Die Gartenlaube (1870)/Heft 10
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No. 10. | 1870. |
(Fortsetzung.)
Adelheid beflügelte, je näher sie den Landenden kam, wider Willen ihre Schritte. Sie liebte ihn, liebte ihn mit der ganzen Kraft, mit der sie sich selbst liebte, und mit dem ganzen heimlichen Trotz der Gekränktheit gegen Den, dessen Tugend stärker war als ihre Reize. Es giebt kein gefährlicheres Gift als die Zärtlichkeit, die das Weib dem Manne aus Trotz gegen einen Andern schenkt. Es ist ein Gift, das Beide zugleich vernichtet.
Adelheid hatte ihren Vetter erreicht; sie bot ihm das süße Gift mit der kleinen Hand, die sie ihm zum Kusse reichte, mit dem bräutlichen Blick, den sie ihm unter den Goldwimpern hervor entgegensandte.
Sie war auf die kleine Landungsbrücke hinausgetreten, ihre Locken wehten im Winde, an ihrer Hand sprang Egon aus dem Kahn, und vor ihr stand nun die edle ritterliche Gestalt mit dem eindringlichen aufsaugenden Blick, als wolle er sie in einem Anschauen ausschöpfen, die ganze unendliche Schönheit der Geliebten. Auch Egon war ein schöner Mann, ihr ebenbürtig an körperlichen Vorzügen. Sie war überrascht, als sie ihn wiedersah; sie glaubte ihn noch nie so herrlich gesehen zu haben. Kein Götterbild der Alten besaß bei dieser Reinheit der Linien die sanfte Gluth dieser braunen Sammtaugen, die Geschmeidigkeit und Kraft dieser schlanken Glieder. Er war ohne Gleichen in der zahllosen Gestaltenwelt der Künste und des Lebens. Wie hätte sie diesen Mann nicht lieben sollen? Konnte der Schönste nicht das Schönste fordern? Mußte sie sich ihm nicht liebend nahen, wie eine Welle in die andere fließt?
„Meine gnädigste Cousine!“ sagte er in sichtbarer Bewegung, „wie geht es Ihnen? Doch was brauche ich zu fragen –“ er senkte seine Blicke in die ihren, und unhörbar wie der Südwind, der an ihnen vorüberstrich, hauchte er ihr zu: „Engel meines Lebens, wie schön bist Du!“
Jetzt war auch der Neffe Adelheid’s ausgestiegen und stellte sich der „gnädigen Tante“ vor. Er war ein hübscher strammer Junge zwischen fünf- und sechszehn Jahren in knapper Cadetten-Uniform, der einzige Sohn von Adelheid’s verwittweter Schwester, der Gattin eines Vetters des Grafen Schorn.
Egon hatte sich von der Mutter des Knaben, dessen Vormund er war, um so eher erbitten lassen, ihn nach Zürich zu führen, als ihm dies einen willkommenen Vorwand gab, seine Cousine wieder aufzusuchen. Er mußte ihr doch einmal den Sohn ihrer Schwester bringen, damit sie ihn in seiner Uniform sah, das war klar; er war natürlich nur Victor’s wegen da.
„Nun, was sagst Du?“ lachte der Freiherr und klopfte den Jungen auf die Schulter. „Ist das nicht ein Prachtexemplar? Daran mußt Du Dir ein Beispiel nehmen, mein Alfred!“
„Ja, wenn ich das könnte, mein lieber Vater!“ sagte Alfred und sah traurig an seinem Vetter hinauf.
„Nun, nun, das wird schon werden,“ tröstete der alte Mann, der fühlte, daß er dem Knaben weh gethan.
Man schritt dem Hause zu. Egon gab Adelheid den Arm. „Welch ein Paar wären wir geworden!“ dachten Beide in einem Athemzug.
Der Freiherr ging nebenher und die Knaben folgten.
Vetter Victor maß Vetter Alfred mit einem Ausdrucke der Enttäuschung: „Warum hinkst denn Du?“
„Weil ich ein verkürztes Bein habe.“
„Wovon kommt denn das?“
„Ich hatte als Kind eine Entzündung des Kniegelenks, da ist mir das zurückgeblieben. Wir waren schon, ehe wir hierher zogen, in Kreuznach, aber es hat nichts genützt. Da ist wohl nicht mehr zu helfen.“
„Du sprichst ja wie ein Doctor,“ meinte der Cousin, und Alfred wurde darüber ganz verlegen. „Hm,“ machte Victor, „ich hatte mich so auf Dich gefreut – ich wußte nicht, daß Du hinkst!“
„Wenn Du es gewußt hättest – würdest Du Dich wohl nicht gefreut haben?“ wollte Alfred fragen, aber er besann sich und schwieg.
„Ja, was fängt man nun an?“ begann Victor wieder und betrachtete immer bedenklicher seinen schwerfälligen Begleiter. „Ich hatte geglaubt, ich könne mich hier einmal recht austollen – aber mit Dir ist ja nichts zu machen.“
„Da drüben unsre Nachbarn, denen unser Haus gehört, die haben zwei Söhne in Deinem Alter und ein kleines Mädchen, das aber so wild ist wie seine Brüder, mit denen kannst Du spielen,“ tröstete ihn Alfred schweren Herzens.
„Wer sind denn die Leute?“
„Er ist ein Seidenfabrikant.“
„Also Bürgerliche?“ fragte Victor gedehnt.
„Nun ja – sie heißen Hösli.“
„Hösli! Hösli! Nicht übel,“ lachte Victor. „Mit denen soll ich spielen?“
„Nun freilich! Willst Du nicht?“
Victor zuckte die Achseln. „Doch, doch; hier kommt am Ende [146] nichts darauf an, wo es Niemand sieht. Wie kann man aber nur Hösli heißen? Wenn ich mich zu Hause einmal verschnappte, daß ich mit Hösli’s gespielt! Gehen denn auch Deine Eltern mit den Leuten um?“
„Natürlich, weshalb sollten sie nicht?“
„Na höre, mit Bürgerlichen!“
Alfred blieb stehen und sah den Vetter mit einer eigenthümlichen Schärfe im Ausdruck an. „Sind Bürgerliche etwas Anderes als Adelige?“
Victor blieb auch stehen und war seinerseits ebenso erstaunt über Alfred’s Rede wie dieser über die seine. Das Wort blieb ihm buchstäblich vor Verwunderung im Halse stecken. Solch’ eine Frage war ihm nie in den Sinn gekommen. Die Knaben betrachteten sich gegenseitig in einer unbewußt aufkeimenden Feindseligkeit. Zum Glück ward der Streit beigelegt, ehe er entbrennen konnte; die Vorangehenden riefen den Knaben zu, sich zu beeilen.
„Sind die Leute reich?“ fragte Victor, von dem Hauptpunkte absehend, im Weitergehen.
„Ja.“
„Reicher als Ihr?“
„Gewiß!“
„Ach!“
„Seid Ihr denn nicht reich?“
Victor lachte: „Wir? Ja! Reich an Schulden! Vater hat Alles verputzt, die Mutter weiß oft nicht, wie sie bei Hof erscheinen soll, und wäscht sich Nachts heimlich die Handschuhe selber. Wenn mich der Fürst nicht erziehen ließe“ – er blies sich durch die Finger – „da könnte ich Holzhacker werden.“
„So nimmst Du Unterstützung von einem Fremden an?“ fragte Alfred mit steigender Geringschätzung.
„Nun, von einem Fürsten kann man sich doch etwas schenken lassen.“
Alfred richtete sich stolz auf: „Ich würde nicht von Almosen leben, gäbe es mir ein Fürst oder ein Bauer, lieber würde ich Holzhacker!“
„Du würdest ein schöner Holzhacker,“ lachte Victor, „Du kannst ja kein Beil schwingen!“
„Nun, wenn mir gar keine Wahl mehr bliebe, dann würde ich lieber sterben,“ sagte Alfred und tiefe Furchen legten sich um den bitter verzogenen Mund.
Victor sah ihn befremdet an: „Wie überspannt Du bist! Was uns der Fürst giebt, ist unter allen Umständen eine Ehre, denn er hat gesagt, er wolle ein so altes verdientes Geschlecht, wie das unsre, nicht verkommen lassen.“
„Das ist keine Ehre,“ sagte Alfred störrisch, „was uns ein Anderer giebt – das nur ist eine Ehre, was wir uns selbst erwerben.“
„Wer sagt denn das?“
„Nun, das ist doch so einfach wie ‚zweimal zwei ist vier‘.“ Sie waren am Hause angelangt.
„Alfred,“ rief ihm die Mutter zu, „wie erhitzt bist Du! was ist Dir, mein Kind?“
„Nichts, liebe Mutter!“ versicherte Alfred ungeduldig, es war ihm peinlich, so in Gegenwart der Fremden als Angstkind behandelt zu werden.
„Es ist die Freude über seinen neuen Gefährten!“ sagte sein Vater vergnügt, „Ihr seht Euch ja heute zum ersten Male. Als wir von M… nach der Schweiz zogen, war Dein Vater noch am Leben und garnisonirte in S… Nicht wahr, lieber Victor?“
„Zu dienen, ja!“ antwortete Victor, schlug die Fersen aneinander und machte Front gegen den Onkel, als erstatte er einem Vorgesetzten Rapport.
„Habt Ihr denn bereits recht gute Freundschaft mit einander geschlossen?“ fragte Egon.
„Zu dienen, ja, lieber Vetter!“ antwortete Victor mit militärischer Präcision.
Alfred schwieg. In diesem Augenblick erschien der Candidat auf der Treppe. Alle in der Vorhalle Versammelten wandten sich nach ihm um, er mußte die Stufen unter den Spießruthen der musternden Blicke der Gäste herabkommen. Er hatte die Augen niedergeschlagen, aber nicht aus Bescheidenheit, sondern nur aus vollkommenster Gleichgültigkeit, der es nicht der Mühe lohnt, die Anwesenden früher als nöthig zu betrachten.
