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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[465]

No. 30. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Thurmschwalbe.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)
7.

Fräulein Melusine de la Tour de Bussières saß am andern Morgen in ihrem Zimmer schon wieder bei der Arbeit, welche sie jetzt mit so viel Muße fördern konnte, während ihr Vater sich eben wieder nach oben in die Bibliothek begeben hatte. Da öffnete sich leise die Thür und ein sehr einfach gekleidetes junges Mädchen trat herein, das aber so auffallend hübsch war, daß Melusine überrascht sie anschaute.

„Kennen Sie mich nicht?“ sagte sie. „Ich habe Sie doch im Kahn über den Graben geschifft, vorgestern Abend?!“

„Gewiß, gewiß, ich erkenne Sie, mein Kind,“ versetzte Melusine, „aber ich hatte da nicht wahrgenommen, daß Sie so merkwürdig hübsch sind.“

„Nicht? Das sieht man doch sonst bald!“ gab die Thurmschwalbe mit dem unbefangensten Ernste zur Antwort.

„Sie haben Recht,“ versetzte Melusine ein wenig verwundert über diese Offenheit. „Es kam,“ setzte sie hinzu, „ich war zerstreut, besorgt um die Aufnahme, welche wir hier finden würden.“

„Und jetzt sind Sie beruhigt …“

„Sicherlich. Der Graf hat uns sehr gütig aufgenommen …“

„Und die Mutter sendet mich,“ fiel die Thurmschwalbe ein, „damit ich mich Ihnen als Gesellschafterin oder als Ihre Zofe anbiete, wenn Sie wollen. Die Mutter sagt, Sie bedürften gewiß eines weiblichen Beistandes, und unsere Mägde in der Küche sind viel zu plump, als daß sie sie Ihnen zusenden dürfte; sie verstehen gar nichts. Ich kann sehr schön coiffiren, die Mutter hat es mich gelehrt.“

„Das ist gar zu viel Güte. Wie könnte ich sie annehmen!“

„O, nehmen Sie sie immerhin an – Sie thun der Mutter einen Gefallen damit.“

„Einen Gefallen?“

„Die Mutter wünscht, daß ich mit Ihnen plaudere; vielleicht denkt sie, das bildet mich; sie sagt, ich soll ganz offen mit Ihnen reden und Ihnen Alles erzählen, was ich weiß. Sie sagt, Sie würden gewiß nach unserm Herrn Grafen fragen, und da soll ich Ihnen Alles erzählen.“ …

Melusine sah das junge Mädchen wieder überrascht an. Das Geplauder derselben schien fast anzudeuten, daß sie in der Wirthschafterin des Grafen, der Frau Wehrangel – so hatte sie sie ja wohl nennen hören, wiedergesehen hatte sie sie noch nicht – eine heimliche Bundesgenossin habe. War die Frau ihrem jungen Gebieter feind, und sandte sie ihr, um sich selbst nicht zu compromittiren, die Tochter als Vermittlerin?

„Sie sehen mich so verwundert an? Nun ja, mich wundert’s auch, denn die Mutter ist, besonders gegen Fremde, die Verschlossenheit selbst. Auch sogar gegen mich. Glauben Sie“ – Annette ging, sich einen Stuhl heranzuziehen und setzte sich darauf Melusinen gegenüber – „glauben Sie, daß ich von ihr gar nicht unsere eigenen Familienangelegenheiten herausbringen kann, zum Beispiel ob mein Vater noch lebt oder nicht? Und das gehört doch dazu. Aber unmöglich! Bald spricht sie so, bald so darüber ... das heißt eigentlich spricht sie nie darüber. Soll ich Ihnen Wäsche mit nach unten nehmen? es wird morgen gewaschen!“

„Ich danke Ihnen … Sie sind sehr freundlich, aber alle solche Arbeit habe ich bisher für mich selbst thun müssen …“

„Nun, das schadet nicht – wollen Sie nicht böse sein, wenn ich Ihnen sage, wie ich darüber denke? Sie haben es gewiß gern gethan, und was die Andern angeht, diese vornehmen und hoffährtigen Leute, diese hochgeborenen Damen, die nicht wußten, wie man einen einfachen Saum näht und eine Nestel zuhakt, so ist ihnen das ganz wohlthätig, daß sie ein wenig gedemüthigt sind und gemerkt haben, daß brave Menschen, die etwas können und leisten und auf sich selber stehen, viel mehr Grund haben, stolz zu sein, als so alberne, hülflose Geschöpfe, die zu träge und zu verwöhnt waren, etwas zu lernen.“

„Haben Sie das auch von Ihrer Mutter gehört?“ fragte Melusine, ein wenig verletzt, wie es schien.

„Nein, vom Caplan.“

„Ist das solch ein Jacobiner, ein Caplan?“

„Nein, der Caplan ist gar kein Jacobiner,“ fiel lebhaft die Thurmschwalbe ein; „er ist aber sehr, sehr klug, obwohl er noch recht jung und eigentlich,“ lachte die Thurmschwalbe plötzlich auf, „auch noch recht gründlich einfältig ist. Man kann ihn so hübsch necken. Er glaubt Alles, was man ihm sagt, und man kann ihn so rasch mit einem einzigen Worte in Verzweiflung setzen – o, es ist gar zu verführerisch!“

„Und thun Sie das oft?“

„Ach nein – früher zuweilen, aber nun, wo der böse Pastor da ist, der ein so durchtriebener abgefeimter Mensch ist, nun nicht mehr, denn nun müssen wir zusammenhalten gegen den – um ihn nicht aufkommen zu lassen mit all’ seinem schlimmen und abscheulichen Gerede; und das ist oft nicht leicht, gar nicht leicht, der [466] Caplan und ich haben oft unsre liebe Last mit dem Bösewicht …“

„Aber der Pfarrer, der uns herbrachte – Sie meinen doch den nicht?“

„Nein, nein, nicht den – das ist ein gar ernster und strenger Herr, der Herr Pfarrer – den Pastor, so nennen wir den hier, den man von seiner Pfarre abgesetzt hat, um hier bei unserm Pfarrer sich zu bessern.“

„Und der junge Caplan und Sie arbeiten zusammen an diesem Besserungswerk?“

Die Thurmschwalbe lachte.

„Nein,“ sagte sie, „wir vertheidigen uns nur zusammen gegen seine Angriffe, seine böse Zunge. Bekehren können wir den doch nicht mehr – selbst der Herr Pfarrer, glaub’ ich, hat’s aufgegeben. Aber ich störe Sie wohl mit meinem Geplauder?“

„Nicht doch, nicht doch! Was könnte mir angenehmer sein, als mir von Ihnen erzählen zu lassen.“

„Sie sich von mir?“ lachte Annette. „Ich, ich habe gar nichts zu erzählen; ich habe nichts erlebt, nichts gesehen, nichts erfahren; Aber Sie, Sie, Fräulein, was müssen Sie Alles schon erlebt und gesehen haben!“

„Manches, mein Kind – erzählt ist’s dennoch rasch. Ich war eben confirmirt, als wir flohen, emigrirten. Wir zogen nach Coblenz – von dort mußten wir weiter in’s Innere Deutschlands fliehen. Seitdem haben wir mehrere Städte bewohnt – haben uns immer weiter gen Norden begeben, nach Hamburg, nach Ploen …“

„Ploen – das habe ich kaum je nennen hören, wie weit muß das sein!“ unterbrach sie Annette.

„Es ist weit im Norden von Deutschland, und im Winter schon sehr rauh und kalt. Der Wind von der Ostsee herüber stürmte oft entsetzlich um unser schwaches, aus Fachwerk gebautes Haus.“

„Und Sie haben wohl viel gelitten da? Man spricht oft davon, wie viel die armen Emigranten auszustehen hatten!“

„Gewiß!“ sagte Melusine ernst, „sehr viel! Es waren ihrer nicht weniger als vierzigtausend, die arm und ohne Hülfsmittel über Deutschland, Holland und die Schweiz zerstreut waren. Eine edle und mit einigen Hülfsquellen versehene Frau unter ihnen hat Vielen beigestanden, sonst wären ihrer noch viel mehr untergegangen.“

„Wer ist die Frau?“

„Die Marquise von Montagu, die Schwägerin Lafayette’s, von dem Sie gehört haben werden.“

„Gewiß,“ nickte die Thurmschwalbe, „er sei ein edler freisinniger Mann, sagt der Caplan.“

„Die Marquise, die auf einem Gute bei Ploen wohnte,“ fuhr Melusine zu erzählen fort, „hatte eine ‚Oeuvre des Emigrés‘ gestiftet; ein edler deutscher Herr, ein Graf Stolberg, der durch ihre Frömmigkeit und ihren christlichen Eifer gerührt ist, hatte sich ihr angeschlossen und sie unterstützt …“

„Stolberg?“ sagte Annette wie nachsinnend, „ich glaube, der Pfarrer erzählte, er sei katholisch geworden, und der Pastor bemerkte dazu, der Herr Jesus sage bei Lucas: ‚wandert nicht von einem Hause in das andre‘.“

„Es scheint in der That ein seltsamer Heiliger, dieser Pastor,“ entgegnete Melusine mit strengem Ausdrucke. „Aber lassen wir ihn – ich wollte Ihnen von den Emigranten erzählen und der rastlosen Thätigkeit der Marquise de Montagu und ihres Hauses, der Noailles, um uns Alle über dem Wasser zu erhalten, bis die Stunde der Befreiung für Viele wenigstens, die nicht auf der fremden Erde untergegangen, schlug – bis man in Frankreich anfing, Einzelne und dann immer Mehrere von der Liste der Emigranten zu streichen oder ihnen wenigstens, wie uns, eine ‚Surveillance‘ zu gewähren, eine Erlaubniß, unter Polizeiaufsicht in Frankreich zu sein.“

„Ach, Sie sollten nicht heimkehren in das böse Land, wo so viel Blut geflossen ist. Wir leben so ruhig hier, Sie sollten bleiben. Vor einigen Jahren war auch hier Krieg. Preußen zogen durch – auf allen Straßen. Und dann kamen sie zurück, aber sie sahen gar nicht mehr gut aus. Und Franzosen kamen auch – ganz andere als die, welche jetzt im Lande sind, viel, viel häßlicher, zerrissener und wilder. Sie stahlen auch, sie stahlen Gänse von den Weiden und nahmen auch Rinder fort. Sie hatten Katzen bei sich, bei einem Trupp einen große Hahn, der vorauf lief. Denken Sie! Er war braun mit einem ganz goldenen Halse. Nein, bleiben Sie hier, die Polizei wird Ihnen ganz gewiß böse Dinge zufügen, wenn Sie in Frankreich zurück sind. Der Graf ist lange nicht so schlimm, wie die Mutter ihn macht; wenn sie mir von ihm redet – obwohl …“

„Obwohl? … plaudern Sie weiter, liebes Kind,“ sagte Melusine aufhorchend.

„Er ist doch schlimm!“ hauchte ihr im Flüsterton Annette über den Tisch zu.

„Nun? Weshalb?“

„Ja, sehen Sie – ich weiß es nicht – aber die Mutter hat es mir erzählt – mir thut er nichts, er kümmert sich nicht einmal um mich – aber die Mutter sagt, er habe schon drei Menschen umgebracht. Aber“ – Annette legte den Finger auf den Mund – „aber es darf es Niemand erfahren!“

Melusine sah sie an mit der Miene der unverhohlensten Ueberraschung – des Erschreckens; dann aber sagte sie achselzuckend:

„Ah bah – das ist thöricht, solche Dinge zu sagen; nein, es ist sündhaft, sie Jemandem nachzusagen, wenn man die Beweise nicht hat. Einen Mörder straft man und läßt ihn nicht auf freien Füßen einhergehen. Es ist nicht möglich, es ist gewiß Verleumdung. Sprechen Sie, wie sollte das wahr sein können?“

Die Thurmschwalbe warf ein wenig schmollend die Lippen auf, wie etwas von Trotz zitterte in ihren sich leicht blähenden feinen Nasenflügeln. Hatte es sie beleidigt, daß die Fremde das, was sie ihr anvertraut, Verleumdung nannte? Oder war es nicht ironisch, sondern aufrichtig gemeint, als sie antwortete:

„Wenn es Verleumdung und sündhaft ist, so etwas zu sagen, so will ich’s lieber zurücknehmen – denn Beweise habe ich freilich nicht, wie sollt’ ich auch, und die Mutter hat sie sicherlich auch nicht in ihrem Eckspind, so sorglich sie auch immer verschließt, was sie da drin hat. Sprechen wir von Anderem. Erzählen Sie mir mehr von sich, von den Emigranten – wenn Sie nun heimkommen, ziehen Sie dann in Ihre alten Häuser und Schlösser wieder ein, und kommen die Leute, die ehemals Ihre Unterthanen waren, und bringen Alles zurück, was sie Ihnen abgenommen haben? Ich hätte gar nicht das Herz hinzugehn und zu sagen: ‚da bin ich wieder und nun langt einmal Alle heraus, was mir früher gehört hat!‘“

„Die Heimgekehrten erhalten zurück, was nicht von der Regierung verkauft und veräußert ist; was veräußert ist, bleibt ihnen entfremdet, falls nicht die Ankäufer so ehrlich sind, es ihnen gegen den Ersatz der geringen Summe, die sie auf den Ankauf gewandt haben, zurückzugeben. Viele treue Seelen haben sie auch nur in der Absicht gekauft, sie den wahren Eigenthümern zurückzuerstatten. Sehr oft haben sich alte anhängliche Diener gefunden, die wenigstens die fahrende Habe, die Meubel und alles Aehnliche im Stillen auf die Seite gebracht haben, um es uns zurückzugeben, und die Briefe der meisten Heimgekehrten, welche wir gelesen haben, zeigen neben der Trauer über das, was sie von ihrer alten Existenz zerstört gefunden, auch die Freude über so viel rührende Züge der Treue …“

„Ach,“ sagte die Thurmschwalbe, „ich würde doch nie in ein so schreckliches Land, wo man so viel geköpft hat, zurückkehren. Mit Menschen umzugehen, die bei solchen Schrecklichkeiten geholfen, mitgewirkt, die selbst wohl Blut an ihren Händen haben, bei Jedem, der Ihnen begegnen wird, fragen zu müssen: ‚bist auch Du Einer von denen, welche mordeten?‘ nein, nein, das wäre ja entsetzlich, ich hielte es da nicht aus.“

„Mein liebes Kind,“ antwortete Melusine mit einem scharfen wie forschenden Blick, „Sie halten es hier sehr gut im Schlosse aus, und sagen mir doch, der Herr dieses Schlosses habe selbst drei Menschen …“

„O, ich will es auch nicht wieder sagen, niemals!“ rief die Thurmschwalbe aus.

„Aendert das die Sache?“

Annette antwortete nicht – sie glaubte wohl, mit der Erwiderung, womit sie weiteren Mittheilungen ausgewichen, genügt zu haben, wenn diese Antwort auch nicht sehr logisch war. Melusine gelang es auch nicht, so sehr sie es wünschte und so oft sie einen Versuch machte, Annette auf dieses Thema zurückzubringen. War das junge Mädchen so einfältig, oder war es so schlau? – Es stand auf, um wieder zu gehen.

„Also heute wollen Sie mir nichts auftragen, keinen Dienst von mir annehmen? Aber gewiß haben Sie morgen etwas gefunden, [467] worin ich Ihnen nützlich sein kann. Ich komme morgen wieder zu Ihnen, Fräulein; nicht wahr, ich darf ja?“

„O, gewiß wird es mich freuen.“

„Und wenn es Ihnen lästig wird, so lange deutsch zu reden, ich rede auch französisch.“

„In der That?“

„Freilich – aber sehr schlecht. Meine Mutter hat es mich gelehrt – schon früher, bevor noch Ihre Landsleute kamen und es nun alle Welt hier lernen muß. Sie reden so geläufig deutsch!“

„Das ist kein Wunder – ich bin in Deutschland aufgewachsen.“

„Finden Sie, daß der Graf gut französisch redet?“

„Sehr fließend, aber nicht correct – das müssen Sie selbst oft gehört haben!“

„O nicht doch – er redet nie mit mir; er erwidert meinen Gruß, er sieht mir, wenn ich an ihm vorübergehe, wohl nach – dann aber kümmert er sich nicht weiter um mich, und wenn er mich wieder sieht, macht er dasselbe verwunderte Gesicht, als sähe er mich zum ersten Male in seinem Leben. So ist er überhaupt – so zerstreut; neulich sah ich ihn, wie er vom Felde herkam, und als er auf den Hof trat, blieb er plötzlich stehen, erhob langsam wie verwundert das Gesicht und sah das Schloß an, als ob er es in seinem Leben nicht gesehen habe. Oft denk’ ich, er ist nicht recht gescheidt! – er will die ganze Bibliothek durchlesen, Joseph muß ihm jeden Abend einen Arm voll Bücher herunterholen – aber wissen Sie, wie er es macht? er sieht von dreien oder vieren den Titel an, dann schiebt er mit Verwünschungen den ganzen Haufen von sich und Joseph kann sie wieder fortbringen; er legt sich in den Sessel zurück und raucht und starrt die Decke an – so studirt er die ganze Bibliothek durch! Nicht wahr – dabei wird er klüger werden?“

Die Thurmschwalbe lachte laut.

