen gebracht haben.
Es mag sein, daß in manchen Fällen diese Vertheilung der Liebesgaben eine mangelhafte ist. Mancher, der es nothwendig braucht, aber nicht bitten will, oder das Depôt nicht erreichen kann, bekommt Nichts, während Andere, mit nutzenbringender Dreistigkeit, doppelte und dreifache Rationen ziehen, aber das läßt sich eben nicht ändern; vollkommen ist Nichts auf der Welt, und Mißbräuche werden überall und stets stattfinden wie und wo man auch immer die Gaben vertheilen würde.
Aber die Johanniter haben auch noch andere Branchen ihrer Thätigkeit, besonders in der Lazarethpflege, und wenn ich auch zugeben will, daß manche Beschwerden gegründet sein mögen, daß Einzelne von ihnen vielleicht mehr dem Romantischen als dem Praktischen ihrer Aufgabe leben, im Ganzen haben sie doch viel Gutes gestiftet und stiften es noch. In Courcelles z. B. hörte ich überall nur das Lob der verschiedenen Herren dieses Ordens und sah auch später in Carny viele von ihnen in scharfer Thätigkeit.
Aber die Johanniter nicht allein sind in diesen Depôts in Thätigkeit. Die härteste und schwerste Arbeit, der sie aber mit aufopfernder Thätigkeit obliegen, zeigen viele Herren der freiwilligen Krankenpflege, die wahrlich die weiße Binde mit dem Kreuz nicht blos zum Staat tragen und in unermüdlicher Weise – als einzigen Lohn das Bewußtsein ein gutes Werk zu thun, schaffen und wirthschaften. Es ist wahrhaftig keine Kleinigkeit, die eintreffenden Waaren, die manchmal zahlreiche Eisenbahnwaggons füllen, in Empfang zu nehmen, zu sortiren, wegzustauen, zahllose Kisten aufzuschlagen, nachher zu wissen, wo Alles steht, und dann die einzelnen Güter auszutheilen. Da muß von Morgens bis Abends schwer geschafft werden, und wenn man die Herren dann in abgeschabten, oft zerrissenen oder beschmutzten Röcken im Schweiß ihres Angesichts wie Tagelöhner arbeiten sieht, so glaubt man wahrlich nicht, daß man es hier mit einem reichen Gutsbesitzer, dort mit einem Doctor der Rechte, hier mit einem promovirten Arzt zu thun hat, den nur allein die Liebe zum Vaterlande und seinen Söhnen heraus aus seiner behaglichen Häuslichkeit in dieses Wirrsal der verschiedensten Elemente trieb. Das ist wirkliche und wahre Aufopferung für die gute Sache.
Und dazwischen treffen fortwährend neue Sendungen mit Privatbegleitung ein, die entweder für bestimmte Truppenteile, für die allgemeinen Depôts der Johanniter, oder auch dazu abgesandt sind, um durch ihre Führer selbstständig an Lazarethe oder sonstige Hülfsbedürftige vertheilt zu werden. Zu den letzteren gehörten verschiedene Waggonladungen, welche der Barmer Hülfsverein herausgesandt hatte, und bei diesen traf ich den wackeren Emil Rittershaus, der im Schweiße seines Angesichts wirthschaftete und ordnete, und dann seine Tour um ganz Metz herum antrat, um seine Liebesgaben an die verschiedenen Lazarethe zu vertheilen.
Sehr gewünscht von den leicht Verwundeten sind dabei besonders Bücher und illustrirte Zeitschriften, und mit Jubel oder mattem zufriedenen Lächeln wird oft eine solche Gabe von ihnen begrüßt. Ob es aber nicht ein Mißbrauch der Güterbeförderung für Erquickung der Verwundeten ist, wenn der Barmer Missionsverein drei Wagenladungen voll Tractätchen mitschickt und von den Depôts verlangt, sie zu lagern und auch wohl noch zu vertheilen, will ich dahingestellt sein lassen.
Eines dieser Tractätchen liegt hier vor mir: „Die Macht der Gnade“, und ist die Schilderung eines braven, guten Jungen, der außerordentlich fleißig und gut war, wie besonders hervorgehoben wird, aber – in keine Kirche ging und nicht betete. Da wird er krank, das Bewußtsein seiner schweren Sünde kommt über ihn, er ist in Verzweiflung und klagt sich mit wilden Worten selber an, bis er dicht vor seinem Tode – und seine Qualen sind mit peinlicher Genauigkeit beschrieben – endlich fühlt, daß Gott ihm seiner Reue halber verziehen hat. Der Schluß lautet dann wörtlich:
„Am Abend endlich ließ der Kranke es zu, daß der Arzt kam. Er erschien und erklärte, der Zustand sei höchst bedenklich. Eine Gehirnentzündung sei im furchtbarsten Maße ausgebrochen. Augenblicklich verschrieb er zwanzig Blutegel. Der Knabe bat nun, man möge sie ihm setzen. Es geschah. Kaum war’s vollbracht, so fiel er in Phantasieen. Sein Bewußtsein war verloren und kehrte nicht wieder zurück. Er starb am Freitag Abend.“
Und mit solchem Schund gedenkt man die verwundeten Soldaten aufzuheitern und zu erbauen!