In gespannter Erwartung harrte Egon des Nahenden. Rasch hatte er das Bild des düsteren Mannes in sich aufgenommen. Er sah die denkende Stirn mit den buschigen Brauen, die tiefliegenden verschleierten Augen und das reine Profil, die fest verschlossenen und doch so üppig geschweiften Lippen und das dichte blauschwarze Haar. Dieser Mann war gefährlich, wenn auch nicht eigentlich schön, denn dazu war er zu finster und zu eckig von Gestalt, aber er war mehr als schön: interessant und spröde! – das sah Egon auf den ersten Blick und er streifte prüfend Adelheid’s Mienen. Sie bemerkte es und erglühte. Der Candidat kam heran. „Herr Baron,“ sagte er zu dem Freiherrn, „Sie haben mich befohlen.“
„Mein lieber Herr Feldheim, ich konnte es nicht erwarten, bis ich zwei so auserlesene Männer mit einander bekannt gemacht! Herr Candidat Feldheim, Herr Graf von und zu Schorn.“
Feldheim verneigte sich zuvorkommend und tief, Egon grüßte leicht und obenhin. Der Candidat stutzte: hatte es der Graf überflüssig gefunden, seine Höflichkeit in gleicher Weise zu erwidern? Es war nur eine Form, aber sie entsprach in diesem Falle genau dem Maße des Inhalts und der Graf hatte Feldheim weniger Ehre zugemessen, als dieser ihm. Er überschaute den Grafen mit einem langen Blick von oben bis unten. Dieser ward nicht minder herausfordernd erwidert. Es stand kein guter Stern über dem Hause, als die fremden Gäste seine Schwelle betraten.
Adelheid befiel eine so bange Ahnung, daß sie darüber vergaß, was sogar Feldheim sah: wie schön sie der sorgenvolle Ernst kleidete, mit dem sie die beiden Männer beobachtete, während diese einige Höflichkeitsphrasen wechselten. Nur der Freiherr war in seiner biedern Weise gänzlich unbefangen. Er nahm Victor bei der Hand und stellte ihn Feldheim vor. Er hoffte, Victor werde Alfred, der so lange der Geschwister entbehrt, ein lieber brüderlicher Gefährte sein.
Feldheim sah Victor und dann Alfred an. Letzterer schüttelte leise das Haupt, Feldheim verstand ihn.
„Aber nun bitte ich Sie wirklich, meine Schwestern zu begrüßen, bester Graf,“ flüsterte Salten, „sonst müssen wir’s Alle entgelten!“
Egon war natürlich mit dem größten Vergnügen bereit und man trat bei den Tanten ein.
Egon, der gute, vortreffliche Cavalier, der immer wußte, was sich gehört, küßte nach der Reihe die schimmeligen Glacés Bella’s, die schmutzigen Lilly’s und die fetten handschuhlosen Grübchen Wika’s und alle mit dem gleichen „Empressement“! Er hatte ein gar zu wohlthuendes Wesen, der liebe Vetter. Bella führte ihn gleich zu einem Tisch, wo die wollene Bescheerung für die „barmherzigen Samariter“, mit rothen Bändchen gebunden, aufgethürmt lag.
Das freudige Erstaunen Egon’s über solchen Fleiß entsprach denn auch vollständig Bella’s Erwartungen.
„Lieber Gott, wenn man so alt wird und die Prüfungszeit, die uns von Gott gesteckt ist, länger dauert, als die Kräfte reichen, da kann man wenig mehr nützen,“ flüsterte Bella und verdrehte die Aeugelchen wie ein Papagei, den man unter den Flügeln kraut; „indessen Sie werden vorlieb nehmen, theuerster Graf und Mitarbeiter am Werke des Herrn – es ist nichts Kostbares, aber ich strickte mit dem Herzen!“
„Ja, und sechs Waisenkinder haben ihr dabei geholfen!“ fuhr Lilly arglos heraus.
Aber „au! was kneifst Du mich denn?“ schrie die kleine Unbedachte erschrocken auf und hielt sich das schlottrige Aermchen. Es war ein bedenklicher Moment für die doppelt blamirte Bella, ein noch bedenklicherer für das enfant terrible, welches seiner Strafe sicher war und vor lauter Angst ärger als je mit den Zähnen wackelte.
Gutmüthig wie immer machte der Freiherr der Verlegenheit ein Ende und bat Egon und Victor, sie auf ihre Zimmer führen zu dürfen. Noch einmal handküßte sich der galante Vetter der Reihe nach durch und diesmal kam auch selbstverständlich Adelheid daran, bei der er sich für eine Stunde verabschieden mußte. Als er seine Lippen auf Adelheid’s Fingerspitzen drückte, traf sein Auge das des Candidaten, der still beobachtend zur Seite stand. „Auf Wiedersehen!“ nickte er ihm herablassend zu und verließ das Zimmer.
Wenige Minuten später trat Adelheid mit dem Candidaten in die Vorhalle. Er wollte sein Zimmer aufsuchen, Adelheid ging in den Garten. Bevor sie sich trennten, blieb Adelheid stehen und [147] sah ihn an mit der ganzen Macht ihrer Anmuth: „Wollen Sie mir etwas zu Liebe thun, das Einzige, um was ich Sie bitte, seit wir uns kennen?“
Der Candidat schaute in ihr kindlich flehendes Auge und auf ihre halbgeöffneten purpurnen Lippen. „Alles, was ich kann!“ sagte er mit einem tiefen Athemzuge.
„O, dann seien Sie gütig und nachsichtig gegen meinen Vetter. Er ist mit mir aufgewachsen, ist mir theuer wie ein Bruder, und was Sie ihm thun, thun Sie mir!“
Sie war so schön, so wahr, wie sie das sagte – so durchsichtig.
Dem stillen Manne ging die Seele auf, und was nicht über die starren Lippen durfte, das suchte und fand seinen Weg durch das Auge und schimmerte darin in feuchtem Glanze. Er reichte ihr die Hand und sagte: „Ich verspreche es Ihnen, gnädige Frau, soweit es sich mit meiner Ehre verträgt!“ Und er wurde schön in seiner Milde und sah so groß und göttlich auf sie herab, daß es sie durchschauerte in ihre sündhafte lustberauschte Seele hinein.
Ein Geräusch schreckte sie auf, sie zitterte, als müsse sie umsinken: Egon trat aus seinem Zimmer.
Wika und Egon gingen vertraulich flüsternd im Garten auf und nieder, da trat der Candidat auf sie zu und fragte bescheiden, ob sie Alfred nicht gesehen hätten.
„Das könnten wir wohl eher Sie fragen,“ sagte Wika schnippisch. „Der Erzieher sollte doch wissen, wo sein Zögling ist, dazu sind Sie ja da!“
Feldheim schoß das Blut in’s Gesicht, er bezwang sich nicht mehr. „Gnädiges Fräulein,“ sagte er stolz, „ich bemerke seit einigen Tagen, daß es Ihre Absicht ist, mich zu beleidigen. Welchen Grund Sie auch dazu haben mögen, – ich versichere Ihnen, daß Ihre Bemühungen völlig vergeblich sind; Sie werden mich keinen Fußbreit von der Bahn abrücken, die meine Pflicht mir vorgezeichnet.“
Er lüftete den Hut und ging ruhigen Schrittes nach der andern Seite des Gutes, wo ein großer Obstgarten lag, den die Hösli’s und Saltens gemeinschaftlich benutzten. Dort fand er die Kinder. Er blieb stehen und beobachtete sie unbemerkt. Aenny und Victor schaukelten sich an den Zweigen eines großen Apfelbaumes; sie hatten gewettet, wer es am längsten aushielte, und Alfred saß auf einer Bank und sah nach der Uhr, wie lange sie hingen.
„Ich kann nicht mehr,“ schrie Victor.
„Ich auch nicht,“ schrie Aennchen, und Beide fielen von ihrer Höhe zur Erde.
„Da liegen wir wie die reifen Pflaumen,“ lachte Aenny und stand auf. „Nun, Alfred, wie lange ist’s?“
„Gerade elf Minuten.“
„Das ist nicht wahr, es muß länger sein,“ schrie Victor; „Du hast nicht aufgepaßt, oder Du betrügst uns um fünf Minuten.“
„Ich lüge nicht,“ fuhr jetzt Alfred auf; „das lasse ich mir nicht sagen.“
„So, Du läßt es Dir nicht sagen? Was willst Du denn machen, wenn ich es doch thue, Du Herr von Rührmichnichtan?“
„Victor,“ sprach Alfred an sich haltend, „so wie Du hat mich noch Niemand gekränkt, und ich thue doch, was ich Dir an den Augen absehe. Wenn meine Eltern wüßten, wie Du mich behandelst, – sie würden es gewiß nicht dulden.“
„Nun, so klatsch’ es ihnen doch!“ spottete Victor. „So ruf’ doch Deinen Herrn Lehrer zu Hülfe, daß er mich statt Deiner durchprügelt, – warum thust Du’s denn nicht?“
„Weil ich meinen Gastfreund nicht verrathe und weil ich mir nicht helfen lassen will, wo ich mir selbst nicht helfen kann.“
„Ach, sei still,“ sagte Victor, „Du bist ein falscher Duckmäuser.“
„Victor,“ schrie Alfred auf, „nimm das zurück oder –“
„Nein, ich nehm’s nicht zurück,“ lachte Victor, „und wenn Du’s nicht glaubst, so will ich Dir’s auf den Rücken schreiben.“
Da hielt sich Alfred nicht länger: „Es ist das erste Mal, daß ich Jemanden schlage, aber bei Dir lernt man Alles!“ Und ehe Victor es sich versah, hatte Alfred eine kleine Baumstütze aus der Erde gezogen und führte einen machtlosen Streich nach ihm. Mit einem Griffe hatte Victor den schwachen Händen den Stock entwunden und nach einem kurzen Ringen warf er Alfred zu Boden.
Feldheim hatte vortreten wollen, aber er besann sich anders. Alfred sollte seine Sache selbst ausfechten und seine Kräfte prüfen.