„Und verkehrt der Graf nicht mit dem Herrn Pfarrer oder Ihrem Herrn Caplan?“

Annette schüttelte blos den Kopf. „Mit dem Caplan?“ sagte sie dann das Näschen rümpfend, „dem, sehen Sie, dem verböt’ ich’s nun geradezu – der würde gewiß nur recht garstige Reden und schlechte Dinge von ihm lernen! Aber wie ich wieder in’s Plaudern gerathe; und gewiß bin ich Ihnen schon längst lästig geworden! Adieu, adieu – bis morgen, nicht wahr? Adieu!“

Und damit war die Thurmschwalbe davongeflattert, ehe Melusine nur hatte antworten können, daß sie sie morgen gern wiedersehen werde.

Melusine sah ihr sinnend nach, an alles das denkend, was sie ihr in ihrem Geplauder verrathen. Die wunderlichen Zustände zunächst in der Pfarrei! Ihrem Vater und ihr war der Pfarrer ja selbst schon aufgefallen als ein sehr weltlich denkender Herr, als sie zuerst sich an ihn gewandt und ihn um Aufschlüsse gebeten über die Verhältnisse und den Charakter des Schloßherrn, und ihm anvertraut, daß sie entfernte Verwandtschaftsbeziehungen zu diesem hätten, und daß viel für ihre Zukunft davon abhänge, ob der Graf geneigt sein würde, ihnen seine Hülfe zu gewähren, um nach Frankreich heimkehren und dort ihre Ansprüche geltend machen zu können. Der Pfarrer hatte sich dabei als einen verständigen Mann bewiesen und sich gern erboten, sie zunächst zu Frau Wehrangel zu führen, die in der Zeit des vorigen Schloßherrn dessen rechte Hand und Eins und Alles gewesen, und die ihnen bei dem jetzigen auch am besten als Unterstützung dienen werde. Aber das hatte er gethan, wie jeder Andere es gethan haben würde, kühl und fremd; Salbung lag so wenig in seinem Munde, wie auf den Lippen eines Getreidehändlers oder Notars. Und nun dieser „Pastor“ erst, der von Convertiten nichts wissen wollte, und dieser Caplan, in den die Thurmschwalbe verliebt schien und nun gar die wunderbare Naivetät erst, womit das junge leichtfüßige Geschöpf das ganz offen ausplauderte. Melusine fand sich nicht darin zurecht; sie wußte nicht, wie hier in diesem Lande des gesunden Menschenverstandes der großartige Durchbruch gesunden Menschenverstandes im Nachbarlande, den man die Revolution von 1789 nennt, gewirkt und der Menschen Köpfe erhellt hatte: wie das Natürliche, das rein und ehrlich Menschliche sich so bald geltend gemacht, wo man nur ihm Luft gegeben, und wie das durch bloße Willkürgesetze und nicht durch die Vernunft zur Sitte Gemachte sofort erschüttert ist und sich dem Verfalle zuneigt, sobald das geschichtliche Wesen einen Stoß bekommt und die Willkür ohnmächtig wird.

Mehr aber noch dachte Melusine an das, was Annette ihr über den Schloßherrn erzählt hatte.

Der junge Mann hatte ihr einen ganz eigenthümlichen Eindruck gemacht. Er hatte sie abgestoßen; es schien ein Mensch zu sein, den man fürchtete; nicht blos Annette ja hatte sich so über ihn geäußert, als ob er eine leidenschaftliche und wilde Natur sei, die man zu reizen scheuen müsse, auch der Pfarrer, auch Frau Wehrangel. Was er selber über sich geredet, die rücksichtslose Art, womit er sich gab, Alles das bestätigte diese Reden. Aber der Eindruck, den Melusine von ihm empfangen, war nicht wie der von einem Menschen, den man zu fürchten habe, gewesen, sondern ihr schien sein Charakter mehr „Sturm und Drang“, wie man’s damals nannte, zu enthalten, als eigentlich Wildes und Unbezähmbares; er schien ihr eine verkehrt gerichtete Kraft, ein gährendes Wesen ohne hinreichende Einsicht, um sich selbst zu leiten und zur Klärung zu bringen. Er war wie ein Reiter auf einem launenhaften Pferde, ohne Zügel in der Hand. Es war etwas Wirres in ihm, schien ihr und das stieß sie ab. Dann auch zog sie sein Wesen an, wie etwas Verlassenes, freundlos Alleinstehendes, dem nur die rechte Leitung zu Hülfe zu kommen, die rechte Intelligenz zur Seite zu treten und ihm die rechte Bedeutung des Lebens zu zeigen brauche, um eine tüchtige und starke Natur aus einem Menschenkinde zu machen, das sich sonst innerlich aufreiben und verzehren könne, wie so manche andere Kraft, die in einer so wirren Zeit aufgelöster Verhältnisse, wie damals, kein Ziel fand.

Diesen Eindruck zerstörte nun vollständig das, was eben die Thurmschwalbe erzählt hatte: der junge Mann habe schon drei Menschenleben auf dem Gewissen. War das möglich, war das wahr? Melusine hatte sich schon erhoben, zu ihrem Vater hinaufzugehen und mit ihm darüber zu reden. Gleich darauf ließ sie diesen Vorsatz fahren und setzte sich wieder. Fürchtete sie, daß ihr Vater egoistisch darin nur etwas sehen würde, was ihm persönlich eine Beruhigung sein könne? Daß er sagen werde, desto weniger kann man uns verdenken, wenn wir wider einen solchen Mann unsere Rechte geltend machen wollen? Sie selbst hätte ja so denken können, sie that es nicht, die Mittheilung Annettens hatte sie blos tief erschrocken gemacht, unruhig; sie fühlte vor Allem nur den Drang, zu ergründen, ob die Anschuldigung wahr sei oder nicht!

Und wo es erfahren? Sollte sie Frau Wehrangel aufsuchen und ihr Vertrauen gewinnen? Würde diese gegen Fremde über ihren Herrn reden? Und wäre es edel gewesen, die Hausgenossen des Mannes, der sie und ihren Vater aufgenommen und so sehr verpflichtet, über jenen auszuhorchen? Nein, das war nicht möglich. Sie durfte, sie konnte es nicht; sie konnte nichts thun, als die Aufklärung abwarten, die ihr der Zufall, die vielleicht er selber ihr geben werde; er sprach ja so rücksichtslos und unverhohlen über Alles, sich selbst nicht ausgenommen! Und in der That sollte sie auf eine Aufklärung von ihm nicht lange zu warten haben!




8.

Melusine wendete sich eben nach langem Sinnen ihrer Arbeit wieder zu, als es klopfte, und brüsk und rasch Graf Ulrich bei ihr eintrat.

„Ich komme, Sie und Ihren Vater zu einem Spaziergange aufzufordern, schöne Cousine,“ sagte er – er gebrauchte zum ersten Male diese Verwandtschaftsbezeichnung; „Sie verzeihen, daß ich so unangemeldet bei Ihnen eindringe – ich hätte mich melden lassen sollen; um die Wahrheit zu sagen, ich denke daran erst in diesem Augenblicke, wo Sie mich so ernst und überrascht anschauen; verzeihen Sie mir’s, lassen Sie Ihre Pergamente und kommen Sie in den schönen sonnigen Morgen hinaus.“

„Sie sind sehr gütig,“ versetzte Melusine, die sich erhoben hatte und stehen blieb, ohne dem Grafen einen Sitz zu bieten, „aber ich möchte in der That meine Arbeit fördern, wie sicherlich mein Vater, der oben in seinen Folianten vergraben sein wird, auch – doch haben wir uns natürlich nach Ihren Wünschen zu richten –“

„O, meine Wünsche,“ fiel der Graf hastig und wie durch die steife und ablehnende Haltung der jungen Dame gereizt, „meine Wünsche sollen bei Ihnen nicht in’s Gewicht fallen. Ich dachte nur, Sie müßten selbst sich ein wenig hinaussehnen, von Ihren trockenen alten Scharteken, diesem ledernen Plunder da fort.“

„Darin haben Sie Recht,“ entgegnete Melusine, „ein wenig trocken ist die Beschäftigung mit diesen Blättern … es sind nur Namen zu copiren, bei keinem erhalten wir auch nur die geringste [468] Notiz über den Träger oder die Trägerin des Namens, über seinen Charakter und über seine Schicksale, und doch mag sich just eine Fülle des Interesses daran knüpfen, wenn wir sie nur kennten!“

Graf Ulrich ließ sich bequem auf den Stuhl nieder, den vorher Annette eingenommen: Er rief aus: „Ist das nicht gut, daß derartige Notizen und kleine Biographien von diesen Stammbäumen wegbleiben? Diese möchten verdammt viel von ihrem saubern und intacten Glanz verlieren, falls unter die Wappen und Namen der Herrschaften all die dummen und schlechten Streiche gesetzt würden, die sie zeitlebens verübt!“

„Ah …“ sagte die junge Dame, ihn wie überrascht anblickend, „Sie halten da Ihrem eigenen Geschlechte keine große Lobrede; waren so viele darunter, von denen es besser ist, zu schweigen, als ihre Thaten aufzuschreiben?“

„Davon weiß ich nicht das Mindeste; es ist mir nie eingefallen, mich darum zu kümmern. Und doch thu’ ich ihnen schwerlich Unrecht, wenn ich, ohne lange zu untersuchen, so denke. Ich denke eben von ihnen nicht besser, als ich von mir selber denke, und dann, mein’ ich, kann sich Niemand über mich beklagen.“

„Wäre das nicht doch möglich?“

„Glauben Sie?“ sagte lachend Graf Ulrich. „Glauben Sie, die Anzahl dummer und schlechter Streiche, die ich in meinem noch ziemlich jungen Leben bereits begangen haben könne, übersteige um ein Bedeutendes die Durchschnittsanzahl, welche man einem thörichten Menschenkinde, ohne ihm Unrecht zu thun, ohne Weiteres zurechnen darf?“

„Darüber,“ antwortete, ohne auf seinen scherzhaften Ton einzugehen, Melusine, „darüber kann ich nicht die leiseste Vermuthung haben.“

„Also die Möglichkeit geben Sie zu?“

„Weshalb nicht? Sie haben uns selbst gesagt, Herr Graf …“

„Ah, Sie denken an das, was ich Ihrem Vater erzählt, ich sei ein großer Lump gewesen! Ich habe Unrecht gehabt, so etwas zu gestehen; ich sehe, Sie denken ohnehin schlecht genug von mir!“

„Nicht doch,“ versetzte Melusine; „ich glaube nur, daß Sie die Eigenschaft vieler Menschen haben, sich im Uebermuth für schlechter auszugeben, als sie sind, und es für geistreicher zu halten, böse Eigenschaften zu besitzen als gute und sanfte.“

„Giebt es solche Menschen? Nun ja, es kommt vor,“ entgegnete der Graf „Doch mag es nicht immer Uebermuth sein, was dazu treibt, sich schlechter zu stellen, als man ist, vielleicht nur eine tiefe Unzufriedenheit mit sich selbst, die zur übertriebenen Selbstanklage führt, damit man sich im stillen dabei sagen dürfe: so schlecht bist du dennoch lange nicht!“

„Ist das bei Ihnen der Fall?“

„Ich glaube beinahe,“ rief wieder auflachend der Graf; „denn um ganz ehrlich zu sein, ich habe eine wilde und tolle Jugend durchlebt, aber doch nie schlechte Streiche begangen; nicht wahr, es ist kein schlechter Streich, wenn man sich duellirt und seinen Gegner über den Haufen schießt … es ist nur ein Unglück?“

„Hatten Sie dies Unglück?“

„Ja, ich hatte es.“

Melusine antwortete nicht.

„Nun, Sie sind nicht meiner Meinung?“

„Was kann Ihnen an meiner Meinung liegen in einer Angelegenheit, welche die Männer so ganz nach ihren eigenen Begriffen und den Gesetzen ihres besonderen Ehrgefühls beurtheilt wissen wollen?“

„Das heißt, Sie, Sie verurtheilen mich!“

„Wie könnte ich das, wenn ich nicht das Mindeste von den näheren Umständen weiß!“

„Wollen Sie davon hören?“

„O, das wäre ein Vertrauen, auf das ich nicht den mindesten Anspruch mache.“

„Das ist eine unfreundliche Antwort.“

„Nur eine bescheidene.“

„Ah, bah – mag sie sein, was sie will, sie kränkt mich! Und zur Strafe sollen Sie die ganze Geschichte anhören – mit Prolog und Epilog, denn sie hat leider Beides. Hören Sie mir zu?“

„Ohne Zweifel!“

„Ich stand bei einem österreichischen Reiterregiment bei Harrach-Kürassieren. Ich war Rittmeister. Wir standen in den Niederlanden, damals nach der Schlacht bei Neerwinden, unter Coburg. Mit den Kürassieren meiner Division lag ich im Quartier im Schlosse von Aumier-le-Trai. Wir hatten eben zusammen gespeist, getrunken dabei, waren in erregter Stimmung. So schritten wir zum Schlosse hinaus, in die Ellern-Allee vor demselben. Dort links von dieser liegt ein Teich, den unsere Leute als Schwemme benutzten. Wir sehen einen Mann der Schwadron mit zwei Pferden, von denen das Handpferd sehr unruhig ist, in derselben. Er führt eben die Thiere wieder heraus. Ich bemerke, daß er beide zu wenig in’s Wasser geführt, das Pferd des Mannes kaum bis über die Kniee vom Wasser umspült worden ist. Ich rufe ihm zu, er solle weiter, tiefer in den Teich reiten. Er gehorcht nicht; er antwortet, es sei zu gefährlich, weiter zu reiten, es befinde sich eine abschüssige Stelle dort. Gefährlich? Ich glaubte bemerkt zu haben, daß am vorigen Tage andere Leute ungefährdet weiter geritten seien; so herrsche ich ihm scheltend zu, er sei eine Memme, und befehle ihm zu gehorchen. Der Mann gehorcht; er wendet mit den Pferden – nach einigen Schritten macht das, welches er reitet, eine niederschießende Bewegung mit den Vorderfüßen; erschrocken darüber macht zu gleicher Zeit das Handpferd einen Seitensprung und reißt so den eben aus dem festen Schluß gekommenen Mann vom Rücken seines Thieres. Dieser stürzt in das Wasser, ruft, schlägt mit den Händen um sich, versinkt – wir stehen athemlos – dann, da er nicht wieder erscheint, werfe ich den Rock ab, eile in das Wasser, stürze mich zum Schwimmen in die tiefe Stelle – und eben im Begriff, den ertrinkenden Mann zu erfassen, erhalte ich einen Schlag vom Vorderfuße des einen der sich schwimmend rettenden Pferde – bewußtlos sinke ich selbst und komme erst wieder zum Bewußtsein, auf dem Rasen am Ufer des Teiches liegend, wohin einer meiner Cameraden, ein guter Schwimmer, mich gerettet hatte. Man war eben beschäftigt, den Mann aus dem Wasser zu holen – es gelang auch bald, aber der Mann war todt!“

„Todt!“ echoete mit einer eigenthümlichen Betonung, wie von innerer Beängstigung, Melusine.

(Fortsetzung folgt.)




Die „talentirte“ Lüderlichkeit auf der Bühne.
Von Ludwig Kalisch in Paris.

Nur wenige der lebenden Tondichter können sich rühmen, so vielgenannt zu sein wie Jakob Offenbach. An den Ufern des Manzanares wie an den Ufern der Newa, in Stockholm, in Cairo, selbst im ewigen Rom findet seine hochgeschürzte Muse freundliche Aufnahme. Schusterjungen und gekrönte Häupter pfeifen und trillern seine Weisen, und als der Selbstherrscher aller Reußen mit seinem Erbfolger Anno 1867 die Reise nach der Pariser Weltausstellung unternahm, schickte er von Köln ein Telegramm nach Paris, um sich dort eine Loge im Varietéstheater zu sichern und sogleich bei seiner Ankunft der Aufführung der „Schönen Helena“ beiwohnen zu können. Ich weiß nicht, wie lange die Unsterblichkeit Offenbach’s dauern wird; in diesem Augenblicke aber ist er gewiß der unsterblichste aller sterblichen Tonsetzer. Es ist also wohl der Mühe werth, etwas über seinen Lebensgang zu erfahren. Der geneigte Leser fürchte indessen nicht, daß ich bei der Lebensbeschreibung Jakob Offenbach’s bis zum Erzvater gleichen Namens hinaufsteige. Aber von seinem Vater muß ich doch sprechen. Dieser Mann hieß nicht Offenbach, sondern Eberst, und war in Offenbach geboren. Er war jüdischer Vorsänger und ein solch gebildeter Musiker, daß er größere Tonstücke, Sonaten, Concerte und selbst Symphonien componirte. Ja, er hat sogar ein Stück, „Der Schreiner in seiner Werkstatt“, in Musik gesetzt, das 1811 in Deutz zur Aufführung kam. Er soll auch ein trefflicher Mathematiker und gründlicher Talmudist gewesen sein, was ihn nicht verhinderte, von Zeit zu Zeit Verse zu machen. An vielseitigen Talenten fehlte es also dem Manne nicht; allein er lebte zu einer Zeit, wo den Juden das Talent in Deutschland wenig half. Da er in Offenbach keinen angemessenen Wirkungskreis finden konnte, siedelte er nach Köln über in der Hoffnung, sich dort bei der zahlreichen jüdischen Gemeinde eine ansehnliche Stellung zu erringen.