Ich will nicht leugnen, daß bei der ganzen Masse auch einige bessere Sachen sind, aber wie tief auch ein wirklich religiöses Gemüth dem Menschen wünschenswerth ist, so bewahre uns doch Gott vor den sogenannten „frommen“ Salbadereien und ihrem Gewäsch.
So bilden diese Depôts den Centralpunkt, an den fast sämmtliche Gaben abgeliefert und von welchem aus sie wieder vertheilt werden. Sie sind nicht allein Stützen der verschiedenen Lazarethe, sondern sogar selber den gesunden Soldaten unentbehrlich geworden. Die Militärverwaltung ist nicht im Stande, für ausnahmsweise Bedürfnisse zu sorgen, die unter solchen Verhältnissen vorkommen, sie kann nur das große Ganze im Auge haben – hier aber helfen die von Deutschland abgesandten Liebesgaben aus, und gar manche unserer wackeren Streiter sind gesund geblieben, weil sie zur rechten Zeit eine Hülfe aus dem Depôt an Stärkungen wie ganz besonders an wollenen Sachen erhalten konnten.
[667]Opfer des Fanatismus. Bis jetzt haben wir gegen die französische Armee Krieg geführt, nun werden wir gegen den Fanatismus, gegen die Volksleidenschaft, gegen den Haß unsere Waffen kehren müssen. Der französische Soldat wurde gefangen, besiegt, nun aber müssen diese neuen Feinde, welche auf unsere als Patrouillen oder Ordonnanzen die Straße ziehenden Truppen mit meuchlerischer Kugel lauern, bekämpft und vernichtet werden.
Vor ungefähr zwei Wochen wurden zwei Officiere des zwölften Dragonerregiments, zwei Brandenburger, abgeschickt, um die Verbindung mit dem Kronprinzen von Sachsen aufzusuchen. Zur Begleitung hatten sie vier Dragoner ihres Regiments. Die Officiere waren Graf Haslingen und von Tauentzien, der dritte Nachkomme der großen Generale des siebenjährigen Krieges und der Freiheitskriege, Beide zwei frische, kühne Reiter, zu jedem Wagniß aufgelegt, vor keiner Gefahr zurückschreckend, Gott die Ehre gebend und dem Teufel sein gebührend Theil, aller Welt vertrauend, am meisten einem tüchtigen Gaul, in der ganzen Armee gekannt und geliebt. Sie hatten den Auftrag bekommen, die Festung Verdun zur Seite liegen zu lassen, die Maas zu passiren und von da retour in der Richtung nach Nordwest weiter vorzugehen. Sie setzten bei Bras über die Maas und kamen nach Herny am jenseitigen Ufer. Dort waren keine preußischen Truppen. Die Officiere fragten nach dem Maire; man wies sie zu demselben. In einem Garten, der von der Straße durch ein Stacket abgeschlossen war, lag ein stattliches Haus, an welches im rechten Winkel ein Flügel angebaut war, der bis an die Straße ging und dort einen Ausgang hatte; der Eingang in die Wohnung des Maire’s war durch die Gartenthür und von da durch die Thür des Hauptgebäudes; aus demselben kam den beiden jungen Leuten ein ältlicher freundlicher Mann entgegen, welcher sich ihnen als der Maire des Ortes vorstellte.