Er wehrte sich vergeblich, aber tapfer, kein Schrei entrang sich seinen Lippen, als der Gegner ihn bezwungen hatte und ihm einen Streich versetzte.
„Pfui, Victor,“ schrie jetzt Aennchen, „schlagen darfst Du ihn nicht, das leid’ ich nicht! Und auch nicht auf ihn knien, das thut ihm weh auf seiner schwachen Brust. Laß ab, sag’ ich, oder ich spiele nie mehr mit Dir!“ schrie sie und riß den wilden Jungen von Alfred weg. „Komm, Alfred, setz’ Dich auf die Bank und verschnauf’ ein wenig. Was läßt Du Dich auch mit dem großen Jungen ein, wenn Du seiner doch nicht Meister wirst!“
„Du hast Recht,“ sagte Alfred bitter. „Ein Schwächling wie ich muß sich Alles gefallen lassen.“
„Weißt Du was, Alfred,“ sagte Aennchen. „Geh’ lieber nach Hause, wir spielen jetzt gleich Krieg; wenn meine Brüder aus der Schule kommen, da kannst Du doch nicht mitmachen.“
„Wie Du willst, Aennchen; ich will Euch nicht geniren!“ Und Alfred ging.
Als er so gesenkten Hauptes dahinschritt, traf er auf den Candidaten, der scheinbar von ungefähr des Weges kam.
„Was ist Dir, Alfred, wo gehst Du hin?“ fragte dieser, als wisse er von nichts.
„Sie wollen Krieg spielen, und da tauge ich doch nicht dazu.“ Er erhob seine großen schwermüthigen Augen zu dem Candidaten. „Ich passe nicht zu den Kindern, ich bin ihnen nur im Wege. Mir ist nirgends wohl als bei Ihnen.“
Feldheim zog ihn an seine Brust und die Thränen perlten still aus des Kindes Augen darauf nieder. „Aennchen mag mich auch nicht mehr; Victor hat mich ganz bei ihr ausgestochen, weil er so stark und muthig ist. Ich muß mich immer vor ihm schämen,“ klagte Alfred leise, als sie weiter gingen.
Feldheim schmiegte die kleine zarte Gestalt des Knaben fest an sich. „Alfred,“ sagte er, „sei getrost. Ich habe Euch beobachtet, ohne daß Ihr’s ahntet, und Dein starker Vetter hat sich benommen wie ein ungezogener Bube, Du aber benahmst Dich wie ein Mann, das war der Unterschied zwischen Euch, und wenn sich Einer zu schämen hat, so ist er es, nicht Du!“
Alfred schüttelte traurig den Kopf. „Es muß anders mit mir werden, das ist mein fester Entschluß.“
Der Candidat that einen kurzen Athemzug. „Ich wollte, diese Fremden wären nie zu uns gekommen,“ murmelte er zwischen den Zähnen.
Wochen waren verstrichen, Partien gemacht und bei schlechtem Wetter Whist gespielt worden, dieser treffliche Ersatz für alle mangelnde geistige Unterhaltung. Aber es wollte sich kein rechtes Behagen zwischen den Gästen und ihren Wirthen einstellen. Egon hatte eingewilligt, Hösli’s zu besuchen, da ihm Victor erklärte, er langweile sich so mit dem unausstehlichen Alfred, daß er lieber heute als morgen abreise; dem Knaben mußte Unterhaltung geschafft werden selbst um den Preis einer gesellschaftlichen „Inconvenienz“, wie der Verkehr mit Hösli’s.
Man wurde auch zu dem großen Feste geladen, welches Herr Hösli der Eröffnung seiner neuen Fabrik und seinem Sohne zu Ehren am Jahrestage von dessen Rückkehr in’s Vaterhaus veranstaltete. Hier traf man endlich den Züricher Adel, aber er bestand auch nur aus Geschäftsleuten im Genre der Hösli, schöne stattliche Leute von tadellosen Manieren, aber – Seidenspinner, Baumwollwirker und dergleichen mehr!
Das Fest war gut in Scene gesetzt, aber es erlitt eine bedenkliche Störung durch einen Verstoß des jungen Hösli, der große Sensation erregte. Der ganze hohe Cantonsrath war bei dem Diner zugegen und hatte einen Toast auf den aus der Fremde zurückgekehrten Sohn des alten geehrten Hauses Hösli ausgebracht mit dem Wunsch, der ausgezeichnete junge Mann möge seinem Vaterland durch ein langes gesegnetes Leben zu „Ehr und Vorbild“ gereichen.
Es war ein feierlicher Moment, und Vater und Mutter hatten die Thränen in den Augen, und der Großvater legte die zitternde Rechte auf des Enkels Haupt und sagte leise: „Werd’ brav, Deine Eltern verdienen’s um Dich!“
[148] Aber Heiri blieb kalt, und als ihm später sein Vater zuwinkte, er solle sich bedanken und seinerseits den Cantonsrath leben lassen, da stand er auf, faßte mit Ungestüm sein Glas und mit begeistertem Blick nach zwei englischen Ingenieuren schauend, die auf der Durchreise Hösli’s Fabrik besichtigt hatten und von Heiri zu Tische gebeten waren, rief er kurz und bündig: „I drink to the genius of England and to her engineer’s!“ (Ich trinke dem Genie Englands und seinen Ingenieuren!)
Eine allgemeine Bewegung entstand. Die Engländer erhoben sich dankend, die Cantonsräthe schickten sich an zu gehen, Frau Hösli eilte bestürzt von einem zum andern und versuchte zu begütigen.
Es war eine unerhörte Beleidigung für die Züricher Behörden, die den jungen Mann in jeder Weise ausgezeichnet hatten, daß er sie nicht einmal eines Dankes würdigte. Er hatte allem Brauch und Herkommen in’s Gesicht geschlagen. Die Stimmung war gestört und das Fest verlief peinlich. Der Conflict, welcher seit der Rückkehr Heiri’s zwischen Vater und Sohn insgeheim bestanden hatte, war jetzt offenbar geworden. Wer Herrn Hösli näher kannte, wußte, welch’ schwere Prüfung das für den alten treuen Schweizer war.
„Du siehst, bester Alfred,“ sagte Egon später, als sich die Familie beim Thee zusammenfand, „daß es ein eigen Ding um die wahre Vornehmheit ist! Eine Tactlosigkeit wie die des jungen Höschens könnte kein wirklicher Aristokrat begehen. Und wenn sich diese Leute noch so glänzend überfirnissen, und wenn ihre Formen den unsern so ähnlich sind wie die falsche Perle der echten – ein leichter Anstoß, welcher der echten nichts anhaben kann, wird die nachgeahmte Form zerbrechen und der gemeine Inhalt kommt zu Tage. Die Politur des guten jungen Höschens hielt nicht einmal in der ersten besten Aufregung Stand und er wurde einfach grob. Die Selbstbeherrschung eines wahrhaft vornehmen Menschen wäre durch keine derartige Wallung erschüttert worden.“
Alfred schwieg betrübt, er konnte dem Onkel nicht Unrecht geben. Was Heiri gethan, war auch ihm als eine Rohheit erschienen.
„Es würde hier nur noch zu entscheiden bleiben, ob die Form oder die Wahrheit obenan zu stellen ist?“ wendete der Candidat ein. „Ich möchte der ersteren keine allzu große Wichtigkeit beilegen, sie ist eben nichts als eine Zierrath für den Theetisch. Die großen Fragen der Welt sind noch niemals mit Höflichkeit entschieden worden!“
„Sehr wohl,“ lächelte Egon. „Aber Alles zu seiner Zeit! Die feinsten und liebenswürdigsten Persönlichkeiten im Salon haben nichts desto weniger als Staatsmänner ganz Europa erzittern gemacht. Die Disciplin der Gesellschaft hat ihrer Mannheit keinen Eintrag gethan und ihre Rolle in der Geschichte war nicht minder bedeutend, wenn sie auch verstanden, dieselbe mit Grazie zu spielen. Mauerbrecher der Wahrheit, wie sie Ihrer jugendlichen Phantasie als Ideale vorschweben, gehören dahin, wo Mauern zu durchbrechen sind, nicht in den Salon, wo es sich nur darum handelt, die Schönheit der menschlichen Erscheinungsform zur vollen Entfaltung zu bringen.“
„Ich unterschätze diese Aufgabe, die sich die Aristokratie gestellt, keineswegs,“ sagte Feldheim gelassen. Es lag ihm um Alfred’s willen, dem die Rede des Oheims imponirte, daran, das letzte Wort zu behalten. „Ich weiß wohl, daß die Schönheit der Erscheinungsform der unmittelbarste Ausdruck des Adels der Menschennatur ist. Aber ich mache es der Aristokratie zum Vorwurf, daß sie sich, weil vorzugsweise im Besitz feiner Formen, auch im Alleinbesitz des Adels glaubt. Im äußerlich rohesten Plebejer kann dieser Adel verborgen liegen, ohne zur Entwickelung zu kommen, weil dem in Armuth und Niedrigkeit Geborenen die Mittel dazu versagt sind. Die Aristokratie hat einen langen Vorsprung in der Cultur der Menschheit, weil sie die zuerst besitzende, die zuerst von jedem Druck befreite Kaste war. Mit Sturmschritt ist die jüngere Generation ihr nachgerückt. Sie hätte mit der gleichen Schnelligkeit vor den Nachrückenden weiter eilen müssen, wenn sie nicht überholt sein wollte; denn um sich an der Spitze einer freien großartig entfalteten Nation zu behaupten, dazu gehört, daß der Einzelne den Pulsschlag des ganzen Volkes in sich fühle, daß der Drang, der Alle erfaßt, so mächtig in ihm sei, daß er ihn Allen voran treibt. So nur können die Anführer der heutigen Bewegung geartet sein. Aber wie kann der Adel eine Ahnung haben von der Kraft und Größe des Volkes, wenn er vor jeder Berührung mit ihm zurückschreckt und es nicht lachen, weinen, zürnen und lieben sieht? Wohl gab und giebt es Ausnahmen unter ihm: Männer wie Stein, Humboldt und Andere mehr waren auch Aristokraten, und sie haben es nicht ihrer unwürdig gefunden, der Sache des Fortschritts zu dienen. Dafür ernteten sie aber auch die abgöttische Verehrung der ganzen Nation.“
Der Freiherr war während dieser Rede mit Adelheid eingetreten. Die Tanten hatten sich in eine Fensternische verkrochen und die Köpfe zusammengesteckt wie die Hühner, wenn’s donnert.