[469] Die jüdische Gemeinde in Köln nannte ihn nicht bei seinem Namen, sondern nach seiner früheren Heimath schlechtweg Offenbacher, so daß er sich bald Eberst-Offenbacher nannte; und als man trotz alledem ihn doch nicht Eberst nennen wollte, hieß er sich endlich Offenbach.

Sonderbar! Dieser Mann, der nach Köln gekommen war, um seinem Namen in weiteren Kreisen Geltung zu verschaffen, sah sich dort genöthigt, ihn abzulegen, und zwar ohne irgend einen Ersatz für diesen Verlust zu finden. Es war ihm nämlich nicht möglich, in Köln seine Familie zu ernähren. Er reiste daher 1835 mit seinen zwei Söhnen, dem fünfzehnjährigen Jakob und dessen jüngern Bruder, nach Paris, wo er als Vorsänger einige Gastrollen in der Synagoge gab. Die beiden Knaben assistirten ihrem Vater und wurden, als dieser den kleinen Jakob im Conservatorium untergebracht, in der Synagoge angestellt. Für ihre Mühewaltung erhielten sie einen monatlichen Gehalt von achtzig Franken! Jakob sang nun an der Seite seines Bruders das Lob Jehova’s, der Erzengel, der Erzväter, der großen und kleinen Propheten, und er dachte damals gewiß nicht daran, daß er einst, statt die heiligen Schauer des Sinai zu recitiren, die lüderliche Wirthschaft des Olymp in Musik setzen würde. Indessen ward er der schlechtbezahlten Sängerei bald überdrüssig. Er wollte sich nicht die Kehle trocken singen, ohne irgend eine Aussicht auf ein heiteres Lebensloos. Als Schüler des Conservatoriums, wo er sich auf seinem Instrumente, dem Violoncell, vervollkommnete und sich auch der besondern Gunst Cherubini’s erfreute, war es ihm nicht schwer, im Orchester eines kleinen Theaters, „Ambigu comique“, angestellt zu werden. Außerdem ertheilte er auch Unterricht und gab dann und wann ein Concert. Offenbach war damals ein jäh aufgeschossener Jüngling mit langen blonden Haaren und mager bis zur Durchsichtigkeit. Von quecksilberner Beweglichkeit und alle Enden und Ecken der Riesenstadt durchrennend, um seine Schüler aufzusuchen und sich das tägliche Brod zu erwerben, war es ihm nicht möglich, Fett anzusetzen. Er ist indessen auch später kein Dickwanst geworden. Eine zähe energische Natur, verzweifelte er trotz aller Miseren durchaus nicht, und wenn der Magen, dieser gewaltige Beherrscher der armen Menschheit, nicht allzu ungestüm mahnte, lag er den Musen ob und schuf gar manche heitere Melodie. Er suchte nebenbei auch Synagogengesänge, die er auswendig wußte, zu verwerthen, indem er dieselben für öffentliche Bälle in Musik setzte, so daß vielleicht manche Pariser Grisette nach der Melodie tanzte, in welcher der Herr der Heerschaaren gepriesen wurde.

Jakob Offenbach.

In den vierziger Jahren erhielt er eine Anstellung im Orchester der komischen Oper, wo ihm zwar auch nicht die gebratenen Tauben in den Mund flogen, wo er jedoch Gelegenheit genug hatte, die Meisterwerke der heitern Muse kennen zu lernen und im Geiste zu verarbeiten. Beim Beginne des Kaiserreichs ward er zum Capellmeister des Théâtre Français ernannt. Diese Stellung nahm seine Zeit nicht sehr in Anspruch, und er konnte seinem Schöpfungsdrange schon mehr genügen; er fühlte sich indessen doch immer noch zu sehr gebunden. Er legte also nach einigen Jahren den Tactstock für immer nieder, einzig und allein von dem Gedanken beseelt, ein Theater zu gründen und in demselben die Kinder seiner musikalischen Laune dem Publicum vorzuführen. In Ermangelung einer Bühne und eines größern Publicums componirte er vorläufig kleine Stücke, in denen blos zwei Personen auftraten und brachte sie in seiner Wohnung vor einigen Freunden zur Aufführung. Der Compositeur war Capellmeister und Orchester zugleich, das außer dem Violoncell Offenbach’s kein anderes Instrument aufzuweisen hatte. Die Verwandlungen wurden wie zur Zeit der Anfänge der dramatischen Kunst durch Aufschriften bezeichnet; einige spanische Wände dienten zu den Ein- und Ausgängen. Man lachte, man scherzte und man geizte durchaus nicht mit dem Applaus. Allein der Beifall von einem Dutzend befreundeter Hände, der Ruhm zwischen vier Wänden, die Unsterblichkeit im Familienkreise konnten dem jungen Offenbach nicht genügen. Nach vielen Mühen und Nöthen gelang es ihm endlich, die Direction des kleinen Theaters Folies Marigny zu erlangen. Dieses niedliche Theater befindet sich in den Elyséischen Feldern von Blumenbeeten umduftet, von hohen Ulmen beschattet. Es war im Sommer 1855, zur Zeit der ersten Pariser allgemeinen Ausstellung, als hier Offenbach mit seinen „Deux Aveugles“ auftrat. Zwei vortreffliche komische Sänger bildeten das ganze Personal dieser Bluette, die sich eines solch außerordentlichen Erfolges erfreute, daß die frischen Melodien derselben bald in allen Straßen von den Pariser Gamins gepfiffen und von sämmtlichen Drehorgeln abgeleiert wurden. Ich war Zeuge dieses Erfolges im Theater selbst und zwar durch einen bloßen Zufall. Saphir nämlich, der zum Besuche der Ausstellung nach Paris gekommen war, lud mich eines Abends zu einem Spaziergange durch die Elyséischen Felder ein. Wir befanden uns bald vor dem genannten koketten Theater, das freundlich aus dem blühenden Gebüsche hervorguckte und uns zum Besuch einlud. Saphir war von den „Deux Aveugles“ so entzückt, daß er sich gleich den Text verschaffte mit dem festen Entschlusse, die Humoreske in Wien zur Aufführung bringen zu lassen. Wenn ich nicht irre, ist dieselbe auch in Deutschland schnell beliebt geworden.

Wie einst William Shakespeare leitete auch Jakob Offenbach zwei Theater und zwar das eben erwähnte während der Sommersaison und das andere, von ihm Bouffes Parisiens getaufte, in der Passage Choiseul während der rauhen Jahreszeit. Damals bestand die Theaterfreiheit noch nicht, und Offenbach hatte blos das Recht, einactige Stücke aufzuführen. Er ließ nun eine Reihe kleiner Opern rasch aufeinander folgen und erwarb sich mit denselben allgemeinen und wohlverdienten Beifall. Diese Productionen zeichneten sich durch Frische der Melodien, durch kecken Humor, durch natürliche Heiterkeit und seltene Anmuth aus; sie haben deshalb auch auf allen ausländischen Bühnen sehr angesprochen. Ich erinnere mich noch eines dieser dramatischen Erstlinge, „le Savetier et le Financier“. Ich wohnte der ersten Vorstellung bei. Nach Beendigung derselben klopfte mir Jemand auf die Schulter. Es war der leider so früh verstorbene englische Romanschriftsteller Thackeray. Er war soeben von einer Reise nach den Vereinigten Staaten zurückgekehrt und nach Paris gekommen, um hier seine Mutter zu besuchen. Thackeray fand die Offenbach’sche Operette höchst ergötzlich und wollte von mir etwas Näheres über den Compositeur erfahren. „Dieser junge Tonkünstler,“ sagte er zu wiederholten Malen, „hat ein entschieden humoristisches Talent und besitzt viel Eigenthümliches. Wenn er fleißig schafft, wird sein Name bald in den weitesten Kreisen genannt werden.“

Man sieht, Thackeray hatte sich nicht getäuscht.

Inzwischen ward es Offenbach durch die eingetretene Theaterfreiheit gestattet, mehractige Stücke mit unbeschränkter Personenzahl zu componiren. Er machte von dieser Freiheit den vollsten Gebrauch und brachte den „Orpheus in der Unterwelt“. Diese Opera buffa hatte einen beispiellosen Erfolg. Sie erlebte in Paris an achthundert Vorstellungen. In den Provinzen war der Erfolg ebenso groß, und das Ausland zeigte sich nicht minder warm. Das Vaterland Mozart’s, Beethoven’s und Weber’s beeilte sich, den parodirten „Orpheus“ darzustellen, der in der Geburtsstadt Meyerbeer’s und Mendelssohn’s dreihundertmal aufgeführt wurde.

Seit der ersten Aufführung des „Orpheus“ hat Offenbach unzählige [470] Opern vom Stapel laufen lassen. Er hat fast für sämmtliche Pariser Theater gearbeitet, so daß nicht selten in der Hauptstadt Frankreichs an einem und demselben Abend vier Bühnen zugleich Stücke von ihm brachten. Freilich hat er nicht immer Siege errungen; er hat sich indessen durch die Niederlagen keineswegs abschrecken lassen. Offenbach wird durchaus nicht entmuthigt, wenn ihm der Unwille der Kritik am Kranze zerrt; er läßt seine Muse nicht zu Athem kommen, und kaum hat er eine Schlappe erlitten, so tritt er schon wieder mit einem neuen Erzeugniß auf. Er schreibt seine Partituren, wie der erste beste Journalist einen Zeitungsartikel schreibt, und es versteht sich von selbst, daß er sich oft wiederholt. Es ist auch wahr, daß er viel weniger durch Kunst, als durch außerordentliche Geschwindigkeit überrascht. Allein in einer Zeit, wo man schon verdrüßlich wird, wenn ein Telegramm von Amerika eine Stunde später als gewöhnlich in Europa eintrifft, wo ein Ereigniß, das uns am Morgen in Erstaunen setzt, am Abend schon veraltet ist, in einer solchen Zeit ist die Geschwindigkeit ein nothwendiges Mittel zum Erfolg.

Die große Popularität Offenbach’s ist mehreren Umständen zuzuschreiben. Vor Allem seiner wirklichen Begabung. Mögen die orthodoxen Musiker Ach und Zeter schreien, sie können ihm doch das Talent nicht absprechen, das er besonders in den einactigen Operetten an den Tag gelegt. Die kleinen Productionen sind höchst gefällig und reich an singbaren Weisen, die sich dem Gedächtniß leicht einprägen. Was die umfangreicheren Hervorbringungen betrifft, so hat er den Succeß derselben nicht seinem Talent allein, sondern zum großen, vielleicht zum größten Theil den Verfassern der Textbücher, Ludovic Halévy und Meilhac, und der vortrefflichen Aufführung zu verdanken. Die beiden genannten Schriftsteller, von denen der erstere ein Neffe des Compositeurs Halévy ist, – der beiläufig gesagt, ebenfalls der Sohn eines jüdischen Vorsängers war – haben mit der Parodie des Orpheus einen glücklichen Wurf gethan. Die tolle Wirthschaft am Hofe des Jupiter erinnerte lebhaft an gar manchen europäischen Hof, an gar manchen europäischen Despoten und man brauchte sich just nicht anzustrengen, um in der Willkür des Olympiers eine Anspielung auf die Willkur vieler Herrscher zu finden, die zum Glück der Völker nur ein Scepter, aber keinen Donnerkeil besitzen. Der Witz im Orpheus sowohl, als auch in der „Schönen Helena“ und in den anderen Parodieen ist selten feinkörnig. Die Herren Halévy und Meilhac beziehen ihr Salz nicht direct aus Attika; allein sie kennen ihr Publicum und verlassen sich auch auf die Darsteller, die freilich ihre Aufgabe mit großer Virtuosität erfüllen.

Wie dem aber sei, diese Stücke werden schwerlich das zweite Empire überleben, durch welches sie in’s Dasein gerufen wurden. Offenbach ist natürlich nicht dieser Ansicht. Er glaubt fest und unerschütterlich an die Unvergänglichkeit seiner Werke, ebenso fest und unerschütterlich, als Richard Wagner an die Unvergänglichkeit der seinigen glaubt. Unmäßige Bescheidenheit ist eben nicht die Krankheit unserer Zeit; und wenn Offenbach an keiner anderen Krankheit stirbt, als an dieser, wird er gewiß ewig leben. Offenbach wäre mindestens so bedeutend wie Mozart, wenn er das wäre, was er zu sein glaubt. Die große Popularität, die er seit einer Reihe von Jahren genießt, ist ihm zu Kopf gestiegen. er ist berauscht von seinem Ruhm. Das ist nun freilich nicht der Ruhm eines Meisters, der mit der Zeit wächst und Jahrhunderte überlebt; allein man wird von gebranntem Wasser ebenso, ja noch viel stärker berauscht, als von dem edelsten Wein. Man muß übrigens an Offenbach anerkennen. daß er sich’s recht sauer werden läßt. Es giebt keinen arbeitsameren Menschen, als er ist. Seine Thätigkeit ist beispiellos, und diese beschränkt sich nicht auf die Composition seiner Stücke, auf den musikalischen Theil derselben, sondern sie erstreckt sich auf Alles, was deren Gelingen zu sichern dient. Er arbeitet mit den Verfassern der Textbücher; er leitet die Proben bis spät in die Nacht und befeuert die Darsteller durch seinen unausgesetzten Eifer. Nichts entgeht seiner Aufmerksamkeit. Er denkt selbst an die kleinste Kleinigkeit; er vervielfältigt sich; er ist überall. Da nun seine Muse jedes Jahr wenigstens drei bis vier Mal in die Wochen kommt, so kann man sich leicht denken, daß ihn die Sorge, seine Werke so vortheilhaft wie möglich bei dem Publicum einzuführen, unausgesetzt beschäftigt. Er ruht auch eigentlich nur, wenn er zur Ruhe gezwungen ist, wenn ihn nämlich die Gicht an’s Lager fesselt. An seiner äußern Ankündigung ist nichts auffallend, als seine sprüchwörtlich gewordene Magerkeit. Man kann kaum dünner sein, ohne völlig zu verschwinden. Seine Physiognomie ist sehr beweglich und geistvoll. Er ist auch in der That ein geistvoller Mann, und nicht blos in seinen Compositionen, sondern auch in der Unterhaltung witzig. Schon in frühester Jugend vom Schicksal unsanft geschüttelt und gerüttelt, hat er Gelegenheit genug gehabt, die Menschen zu beobachten und ihre Schwächen und Gebrechen kennen zu lernen.

Offenbach hat seinen Weg gemacht. Daß man auf diesem Wege nicht zum Tempel des Nachruhms gelangt, ist keine Frage. Wer indessen, wie er, als armer hülfloser Judenknabe nach Paris gekommen und in Noth und Trübsal, in Hunger und Kummer muthig gekämpft, und am Ende, trotz unzulänglicher, zerrissener Studien, seinen Namen in allen Ländern zur Geltung gebracht, ist doch gewiß kein Mann von gewöhnlicher Begabung. Auf keinen Fall haben diejenigen Componisten, die stets die Namen der großen Tonmeister im Munde führen, selbst aber nichts Erkleckliches schaffen, das Recht, so geringschätzig auf Offenbach herabzusehen und ihm vorzuwerfen, daß er das Publicum blos oberflächlich amüsirt; denn es ist doch immerhin löblicher, das Publicum oberflächlich zu amüsiren, als dasselbe gründlich zu langweilen.




Die Diätetik der Vegetarianer.
Oeffentlicher Vortrag, gehalten in der Universitäts-Aula zu Freiburg von Professor O. Funke.
(Schluß.)

Alle die vorangegangenen Erörterungen wären aber fruchtlos, wenn es wirklich wahr wäre, daß unsere Organisation lediglich für Pflanzennahrung eingerichtet, nur diese gesund, die animalische Kost dagegen, in erster Linie das Fleisch, ungesund sei, direct oder indirect jene zahllosen Schäden, deren Keime die Vegetarianerbrille darin erblickt, unserem Leibe inoculire. Ich will Ihnen beweisen, daß dem nicht so ist, daß die gegentheilige Behauptung auf Unkenntniß, Mißverständnissen und den ärgsten Uebertreibungen beruht.