Der kleine Mann erwies sich freundlich gegen die Preußen, die nichts von ihm verlangten, als ein einfaches Mittagsmahl. Diesem Verlangen wurde vom Seiten des Vorstandes der Gemeinde auf das Bereitwilligste entsprochen. Die jungen Officiere hatten ihren Leuten den Befehl gegeben sich beim Maire ebenfalls zu essen geben und dann den Pferden in der Schmiede am Ende des Dorfes neue Eisen auflegen zu lassen; sie selbst versäumten nicht, zu ihrem Diner auch ihren Wirth zu laden. Sie hatten einen langen und scharfen Ritt gemacht und einen tüchtigen Hunger mitgebracht; es schmeckte ihnen vortrefflich. Wer konnte ihnen sagen, wann sie wieder zu einer solchen Stunde ruhigen, behaglichen Genusses kommen sollten? Nach dem Dessert wurde der Kaffee servirt. Sie hatten sich eine Cigarre angezündet und kamen mit ihrem Wirthe in’s Plaudern. Der Mann war Oekonom oder Cultivateur, wie es in Frankreich heißt. Sie erzählten ihm von daheim, von ihren heimischen Sitten, von der Art und Weise, wie dort die Landwirthschaft getrieben würde zum Unterschiede von der Art der Felderbebauung, die ihnen hier zu Lande aufgefallen sei; ob sie auch, wie Alle, die von Bodenbewirthschaftung etwas verstehen, davon sprachen, daß das gepriesene Culturland Frankreich darin noch weit gegen Deutschland zurück sei? Genug, beim behaglichen Mittagsessen, beim Duft der Cigarren war ihnen das Herz aufgegangen, und sie dachten gewiß nun auch an die Ihrigen, die vielleicht um dieselbe Stunde um den traulichen Familientisch saßen und von den geliebten Familiensöhnen, die fern im Feindeslande, sich unterhielten. Die Liebe und die Herzen haben so ihre Fühlungen und Verbindungen über Berg und Thal, den Wolken und den Lüften voraus. Da werden die Officiere durch laute Stimmen von der Straße her aus ihrer behaglichen Tischstimmung aufgeweckt – sie springen auf, an das Fenster und sehen draußen einen bewaffneten Haufen in den Garten eindringen. Nach der Kleidung, der Bewaffnung mußten es Franctireurs sein, Freischützen, Genossen jener zügellosen, nichtuniformirten Haufen, welche meuchlerisch aus dem Hinterhalte auf den deutschen Soldaten schießen und darum auch von der preußischen Regierung nicht als Kriegführende anerkannt worden sind, sondern, wenn sie in die Hände der der deutschen Truppen fallen, als Mörder verurtheilt und niedergeschossen werden.
Als solche Freischützen erkannte auch der Maire die Herannahenden. „Retten Sie sich!“ rief er den jungen Leuten zu, die vielleicht ebenso durch ihr liebenswürdiges, offenes und frisches Wesen sich seine Sympathie erworben haben mochten, als er sich der Verantwortung klar sein mußte, die ein Ueberfall in seinem Hause nach sich zöge; die Franctireurs kamen durch zu Garten auf das Haus zu.
„Sie sollen uns finden, wir werden unserer Haut uns wehren,“ riefen die Officiere, zu den Säbeln und Revolvern greifend. „Sie sollen nur kommen.“
„Sie sind etwa in zehnfacher Uebermacht,“ erwiderte Maire.
„Wir werden dennoch mit ihnen fertig werden.“
„Suchen sie wenigstens zu Ihrer Mannschaft zu kommen. Einige Augenblicke noch und sie werden hier im Zimmer sein. Hier“ – damit öffnete er eine Seitenthür – „dieser Ausgang führt in das Flügelgebäude – dort können Sie den Ausgang nach der Straße und die Verbindung mit ihren Leuten finden – aber nur schnell – um’s Himmelswillen schnell!“
Unterdeß waren die Franctireurs durch den Haupteingang bereits in das Haus eingedrungen und die Preußen durcheilten das Seitengebäude, nur von dort aus auf die Straße zu gelangen. Sie fanden auch richtig, den Ausgang, aber als sie die Thür öffneten, knallten ihnen schon Schüsse entgegen. Die Franctireurs hatten auch den Ausgang des Seitengebäudes besetzt und wollten durch denselben den Ueberfallenen nachdringen. Aber diese fanden noch Zeit, die Thür zu verrammeln, und zogen sich dann zurück, um durch eine kleine Pforte in einen kleinen Garten hinter dem Hause ihren Verfolgern zu entkommen. Dieser Garten hatte eine Mauer die nicht zu hoch war, als daß ein Mann sie überklettern konnte. Ebenso schnell waren aber auch die Angreifenden durch das Hauptgebäude in den Garten vorgedrungen und hier kam es zum blutigen Handgemenge. Die beiden tapferen Officiere wehrten sich, in der einen Hand den Säbel, in der andern den Revolver, wie die Löwen gegen die Franctireurs, deren wenigstens fünfundzwanzig waren. Ihre letzte Hoffnung mochte die auf ihre Leute sein, welche durch den Lärm der Schüsse zur Hülfe herbeigerufen werden mußten.
In dieser Zuversicht wurde im Garten des Maires der Kampf der Verzweiflung fortgeführt – die Officiere wollten sich den Ueberfallenden, die wie gesagt, nach ihrer Auffassung keine Soldaten waren, nicht ergeben, und diese waren nach ihrer Beute gierig, wie der Tiger nach einem edeln Wilde. Mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, kämpften die Officiere den Kampf um ihr junges Leben, aber schon fallen von ihrer Seite keine Schüsse mehr – sie wehren sich nur noch mit ihren blanken Säbeln, und die Mannschaften kommen noch immer nicht! Da erhält von Tauentzien einen Schuß unten von der Kinnlade in den Kopf – er sinkt sterbend zusammen. Die Franctireurs fallen über ihre Beute her und diesen Augenblick erfaßt Graf Haslingen, um sich über die Mauer zu retten. Er klettert schnell empor; er kommt glücklich auf dem Rande derselben an – da treffen auch ihn drei Schüsse und entseelt fällt der Körper wieder in den Garten hernieder, dicht neben die Leiche des Jugendgefährten, des Freundes, des treuen Cameraden im Leben wie im Tode.