„Wovon wurde gesprochen, wenn ich fragen darf?“ sagte der Freiherr.
Egon lächelte Adelheid zu, seine Lippen ahmten kaum merklich die Bewegung eines Kusses nach. Adelheid senkte erröthend die Wimper. „Herr Feldheim hielt uns einen Vortrag über die Nachtheile, die es für uns mit sich bringt, daß wir mit unseres Gleichen und nicht mit unseren Schustern und Schneidern verkehren,“ sagte Egon.
„Das hat Herr Feldheim sicher nicht gemeint,“ erwiderte der Freiherr ernst, „zwischen uns und unseren Handwerkern liegt noch ein großes Volk gebildeter Menschen. Ich bin ein alter Mann und verstehe die Ideen der neuen Zeit nicht mehr, aber ich kenne meinen jungen Freund genug, um ihn als Bürgen für dieselben anzunehmen. Bestrebungen, die sich mit so viel Ehrenhaftigkeit und Ritterlichkeit vertragen, wie ich sie an Herrn Feldheim gefunden, können keine schlechten sein!“
„Ich danke Ihnen, Herr Baron,“ sagte Feldheim und sein Auge haftete liebevoll auf dem alten Manne.
Ich stand an einer Waldhaide auf Kaninchen an, die allabendlich in das anstoßende Feld „zur Aeßung rücken“. Schon eine Weile fesselte mich das Treiben eines großen Würgers am nahen Dornraine. Eben flattert er wieder von dem Schwarzdorn auf über den Kleeacker hin und hebt sich plötzlich senkrecht etwa dreißig Fuß in die Höhe, um sein „Rütteln“ zu beginnen, das heißt: er hält sich flatternd halbe Minuten lang an einer Stelle in der Luft über einem gewissen Punkte. Der Vogel wendet diese Eigenthümlichkeit mit einigen Raubvögeln bei seinem Fang auf Kerbthiere, Lurche und Mäuse an. Sobald er eine Beute unter sich gewahrt, stürzt er auf sie herab, um sie mit Schnabel und Klauen sofort zu fassen. Mehrere Käfer und eine Eidechse sind von ihm auf diese Weise schon erbeutet. In seinen Klauen hat er die Letztere zu den Käfern auf die Dornhecke getragen und an einem der spitzen Dorne daselbst aufgespießt. Jetzt fährt er mit einem Male wieder schief herunter an den Rain, aber noch einige Fuß von der Erde schreckt er zurück, sein eigenthümliches Geschrei „Gäh, Gähk“ ausstoßend. Auf dem Steingerölle des Raines seh’ ich jetzt Etwas sich mausartig regen. Sonderbar, daß der Würger nicht anpacken will. Wiederholt fährt er auf den Punkt los, wendet aber hart über ihm sogleich um. Sieh! nun erscheint statt der vermeintlichen Maus das niedliche Köpfchen eines Wiesels mit dem grauweißen Schnäuzchen voll kräftiger Schnurren, mit den breiten Muschelohren und den kleinen lebhaften Augen: ein lebendiges Spitzbubengesichtchen.
Nun schiebt sich dem langen weißkehligen Hälschen ein ebenso schlanker Leib in gelenker, bogenförmiger Wendung aus einer engen Steinritze nach. Das ist unser Wiesel, auch Heermännchen oder Hermchen genannt, der kleine braunrothe Racker, der kaum handlange Zwerg mit dem Riesenmuthe und den gewaltigen Mordgedanken in dem kleinen Kopfe. Fürwahr, jede Bewegung, jedes Beginnen dieses Wesens hat etwas Anziehendes, ja Bedeutendes. Selbst das nur anderthalbzöllige Schwänzchen kleidet den beweglichen Gesellen keck und drollig zugleich. Wie auf einem Dreifuß
[149][150] hockt es nun auf ihm und den beiden Hosen, ein allerliebstes „Männchen“ machend, wobei es seine weiße Unterseite zeigt. Diese Stellung des Thierchens kündet, daß es Etwas wahrgenommen. Es ist nichts anderes, als die gespickte Tafel des Würgers, die der scharfsinnige Schlaukopf ausgewittert und nun im Begriff ist zu plündern. Aber eben, als er den Dorn hinaufklettert, stößt wiederholt auf ihn der zänkische, neidische Würger. Wie ein Gedanke flüchtig, springt dem Schreier der kleine Teufel mit einem Luftsatze entgegen, und um ein Haar war der Vogel erfaßt. Die „Fänge“ des Wiesels packten nur den scheckigen Schwanz des Würgers, von dem in kreisenden Bögen die Federn zur Erde fallen. Der verblüffte Vogel sucht mit gestutztem Steiße das Weite, um sein Steuer ärmer, dafür an Erfahrung reicher.
Die bespickten Dorne sind im Nu von dem erobernden Schalk gesäubert, und der kleine Wicht, von dem Genusse des Raubes angeregt, schlägt sich, wohllaunig, wie der spielende Wind bald da, bald dorthin. Hier befragt er ein Mausloch oder einen frischen Maulwurfshaufen nach der Anwesenheit seiner Insassen, dort wird er unter dem Blatt einer Stande unsichtbar; hier wieder untersucht er vorwitzig den vom Grünspecht angebohrten Ameisenhaufen. Alles dies anscheinend nur wie unbewußt, im Spiele – „instinctmäßig“ nach der begriffslosen Sprache der Herren Zweckmäßigkeitslehrer, aber dennoch nicht bedeutungs-, nicht willenlos: denn eben sagt uns das emsige „Winden“ der Nase am Mausloch, jetzt das aufmerksame Horchen des seitwärts geneigten „Gehörs“ am Hügel des Maulwurfs, und hier wieder das Hervorziehen einer Schnecke unter der Staude, dort endlich das Ausbeuten des Nestes von Ameisenlarven, die der Grasspecht in seinem Tunnel bloßgelegt, den steten Verkehr zwischen der Aufnahme der Sinne und der Arbeit des Kopfes in unserem Thierchen, das durch solche lebendige Folge von Wollen und Vollbringen immermehr unser Interesse erregt.
Aber plötzlich lenkt ein leises Poltern meine Aufmerksamkeit auf die Waldhaide. Dort sitzt ein Kaninchen bildsäulenartig. Es ist mich „sichtig“ geworden und stampft von Zeit zu Zeit mit den Hinterläufen vernehmlich den Boden. Ich stehe außer Wind und regungslos. „Vertraut“ geworden rückt das Kaninchen endlich mit seinem eigenthümlich rollenden Gang, eine kleine graugelbe Kugel die Flur. Hier und dort folgt jetzt ein und das andere Kaninchen aus den in der Haide verborgnen Röhren der Baue.
Aber unser Wiesel? Wohl hat es sie alle im Auge, aber besonders das niedliche Pärchen halbwüchsiger Geschwister dort am Wege, wo der Feldhain endet. Halb spielend „äßt sich“ das vertraute Paar im heimlichen Dämmer des Aehrenwaldes am Klee des Weges. Sie ahnen nicht, die still vergeßlichen Kinder des Waldes, die Nähe ihres gefährlichen Feindes. Sie sehen nicht, wie er, immer lüsterner, „einen Kegel macht“ (sich gänzlich aufrichtet), ihre Stelle genau auszukundschaften und den Wind ihnen abzugewinnen; sie „vernehmen“ nicht, wie er sich jetzt in leisen Bogenwindungen aufrafft, gedeckt vom Gras und Gestrüppe des Raines. Schlaff und wie leblos ruhen der Kaninchen „Löffel“ (Ohren) halb im Nacken, halb zur Seite, ein Zeichen, daß sie, behaglich in sich versunken, in ihrer Unerfahrenheit dahinträumen. Wie ein spielendes Lüftchen im Laube hat sich das Heermännchen dem äßenden Pärchen genahet; jetzt trennt es nur noch das letzte Klettenblatt des Raines von seinen Opfern. Doch nun reckt der Kaninchenbruder die Löffel. Hat er das letzte Rascheln des Räubers im Laube vernommen? Wohl erbte er ein Gehör, das leiseste, von den Alten; er besitzt die elterliche Mitgift der feinsten Nase, und diese bekommt nun „Wind“ von dem unerklärlichen und doch so verdächtigen Etwas. Ein Gefühl der Unsicherheit gesellt sich zu der regen Kaninchenfurcht und in jähem Satz springt das Waldbrüderchen abseits aus der gefährlichen Nähe des Lauernden, der sich in demselben Augenblicke aber auch wie ein rother Federball an den Hals des unglücklichen Kaninchenschwesterchens wirft. Verzweifelt klagend rennt dieses, den kecken Reiter auf seinem Halse, hinüber nach dem Bau, in dessen Röhre sein Angstgeschrei verhallt und in der es der kleine Wütherich durch Zerbeißen der Halsader und Aussaugen des Blutes tödtet.
In einer der alten Trifteichen auf einsamer Berghalde hat sich schon eine Zeit lang ein verborgenes Thierleben kundgegeben, durch leises Geräusch und Töne mancherlei Art Wohl verrieth uns die vor Kurzem einer der Höhlungen entschlüpfte Wiesel-Mutter, daß in dem Fuße der Eiche ihr „Geheck“ haust. Ihre lange Abwesenheit auf der Halte sagt uns weiter, daß sie wohl besorgt ist für der jungen Sippschaft Aufkommen, deren Hunger sich nun durch Piepen und Knurren kundgiebt. Eben kommt sie zurück, die Alte, mit ihren sprechenden weiten Bogensprüngen, einen erbeuteten Sperling am Flügel im Rachen. Welch ein fesselnder Anblick, dieses feine, schlanke und doch so kräftig gebaute Thierchen! Wie ein apportirender Hühnerhund, hochaufgerichtet die Beute haltend, steht es da, die Ruthe mit dem schwarzen Fähnchen in lebhafter Erregung schnellend. Wohl finden wir es begreiflich, wenn man es mit einer Schlange vergleicht. Vom niedlichen Kopf bis zur Schwanzwurzel hin – eine aalglatte, gleichdicke gestreckte Leibesgestalt, deren Bewegungen die bogenförmigen Windungen eines Reptils oft täuschend wiedergeben.