Betrachten wir zunächst unsere Organisation. Hier weisen uns die Vegetarianer im wahren Sinne des Wortes die Zähne. Es ist staunenswerth, mit welchem Fleiß sie in einem Punkte, in welchem sie sich für hieb- und schußfest halten, die Wissenschaft auszubeuten verstehen. Massenhaft kramen sie die Citate von Aussprüchen berühmter Anatomen aus, welche darin übereinstimmen, daß das Gebiß des Menschen gleich dem seines nächsten Verwandten, des Affen, das eines Fruchtessers sei. Armer Schiller! Das todte Gefäß deines hohen Genius, dein Schädel, wird in effigie neben dem des Pavians und Orang-Utangs zur Schau gestellt, um an deinen Kauwerkzeugen zu demonstriren, daß du mit Jenen Nachbarn in dieselbe diätetische Rangordnung gehörst. Ja, meine Damen und Herren, es ist wahr, wir haben nicht die gewaltigen Eckzähne des Tigers, um sie in lebende, thierische Beute einzuhauen und Stücke herunterzureißen, nicht die zusammengedrückten mehrspitzigen Backzähne desselben, um die groben rohen Fleischmassen zu zerfetzen und Knochen zu zermalmen, ebensowenig als wir die plumpen Mühlsteinzähne des Elephanten zum Mahlen von Maiskörnern, die scharfen Doppelmeißel des Bibers zum Abschaben von Baumrinde etc. besitzen. Wir haben mäßig scharfe Schneidezähne, wenig vorragende und mäßig spitze Eckzähne und stumpfhöckerige Backzähne, wirklich alle von ähnlicher Beschaffenheit wie die des Orang, der sie eben gerade zum Fruchtessen benutzt, ein Gebiß, welches auch mit dem der Schweine, factischer Omnivoren, nicht ganz übereinstimmt. Es ist wahr, wir haben ein Gebiß, welches sich ganz vortrefflich zum Zerbeißen und Zerdrücken von Früchten eignet. Aber wer kann behaupten, daß dasselbe Gebiß untauglich sei zur mechanischen Verarbeitung animalischer Kost und vor Allem, da selbstverständlich Milch, Butter, Käse und Eier hier nicht in Betracht kommen, auch des Fleisches unter den bestimmten, natürlichen Verhältnissen, unter welchen wir es unseren Zähnen darbieten? Wo ist die logische Berechtigung des Schlusses, daß, weil die Affen ein ähnliches [471] Gebiß hauptsächlich zum Fruchtessen benutzen, wir es trotz seiner Brauchbarkeit für andere Kost doch auch nur für Früchte verwenden dürfen? Zwingt uns etwa der sonst so perhorrescirte Ahnenstolz, in rührender Pietät von der Diät unserer Stammväter nicht abzuweichen und ihm zu Liebe vielleicht auch auf Milch und Käse zu verzichten? Uebrigens wird diese ganze Berufung auf die Affendiät dadurch total auf’s Haupt geschlagen, daß es factisch unter den Affen einige Arten giebt, welche auch von animalischer Kost, Insecten, Eiern, selbst kleinen Vögeln leben. Daß wir mit unseren Zähnen die Fleischstückchen, welche wir in unsern Mund einbringen, ohne Mühe für die weitere Verdauung hinreichend verkleinern können, wird, denke ich, Niemand bestreiten. Daß wir aber, ohne das exquisite Fleischfressergebiß des Tigers oder Hundes zu besitzen, doch von der Natur bestimmt sein können, außer Früchten auch noch Fleisch zu essen, wird jedem Unbefangenen klar, welcher bedenkt, daß dieselbe „Mutter Natur“ uns außer den Zähnen auch noch andere Werkzeuge zum Nahrungserwerb gab, unsere vollendeten Greifwerkzeuge, welche im Verein mit den künstlichen Werkzeugen, welche der von den Vegetarianern so hoch respectirte Instinct die rohesten Naturvölker fertigen lehrt, uns alle Dienste der specifischen Eck- und Backenzähne des Fleischfressers ersetzen. Kurz, die Beschaffenheit unserer Zähne liefert ganz entschieden nicht den angeblich schlagenden Beweis, daß wir geborene Vegetarianer sind. Es ist gerade so grundfalsch und einseitig, diesen Schluß aus unserer Gebißeinrichtung zu ziehen, als aus der Gegenwart von Eckzähnen welche den meisten Pflanzenfressern fehlen, zu folgern, daß wir von Natur reine Carnivoren seien.

Nicht besser steht es mit allen übrigen Eigenthümlichkeiten unserer Organisation, insbesondere unseres Verdauungs-Apparates, in denen man ein unverkennbares Vegetarianergepräge hat erblicken wollen. Keine einzige spricht unzweideutig für eine einseitige Bestimmung zu vegetabilischer Kost, ebensowenig wie für eine rein carnivore Bestimmung. Es ist ebenso unstatthaft, dem Menschen die vegetabilische Kost zu verbieten, weil er weder den vierfachen Magen des Wiederkäuers, noch den gewaltigen Blindsack des Nagers hat, als ihm den Fleischgenuß zu wehren, weil er wie Pflanzenfresser einen „zelligen Grimmdarm“ hat. Die Beschaffenheit seiner Verdauungsdrüsen und ihrer Säfte ist ebenso gut mit der einen wie mit der andern Kost in Einklang zu bringen, die Länge seines Darmcanals hält die Mitte zwischen dem sehr kurzen Darm reiner Carnivoren und dem für die langgweiligere Ausnutzung pflanzlicher Theile sehr lang gemachten Darm der Pflanzenfresser. Durch directe Beobachtung ist sicher constatirt, daß das Fleisch in unserer Leibesküche ganz in derselben Weise wie bei einem Carnivoren gelöst und verdaut, und seine Verdauungsproducte in mehr als genügender Menge den Ernährungssäften einverleibt werden, während es für den Menschen noch nicht hat nachgewiesen werden können, daß er einen Hauptbestandtheil der Vegetabilien, die sogenannte Cellulose, welche als starre Hülle das in den Pflanzenzellen aufgespeicherte Nahrungsmaterial einschließt, zu verdauen vermag, wie es für Herbivoren dargethan ist. Wenn man behauptet, die animalische Kost enthalte unverdauliche Bestandtheile, so ist dies richtig, aber erstens ist ihre Menge in Ochsenmaulsalat und Schweinsohren zwar beträchtlich, im eigentlichen Fleisch dagegen sehr gering, und zweitens gilt dasselbe geradeso auch für die meisten vegetabilischen Gerichte, ganz besonders für die an Cellulose reichen. Wenn man sagt, grobe Fleischstücke würden im Magen wenig angegriffen, so gilt dies wiederum in höherem Grade noch von groben, nicht gehörig zerkleinerten Pflanzentheilen. Sie werden es begreiflich finden, wenn ich mich im Interesse der Damen nicht auf weiteres Detail in dieser partie honteuse unserer Lebensprocesse einlasse, so gern ich noch manche scheußliche Anklage, welche die Vegetarianer in unsere Eingeweide schleudern, ihnen zurückgeben möchte. Also vorbei, vorbei!

Blicken wir auf die Thierreihe, so finden wir durchgängig mit der specifischen, einer bestimmten Futtersorte angepaßten körperlichen Organisation eine entsprechende psychische Ausrüstung verbunden, d. h. jene außerordentlich mannigfachen, staunenswerthen Triebe („Instincte“), welche die Thiere lehren, die verschiedensten, zweckmäßigen Handlungen zum Erwerb der ihnen zugewiesenen Nahrung vorzunehmen, den richtigen Gebrauch von den betreffenden leiblichen Apparaten zu machen. So gern wir uns nun zur Wahrung unserer aristokratischen Stellung in Bezug auf den Besitz von Instincten von der Gemeinschaft mit den Thieren emancipiren möchten, so geht es doch nicht, wir können nicht Alles, was wir thun, unter den auf Erfahrung und Wissen begründeten, vom Verstand dictirten Handlungen unterbringen. Ganz besonders geht es nicht in der Sphäre, von der wir hier reden. Wir müssen uns bequemen, auch bei der Nahrungswahl und dem Nahrungserwerb des Menschen das Walten eines Instincts, beim Mangel von etwas Besserem, anzuerkennen. Keiner bedenkt sich, den Instinct als Führer des Neugeborenen an die Mutterbrust zu betrachten, aber ebenso klar ist, daß der Mensch auch seine spätere Speise nicht erst auf dem Wege bewußter experimenteller Forschung sich ausprobirt, sondern zunächst instinctiv gewählt hat. Das erkennt auch der Vegetarier an, aber während wir als Ausdruck in die Augen springender Thatsachen aussprechen, daß der Instinct den Menschen gleichmäßig auf vegetabilische wie auf animalische Kost hinleite, behauptet der Vegetarianer in blinder Naivetät, der wahre unverdorbene Instinct dränge den Menschen nur zu Früchten und Milch (über die unbequeme Concession!), das Fleischessen sei die Folge eines durch falsche Gewohnheiten ausgearteten, durch künstliche Dressur ruinirten Instincts. Wo sind die Beweise? Selbstverständlich werden wir den unverdorbensten Instinct bei den von der Cultur noch nicht beleckten Naturvölkern zu suchen haben. Sind das etwa reine Pflanzenfresser? Mit nichten!

Die Vegetarianer citiren allerdings bis zum Ueberdruß als Mustermenschen die Hindus, welche, in der Nähe der muthmaßlichen Wiege der Menschheit aufgewachsen, bei dem realen Instinct, aber freilich auch sonst in vieler Beziehung stehen geblieben sind. Allein unsere ungeleckten Urväter in der grauen Steinzeit waren Jäger und Fischer, und der reine Instinct kam nicht einmal nachträglich mit der Einführung des Ackerbaues ganz zum Durchbruch. Bei den Kirgisen und Kalmücken zeigen sich noch heute wenig Spuren davon, und bei dem Eskimo müssen wir wohl für alle Zeit den total verkehrten Instinct als unverbesserlichen Erbfehler ansehen.

Die Vegetarianer citiren immer schlechtweg die heiße Zone als die Zone des reinen Instincts; bei Lichte besehen stellt sich aber selbst in den Tropen die Zahl der halben Sünder, welche von gemischter Kost leben, enorm groß heraus. Der Araber und Berber ißt Fleisch, wenn er es haben kann, mit Leidenschaft und in Menge und schneidet es sich unter Umständen sogar portionsweise aus dem lebenden Ochsen heraus. Rohlfs hat uns erzählt, daß die Ureinwohner Bornus nicht nur Milch und Eier, sondern auch Fleisch in großen Quantitäten vertilgen, und ebenso wissen wir, daß die Eingeborenen des tropischen Amerikas die Jagd zum Nahrungserwerb betreiben.

Die Vegetarianer berufen sich auf die alten Griechen und haben zum Heiligen des reinen Instincts, den sie anbeten und ansingen, den weisen Pythagoras erkoren, welcher die blutlose Diät zum Dogma erhob und ihr Heil so glänzend an sich erprobte, daß er erst im fünfundsechszigsten Jahre heirathete und noch sieben Kinder zeugte. Sie vergessen aber, daß weder Instinct noch Wissen die Grundlage der pythagoräischen Lehre war, sondern im Wesentlichen Aberglaube. Aberglaube war ebensowohl das Motiv seines Fleischverbots als des Interdicts, zu welchem auch die Vegetarianer entsetzt die Köpfe schütteln, des Verbots eines der besten nahrhaftesten vegetabilischen Küchenartikel, der Bohnen. Die Bohnen verbot er, weil sie der Gottheit heilig waren, das Fleisch, weil er an Seelenwanderung glaubte und Angst hatte, einmal aus Versehen eine selige Tante zu verspeisen.

Die Vegetarianer berufen sich endlich auf unsere Kinder, welche nach ihrer Angabe nach der Entwöhnung von der Muttermilch zum Fleischgenuß erst gezwungen werden müßten. Das ist nicht wahr, es ist – ich appellire an Ihre eigene Erfahrung – bei gesunden Kindern, sobald ihre Zähne ausgebildet sind, nicht einmal die Regel, eher die Ausnahme von der Regel. Doch genug auch hiervon! Der langen Rede kurzer Sinn ist, daß der Fleischgenuß dieselbe instinctive Begründung hat wie der Brodgenuß.

Ich komme zum gewichtigsten Controverspunkte, der positiven Anklage der Vegetarianer, daß das Fleisch ein schleichendes, aber sicheres Gift sei, direct, insofern es neben wenigen brauchbaren Bestandtheilen überwiegend schädliche enthalte, indireet, insofern es die Zufuhr anderer Leib und Seele verderbender Gifte nach sich ziehe. So furchtbar armirt diese Schanze, so leicht ist auch diese Position bei näherer wissenschaftlicher Betrachtung zu nehmen. Will es doch von vornherein nicht zu Kopf, daß dasselbe Material, welches als ausschließliche Nahrung zahlreichen, uns nicht viel ferner als die Affen stehenden Thierarten nicht nur nichts schadet, sondern alle ihre normalen Bedürfnisse befriedigt, die Quelle ihrer zum Theil [472] enormen Kraftentwickelung bildet, aus dem der Fuchs selbst seine sprüchwörtliche Schlauheit unterhält, für uns ein specifisches Gift sein soll, während wir doch beweisen können, daß seine Verdauungsumwandlung bei uns absolut dieselbe, daß unser Blut, in welches seine Verdauungsproducte gelangen, ganz dasselbe, daß endlich unsere Muskeln und Nerven, welche ernährt und mit Kraftvorrath versorgt werden sollen, gleich organisirt sind und gleich reagiren. Doch a priori läßt sich nichts beweisen. Hören wir die speziellen Beschuldigungen!

Die Behauptung, daß das Fleisch überhaupt arm an brauchbaren Stoffen sei, ist einfach eine Unwahrheit, und geradezu komisch ist es, wenn in dieser Beziehung das Fleisch mit Kaffee, Thee und dergleichen Genußmitteln in eine Kategorie geworfen wird. Das Fleisch ist reich an einem der wesentlichsten Nahrungsstoffe, an Eiweißstoff, weit reicher als die Milch, reicher als die meisten vegetabilischen Nahrungsmittel. Wir können den Bedarf an diesem Nahrungsstoff durch ein kleineres Quantum von Fleisch, als z. B. von Brod bestreiten; um ihn durch Kartoffeln oder Rüben zu decken, brauchten wir von diesen mehr als die zehnfache Menge. Das Fleisch ist im Durchschnitt mindestens so reich an Fett wie die Milch; reicher als die meisten Vegetabilien, aber – sagt der Vegetarianer – sehr arm an stärkmehl- und zuckerhaltigen Substanzen, an denen die meisten pflanzlichen Nahrungsmittel überreich sind. Das ist wahr, allein erstens ist es mit dieser Armuth beim Fleisch nicht so arg, wie jene Herren meinen, dasselbe enthält constant eine ansehnliche Menge solcher Substanzen, so daß der Bedarf davon aus nicht übermäßigen Fleischquantitäten bezogen werden kann, und zweitens ist der Ueberfluß vieler Vegetabilien an Stärkmehl insbesondere gar kein Gewinn, da der größte Theil desselben als Ballast eingenommen, der Außenwelt unverändert zurückerstattet wird. Es ist also auch nichts mit dem Vorwurf, daß das Fleisch zu wenig von solchem Heizmaterial führe, aus welchem unsere Muskeln ihre lebendige Kraft schöpfen, da die Vegetarianer glücklich aus den neuesten physiologischen Arbeiten den Nachweis herausgefischt haben, daß die Thätigkeit der Muskeln nicht durch Eiweißkörper unterhalten wird. Kurz, das Fleisch ist für unser Maschinenhaus wie für das des Hundes genügendes Heiz-, Reparatur- und Schmiermaterial zugleich; es leistet allein diese Dienste, um so besser, wenn es neben stärkmehl- oder zuckerreicher vegetabilischer Kost genossen wird.

Die ärgste Beschuldigung gilt der Fleischbrühe; sie sei nicht allein ohne Nahrungswerth, sondern geradezu ein Giftextract des Fleisches. Sonderbar! Diese Behauptung gründet der Vegetarianer auf eine beiläufige Bemerkung derselben Autorität, desselben Liebig, unter dessen Firma jetzt, wie jedes Zeitungsblatt lehrt, das concentrirte Fleischextract als Universal-Stärkungsmittel durch die ganze Welt ausposaunt wird. Was hat Liebig, der uns zuerst durch eine classische Untersuchung die Bestandtheile der Fleischbrühe kennen lehrte, gesagt? Etwa, daß er darunter einen gefunden habe, für welchen durch directe Experimente eine giftige Wirkung auf Thiere constatirt sei? Keineswegs! Nichts weiter, als daß einer darunter sei, das sogenannte Kreatinin, welches zu den organischen Basen, d. h. zu einer Classe von chemischen Substanzen gehöre, zu welcher auch gewisse heftige Pflanzengifte zu rechnen sind. Daß es Liebig nicht in den Sinn gekommen ist, das Kreatinin selbst als Gift zu brandmarken und deswegen den Genuß der Fleischbrühe zu verwerfen, das genirt den Vegetarianer nicht, aus diesem harmlosen Ausspruch aller Logik zum Trotz sein Anathema gegen die Bouillon zu schmieden, ein Beweis, daß in seinen Händen eine wissenschaftliche Angabe oft nicht besser aufgehoben ist, als ein Messer als Spielzeug in den Händen eines Kindes.