Von dem Hause des Maires zogen die Franctireurs nach der Schmiede. Dort waren zu gleicher Zeit mit den Officieren die Dragoner von den mit Knütteln bewaffneten Dorfbewohnern angefallen und zweien von ihnen Schlingen um den Hals geworfen worden; der eine aber hatte sich von derselben wieder losgemacht und hieb mit seinem Säbel wacker um sich, bis er und sein Camerad mit denselben Klingen, welche den zwei anderen Dragonern im Sinken und Sterben unter den Schlägen der wüthenden Cannibalen entglitten waren, Hiebe über die Köpfe erhielten, welche sie niederstreckten und ihnen die Besinnung raubten.
In diesem Augenblicke trafen die Franctireurs ein. Faßt sie ein menschliches Rühren und hat sie die erste Blutthat so entsetzt – oder was ist es sonst, daß sie die fast Sterbenden den Händen ihrer Landsleute entreißen und in Sicherheit bringen? Genug, es geschieht. Die beiden Dragoner sind allein dem Gemetzel entkommen und befinden sich wieder beim Regimente. Nach ihrer Aussage sind die Franctireurs von den Einwohnern herbeigerufen worden.
Einige Tage darauf ritt abermals ein preußischer Officier desselben Regiments, von welchem die Gefallenen waren, v. Schulenburg, des Weges nach Verdun. Er hatte von dem Höchstcommandirenden, Prinzen Friedrich Karl, den Auftrag erhalten, über den schrecklichen Vorfall genaue Erkundigung einzuziehen. Es war gemeldet worden, daß die Leichen der Preußen in Verdun begraben worden waren. Den Wällen sich nahend, steckte er das Parlamentärzeichen, die weiße Fahne, auf. Mit verbundenen Augen wurde er in die Festung vor den Commandanten derselben geführt, des ihm gewordenen Auftrags sich entledigend. Durch den Commandanten erfuhr er den Hergang der Sache mit allen Einzelheiten, wie ich ihn berichtet habe. Die einzige Quelle war der Maire von Herny. Der Commandant händigte dem preußischen Officier auch Uhr und Werthsachen der Gefallenen aus und ließ ihn dann an deren Gräber führen. Dieselben waren den beiden Cameraden zwischen den Wällen der Festung gegeben worden unter hohen, alten, rauschenden Bäumen. Kränze lagen auf den Erdhügeln, und Holzkreuze trugen Namen und Charge der da Ruhenden mit dem Datum des Todestages und dem Beisatze: „tué à l’ennemi“.
„Ich habe Ihre tapferen Cameraden, mein Herr,“ hatte der Commandant zum Abschiede Herrn von Schulenburg gesagt, „mit allen militärischen Ehren begraben lassen. Wer kämpfend stirbt und sterbend noch kämpft, wie diese beiden jungen Helden, der ist der höchsten Ehre voll und werth und an dessen Grabe senke ich meinen Degen!“
Pont à Mousson, 18. Septbr. 1870.
„Die Wacht am Rhein“ befindet sich gewiß, schön oder schlecht gedruckt, bereits in Aller Händen. Trotzdem dürfen wir hoffen, daß unsere Leser den in der heutigen Nummer enthaltenen ganz genauen Ueberdruck der Abschrift, in welcher Max Schneckenburger das Gedicht einem seiner Freunde mitgetheilt hat, mit größtem Interesse aufnehmen werden. Der Brief, mit welchem der Dichter seine Zusendung begleitete, ist vom achten December 1840 datirt und uns gleichfalls im Original vorgelegen.
Außerdem geben wir das nachstehende Gedicht als Probe aus den demnächst bei Metzler in Stuttgart erscheinenden „deutschen Liedern“ von Max Schneckenburger:
Wenn ich einmal sterben werde
Weit von meinem Vaterland,
Legt mich nicht in fremde Erde,
Bringt mich nach dem heim’schen Strand.
Einzig dir, Germania,
Drum, wenn einst mein Leib vermodert,
Sei mein Staub den Vätern nah.
Wenn die Nebel dann zergehen
Laß, o Gott, ihn auferstehen.
Meinen Schatten still und bleich:
Daß er seinen Blick erlabe
An dem herrlichen Gesicht,
Harrend auf das Weltgericht!
- ↑ Haben wir selbst gethan, aber geben ebensogern einer andern Meinung Raum. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Beispeil