Eben hat die Wieselmutter einen murksenden Ton ausgestoßen, und wie durch einen Zauber lockt dieser Ruf das ganze Geheck an’s Licht. Ein allerliebstes nettes Völkchen bietet sich in der wimmelnden Schaar den Blicken dar. Sechs Miniaturbildchen der Alten, den Ritzen und Höhlungen der Wurzelverzweigungen entschlüpft, umgeben die Alte, die das Geheck in kurzen Zwischenräumen mit ihren murksenden Locktönen und dem hochgehobenen Raube anzufeuern bestrebt ist. Einige der Kleinen machen anmuthige Männchen und äugen neugierig mit schiefgehaltenen Köpfchen nach dem Vogel. Ein anderes Schelmchen des Gehecks ist unter früher Regung eines guten Theils Wieselkeckheit an den Raub herangerückt und fährt eben mit einem Sprung nach demselben, den die Alte aber ebenso schnell als geschmeidig dem Andrang durch eine Seitenwendung entzieht. Mit Erstaunen sehen wir, welch eine Gewandtheit und Mordlust das „halbwüchsige“ Geheck entwickelt, das gar bald unter Mitwirkung der Alten den Raub zerfleischt und aufgezehrt hat.
Es ist von manchen Naturforschern der Stube angezweifelt worden, ob das Wiesel seinem Opfer das Blut aus der zerbissenen Halsader sauge, aber wir haben es selbst gesehen. Die Wiesel sind auch hier, wie in so Vielem, vollkommene Marder. Wie sollte der Ritt auf dem Hasen zum Beispiel auch so kurze Zeit nur währen! Das Klagen des „angerissenen“ (angebissenen) Hasen erstirbt längstens in zwei Minuten, meist schon früher, ein Zeichen, daß das Opfer, das nie bei solchem Kampfe „schweißt“ (blutet), nicht an der kaum bemerkbaren Wunde, sondern vielmehr am Verluste seines pulsirenden Lebens stirbt.
Aber noch mehr: die Wiesel saugen sich beim Raube größerer Thiere wie taumelig. In diesem Zustande – der sich mit einem Rausche vergleichen läßt – verbunden mit der großen Erregung des Thieres bei seinem Morden, können wir leicht dasselbe über seinem Raube in unsere Gewalt bekommen. Das sonst so Wachsame, ja Scheue, ist dann wie blind und toll und an der Beute, in die es sich tief einbeißt, oft schwebend emporzuheben, wie wir es in zwei Fällen selbst gethan.
Die eben geschilderten Raubmorde des kleineren Verwandten wiederholen sich in vergrößertem Maßstabe bei dem Hermeline, das etwa von der doppelten Leibesstärke unseres Wiesels, von gleicher Gestalt, Farbe und Charakter, und beinahe ebenso häufig ist. Diese beiden Vetterchen haben kraft ihrer ausgeprägten Räubercharakteristik der ganzen Familie der Marder den Abglanz ihres Namens Mustela (Wiesel) verliehen. Und mit Recht. Denn keiner ihrer nächsten Verwandten, selbst nicht der Marder, kommt unseren Auserwählten an Vielseitigkeit des Wesens gleich. Beide tödten kleinere Thiere durch Zermalmen ihrer Halswirbel, verzehren davon meist alles Fleisch, während sie gewöhnlich kein Wildpret von größerem Raube anrühren. Dabei fällt uns das große Oeffnungsvermögen ihres Rachens beim Beißen auf; es übertrifft das aller Gattungsverwandten, selbst des Iltis, und ist begründet in der großen Beweglichkeit des Unterkiefers, dessen Gelenkmuskeln mit denen der Wangen ungemein dehnbar sind.
Hätte man diese Eigenschaft besser in’s Auge gefaßt so wäre von vornherein nicht die fabelhafte Ansicht über den Eierraub des Wiesels aufgekommen, die sich zäh mit so vielen Irrthümern und Unwahrheiten gerade über das Thun und Treiben unserer einheimischen Thiere fortpflanzt. Das Thierchen soll hiernach ein Hühner- oder Taubenei zwischen Kinn und Hals forttragen! Keiner der Verbreiter dieser Fabel hat sich gefragt, wie das Thier das Ei denn an diese Stelle bringe? Mit den Läufen – den Pfoten? Da müßte es ein Nager sein und selbst dann sollte es ihm schwerlich gelingen. Mit dem Maule? Nun, dann behielte es [151] das Ei doch gleich besser zwischen den Zähnen und trüge es fort; wie es in der That auch nicht anders ist. Hermelin wie Marder packen nach unseren eigenen Wahrnehmungen das Ei zwischen die Zähne, es in dem dehnbaren Rachen in ihre Schlupfwinkel, oft sogar an wenig verborgene Stellen tragend. Hier bewähren sich denn auch unsere Thiere ebenso als Künstler im Entleeren des Eies, wie sie es verstehen, das Blut aus den Adern ihrer Opfer zu saugen. Unter Eierschalen finden sich nicht selten leere Eier mit nur wenig sichtbaren Oeffnungen, aus denen der Inhalt geschickt ausgesogen wurde.
Noch aber haben sich uns Hermelin und Wiesel nur in ihrem Sommerkleide präsentirt. Es bleibt noch ein Wort übrig über ihr Winterkleid. Im Nachsommer und Herbst erscheinen beide nämlich nach und nach im weißen Gewand, das Wiesel ohne Abzeichen, das Hermelin mit dem schwarzen etwa anderthalb- bis zweizölligen Fähnchen an der Ruthenspitze. Diesen in unserem Klima oft im Winter erst beendeten Haarwechsel nennt der Waidmann, wie bei dem Wilde, „das Verfärben“. Es bildet den Thierchen einen ungleich dichteren und längeren „Balg“ (Pelz) als die Härung im Frühjahre. Zu dem vielfach Beachtenswerthen der Wiesel gesellt sich hiermit auch noch die interessante Veränderlichkeit ihrer Färbung. Bei unseren salamanderartigen Räuberchen bequemt sich also auch der Pelz lebendig der Jahreszeit und Umgebung an, der dunkelfarbene der sommerlichen Natur, der weiße dem Schneegewande des Winters.
Ueber solch’ ausgeprägten Thiercharakteren sollte der Mensch seine schützende Hand halten. Hier wäre dem kurzsichtigen Landmanne Schonung zuzurufen, dessen mit Knittel bewehrte Hand sich hebt beim Anblick der netten Thierchen, die ihm hin und wieder ein Hühner- oder Taubenei von einigen Groschen Werthes davontragen, aber auch sein Gehöfte von den schädlichen Nagern befreien, die ihm den Vorrath der Böden und Scheunen viele Thaler hoch zernagen; dort verkennt nicht minder der Jäger einseitig den Nutzen der beiden Geschöpfe, wenn er sie wegen ihres Raubes an jagdbarem Haar- und Federwilde verfolgt. Lassen wir, weitherziger und vorurtheilslos, den Rührigen die Räume drinnen in Haus und Hof und draußen im Freien, die Vielseitigkeit ihres Thuns und Treibens daselbst zu bethätigen. Ist doch für uns das erbeutete Thierchen, namentlich das Hermelin, nichts anderes als ein todter Gegenstand, dessen Pelz nur im hohen Norden den Werth behält, der ihm einst den Ruhm erwarb, königliche Schultern zu zieren.
(Schluß.)
Aber darf ich denn das Reimers’sche Palais verlassen, ohne noch einen Blick auf den schönen großen Garten dahinter zu werfen? Unter seinen schattigen Bäumen hat Möser eine Orchestertribüne aufschlagen lassen und dirigirt zu wohlthätigem Zweck im Sommer 1827 Beethoven’s Vittoria-Schlacht und zum erstenmal Weber’s Oberon-Ouvertüre. An einem Geigenpulte aber stehen zusammen zwei junge talentvolle Musiker, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Carl Friedrich Weitzmann, der jetzt noch rüstig wirkende Theoretiker, welcher in seinen Schriften den Versuch gemacht hat, die bis dahin unerhörten Tonverbindungen ungebundener Componisten nach den Regeln einer neuen musikalischen Theorie zu rechtfertigen. – Der Oberon war bereits im Winter 1826 bis 27 bei dem Eigenthümer der Partitur, bei dem durch C. M. von Weber reich gewordenen Schlesinger, von den ersten Mitgliedern der königlichen Bühne vor eingeladenem Publicum am Clavier aufgeführt worden. Die dabei vorgefallenen Umstände habe ich schon anderweitig (im Feuilleton einer Berliner Zeitung) erzählt, und beschränke mich daher nur auf die kurze Wiederholung. Felix, welcher das Ganze leitete, gerieth während der Generalprobe mit der Prima Donna in solchen Streit, daß er ohne weiteres das Local verließ, worauf mir die Ehre zu Theil wurde als Ersatzmann einzutreten. Obgleich der Clavierauszug schon im Druck erschienen war, hatte mein Vorgänger doch aus der Partitur accompagnirt, und mir blieb nun nichts übrig als dasselbe zu thun. Bei dieser Gelegenheit passirte mir das Unglück, in der großen Scene der Rezia die Trompete für ein Horn anzusehen, so daß ich die Sonne um eine Etage zu tief aufgehen ließ. Felix, welcher bei der Aufführung anwesend war und sogar die Liebenswürdigkeit hatte den Sturm mit mir vierhändig zu executiren, machte mich hinterher auf den begangenen Fehler aufmerksam.