Nun, wir stehen jetzt überhaupt nicht mehr auf dem Standpunkte der Zeit, in welcher Liebig jene erste treffliche Arbeit lieferte und sich über die Beziehungen der Fleischbrühe zur Ernährung aussprach. Eine Reihe gründlicher neuer und neuester Forschungen haben uns in den Stand gesetzt, ein vollgültiges, mit schlagenden Beweisen ausgerüstetes Urtheil über den Werth der Fleischbrühe abzugeben, ein Urtheil allerdings, aus welchem sich der Vegetarianer bei der ihm so geläufigen Einseitigkeit der Benutzung viel bequemer als aus Liebig’s Ausspruch einen Fluch zusammenbrauen kann. Es ist wirklich richtig, die Fleischbrühe enthält giftige Substanzen, d. h. solche, welche, in größeren Dosen in den Organismus gebracht, durch ihre Einwirkung auf bestimmte Theile des Nervensystems störend, selbst tödtlich wirken können. Wir können ein Kaninchen tödten, wenn wir ihm das concentrirte Extract aus etwa drei Pfund Fleisch in den Magen pumpen; wir können die Vergiftungserscheinungen sogar an dem fleischfressenden Hunde demonstriren; wir wissen, daß die bekannten Erscheinungen von Aufregung, Herzklopfen und Fieber, welche nach Genuß sehr starker Fleischbrühe bei Menschen vorkommen, die Anfänge dieser Giftwirkung sind; ja, wir könnten einen Menschen mit einer großen Portion Liebig’schen Fleischextractes umbringen. Hört, Hört! Wir haben auch den Hauptverbrecher unter den Elementen der Fleischbrühe entdeckt, nicht in jenem Kreatinin, welches die Vegetarianer durchaus dazu stempeln wollen, überhaupt nicht in einem organischen Bestandtheile, sondern in gewissen Mineral-Bestandtheilen, den Kalisalzen, welche das Fleisch in überwiegender Menge enthält. Allerdings sind auch unter den organischen Bestandtheilen Stoffe, wie die Milchsäure und ein naher Verwandter des Kreatinins, das Kreatin, welche auf unsere lebensthätigsten Gewebe, die Nerven und Muskeln, „ermüdend“ wirken, allein wir dürfen von ihrer Berücksichtigung bei unserer Frage füglich absehen, weil keine Rede davon ist, daß sie selbst nach Excessen im Bouillongenuß in solcher Menge zu ihren Wirkungsstätten gelangten, daß sie Störungen hervorrufen könnten.

Nun, da haben wir’s! werden die Vegetarianer sagen, gleichviel wie der Sünder heißt, es ist doch ein Gift in der Fleischbrühe, ergo anathema sit. Halt, meine Herren! Zufällig bilden dieselben Kalisalze, welche in größerer Dosis eingenommen giftig wirken, einen der werthvollsten, für die Ernährung unentbehrlichen Bestandtheil der Fleischkost. Nehmen wir dem Fleisch seine Kaliverbindungen, so verhungert auch der Hund dabei, sein eigenes Fleisch schwindet und wird nicht durch neuangebautes ersetzt; die Kalisalze spielen eine unentbehrliche Rolle bei der Reparatur seiner abgenutzten Muskeln. Waschen wir aus einer Portion Fleisch mit Wasser alle löslichen Bestandtheile, also die ganze Fleischbrühe sorgfältig aus, und füttern mit dem ausgesogenen Rest einen Hund, so stirbt er; setzen wir aber zu eben diesem Rest künstlich, nicht die organischen Stoffe der Fleischbrühe, sondern nur ihre Kalisalze (und eine Spur von Kochsalz) zu, so lebt er nicht nur ohne Herzklopfen fidel weiter, sondern setzt auch bei entsprechender Menge dieses Futters neues eigenes Fleisch an. Ebenso läßt sich aus Beobachtungen entnehmen, daß auch zur Ernährung des Nervensystems die giftigen Kalisalze unerläßlich sind. Wenn etwa Jemand den abgedroschenen Einwand wagen wollte, daß wir keine Hunde seien, der Nutzen der Kalisalze aber nur für diese dargethan sei, dem entgegne ich, daß uns die Natur mit der Nase darauf drückt, daß wir auch in dieser Hinsicht dem Hunde gleichgestellt sind. Denn in unserer Muttermilch findet sich derselbe Ueberschuß an Kali-Verbindungen wie im Fleisch, und alle Ihre hochgepriesenen vegetabilischen Nahrungsmittel, meine Herren Vegetarianer, sind ebenso mit diesem Gift, dem einzigen Gift der Fleischbrühe geladen, die besten unter ihnen, die Bohnen, am meisten. So steht die Sache! Die Fleischbrühe allein, in ihrer gewöhnlichen Küchengestalt, wie als Liebig’sche Quintessenz, ist kein Nahrungsmittel – das wissen wir längst – sie kann in übertriebenen großen Dosen sogar schaden; aber mit ihrer Quelle, dem Fleisch, zusammen ist sie auch für den Menschen ein kostbares, mustergültiges Ernährungsmaterial, so gut oder besser als manches Vegetariergericht, und das geschmähte Fleisch könnte nur dadurch zu einem Gift für uns gemacht werden, wenn wir ihm seinen Saft nehmen wollten.

Die Fleischbrühe allein gehört ihrer eben angedeuteten Wirkung nach zu den sogenannten Reizmitteln. Lassen Sie mich über diese Classe von Küchenartikeln und das von den Vegetarianern über sie verhängte unbedingte Verdammungsurtheil nur einen flüchtigen Streifzug unternehmen. Auch hierin schütten die Jünger des Pythagoras das Kind mit dem Bade aus. Kein Mensch, und namentlich kein Physiologe wird mit ihnen darüber streiten, daß Kaffee und Thee keinen Nahrungswerth haben, den man ihnen vergeblich anzudichten versucht hat, daß sie in starken Gaben durch ihre aufregende Wirkung, besonders auf das Herznervensystem, schaden. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, daß bei unseren geistigen Getränken der Heizwerth gegen die schädliche Wirkung des Alkohols in den Hintergrund tritt, daß es ein Leib und Geist verderbendes Laster ist, wenn wir unsere Seelenmaschine soweit unter Spiritus setzen, daß ihr ganzes Räderwerk in Unordnung geräth und den Dienst versagt. Ich bin weit entfernt, zu behaupten, daß mein unzertrennlicher Freund, der Tabak, durch seine Verbrennungsdämpfe [473] meine Muskeln stähle, oder mir Embonpoint verschaffe – soweit sind auch wir Sarkophagen Freunde und Kenner natürlicher Lebensweise. Allein erstens ist es entschieden falsch, zu den nutzlosen Reizmitteln sogar die unzweifelhaft nützlichen, wenn auch vielleicht nicht absolut unentbehrlichen, gewöhnlichen Gewürze, wie das Kochsalz, selbst im bescheidensten Zusatz zu unseren Speisen zu rechnen. Die verleumdete diätetische Ehre dieses Universalgewürzes, zu dessen Erwerb der Instinct alle Bewohner der Erde treibt, welches die Eingeborenen Central-Afrikas so hoch schätzen, daß sie seine Stücken als Münzen benutzen, ließe sich leicht durch wissenschaftliche Thatsachen wiederherstellen; thäte es aber auch mit Seinesgleichen nichts weiter, als die Absonderung unserer Verdauungssäfte zu befördern und so das Verdauungsgeschäft zu erleichtern, so wäre ihm schon ein hoher Werth als Schmiere in unserem Maschinenhaus gesichert.

Zweitens ist es thöricht und unberechtigt, auch den bescheidensten Genuß der übrigen vorhin genannten Reizmittel: Kaffee, Wein, Bier, Tabak, blindlings zu verwerfen. Ich will sie nicht damit in Schutz nehmen, daß der Trieb, sie in irgend welcher Form sich zu verschaffen, wiederum der Ausfluß eines unvertilgbaren Menscheninstincts ist, der sich zu allen Zeiten seit Noah’s ersten inspirirten Gährungs-Experimenten bei allen Völkern geltend gemacht hat. Ich frage nur: Muß denn unsere Maschine, wie der Pendel der Uhr, immer in demselben monotonen langweiligen Tempo arbeiten? Was schadet es ihr denn, wenn sie von Zeit zu Zeit mit etwas stärker gespanntem Dampf etwas rascher pumpt, sobald sie nur in den folgenden Intervallen bei langsamer Arbeit die kleine Luxusausgabe an Kraft aus dem genügendem Vorrath wieder einbringen und etwaige kleine Defecte ihres Mechanismus wieder ausbessern kann! Wahrlich, manche leuchtende, fruchtbringende Idee ist schon aus einem Römer duftenden Rheinweins geboren, welche vielleicht nie den nüchternen Wasserkrügen der Vegetarianer entstiegen wäre; manch’ bitteres Herzweh, das bei Himbeerlimonade tiefer und tiefer gefressen hätte, hat ein Schälchen Kaffee unter mitfühlenden Schwestern gemildert; manche Sorge, manche Grille hat sich mit dem Rauch einer Cigarre verflüchtigt, und das ist auch etwas werth in so mancher armseligen Menschenexistenz. Lassen wir also Gnade für Recht ergehen und diese verlästerten Genußmittel bei verständigem Gebrauch als Seelenschmiere gelten!

Zum Schluß nur noch wenige Bemerkungen gegen einen weiteren Canon im vegetarianischen Verfluchungsedict gegen das Fleisch, der da lautet: das Fleisch ist die Quelle zahlreicher Siechthümer, deren Keime es direct in den Menschenleib einschleppt, oder für deren Invasion es unseren Körper disponirt. Zergliedern wir das Zerrbild, welches die erhitzte Phantasie der Vegetarianer auch hier mit dicken Farbenklecksen uns vormalt, so bleibt abermals eine äußerst unscheinbare reelle Grundlage. Es ist kaum etwas Weiteres daran wahr, als daß mit dem Fleisch gewisse unheimliche thierische Gäste, vor allen die berüchtigten Trichinen, in uns einwandern können. Das ist allerdings schlimm, aber einerseits können wir uns durch sorgfältige Prüfung und genügendes Kochen des Fleisches vor dieser Gefahr schützen, andererseits möchte ich jetzt weniger als je dafür garantiren, daß nicht auch die Vegetabilien die Wirthe niedrigster mikroskopischer Organismen sind, welche, in den Boden des Menschenleibes versetzt, unter verderblichen Krankheitserscheinungen weiterwuchern können. Doch das liegt noch im Schooße künftiger Forschungen. Was die übrigen Krankheiten betrifft, welche die Vegetarianer der Fleischkost zur Last legen, so darf ich es Ihren Aerzten überlassen, Sie gründlich von der Haltlosigkeit solcher Märchen zu überzeugen. Die Vegetarianer führen uns aus allen Zeiten und Himmelsgegenden historische Normalmenschen ihres Glaubens vor; es wäre wohlfeil, ihnen gerade so viele und gerade so gewichtige Beispiele kerngesunder Omnivoren gegenüberzustellen. Es ist eben jeder nach seiner Façon selig geworden. Wenn die Vegetarianer behaupten, heruntergekommene Menschen seien aggressibler für gewisse Krankheiten, so haben sie wohl Recht, aber sie bleiben uns den Beweis schuldig, daß dieselben durch den Fleischgenuß zunächst zu Säufern und Wüstlingen geworden und dadurch heruntergekommen sind. Wenn sie behaupten, die Fleischfresser verfallen der Tuberculose, so will ich ihnen nicht schwindsüchtige Vegetarianer, wohl aber die Thatsachen entgegenhalten, daß die Bewohner von Island und den Faröerinseln trotz überwiegender Fleischkost absolut frei von Tuberculose sind, und umgekehrt unsere warm empfohlenen Vorbilder, die Affen, wenn sie in unser Klima übergesiedelt werden, trotz vegetabilischen Futters fast alle an Schwindsucht zu Grunde gehen. Wenn sie behaupten, die Länder der Carnivoren seien überhaupt die vornehmsten Brutstätten aller Krankheiten, so vergessen sie, daß die verderblichsten Seuchen, Cholera, Pest, gelbes Fieber, Privilegien der Tropengegenden sind, die Cholera von der gepriesenen indischen Urheimath der Vegetarianer aus ihre verheerenden Wanderzüge unternommen hat. Wenn endlich die Herren „Naturärzte“ sich vermessen, alle möglichen Krankheiten mit ihrer Diät bessern oder heilen zu wollen, so werden die „Kunstärzte“ ihnen zwar gern diesen und jenen Herzkranken z. B. in die Cur geben, aber gewiß mit allen Mitteln z. B. einen Diabetiker aus ihren gefährlichen Händen zu retten suchen.

Ich breche ab, denn die Stunde hat geschlagen, welche den Vegetarianer zu seinem ungesäuerten Brod, seinen Früchten und seiner Mandelmilch, meine Sündengefährten zu ihrem Butterbrod mit kaltem Fleisch, ihrem Glas Wein oder Bier, oder vielleicht gar zu einer „Tasse Thee“ ruft. Ich wünsche Freund und Feind einen gleich gesegneten Appetit. Sie, meine Collegen und Colleginnen in der Sarkophagie, vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen wohl die Unschädlichkeit des Fleischgenusses garantirt und für einen mäßigen Genuß von Reizmitteln meine Lanze eingelegt habe, für die leiblichen und geistigen Schäden aber, welche ein Trimalchivgelage Ihnen bringen könnte, keine Verantwortlichkeit übernehme. Sie, meine Herren Vegetarianer, beachten Sie wohl, daß ich Ihnen die Möglichkeit einer gefunden Existenz bei Ihrer freiwilligen Selbstkasteiung nicht bestritten habe, daß ich auch Ihnen, die Sie nur als Laienbrüder gläubig auf die Worte Ihrer Magister schwören, die Blößen und Fehler Ihrer Diätetik nicht anrechne. Diesen Ihren Predigern aber sagen Sie, daß es heutzutage nicht mehr so leicht ist, „den Geist der Medicin zu fassen“ und ungestraft auf ihrem Gebiet den Messias zu spielen, daß sich die heutige Physiologie und Pathologie durch den Geist, in welchem ihre Jünger mit rastlosem mühevollen Fleiß das achtunggebietende Lehrgebäude, wie es jetzt dasteht, aufgeführt haben, auch das volle Recht erworben hat, gegen die Einmischung pfuschender Dilettanten ein Veto einzulegen.




Eine beängstigende Viertelstunde.

Aus dem Seetagebuche des österreichischen Seeofficiers F. in Foggia.

Unter den sengenden Strahlen der Augustsonne im Jahre 186* segelte, jeden Fetzen Leinwand zum Auffangen der schwachen und unstäten Südost-Brise aufgezogen, unterwegs von Tunis nach Neapel, langsam auf den tiefblauen Wogen des Tyrrhenischen Meeres die stattliche Kriegscorvette „Der Meeresfeger“.

Rechts, in weiter Ferne, über dem dunstigen Horizont, lagen die blauen Spitzen der westlichsten Ausläufer Siciliens in Sicht. Außer diesen fand das Auge rundum keinen Haltepunkt auf der von der blühenden Atmosphäre wie ein Stahlspiegel glänzenden unendlichen Wasserfläche.

Während die halbe Schiffsbemannung unter Deck sich mit leichten Schiffsarbeiten beschäftigte, suchten die anderen Matrosen, Artilleristen und Marine-Infanterie-Soldaten, welche auf Deck sein mußten, sich gegen die kaum erträgliche Mittagshitze dadurch zu schützen, daß sie sich in den Schatten der Borde, Boote und Segel verkrochen; dabei vergaß der größte Theil derselben in leichtem Halbschlummer des Elendes, welches hier zu tragen war. Nur einigen wenigen Unglücklichen verbot die eiserne Dienstespflicht, sich gegen die + 36° Réaumur auf irgend eine Weise zu schützen. Mißmuthig und mit gespannten Sinnen lehnte der Wachofficier im Luv (an der Windseite) an dem Fallreep (bewegliche Bordaufsteigtreppe), während sein Auge bald den Horizont, bald das über seinem Haupte sich stolz erhebende Masten-, Segel- und Taugewirre, bald den nachlässig die Speichen des Steuerrades haltenden Steuermann streifte. Zwischen den beiden achtundvierzigpfündigen Hintercastellgranatkanonen spielten lautlos einige Schiffsjungen mit kleinen Papierschnitzeln und harten Schiffsbohnen.

[474] Auf der Windseite, und zwar im vollsten Sonnenschein, spazierte ein blutjunger Wachcadett über die schier glühheißen Planken des von der Mannschaft außer Dienst streng gemiedenen Hinterdecks und kostete im Voraus die Freuden des Fegefeuers, den Augenblick verwünschend, wo er, unbekannt mit den unzählbaren Entbehrungen und Leiden des Seemanns, durch die glänzende Außenseite des Kriegsmarinelebens verführt wurde, sich diesem Elitecorps einverleiben zu lassen.

Am Vordercastell lagen im Schatten des großen Vorsegels mehrere dienstfreie Officiere und Cadetten, der Schiffsarzt und der Proviantcommissair auf feinen Matten hingestreckt und lauschten begierig den Erzählungen aus dem eigenen vielbewegten Seeleben eines unter ihnen, während sie leichte Wölkchen der an Bord so beliebten Cigarillos in die Luft ringelten und aus kleinen Tassen den dickflüssigen echten Mocca schlürften. Im Laufe des Gesprächs erwähnte Einer, welch unglaubliche Menge geistiger Getränke mancher Seemann, besonders in kalten windigen Nachtwachen, ohne Schaden trinken könne, und da meinte Schiffslieutenant v. R., der bisher ruhig zugehört hatte, er glaube, im Vertragen von Spirituosen thue es ihm so leicht Keiner nach; ja er sei bereit zu wetten, er könne, ohne abzusetzen, eine volle Halbe (ungefähr drei Viertel Litres) echten Jamaica-Rum trinken. Lachend erklärten die um ihn her liegenden Officiere sich bereit, die Wette zu halten, denn sie glaubten, er scherze nur; wer beschreibt aber ihr Erstaunen, ja ihren Schrecken, als v. R. ruhig erklärte, er wolle die angenommene Wette sofort ausfechten. Wirklich mußte ein wachhabender Schiffsjunge vom Bot?temeister das gewünschte große Glas mit Rum gefüllt herbeibringen, v. R. setzte, trotz allen ernstlichen Abmahnens und Bittens seiner Cameraden, die Halbe Rum an die Lippen und goß sie, ohne abzusetzen, bis auf den letzten Tropfen in den Schlund. Nach diesem furchtbaren Trunke erhob sich v. R. und stand eine kleine Weile blaß und nervös zitternd da, erholte sich aber scheinbar sofort, grüßte die nicht wenig verblüfften Cameraden und stieg festen Schrittes die Vordercastelltreppe hinab unter die Matrosen auf die Laufplanke; dort zog er einige schöne blanke Maria-Theresien-Thaler aus der Tasche und rollte sie unter die aufspringende Mannschaft, sich an der Balgerei der Leute beim Erhaschen der Münzen höchlichst ergötzend. Kurz darauf schritt er über das Hinterdeck zur Hauptofficierstreppe und verschwand in seine Cabine. – Sämmtliche Zeugen dieses Wetttrinkes glaubten fest, Schiffslieutenant v. R. werde sich niedergelegt haben, um durch tüchtigen Schlaf die unausbleiblichen Folgen eines solchen Trunkes zu vertreiben! Sie dachten auch nicht daran, daß derselbe, obwohl im Dienste einer der tüchtigsten, gebildetsten und erfahrensten Seeofficiere, von Hoch und Niedrig geachtet und geliebt, doch leider schon seit einiger Zeit an furchtbarem nervösen Kopfweh litt, ja manchmal Dinge that und sagte, welche auf eine leichte Geistesstörung folgern ließen.

Kurze Zeit, nachdem v. B. sich unter Deck in seine Cabine begeben, hatte man auf Deck schon das Vorgefallene vergessen, und Jedermann ging seinen Obliegenheiten oder hing seinen Träumen nach.

Auf den meisten Schiffen, besonders aber auf Kriegsfahrzeugen haben die um den Mittelsaal gelegenen kleinen Officiers-Cabinen in der Decke eine runde Oeffnung, welche zur Einlassung des Tageslichtes mit einer zolldicken Glaslinse gut verschlossen ist; bei großer Hitze wird statt der Glaslinse eine durchbrochene Metallrosette eingeschraubt, um diesen engen Räumen doch ein wenig Luft zuzuführen. Auf Kriegsschiffen führt aus der Cabine des Schiffslieutenants ausnahmsweise mittelst einer Fallthür über eine kurze Treppe ein selten gebrauchter Weg in die Pulverkammer (Santa Barbara genannt) und zwar, um für den Fall eines Aufstandes oder wenn der Hauptweg in die Pulverkammer durch die Mittelschiffsräume verschlossen ist, es den Officieren zu ermöglichen in dieses Heiligthum eines Kriegsfahrzeuges zu gelangen. Diese kurze Andeutung diene zur Erklärung des Nachfolgenden.

An jenem Mittag waren eben auch an Bord des „Meeresfegers“ der Hitze wegen die Glaslinsen der Cabinen ausgeschraubt und dafür die durchbrochenen Metallrosetten eingesetzt, durch welche der oben am Decke in der Sonne spazierende Wachcadett manch’ sehnsüchtigen Blick nach den unter seinen Füßen liegenden schattigen Räumen warf. Kurze Zeit jedoch nachdem Schiffslieutenant v. R. sich in seine Cajüte begeben hatte, blieb der Cadett plötzlich stehen und hob mit dem Ausdrucke unendlichen Erstaunens sein Stumpfnäschen gen Himmel, gleich als ob ihm einer der glühenden Sonnenstrahlen Botschaft bringen sollte, woher der eigenthümliche Brand- und Pulvergeruch käme, welcher plötzlich seine zarten Geruchsnerven verwundete. Doch nicht lange dauerte seine Unbeweglichkeit, denn ein Blick auf den Steuermann und den am Waffenmagazin stehenden Wachtposten (außer ihm und dem Schiffsjungen die einzigen Menschen, welche sich in jenem Augenblicke am Hinterdeck befanden) zeigte ihm, wie auch diese Beiden mit weitgeöffneten Nasenflügeln, Furcht und Entsetzen in den Mienen, den immer stärker werdenden Geruch nach verbranntem Pulver einzogen. So sehr dem jungen Manne, eigentlich noch Knabe, auch das Herz pochte, so sehr sich ihm ein Schrei des Entsetzens auf die Lippen drängte, die Pflicht des Soldaten, die Ehre des Officiers erwachte mit solcher Kraft in ihm, daß er sich überwinden und, wenn auch sehr blaß, zu dem am Fallreep lehnenden Wach-Officier treten und demselben leise die gemessene Meldung von dem gespürten Brandgeruch machen konnte.

Der Wach-Officier, Fregatten-Lieutenant Alfred H., ein ruhiger, besonnener und kaltblütiger Mann, Schwede von Geburt, hatte kaum einige Schritte gegen das Hinterdeck gemacht und sich von dem Brandgeruche selbst überzeugt, als auch schon die auf der Laufplanke und unter dem Vordercastell, oder hinter den schweren dreißigpfündigen Geschützen im Schatten lagernde Mannschaft, unruhig werdend durch den nun auch am Mittel- und Vorderdeck merkbaren Brandgeruch, zwar noch schweigsam, aber entsetzt und drohend aufsprang.

Es giebt leider auch an Bord von Kriegsschiffen schreckvolle Augenblicke, wo die Matrosen, sonst durch eine entsetzlich harte und strenge Disciplin gebändigt, jede Fessel sprengen, jedem Zwange entschieden entgegentreten und in der Angst um das eigene Leben sich zu Herren ihres Schicksals zu machen trachten. Nur die größte Besonnenheit und Energie seitens der wenigen Officiere vermag in solchen Augenblicken furchtbare Katastrophen vom Schiffe abzuwenden.

Ein Blick nach vorn zeigte dem Wach-Officier des „Meeresfegers“ die größte Gefahr: in der Ueberzeugung, der Gestank nach entzündetem Pulver könne nur aus der Santa Barbara kommen, denn anderswo ist kein Schießpulver aufbewahrt, und in der Befürchtung, daß das Schiff zu ihren Füßen sich gleich einem Vulcan jeden Augenblick öffnen und ihre Glieder gen Himmel schleudern könne, machte die Mannschaft Anstalten sich auf das Hinterdeck zu stürzen, um die dort aufgehißten Seitenboote in’s Meer zu lassen und sich auf diesen, sei’s auch mit Gewalt, über die Leiber ihrer Officiere weg, wenn möglich zu retten. Mit wenigen Sätzen sprang der Wach-Officier zu dem Hinterdecks-Waffenmagazin, ergriff dort ein schweres Enterbeil, ließ den Posten „Gewehr heraus“ rufen und warf sich im Vereine mit dem Wach-Cadetten, welcher seinen kleinen Borddolch drohend mit der Faust schwang, bis an den Hauptmast der noch unschlüssigen Mannschaft entgegen. In Gedankenschnelle waren die allezeit den Officieren ergebeneren, von den Matrosen als sogenannte Faullenzer und Landratten meistens gering geschätzten, ja wohl sogar gehaßten Marine-Infanterie-Soldaten auf den Alarmruf des Postens nach hinten zu gelaufen, hatten die dort am Rechen lehnenden Gewehre ergriffen und auf Befehl ihres Feldwebels in enggeschlossener Linie mit gefälltem Bajonnet das Hinterdeck von den Matrosen abgeschlossen.

Sobald der Wachofficier sah, daß diese vor den drohenden Bajonnetspitzen für den Augenblick zurückwichen, ließ er schnell durch einige hinzugeeilte Artilleristen die beiden stets mit Trauben-Kartätschen geladenen Hintercastell-Kanonen wenden und nach vorne über beide Laufplanken auf die Mannschaft richten. Mit rasch entzündeten Lunten standen die treuen Artilleristen bereit, auf den Befehl des Officiers ohne Bedenken Tod und Verderben unter ihre Leidensgefährten zu schleudern.

Während dieser kurzen Vorgänge war aber nicht nur der Gestank nach verbranntem Pulver immer stärker geworden, sondern am ganze Hinterdeck lagerte sogar schon eine leichte mehrere Schuh hohe Pulverdampfwolke.

Sogleich nach erfolgtem Alarmrufe waren die meisten Officiere und Cadetten, sowie auch der Schiffsbefehlshaber, Fregatten-Capitain Ritter von L., ein zwar tüchtiger, muthiger und gerechter, aber wegen seiner schrecklichen Strenge im Dienste wenig beliebter Seeofficier, auf dem Hinterdeck erschienen. Derselbe versammelte den Stab um sich und ließ sich vom Wachofficier das Sprachrohr reichen, als Zeichen, daß er nun selbst das Commando übernehme. Todtenstille herrschte jetzt auf Deck. Die Disciplin schwang ihre [475] eiserne Geißel über Aller Haupt. Alles erwartete, wenn auch mit bangen Herzen, aber doch ohne Murren, lautlos und gefaßt, den, wie Alle glaubten, aber Keiner zu sagen wagte, unvermeidlichen Tod durch die Explosion der Pulverkammer. Ein Ruf brachte den Oberfeuerwerker, einen alten erfahrenen Artilleristen, vor den Commandanten. Dieser gab ihm mit ruhiger heller Stimme den Befehl, mit möglichster Vorsicht in die Pulverkammer hinabzusteigen, um die Ursache des Pulverdampfes zu ergründen.

Bei der auf Deck herrschenden Stille hörte Jedermann diesen kurzen Befehl, aber nicht allein der alte Feuerwerker wurde todtenblaß, als ging’s den letzten Weg zur Raanocke (wo die Hinrichtungen durch den Strang stattfinden), gar manches stille heiße Gebet mag in jenem schrecklichen Augenblicke aus der Brust von den am Deck versammelten zweihundertfünfundzwanzig Menschen zum Allmächtigen emporgestiegen sein, manch’ verzweiflungsvoller Gedanke mag den fernen Lieben, der teuren Heimath, dem jungen Leben gegolten haben, vielen mag in wenigen Augenblicken wie ein Traumgebilde das vergangene Leben vorübergeschwebt sein; denn da an Bord der Kriegsschiffe nicht nur sämmtliche gefüllte Bomben, Granaten und Raketen; sondern auch sämmtliches Schießpulver und alle Patronen einzig in der tief unter’m Wasserspiegel gelegenen Santa Barbara in eisernen Kisten aufbewahrt werden, und da die nun auf dem Deck lagernde schwere Wolke von Pulverdampf vermuthen ließ, es habe bisher nur eine teilweise Entzündung einiger Patronenkisten stattgefunden, so glaubten Alle, daß, sobald der hinabbeorderte Feuerwerker die Thür, welche in die Pulverkammer führt, öffne, jedenfalls durch das Hinzutreten frischer Luft und den entstehenden Zug die ganze Masse explodiren und Schiff und Bemannung in die Luft sprengen werde.

Der Feuerwerker legte vorschriftsmäßig die Hand an die Mütze, ein heiseres „zu Befehl, Herr Commandant“ preßte sich zwischen seinen Lippen durch, ein rasches „Kehrt“, wenige Schritte und – er verschwand die Treppe zur Pulverkammer hinab.

Bis zu seinem Wiedererscheinen auf Deck vergingen ungefähr fünfzehn Minuten, aber was für eine Viertelstunde war das! Sie schien ohne Ende – und doch so kurz. Jeder las in des Andern Auge die Todesfurcht, und doch wagte Keiner einen Laut, als fürchte er die Explosion dadurch zu beschleunigen; man hörte das Klopfen der Pulse, der kalte Schweiß rieselte von den Stirnen, und doch wie wundervoll, wie erhebend war es zu sehen, was eine kräftige Disciplin, was die Achtung vor dem Gesetze, was das Beispiel der Vorgesetzten vermag; – denn wir Alle hatten den sicheren Tod vor Augen, und dennoch stand Jedermann unbeweglich auf seinem Posten, die Blicke unverwandt auf jenen Mann gerichtet, welcher, das Sprachrohr in der Rechten und von seinen erprobten Officieren umgeben, durch seinen Blick Alle beherrschte.

Während noch Allesammt auf Deck von Augenblick zu Augenblick den Tod erwarteten, erhob sich über die Luke wieder das jetzt ganz freudig leuchtende Antlitz des alten Feuerwerkers. Ein Blick aus Aller Augen auf seine lächelnden, ja selbst schalkhaften Züge, und Aller Mienen verloren den starren Ausdruck, freier hob sich die Brust, die Herzschläge beruhigten sich und der Alp war geschwunden.

Mit raschen Schritten ging der Feuerwerker zum Befehlshaber und meldete, daß er nicht nur die Pulverkammer nach genauer Untersuchung in vollster Ordnung befunden – mit Ausnahme einer offenen Schießpatronenkiste – sondern daß auch weder im Mittel- noch Unterdeck eine Spur von Brand oder Pulvergeruch zu spüren sei. Er war, um jeden Luftzug zu vermeiden, nicht durch die gewöhnliche eiserne Thür in die Pulverkammer gedrungen, sondern hatte die große runde, Tag und Nacht brennende Lampe sammt Refractor, welche die Kammer beleuchtet, von außen aus der Wand geschraubt und war durch das dadurch entstandene Loch hineingeschlüpft. Dieser Meldung zufolge beschränkte sich also die Pulverdampfwelle einzig auf das Oberdeck.

Jetzt, wo die Gemüther beruhigt waren, bemerkte der Befehlshaber, daß Schiffslieutenant von R. nicht auf Deck war. Eine Frage nach demselben wurde von den Officieren mit Stillschweigen, seitens der umstehenden Mannschaft aber mit leisem Lächeln beantwortet. Der Cajütendiener meldete, daß die Thür, welche aus dem Mittelsaal in des Schiffslieutenants Cabine führe, fest verschlossen sei. Daraufhin gingen mehrere Officiere hinab, klopften und riefen an seiner Thür, aber keine Antwort erfolgte. Rasch entschlossen stemmten sie die Schneide eines Enterbeils zwischen die Fugen und sprengten die Thür auf. Doch welch ein schrecklicher und zugleich trauriger Anblick bot sich ihnen durch eine dichte Pulverdampfwolke dar! Vor dem kleinen Ausklapptische saß auf einem Feldstuhle Schiffslieutenant von R., ohne Rock und Weste, mit offener Hemdbrust, aufgeschlagenen Aermeln, bleich und geschwärzt mit halbverbrannten Händen. Zu seinen Füßen lag die in die Pulverkammer führende geheime Fallthür offen, auf dem Aufklapptische neben einem brennenden Wachslichte und auf dem Bette lagen mehrere aufgerissene Päcke Spitzkugelpatronen.

Jetzt erklärte sich der Vorfall.