Es war die dritte Belehrung, die ich von Mendelssohn empfing.
Und mit diesem Schatze von Kenntnissen bereichert, verließ ich Berlin im März 1828, nicht ohne vorher an einem Sonntags-Vormittag die erste Aufführung der Ouvertüre zum Sommernachtstraum mit vollem Orchester unter Leitung des Componisten in seinem elterlichen Hause gehört zu haben. Wenn mich mein Gedächtniß nicht trügt, so saß damals das „Päulchen“, der jetzige geheime Commercienrath Paul Mendelssohn-Bartholdy, an einem der Violoncellpulte und spielte eifrig mit in diesem seines Bruders Meisterwerke, von welchem ich behaupten möchte, daß es den Keim und die Blüthe aller Mendelssohn’schen Compositionen in sich vereint. Ihm zur Seite stelle ich nur noch jenen grandiosen Chor aus Paulus: „Mache dich auf, werde Licht“! Aber wie sollte er auch darüber hinaus! –
Am 19. Mai 1830 besuchte mich Mendelssohn in Leipzig, wo ich als Musikdirector an dem damaligen königlich sächsischen Hoftheater fungirte. Mendelssohn war eben von London zurückgekehrt, hatte einen kurzen Besuch in Berlin abgestattet und trat nun, einundzwanzig Jahre alt, über Weimar, München und Wien seine große Reise nach Italien an, der wir jene interessante Briefsammlung verdanken, welche uns so tiefe Blicke in das Innere einer echten Künstlernatur gestattet. Als er mich in meiner Wohnung überraschte, fand er daselbst Heinrich Marschner, mit dem ich eben am Clavier die nöthigen Kürzungen für sein jüngstes Werk, „Templer und Jüdin“, besprach. Diese Oper war Ende December 1829 auf unserer Bühne erschienen und hatte gleich nach der ersten Vorstellung eine bedeutende Kürzung im ersten Finale erhalten; dabei war’s vorläufig geblieben. Jetzt nach Beendigung der Saison und während des Gastspiels der italienischen Operngesellschaft aus Dresden sollten noch einige gründliche Striche vorgenommen werden.
Marschner hatte schon 1826, als seine Frau (Mariane Wohlbrück) in Berlin gastirte, Mendelssohn’s Bekanntschaft gemacht, ohne ihm sich selbst als Componist vorstellen zu können. Dies wurde nun in Reichel’s Garten gehörig nachgeholt, und das dort versammelte Trifolium sang den ganzen „Templer“ mit und ohne Strich durch. Hinterher aber gab uns der Berliner Gast sein mitgebrachtes neuestes Werk die „Reformations-Sinfonie“, zum Besten, und ich erbat sie mir zur ersten Aufführung für das im Theater bevorstehende Pfingstfest-Concert. Gleichzeitig nahmen beide Kunstgenossen meine Einladung auf den nächsten Abend an; und zu Ehren Mendelssohn’s erweiterte ich rasch den kleinen Kreis durch Morlacchi, der gerade mit der italienischen Oper in Leipzig war, und durch die Ehepaare Weiß, Pohlenz und Hofmeister. Da Marschner’s Frau natürlich mit dabei sein sollte, so hätte die Gesellschaft inclusive Wirth und Wirthin aus zwölf Personen bestanden, wenn nicht Capellmeister Morlacchi auf den Einfall gekommen wäre, seinen Liebling und zugleich den Meister im Accompagnement der italienischen Recitative, den aus Dresden herübergenommenen Violoncellisten Dotzauer, sans gêne mitzubringen.
Weil in dieser Gemeinde der Gläubigen aber kein Aberglaube herrschte, so verlief der Abend trotz der Dreizehn sehr animirt. Weiß, Director der Feuerversicherung und Schwiegersohn des alten Thomaners Cantor Schicht, rückte als vortrefflicher Kniegeiger sogleich an seinen Collegen Dotzauer heran; Morlacchi konnte sich mit Mendelssohn italienisch unterhalten und versicherte ihm ein Mal über das andere, daß er jetzt schon die reinste toscanische Aussprache besäße; Pohlenz, damals Dirigent der Gewandhaus-Concerte, [152] trug zum hundertsten Male die berühmte Geschichte vom Ausbruche des siebenjährigen Krieges vor; Marschner und Hofmeister machten die malitiösesten Witze, und Alles gestaltete sich vortrefflich bis auf den Moment, welchen ich als Knalleffect zur Schlußscene aufgespart hatte.
Von Karl Schrader, dem liebenswürdigen primo tenore unserer Leipziger Oper, jetzigem Inhaber des „hôtel Brandenbourg“ in Berlin, hatte ich nämlich schon zu Weihnachten ein Geschenk erhalten, bestehend in vier Flaschen uralten Rheinweins aus der bestrenommirten Kistner’schen Kellerei. Jetzt weiß ich mich nicht mehr auf Sorte und Jahrgang zu erinnern, aber als ich die Flaschen damals ansah, lachte mir das Herz im Leibe. Faustdickes Spinngewebe, eingenisteter Staub, halbhundertjähriger Moder lagerte auf ihnen, und der Schatz wurde ohne Weiteres zu fortwachsender antiquarischer Notabilität in den Keller befördert. Bei dieser feierlichen Gelegenheit sollte er nun gehoben werden. Als der Zeitpunkt gekommen schien, den Chateau Margaux zu überbieten, gab ich der aufwartenden Zofe einen Wink, worauf diese neue Gläser präsentirte und sich dann entfernte, um die von ihr bereits aus der Tiefe an’s Licht beförderten Ungethüme hereinzubringen. Unterdeß bereitete ich meine lieben Gäste in versificirter Ansprache auf das Ungeheure des Anblicks vor und während ich die Scheusale noch gräulicher ausmalte, als sie in Wirklichkeit waren, trat die Duenna in’s Zimmer und setzte vor mich hin die Präsentflaschen, deren Aussehen urplötzlich das Wort in meinem Munde ersterben ließ. Nach ihrem Princip „Reinlichkeit ist das halbe Leben“ hatte sie nämlich jedes Atom von Alterthum vernichtet, und auf dem Tische standen vier von Kopf bis Fuß blitzblank gescheuerte Bouteillen wie jene blaßgrünen Seejungfern, in denen der angenehme Säuerling „Kutscher“ eingeheimst zu werden pflegt. Marke, Siegel, Etikette – Alles war der modernen Cultur zum Opfer gefallen; vorsichtiger Weise hatte sie auch schon die Korke herausgezogen und neusilberne Stöpsel aufgesetzt. Es war der vollendete Nipptisch, und ich wurde gehörig ausgelacht. Zum Glück hatte sich weder Kistner noch Schrader anführen lassen und die Zungen konnten nachholen, was die Augen einbüßen mußten.
Mendelssohn fuhr am andern Morgen nach Weimar ab, von wo aus ich, datirt den 2. Juni 1830, nachstehenden Brief erhielt:
Lieber Dorn
oder lieber Herr Musikdirector
oder lieber ......... (Zeichen der Unendlichkeit.)
Anbei erfolgt meine Sinfonie höchst pünktlich und zur bestimmten
Zeit. Hoffentlich kann sie noch bis vorgestern ausgeschrieben,
einstudirt und aufgeführt werden. Ernstlich zu reden aber bitte ich
Sie sehr um Verzeihung, daß ich nicht mein Versprechen erfüllen
konnte; Sie behaupteten es vorher zu wissen; das war aber nicht
möglich, denn ich selbst war fest dazu entschlossen, fing in den ersten
Tagen meines Hierseins die nöthigen Correcturen in meiner Partitur
zu machen an und kam dabei so tief in’s Aendern hinein, daß ich
im letzten Stücke einiges Neue hinzu und vieles Alte wegthun
mußte. Auch dann wäre noch Zeit gewesen; aber da ließ mich
der empfohlene Copist von Tage zu Tage sitzen und wenn ich
nicht morgen mit dem Frühesten abreise, so glaube ich, es wäre
noch nicht fertig; denn meine Drohungen mit Wegreisen u. dergl.
helfen hier nichts mehr, wo ich statt vier beinahe vierzehn Tage
geblieben bin. Ich schicke Ihnen nun dennoch die Sinfonie, erstlich
um Sie zu bitten, sie sich noch einmal durchzusehen und sie unserem
Freund Marschner mitzutheilen, ob ihm die Kürzungen im letzten
Stücke genügen (wie ich hoffe), dann um Sie zu bitten, dieselbe,
wenn Sie sie nicht mehr brauchen, was nur, leider fürchte ich, sehr
bald sein wird, an meine Schwester, Madame Hensel, Leipziger
Straße Nr. 3 in Berlin, entweder mit Gelegenheit oder mit Fahrpost unfrankirt zu senden, da ich ihr eine Abschrift versprochen und
schon in einem Briefe angekündigt habe. Verzeihen Sie die Belästigung,
indessen dachte ich mir es bis vorgestern immer vielleicht
möglich, daß die Abschrift zur Zeit kommen könnte, und nun, da
ich mir’s einmal vorgenommen habe, sie Ihnen zu schicken, kann
ich es nicht lassen. Vielleicht ist es auch zu etwas gut, daß der
Aufschub die Aufführung verhindert hat; denn mir ist nachher
eingefallen, daß sich der Choral und alle Katholicismen im Theater
doch sonderbar ausgenommen hätten; und eine Reformations-Sinfonie
zu Pfingsten will auch nicht recht klingen. Kurz ich bin
ein Optimist. Marschner bitte ich Sie recht herzlich von mir zu
grüßen, ihm für seine Freundlichkeit und Güte und für die schönen
Dinge, die er mich hat hören und genießen lassen, noch einmal
meinen Dank zu sagen; sobald ich in München bin, schreibe ich
ihm einen ordentlich langen musikalischen Brief. Leben Sie wohl
und gedenken Sie freundlichst
Ihres Felix Mendelssohn-Bartholdy.“
Das habe ich auch gethan, des lieben Briefstellers stets freundlich gedacht, mit steigender Bewunderung, und bin leider doch in der letzten Periode, ohne eigenes Verschulden, zur Opposition gezählt worden! Vorher aber traf ich ihn in Leipzig, als ich – von Riga aus – diesen Schauplatz früherer Wirksamkeit auf der Durchreise nach Köln wieder betrat. Mein erster Besuch galt demjenigen Schüler, welchen ich 1832 als Student inmitten des doppelten Contrapunktes verlassen hatte, und den ich nun als Doctor und jungen Ehemann am Geburtstage seiner Frau, welche früher gleichfalls Unterricht bei mir genommen, überraschte.