Der Unglückliche hatte in Folge des genossenen Alkohols die Sinne verloren, hatte sich aus der Pulverkammer einige Päcke scharfe Patronen geholt und – unterhielt sich damit, eine Patrone nach der andern mit bloßer Hand bei der Kugel zu ergreifen und das Pulver an der Flamme des Lichts explodiren zu lassen. Der Rauch davon zog sich natürlich nach und nach durch die durchbrochene Metallrosette im Plafond auf Deck, verbreitete sich dort längs der Dielen und brachte so unangenehme Wirkungen und Schrecken hervor. – Beim Anblick der sprachlos vor Erstaunen unter der eingebrochenen Thür stehenden Cameraden schien von R. theilweise zum Bewußtsein zu kommen, denn – er suchte mit zitternden Händen aus seinem Toilettenecessaire ein Rasirmesser loszubekommen. Fregattenfähnrich Graf v. D., die traurige Absicht errathend, warf sich schnell auf ihn und entriß ihm das Messer.


Wenige Monate darauf zählte die berühmte Irrenanstalt in B. einen Cur- und Mitleidbedürftigen mehr.




Die letzten Tage eines Verurtheilten.
Von Wolfgang Müller von Königswinter.

Wie am Himmel zuweilen unerwartet ein glänzendes Meteor auftaucht und die ganze Welt in Erstaunen setzt, so geschieht es auch dann und wann, daß auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft Persönlichkeiten auftreten, die durch eine hervorragende Leistung die allgemeine Aufmerksamkeit erregen. So war es vor ein paar Wochen in Düsseldorf der Fall, daß ein Bild „Die letzten Tage eines Verurtheilten“ ausgestellt wurde, welches das höchste Staunen hervorrief. Der Name des Künstlers, eines jungen Ungarn Michael Munkacsy, den man bis dahin kaum gekannt hatte, war nun in Aller Munde. Sowohl bei der Künstlerschaft wie im großen Publicum herrschte nur eine Stimme über das unbestrittene Talent, das hier gleichsam mit seinem ersten Bilde hervortrat.

Kein Wunder! Gegenstand wie Ausführung erschienen auf diesem Gemälde von gleicher Bedeutung. Was den erstern angeht, so beruht er auf einer alten ungarischen Sitte. Wird ein Verbrecher zum Tode verurtheilt, so ist es den Verwandten, Freunden und Nachbarn gestattet, dem Delinquenten in den letzten Stunden einen Besuch zu machen. Die Einen kommen aus Theilnahme, die Anderen aus Neugierde. Väter und Mütter erscheinen mit ihren Kindern, um ihnen ein abschreckendes Beispiel vor Augen zu stellen. Der Künstler hat sich diesen tragischen Stoff zur Darstellung gewählt und damit gewiß einen trefflichen Wurf gethan.

Es ist ihm aber auch gelungen, sein Bild in so klarer und bedeutsamer Weise zur äußeren Erscheinung zu bringen, daß man es nicht ohne ein Gefühl der tiefsten Erschütterung ansehen kann. Wir erleben hier den letzten Act eines Trauerspiels, der in einem unterirdischen gewölbten Kerker vor sich geht, in welchen durch eine Oeffnung im mittleren Hintergrunde ein trübes und graues Licht dringt, gerade hinreichend, um die verschiedenen Gruppen zu beleuchten, die der Maler zur Verkörperung seines Gedankens verwendet hat. Etwas nach rechts steht ein Tisch mit brennenden Kerzen und einem Crucifix. Seitwärts sitzt der Verbrecher, an den Füßen gekettet, schwarzhaarig, dunkeläugig, mit dem Ausdruck der tiefsten Gewissensbisse, des peinigenden Gefühls vor dem letzten Augenblicke, denn er war ursprüglich keine verlorene Seele, wilde ungezähmte Leidenschaften haben ihn an den Abgrund gebracht. Neben ihm

[476]

Die letzten Tage eines Verurtheilten.
Nach dem Gemälde von Michael Munkacsy auf Holz übertragen.

[477] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [478] lehnt sein gebrochenes Weib mit dem weinenden Gesichte an der Wand. Sie hat ihn geliebt und bebt nun vor dem Verluste, der sie treffen, und der Schande, die auf sie fallen soll. Zwischen Beiden steht ihr unschuldiges Kind, das nichts von dem düstern Vorgange versteht und ein Stück Brod in den Mund führt. Diese drei Gestalten nehmen natürlich vorzugsweise die Aufmerksamkeit in Anspruch. Links hinter dem Tische hält ein österreichischer Soldat Wacht. Der übrige Raum aber wird von einer Menge von Personen angefüllt, die den verlorenen Menschen noch einmal sehen wollen. Ohne Zweifel sind es Verwandte, die unmittelbar vor ihm stehen. Der junge Bursche, der in den Mantel gehüllt vor sich hin starrt, mag sogar ein Mitschuldiger sein, der glücklicher Weise ein ähnliches Geschick vermeidet. An ihn lehnt sich seine Mutter. Hinter denselben sehen wir einen Mann, neben ihm eine junge Frau, welche ein kleines Kind auf dem Arme trägt. Sie haben einige Buben mitgebracht, um ihnen schon früh den Abscheu vor jedem Fehltritte einzutränken. Weiter nach links sieht man einen Schmied im Schurzfell, der seine Pfeife nicht ausgehen läßt, mit einem jungen hübschen Mädchen, welches einen Korb am Arme trägt. An der Thür im Hintergrunde gewahrt man einige Personen, die sich über die Unthaten des Verurtheilten unterhalten. Alle diese Gestalten sind durchaus originell und charakteristisch. Man sieht, daß der Künstler über eine Fülle von feinen physiognomischen Beobachtungen verfügt, welche er hier in der sinnigsten Weise zu verwenden gewußt hat.

Aber noch mehr als alle diese Einzelheiten erregt der psychologische Zusammenhang, welcher in dem ganzen Bilde herrscht, unser Erstaunen. Wir sehen überall die tiefe Gedankenarbeit eines Künstlers, der rastlos bestrebt war, seinen Gegenstand mit Erschöpfung aller Mittel auf den höchsten Gipfel der tragischen Wirkung zu bringen. Schuld, Mitschuld, Erbarmen, Abscheu, Neugierde und Theilnahmlosigkeit sind in den verschiedenen Gruppen in der klarsten Weise ausgeprägt. Aus diesem Grunde ist der Eindruck auch in jeder Beziehung überwältigend. Wir erinnern uns nicht leicht eines Kunstwerkes, welches uns auf den ersten Anblick in gleicher Weise ergriffen und gerührt hätte. Wir werden fast gepackt wie von einer mit aller Kraft der Leidenschaft dargestellten dramatischen Scene auf der Bühne.

Daß die Gruppirung in Zeichnung und Linien nichts zu wünschen übrig läßt, muß Jeder auf den ersten Blick erkennen. Dabei hält sich die malerische Durchführung auf der gleichen Höhe mit der Composition. Die Farben- und Lichteffecte sind meisterhaft. Man wird in dieser Beziehung an die besten Arbeiten von Knaus erinnert. Die gedämpfte Beleuchtung paßt vorzüglich zu dem traurigen Gegenstande. In den Gewandungen herrscht allerwärts ein grauer Ton, der gleichwohl nicht der nöthigen Klarheit entbehrt und im Ganzen den Ernst der Stimmung mächtig erhöht. Das Fleisch entspricht in jedem einzelnen Falle der dargestellten Persönlichkeit.

Und wer ist denn der Autor dieses ausgezeichneten tragischen Gemäldes? Niemand anders als ein junger vierundzwanzigjähriger Ungar, der, in Munkacs geboren, seine Eltern in der Revolutionszeit bei einem Ueberfall der Russen verloren hat, dann zu einem Oheim kam, welcher ihn als eilfjährigen Knaben zu einem Tischler in die Lehre brachte. Ja, vor einigen Jahren stand Munkacsy noch an der Hobelbank, wo er aber weniger an das Handwerk, als an die Kunst dachte. Und so ging er eines Tages aus der Werkstätte in das Atelier eines kleinen Portraitmalers zu Gyula, wanderte dann nach Pest, Wien und München, wo er einen ungarischen Preis gewann, mit dem er nach Düsseldorf zog, um sich dort an dem Beispiele der besten deutschen Genremaler zu bilden. An Arbeit, Noth und Mühe mag es ihm nicht gefehlt haben, bis er in dem Bilde, welches wir eben besprochen haben, einen entscheidenden Wurf that und umsomehr die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich leitete, als es gewissermaßen sein erstes Werk ist, das ihm übrigens auch sofort von einem Amerikaner mit dreitausend Thalern bezahlt wurde. „Die letzten Tage eines Verurtheilten“ werden im nächsten Pariser Salon gewiß ihre gerechte Würdigung finden. Es ist nur schade, daß sie dann direct über den Ocean gehen, um in dem unbekannten Cabinet eines Yankee allen europäischen Augen entzogen zu sein. Eine neue Arbeit des hoffnungsvollen Künstlers ist bereits für den Preis von fünftausend Thalern von einem Engländer bestellt. Also auch diese Schöpfung kann in Deutschland und Oesterreich nur wenig bekannt werden.

Gleichwohl hoffen wir, dem genialen Meister in Zukunft noch öfter zu begegnen, denn er wird allem Anschein nach kein vorübergehendes Meteor sein, sondern ein Stern am Himmel der Kunst bleiben. Und dann bietet sich auch wohl Gelegenheit, näher auf seine Lebensverhältnisse zurückzukommen. Das originelle Volk der Magyaren hat in Petöfi einen höchst eigenthümlichen Dichter, es ist immerhin möglich, daß Munkacsy sich als ein ebenso eigenthümlicher Künstler entwickelt und an seine Seite stellt.




Der Bergwirth.
Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Der Inspector schien die Rede nicht gehört zu haben; mit einem Seitenblick auf seine Frau fragte er den Sträfling nach seiner Beschäftigung.

„Sie wissen ja,“ erwiderte dieser, „Sie haben mir ja selbst befohlen, daß ich den Beißwurm fangen soll, den wir gespürt haben … er war auch schon in der Schlinge und ist doch durchgekommen …“

„Um Gotteswillen,“ rief die erschrockene Frau, „ich setze keinen Fuß mehr in den Garten, wenn sich ein solches Unthier darin befindet!“

„Sei unbesorgt,“ entgegnete der Inspector; „obwohl ich nicht begreife, wie sie hierher versprengt worden sein mag, ist es doch richtig, daß ich gestern an der Urne eine Viper oder Kupfernatter bemerkt habe; die Steine an derselben schienen ihr ein willkommener Schlupfwinkel zu sein, aber der unheimliche Gast wird bald gefangen sein – nicht wahr, Bergwirth?“

„Gewiß,“ erwiderte dieser, „wenn ich ihn aber habe, was soll ich damit anfangen?“

„Wie könnt Ihr fragen? Tödtet ihn; solches Gezücht, das nur um zu schaden dazusein scheint, verdient es nicht anders. Laßt mich bald hören, daß Ihr meinen Befehl vollzogen habt. …“ Er wollte gehen, hielt aber, sich besinnend, ein. „So eben fällt mir ein,“ fuhr er fort, „da Ihr nicht in den Eßsaal kamt, erfuhrt Ihr auch nicht, daß ein Brief an Euch gekommen ist …“

„Ein Brief? Und an mich?“ fuhr der Bergwirth heraus, dem es nicht gelang, eine freudige Ueberraschung vollständig zu beherrschen; augenblicklich hatte er sich jedoch wieder gefaßt und fand den Ton des hämischen Lachens wieder, der ihm eigen war. „Das muß eine Irrung sein!“ sagte er. „Ich wüßte nicht, wer mir zu schreiben hätte und was!“

„Sonderbare Frage – habt Ihr nicht eine Tochter?“

Ueber das Antlitz des Bergwirths ging es wieder, wie ein Windstoß über den See oder über ein reifendes Saatfeld: er wogt darüber hin und im nächsten Augenblick ist seine Spur nicht mehr zu gewahren. Dann lächelte er wieder, wie vorher, als er vom Hunger gesprochen, und ließ die Hand sinken, die er schon nach dem Blatte in der Hand des Inspectors erhoben hatte. „Tochter!“ sagte er. „Ei ja wohl, es ist mir wirklich so, als wenn ich einmal eine Tochter gehabt hätte! Aber die denkt nimmer an den Bergwirth; ich wüßt’ nit, was die mir zu schreiben hätt’ und was sie von mir wollen könnt’ – bin auch gar nicht neugierig darauf …“

„Wie – Ihr werdet doch den Brief Eurer Tochter nehmen und lesen?“ rief der Inspector wie verwundert und wie schreckhaft.

„ … Muß ich?“ fragte der Bergwirth und ließ den Blick finster auf dem Beamten ruhen.

„Ihr müßt keineswegs …“ erwiderte dieser, „ich will Euch den Brief aufbewahren, bis Ihr ihn selber verlangt … Ihr habt Euren freien Willen.“

„Ja, bewahren Sie mir den Brief auf,“ rief der Sträfling hastig, „wenn ich nit muß, will ich nichts davon wissen … es thut

[479] mir wohl, wenn’s doch noch etwas giebt, wo ich noch meinen freien Willen haben darf …“

Der Inspector erwiderte nichts mehr; seinen Spaziergang fortsetzend, schritt er an dem Sträfling vorüber, der ihm nachsah, als kämpfe er mit sich selbst, ob er ihn nicht zurückrufen solle, dann aber mit raschem Griffe seinen Rechen aufnahm, um einen Baumzweig anzuharken und niederzuziehen, an welchem das weiße Wollgespinnst eines Raupennestes sichtbar war.

„Was sagst Du nun?“ sagte der Inspector im Fortschreiten zu seiner Frau. „Habe ich nicht Recht? Du hast aus seinen Reden zur Genüge entnehmen können, daß er nur die Beschränkung seines Hochmuths, das Beugen seines Eigenwillens als eine Strafe fühlt – das Müssen allein ist es, was ihn drückt!“

„Das ist traurig!“ erwiderte die Frau. „Mir ward unheimlich bei diesem Menschen, und ich werde mich hüten, ihm wieder zu begegnen! Ein Glück, daß der Schreckliche unschädlich gemacht ist; wer weiß, welches Unheil der noch anzurichten im Stande wäre!“

„Das befürchte ich nun weniger; ich glaube vielmehr, jetzt, nachdem er gesehn und gefühlt, was ihn zu zwingen vermag – Gesetz und Recht – wird er sich hüten, wieder damit in feindliche Berührung zu kommen.“

„Und welche Bitterkeit in seinem Tone,“ rief die Frau, „als er von seiner Tochter sprach! Welcher Haß aus seinen Augen flammte, als er den Brief zurückwies – was hat ihm das Mädchen gethan?“

„Nichts, das ich wüßte – ich kenne sie nicht. Es kamen schon einige Male Briefe von ihr, die er immer annahm; aber jetzt muß ich zweifeln, ob er demungeachtet einen davon gelesen! Da Alles, was an einen Sträfling kommt, durch meine Hand gehen muß, las ich sie alle – das Mädchen scheint mehr Unterricht erhalten zu haben als ein gewöhnliches Landmädchen. Die Briefe enthielten nichts als einfache, herzliche Versicherungen ihrer Ergebenheit und die Bitte, es sie gleich wissen zu lassen, wenn etwas ihm gebrechen sollte, was sie ihm zu verschaffen im Stande sei … In dem heutigen theilt sie ihm mit, daß ihr gerathen worden, seine Begnadigung nachzusuchen, wozu indeß, wie ich vermuthe, wenig Hoffnung vorhanden sein dürfte …“

„Der Unwürdige verdient keine Gnade!“ rief die Frau. „Ich habe an ihm wieder einmal erfahren, wie sehr der Schein betrügt! Und sieh nur,“ unterbrach sie sich stillstehend, „was beginnt er doch?“ Sie standen eben an der Ecke des Rasen-Vierecks und konnten unter der Baumreihe hinweg auf den Platz mit der Urne sehen; statt der Antwort schritt der Inspector quer über das Grün und kam noch gerade recht, um zu erkennen, daß der Bergwirth die Viper, der er auflauerte, wirklich am Halse hart hinter dem Kopfe gefaßt hielt, daß sie sich wohl schlängeln und winden, aber nicht beißen konnte – die Frau kreischte auf bei dem Anblick und floh eilends dem Hause zu. Eben als der Inspector neben dem Bergwirth angekommen, hatte dieser sich zum Grase niedergebeugt; als er die Hand wieder erhob, war sie leer und das gefangene Thier daraus verschwunden.