Am 13. September 1843 feierte Robert Schumann das Wiegenfest seiner Clara, und ich erschien als improvisirter und selber nichts ahnender Gast zum Frühstück, wo ich auch Mendelssohn nach dreizehn Jahren wiedersah, und wo ich außer ihm noch David und Grützmacher antraf. Nachdem wir uns an reichbesetzter Tafel gehörig ausgesprochen, oder, wie es speciell mit Schumann heißen müßte, „ausgeschwiegen“ hatten, kamen die musikalischen Genüsse an die Reihe. Schumann überraschte seine Gattin mit einem neuen Trio, welches sofort executirt wurde, und Mendelssohn brachte ihr zum Geschenk das Frühlingslied als Manuscript und trug es auch dort zum erstenmal vor. Dies wunderbar schöne Stück ist die Perle in dem fünften Heft seiner „Lieder ohne Worte“, dem zweiundsechszigsten Werke, welches er bekanntlich „der Frau Dr. Clara Schumann geb. Wieck“ widmete. Damals enthusiasmirte es den kleinen Hörerkreis so gewaltig, daß der Componist sein Opus zweimal wiederholen mußte und daß es würdig den Abschluß der Feier dieses Vormittags bildete.
Am andern Tage war ich zu Tisch bei Kammerrath Frege. Sein Sohn, der jetzige Professor Frege, hatte zusammen mit v. Könneritz (dem jüngst verstorbenen Intendanten des Dresdener Hoftheaters) vormals, da sie Beide noch auf der Universität waren, Clavier- und Generalbaßstunden bei mir genommen, von denen wir uns alle Drei gemeinschaftlich in Abtnaundorf, dem nahe liegenden Gute des Kammerraths, zu erholen pflegten. Auch Woldemar Frege war nun bereits verheirathet und zwar mit einer früher berühmten Sängerin, mit Livia Gerhardt, die, anfänglich nur widerstrebend von der alten Patrizierfamilie aufgenommen, sehr bald durch ihre Liebenswürdigkeit und durch ihr Talent das Herzblatt der Schwiegereltern wurde und zuletzt den alten Herrn so für sich einnahm, daß sie ihn auf allen Wegen zu Fuß und Roß begleiten mußte. Aber diese treffliche Reiterin war noch unübertrefflicher als Liedersängerin; und wenn ich schon die Bemerkung machen konnte, daß die Frege’schen Diners nichts an ihrer früher mir bekannt gewordenen Vortrefflichkeit eingebüßt hatten, so ward uns doch jetzt durch den Nachtisch ein noch höherer Genuß geboten, denn Mendelssohn, welcher auch als Gast gegenwärtig, begab sich nun mit der von ihm hochgeschätzten Künstlerin an das Pianoforte, und wir schwelgten in dem Genuß seiner lieblichen Gesänge, zu deren geistvoller Auffassung Livia durch den Componisten selber angeleitet war. Beide blieben unermüdlich, bis uns der Herr Kammerrath sein Schwiegertöchterchen entführte, weil die Pferde gesattelt vor der Thür standen.
Am dritten und letzten Tage meines Leipziger Besuchs wurde mir wieder die Freude, mit Mendelssohn zusammenzutreffen. Dafür hatte mein lieber Freund, Advocat Petschke, der ältere der beiden talentvollen Brüder, gesorgt, welcher mit dem damaligen Dirigenten der Gewandhaus-Concerte und des Conservatoriums ganz intim geworden war; ich traf dort des Abends eine Gesellschaft, in der sich Mendelssohn so wohl zu fühlen schien wie ehedem als junger Mensch im Hause von Hannchen Zimmermann Berlinischen Andenkens. Petschke hatte mich ersucht, etwas von meinen Compositionen mitzubringen, und ich fand für einige Nummern des „Schöffen von Paris“ aufmerksame Zuhörer. Aber eine wunderbare Ueberraschung bereitete mir Mendelssohn. Als ich ihm die Arie des Königs vorgespielt, behauptete er das eine Thema schon zu kennen; ich räumte ihm gern ein, daß es Reminiscenz sein könne, daß sie mir jedoch unbewußt wäre. Damit indeß gab er sich nicht zufrieden sondern setzte sich nun an’s Pianoforte und spielte mir [153] ohne weiteres Besinnen eine Folge von acht bis zwölf Tacten vor, aus welcher allerdings unerlaubte Anklänge in meiner Arie vorkamen, ohne daß ich das Original unterzubringen wußte. „Sie kennen also Ihre eigenen Compositionen nicht wieder,“ sagte Mendelssohn; „das ist ja der Schlußchor aus ‚Zauberer und Ungethüm‘!“ Es war dies ein Melodram, welches man schon 1827 auf der Königstädter Bühne mit meiner Musik gegeben und das damals Mendelssohn’s Beifall erhalten hatte. Nach sechszehn Jahren wußte er sich noch der Klänge zu erinnern, die mir längst entschwunden waren! Als ich ihm mein Erstaunen über solches Gedächtniß ausdrückte, meinte er verbindlich: „Man muß aber nur die guten Melodien zu behalten suchen.“ Es war die vierte Belehrung, die ich von Mendelssohn empfing. Sein letzter in Leipzig mir erwiesener Liebesdienst war ein sehr warmes Empfehlungsschreiben, welches ich in Köln dem Führer meiner dortigen Gegenpartei übergeben sollte.
Damit schließen meine freudigen persönlichen Beziehungen zu dem uns so früh entrissenen Meister. Das im Jahre 1846 von dem trefflichen Männergesangvereine in Köln arrangirte vlämisch-deutsche Gesangsfest, zu welchem Mendelssohn Schiller’s „An die Künstler“ componirte, dessen Aufführung er selber leitete, hatte in seiner Vorbereitung zu den unangenehmsten Reibungen zwischen den verschiedenen Musikvorständen Anlaß gegeben; und wie sehr ich mich für das Gelingen einer Festlichkeit interessirte, bei welcher Meister Felix in solcher Weise thätig zu sein versprochen hatte – so konnte ich doch im Interesse meiner Partei nicht alle Maßregeln billigen, welche von den Unternehmern zum Theil ohne Rücksicht auf die nicht bereits in den vlämisch-deutschen Sängerbund aufgenommenen rheinländischen Vereine getroffen waren. Dies mochte man wahrscheinlich Mendelssohn in einer Art hinterbracht haben, daß es für ihn verletzend erscheinen mußte. Zwar standen wir Beide auf dem Gürzenich während des Vortrags einiger Männergesänge neben einander und tauschten dann unsere Ansichten darüber aus; auch trafen wir nach dem Concert bei Seydlitz-Verkenius im größeren Kreise wieder zusammen; aber er war kühl bis an’s Herz hinan, und ich fand während seines zwölfstündigen Aufenthaltes bei uns keine Zeit und Gelegenheit, ihm das Scenarium der alten Kölner Komödie „Parteiwuth und Klüngel“ auseinanderzusetzen. So habe ich ihn denn nicht wieder gesehen und fürchte fast, daß er mit Groll im Herzen von mir geschieden sei, während meine Verehrung für sein hohes Talent, sein tiefes Wissen, sein edles Streben und seine liebenswürdige Persönlichkeit stets dieselbe geblieben war.
Am 9. November 1847 – fünf Tage nach dem Tode Mendelssohn’s – dirigirte ich das zweite Winterconcert in Köln, welches unter allgemeiner Theilnahme und mit dem Ausdrucke tiefster Trauer eingeleitet wurde durch den Chorgesang aus Paulus: „Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben; denn ob der Leib gleich stirbt, doch wird die Seele leben!“ Unser Jahrhundert hat vielleicht größere Componisten, aber keinen Tonkünstler aufzuweisen, der so vielfach vortreffliche Eigenschaften in sich vereinigte, als Felix Mendelssohn-Bartholdy.
Der Jahre einundsiebzig zählt er heute,
Und zählen doppelt dieser Jahre meiste,
Entrang er doch dem Alter seine Beute
Und steht, ein Mann mit jugendfrischem Geiste,
Selbst eine Fahne, hoch noch im Gefecht;
Wo Uhlich steht, da gilt’s ein heißes Ringen,
Da schnellt den Pfeil, was finster, feig und schlecht,
Doch ließ er nie sich beugen, noch bezwingen,
Sein langes Leben stets ein Leberecht.
Das Priesterthum der Freiheit und des Lichtes,
Dies schwere Kreuz hat er auf sich genommen,
Und führt’s auch noch den Weg des Hochgerichtes,
Es muß der Tag des Sieges endlich kommen,
Der statt der Dornen Lorbeerkränze flicht
Für alle die Verklagten und Verdammten;
Unsterblich ist der Geist, der Ketten bricht,
Doch die der Scheiterhaufen Brand entflammten,
Die Kläger und Verdammer sind es nicht.
Sie haben immer trefflich sich verstanden,
Jenseits der Berge, diesseits – eitle Worte,
Den Quell des Lebens machten sie versanden,
Bis hüben er wie drüben starr verdorrte,
Und ob auch Zwist in beiden Lagern schien,
Begann sich nur ein freier Geist zu regen,
Schnell ließen sie den müß’gen Hader flieh’n,
Und riefen dem gemeinen Feind entgegen
Einstimm’gen Chores: Kreuz’ge, kreuz’ge ihn!