„Was habt Ihr gethan?“ rief er dem Ueberraschten zu. „Ihr habt die Viper gefangen und wieder losgelassen?“

Der Bergwirth bewegte die Lippen aber die Rede ward nicht zum lauten Worte. „Leugnet nicht!“ fuhr der zürnende Beamte fort. „Ich habe deutlich gesehen, Ihr hattet das Thier fest gepackt, daß es Euch nicht entkommen konnte. Ihr beugtet Euch nieder. Ihr habt es absichtlich frei gelassen … Warum thatet Ihr das? Warum habt Ihr die Viper nicht getödtet, wie ich befahl?“

Der Wirth stand noch immer schweigend; sein Gemüth bäumte und wand sich auf unter der sittlichen Wucht, mit welcher der Ernst des Beamten auf ihm lastete, wie zuvor die Natter sich in seiner Hand gewunden. „Das Vieh hat mir leid gethan,“ stieß er rauh und kurz hervor, „ich hab’ Mitleid mit ihm gehabt …“

„Mitleid?“ zürnte der Inspector. „Ihr – der eine Schaar schuldloser Menschen dem Tode und der Verstümmelung ausgesetzt, Mitleid mit einem Thiere, das nur zu schaden vermag?“

„Der Beißwurm thut keinem Menschen was,“ grollte der Sträfling, „er beißt nur, wenn man ihn verfolgt … jedes Thier hat etwas, womit es sich wehren kann …“

„Ihr sagt mir nicht die Wahrheit,“ donnerte der Inspector. „So sehr Ihr es zu verbergen sucht, durchschaue ich doch Euer verstocktes Gemüth und sehe klar vor mir, warum Ihr so gehandelt habt! Nicht Mitleid hat Euch bewogen, das Thier frei zu lassen, – aus Bosheit habt Ihr es gethan! Ihr ließt es los, weil es ein schädliches Thier ist, weil Ihr ihm die Möglichkeit, schaden zu können, nicht nehmen wolltet! An einem solchen Charakter war meine bisherige Milde am unrechten Ort. Ihr seid nicht im Stande, die geringste Freiheit, die man Euch läßt, ohne Gefahr für Andere zu gebrauchen; aber noch ist es Zeit, das Versäumte einzuholen. Ihr sollt erfahren, daß ich die Macht und den Willen habe, Euch nachdrücklich in die Lehre zu nehmen! Hieher!“ rief er fortfahrend einem Gerichtsdiener zu, den das laute Gespräch in die Nähe gerufen hatte. „Führen Sie den Sträfling Obernöder in den Spinnsaal … er wird bis alls Weiteres Wolle kardätschen!“

„Herr Inspector,“ rief der Bergwirth, der rasch wie noch nie die Mütze vom Kopf gerissen hatte und sie mit beiden Händen an die Brust gepreßt hielt. Er war todesblaß geworden, die Zähne schlugen ihm aneinander und die Kniee zitterten. „Thun Sie mit mir, was Sie wollen,“ keuchte er, „aber sperren Sie mich nicht in den staubigen Saal … schicken Sie mich nicht zum Spinnen … ich muß zu Grund’ gehn, wenn ich die Luft nicht mehr hab’ und die Sonne …“

„Hinein – zur Arbeit!“ herrschte ihn der Inspector an. „Euer Bitten ist vergebens – Ihr seid jetzt nicht werth, daß Euch die Sonne bescheint!“

„Ist keine Hülfe?“ stammelte der Sträfling mühsam, „– muß ich wirklich …?“

„Ihr müßt! Es ist meine Pflicht und Schuldigkeit, während der Zeit, für die Ihr mir übergeben seid, zu sorgen, daß dem Beißwurm wenigstens die Giftzähne ausgebrochen werden … Fort mit Euch …“

„Nun, so soll’s auch sein,“ murmelte der Bergwirth knirschend. „Sie haben mich in Ihrer Gewalt. Sie werden wissen, was Sie dürfen … und ich – ich muß!“

Fest und aufrecht ging er mit dem Gerichtsdiener hinweg, ohne auch nur noch einen Blick auf den Garten zu werfen, von dem er scheiden mußte; kopfschüttelnd sah ihm der Inspector nach. „Ein solcher Starrkopf ist mir noch nicht vorgekommen!“ rief er. „Ich fange an zu zweifeln, ob die Strenge ihn zu brechen vermag … wenn der nicht von innen heraus mürbe wird, geb’ ich ihn verloren!“

Juliens Brief hatte außer dem, was der Inspector erwähnt, nur die Klage enthalten, daß sie, so oft sie auch geschrieben, niemals eine Antwort erhalten, und wie gute Hoffnung sie habe, endlich doch noch mit ihrem Gesuche durchzudringen. Der Sommer war ihr in dem stillen Versteck des Bahnwärterhäuschens dahin gegangen; sie hatte im Herbst die Buchen sich röthen und die Birken vergilben gesehen, und der Schnee, der winterlich um das einsame Hüttchen stürmte, hatte sie hinter den überfrorenen Fenstern gefunden, in kleinster Thätigkeit und engster Umgebung, aber die Umgebung bot dankbare Liebe und die Thätigkeit lohnte sich durch Gedeihen.

Der alte Postillon und seine noch ältere Mutter waren ein Bild zufriedenen Glücks, und wenn Bartel manchmal seine Bahnstrecke begangen und vom Schnee gereinigt hatte und dann in die behagliche warme Stube kam, dann rieb er sich lachend die Hände, sah in der Stube herum, die so hell und blank war wie ein Glasschränkchen, und meinte, daß er nun da sitze wie der Vogel im Hanfsamen und daß er sich getraue, eine Wette darauf einzugehen, daß es im dritten Himmel auch nicht schöner und vergnügter sein könne.

Auch Juli’s Gemüth hatte die Einsamkeit wohlgethan und ihr Ruhe gegeben, deren sie so sehr bedurft; die Begegnung mit Falkner hatte wieder alle Stürme entfesselt und alle Untiefen desselben aufgewühlt; genügt doch ein in’s Wasser geworfener Stein, die glatte Seefläche zu stören; lange, lange breiten sich die Ringe immer weiter und immer schwächer aus, bis sie vollends am Gestade ersterben; dann ist der Stein auf den Grund versunken, er hat aufgehört, eine Last zu sein, und ist zum unsichtbaren Kleinod, zum Geheimniß geworden. – Ueber das Zusammentreffen mit Falkner hatte sie gegen Bartel geschwiegen; sie vermied es überhaupt, von ihm oder von der verlorenen Heimath und Allem, was daran mahnen konnte, zu reden; das Einzige, was sie ein paarmal von ihm erbat, war die Besorgung von Briefen an ihren Vater und die Nachfrage, ob noch immer keine Antwort von ihm eingetroffen. Eines Tages brachte der Bahnwärter statt eines solchen das Gerede heim, der Bergwirth könne das eingesperrte Leben im Zuchthause nicht vertragen und sei krank geworden. Da war ihr Entschluß [480] gefaßt; anstatt den Ablauf der Strafzeit abzuwarten, wollte sie thätig sein, sie so viel als möglich abzukürzen, ihrem Vater die Freiheit und mit ihr die Gesundheit zu einem neuen Leben wieder zu verschaffen. War doch in der ganzen Gegend nach Bartel’s Bericht wieder viel von dem Bergwirth die Rede, und schien es doch, als ob die Ansicht über ihn und seine That umgeschlagen und eine viel mildere geworden. Der so ungewöhnlich rasche Verfall und die Verschleuderung des Bergwirthshauses, das früher eine Perle der Umgegend und eine Goldgrube gewesen, die Verurtheilung des Eigenthümers, der, wenn auch mitunter ein „harter Hund“, doch immer als ein ehrlicher und angesehener Mann gegolten, das Verschwinden der Tochter hatten allmählich den anfänglichen Unwillen in Bedauern umgewandelt. Man hörte vielfach sagen, der Bergwirth müsse, wie er das gethan, völlig irr’ und auseinander gewesen sein und er hätte vielleicht ganz anderswohin gehört, als wo er sich jetzt befinde.

Der Postillon sah es wohl lang’ voraus, daß es so kommen werde; als ihm aber Juli ihre Absicht, seine Einsiedelei zu verlassen, mittheilte, war es ihm doch bang’ und weh um’s Herz, beinahe wie damals, als es mit dem Postreiter zu Ende gegangen war. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er leben und wie es im Hause werden solle, wenn Juli nicht mehr darin weile und walte, und es war nur ein schwacher Trost, daß sie mit Hand und Mund versprach, sie werde die freundliche Zuflucht, die er ihr gewährt, nie vergessen und wolle wieder zu ihm kommen, wenn ihr Vorhaben nicht gelänge oder ihr sonst ein Unheil in die Quere komme. Er war ihr behülflich, die letzten Reste ihres früheren Wohlstandes zu Gelde zu machen, dessen sie vor Allem bedurfte, und drang ihr sogar einen Theil seiner kleinen Ersparnisse als Nothpfennig auf; es gehöre ihr so gut wie ihm, sagte er, denn wenn sie nicht gewesen wäre, würde es mit der Ersparniß schlimm ausgesehen haben.

Gleich die ersten Gänge und Erkundigungen bei den äußeren Gerichten hatten Juli überzeugt und belehrt, daß das, was sie wollte, nur in der Hauptstadt zu erreichen war; kein anderer Mund als der des Königs selbst vermochte das befreiende Wort auszusprechen. Sie wollte zu ihm, wollte ihm selbst Alles sagen, was sie auf dem Herzen hatte und wie es ihr auf der Zunge saß; aber sie erkannte nur zu bald, daß dies das Allerschwerste war, obwohl der König als sehr leutselig und zugänglich gepriesen ward. Wohl ward sie im Vorzimmer des Herrschers mit aller Artigkeit und allen Zeichen liebenswürdiger Theilnahme angehört, aber ihr auch alle Hoffnung benommen, ihre Bitte mündlich vortragen zu können. Der König sei zu sehr überhäuft, wurde ihr bedeutet; auch betreffe das eine Angelegenheit, die in das Bereich des Justizministers gehöre, in welches die Majestät nicht eingreife, ohne ihn gehört zu haben; sie solle nur ihr Gesuch schriftlich übergeben und sicher sein, daß der König es zu Handen bekomme, und sie werde dann schon Bescheid erhalten.

Mit schwerem Herzen folgte sie der Weisung und wartete auf den versprochenen Bescheid; aber Tag um Tag, Woche um Woche verging, ohne daß derselbe erschien. Schon wollte sie sich wieder auf den Weg machen nach München, als sich die Kunde verbreitete, der König, ein Freund des edlen Waidwerks, werde demnächst in einer benachbarten Gegend ein großes Jagen abhalten und mehrere Tage in einem kleinen Berghause verweilen, das er sich zu diesem Ende erbaut. Schon der nächste Abend fand Juli in dem bezeichneten engen Bergthale, und sie war zur rechten Stunde gekommen, denn kurze Zeit nachher ertönten die Jagdhörner und der König erschien, seine Jägercavalcade um und hinter sich – ein stattlicher Zug, denn die kurzen dunkelgrünen Sammtröcke, in welche er sich und seine Begleiter gern gekleidet sah, die breiten Hüte mit den wehenden Federn, die hoch über’s Knie hinaufreichenden grauen Lederstiefel, die blanken Gürtelkuppeln mit den blitzenden Hirschfängern bildeten einen ebenso einfachen wie schmuckvollen Anzug. Vor dem Jagdhause wurde das erlegte Wild abgeladen, um vom König besichtigt zu werden – vor Allem ein besonders starker und stattlicher Berghirsch, ein Vierzehnender, der angeschossen auf den etwas schroffen und gefährlichen Stand des Königs angerannt gekommen, von ihm aber mit seltener Geistesgegenwart und sicherer Hand gerade im Augenblicke der Gefahr erlegt worden war. Das riesige Thier trug als Königswild einen Kranz von Tannzweigen mit Edelweiß besteckt um das Geweih; mit Wohlgefallen betrachtete der Fürst die edle Jagdbeute und die Hörner bliesen in einer schmetternden Fanfare dem königlichen Schützen Waidmanns Heil, als Juli, deren Anwesenheit von Niemandem beachtet worden, plötzlich vordrängte und, ehe die Jäger es hindern konnten; sich dem König zu Füßen warf. Wohl versuchten sie, die zudringliche Störerin hinwegzubringen, aber der Fürst wehrte ihnen ab. Mit jener herzgewinnenden Güte, die selbst sein früher und rascher Tod von dem edlen Angesichte nicht zu tilgen vermochte, forderte er das Mädchen auf, sein Anliegen vorzubringen.

„Ich bin heute auf mein eigenes Vergnügen bedacht gewesen,“ sagte er lächelnd zu seinen Begleitern, „vielleicht ist es mir vergönnt, auch noch Jemand Anderm eine Freude zu machen …“

Juli erzählte, anfangs schüchtern und verwirrt, bald aber mit aller Einfachheit ihres Wesens, aller Innigkeit ihres Gemüths. Schweigend hörte der Monarch zu; sein Blick ruhte mit mildem Wohlgefallen auf dem hübschen, schmerzlich erregten Angesicht Juli’s und ihren thränenschimmernden Augen, als sie am Schlusse ihrer Bitte noch einmal in die Kniee sank.

„Steh’ auf, Mädchen,“ sagte er dann gütig, „die Sache ist mir nicht fremd, ich habe schon davon gehört. Was ich gehört, war allerdings nicht geeignet, Dein Gesuch zu empfehlen; der Inspector der Strafanstalt hat dem Verurtheilten kein günstiges Zeugniß ausgestellt … aber ich will Dir und meinen eigenen Augen einmal mehr glauben als geschriebenen Berichten. Wer eine so wackere Tochter hat und so sehr von ihr geliebt wird, der kann kein gänzlich verlorener Mensch sein … ich übergebe ihn Dir, mein Kind; um der Tochter willen sei dem Vater verziehen … Herr Graf,“ fuhr er, zu einem seiner Begleiter gewendet, fort, „sorgen Sie, daß es sogleich ausgefertigt werde … das Mädchen mag seinem Vater selber die Freiheit bringen … Nun aber zu unserer Jägermahlzeit!“

Schon der nächste Tag traf Juli vor den hohen Thor- und Einfassungsmauern des Zuchthauses; mit freudig bangem Herzen zog sie die Glocke, der ein scharfer gellender Ton und das Rasseln von Schlüsseln und Riegeln antwortete. Wenige Augenblicke später stand sie vor dem Inspector, der in einem mehr als schmucklosen Canzleizimmer in einem Verschlage arbeitete, der ihn von den Persönlichkeiten schied, mit denen er meistens zu verhandeln hatte. Der Beamte las und staunte; er putzte die Brille und las wieder und legte dann, das Mädchen vom Kopfe his zu den Füßen musternd, den überraschenden königlichen Befehl nicht eben sanft auf sein Pult. „Es ist richtig,“ sagte er dann; „zwar ist das nicht der gewöhnliche Weg für solche Dinge … aber es ist richtig. Meinetwegen – Du mußt es fein angefangen haben, Mädel; derlei kommt nicht oft vor; mir aber geschieht ein Gefallen, wenn ich den widerhaarigen Alten los werde, mit dem doch keine Ehre einzulegen ist. Ich habe Alles mit ihm versucht und Alles vergebens. Bei der Gartenarbeit blieb er verstockt und boshaft, beim Spinnen blieb er es auch! Er that sein Tagwerk wie eine Uhr, die abläuft, so weit sie aufgezogen ist. Er arbeitete für Zwei; aber er hätte sein eigenes Auge nicht aufgehoben, wenn es ihm auf den Boden gefallen wäre. Er sprach kein Wort und sein Gesicht sah immer aus wie ein Gewitterhimmel. Ich wünsche Dir Glück, wie Du mit ihm zurechtkommen wirst! Willst Du den alten Starrkopf gleich mitnehmen?“

Juli seufzte tief auf; ein Schauder hatte sie überrieselt, als sie von den Erlebnissen des Vaters gehört. Sie ahnte, welche Wucht von Leiden über dessen hartem Gemüthe dahin gegangen sein mußte … „Wenn’s erlaubt ist, ja,“ erwiderte sie auf die Frage. „Und ist also der Vater jetzt ganz und wirklich frei?“

(Schluß folgt.)


Zur Ehrengabe für Roderich Benedix

gingen wieder ein: von einem relegirten Studenten 1 Thlr.; Heinrich Brockhaus 25 Thlr.; Gust. Mayer 10 Thlr.; Sondermann u. Stier in Chemnitz 10 Thlr.; D. M. in O… 5 Thlr.; Ertrag einer Benefizvorstellung der Gesellschaft „Myrthe“ in Leipzig 5 Thlr. 7½ Ngr.; Harmonie-Gesellschaft in Waldenburg (Sachsen) 5 Thlr.; 1 Thlr. mit einem Gedicht, dessen Endverse lauten:

Heut bring’ ich dar was ich erspart
Von meiner kleinen Habe,
und bitte, daß Ihr nicht verschmäht
Der alten Jungfer Gabe.

Ertrag einer vom „Leipziger Klapperkasten“ veranstalteten Benedix-Feier 250 Thlr. 5 Ngr.

Die Redaction. 



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.