Und die des Lichtes heil’gen Kampf begannen,
Lang’ blieben sie vereinzelte Zerstreute,
Und unbegriffen gingen sie von dannen,
Saat für die Zukunft – anders ist es heute:
Wir stehen eine festgeschloss’ne Schaar,
Die Besten alle sind auf uns’rer Seite,
Des Kampfes Ziel ist Jedem offenbar,
Und uns’rer Losung bringt aus fernster Weite
Die neue Stunde neue Kämpfer dar.
Die eine Freiheit, und die eine Allen,
So wird die alte Botschaft neu verkündet,
Und ihre Kanzel, nicht in Tempelhallen,
Im Menschenherzen steht sie tiefbegründet,
Und mächt’ger immer schwillt der Geister Strom,
Er trägt die sich befreiende Gemeine,
Schon wölbt sich stolz ihr unsichtbarer Dom
Hoch über allem trügerischen Scheine –
Und uns’re Feinde sind nicht blos in Rom.
Noch tagen aller Orten die Concile,
Den Bannstrahl schleudern sie nach allen Enden,
Ohnmächtig aber fehlt er seine Ziele,
Wer läßt am Tag von Feuerschein sich blenden!
Das Wort ertödtet, Leben schafft der Geist,
Zerbrochen liegt der todten Formel Schranke,
Darein den Glauben mühsam sie geschweißt,
Unfehlbar ist der menschliche Gedanke,
Der selbst dem Himmel seinen Blitz entreißt!
Ein Wecker bist und Sammler Du gewesen,
Als dämmernd sich das Licht des Morgens regte,
Zu ihrem Herold hat auch Dich erlesen
Die neue Zeit, die sturm- und drangbewegte;
Treu, Uhlich, bliebst Du stets in Wort und That,
Hast männlich der Verfolger Haß getragen,
Schau’ Deinen Lohn: schon grünt der Zukunft Saat,
Und bald wird sie für alle Zeiten ragen,
Die freie Kirche in dem freien Staat!
Albert Traeger.
Jeder meiner Leser hat zweifellos schon Gelegenheit gehabt, einen kleinen Wirbelwind zu beobachten, wie er Staub, Blätter und andere leichte Gegenstände in phantastischem Spiel nach der Mitte zieht und dieselben in die Luft führt oder in einen Haufen zusammengefegt liegen läßt. Man bemerkt an diesen harmlosen Kindern des Windes eine mehr oder minder heftige Rotation um die eigene Verticalachse, ein Hinzuströmen der umgebenden und ein Aufwärtsstreben der inneren kreisenden Luftschichten, während das ganze Phänomen mehr oder weniger fortschreitet. Zu größeren Dimensionen anwachsend, vermag eine solche wirbelnde Luftsäule schon schwerere Gegenstände wie Heuhaufen und Getreidegarben zu entführen oder Bäume zu entwurzeln und die Dachungen von Gebäuden [154] herabzuwerfen. Geht sie über Flüsse und Seen oder entsteht sie daselbst, so bilden sich leicht Wasserhosen, welche am nächsten Ufer furchtbare Verwüstungen anrichten können.
Furchtbar aber in ihrer vernichtenden Wuth sind die Cyclone, welche fast nur ganz bestimmte Gegenden heimsuchen und dort mit verschiedenen Namen wie Hurricane, Tornado, Teifun bezeichnet werden. Sie sind Wirbelwinde, zum Ungeheuern vergrößert. Bei einer Drehungsgeschwindigkeit von sechszig bis neunzig Seemeilen in der Stunde vermögen sie auch noch mehrere hundert Meilen in einem Tage fortschreiten; immer aber liegt ihre zerstörende Gewalt in der kreisenden, nicht in der fortschreitenden Bewegung, und dadurch vor Allem unterscheiden sie sich von dem aus weite Entfernungen geradeaus streichenden Sturm.
Je näher der Mitte des Wirbels, desto größer ist die Gefahr, die im Centrum ihren Höhepunkt erreicht; die hier von allen Seiten hereinbrechenden Wellen erzeugen eine so furchtbare Kreuzsee, daß jedem Menschenwerk die Vernichtung beinahe gewiß ist.
Die Cyclone entstehen, vielleicht ohne Ausnahme, innerhalb der Wendekreise und zwar hauptsächlich in den beiden Gürteln, welche zwischen je zehn und zwanzig Grad nördlicher oder südlicher Breite liegen. Von diesen zwei auf beiden Seiten des Aequators liegenden Zonen bewegen sie sich stets nach dem je nächsten Pole zu, aber so, daß sie immer wirbelnd, bis zum ungefähr dreißigsten Grade der betreffenden Breite zugleich auch in westlicher Richtung fortschreiten, dann aber sich wendend ostwärts ihren Verlauf nehmen. Ihre Bahnen sind also Curven und immer nach Westen zu convex. Die Drehung um die eigene Achse ist aus jeder einzelnen Hemisphäre stets dieselbe, für beide aber eine gerade entgegengesetzte. Auf der nördlichen Halbkugel ist die Richtung derselben stets gegen die der Zeiger einer Uhr, auf der südlichen Halbkugel stets mit den Zeigern der Uhr. Beim Anzuge eines Cyclon gilt daher zur See die Regel: Mache Front gegen den Wind, und auf der Nordhälfte der Erde ist das Centrum desselben zur rechten, auf der Südhälfte aber zur linken Hand.
Diese regelmäßige Uebereinstimmung hier angeführter Thatsachen zeigt, daß derartige Stürme genauen Gesetzen unterliegen, und macht es möglich, ein System der Wahrscheinlichkeit zu entwerfen rücksichtlich der Jahreszeit, der Bahn und Bewegung derselben, so daß ein erfahrener Seemann, zur rechten Zeit gewarnt, sein Schiff dem nahenden Verderben aus dem Wege führen kann. Viele Fälle sind bekannt, daß solches auch wirklich gelang; andere Fahrzeuge wieder, welche zu plötzlich überfallen wurden, liefen vor dem Sturme einher und beschrieben in ihm einen oder auch mehrere vollständige Kreise, und noch andere, leider nur zu viele derselben, gingen und gehen noch rettungslos zu Grunde, und nichts bleibt, um ihr trauriges Schicksal zu verkünden. So ging im November 1861 unweit der holländischen Küste die vielgenannte preußische Corvette „Amazone“ verloren, und ein anderes Fahrzeug der jungen Marine, der unglückliche Schooner „Frauenlob“, verschwand spurlos im September 1860 während eines Teifuns in der Nähe von Japan. In neuester Zeit erst, am achtzehnten December 1869, ging während eines Orcans die französische Dampfcorvette „Gorgone“ unweit Brest mit sämmtlicher Besatzung, hunderteinundzwanzig Mann stark, zu Grunde. Einige Seemannshüte und etwas Holzwerk war Alles, was von dem stolzen Kriegsdampfer wiedergesehen wurde.
Westindien wird am meisten von diesen Ozeanen heimgesucht, sie herrschen dort, wie auch in den chinesischen Meeren, also in der nördlichen Hemisphäre, vorwiegend in den Monaten Juli bis October; im indischen Meere aber und in der Inselwelt von Polynesien von Januar bis März. Die Bahnen, welche sie verfolgen, sind gewöhnlich die der vom Aequator kommenden, also warmen Meeresströmungen; auffällig so in Bezug auf den japanischen Strom, noch deutlicher aber hervortretend im nordatlantischen Ocean, wo der scharfbegrenzte Golfstrom seine Fluthen an den Küsten der Vereinigten Staaten entlang und dann nach Europa hinüberwälzt. Obgleich diese Wirbelstürme sich zum großen Theil in den Tropengegenden austoben, so tragen sie doch auch häufig ihre verheerende Wirkung weit über jene Zonen hinaus. Die Westindischen ziehen oft bis zu den nebeligen Bänken von Neufundland, es läßt sich wohl auch annehmen, daß sie, immer dem Golfstrom folgend, sogar quer über den atlantischen Ocean marschiren.
Selbst bis in die Polargegenden verirren sie sich. Ende September 1866 erlebten wir im Eismeere nördlich der Bering-Straße, in Sicht von Cap Lisburne, einen solchen Sturm, dessen Bahn rückwärts wahrscheinlich bis in die chinesischen Gewässer reichte und der während seiner Dauer von fünf Stunden Schiff und Bemannung der Vernichtung nahe brachte. Geht ein Cyclon über Land, so sind die angerichteten Verwüstungen oft unglaublich. Nichts kann seiner Wuth widerstehen. Häuser, ganze Städte werden zerstört, Wälder und Pflanzungen verwüstet; sogar schwere Festungsgeschütze sind fortgeschleudert und die starren Linien der Fortificationen in unförmliche Trümmerhaufen verwandelt worden, große Schiffe wurden selbst im Hafen versenkt oder von ihren Ankerplätzen gerissen und mit Hülfe der empörten See an’s Land geworfen, wo sie hoch und trocken liegen blieben als traurige Zeugen menschlicher Ohnmacht. Ich will nun einen solchen Sturm schildern, wie ich ihn selbst erlebt habe.
Am 21. December 1867 verließ unser Schooner Ricardo die Insel Guadeloupe. An Bord befanden sich sieben Mann, eine genügende Anzahl von Händen, um das meisterlich construirte Fahrzeug zu führen; eine reiche Ladung füllte nicht nur den Raum desselben, sondern lag auch theilweise an Deck aufgestapelt, so daß die Belastung eine fast übermäßige genannt werden konnte. Die ganze Leinewand war gesetzt; das Tauwerk knackte und reckte sich und die schlanken Stangen bogen sich unter der Wucht der Segel, die den prächtigen Klipper in seiner ganzen Schönheit dahinbrausen ließen. Sein zierlicher, langgestreckter Rumpf, die beinahe unverhältnißmäßig hohen Masten, welche, im angestrafften Takelwerk gehalten, die mächtige Segelfläche stützten, mußten jedes Seemanns Auge erfreuen; uns schwoll das Herz in der Brust, als unser Liebling, coquettirend mit Wind und Wellen, hinausflog in die blaue unendliche Weite, und beneidenswert dünkte sich, wer am Steuer mit sicherem Druck der Hand das stolze Gebäude beherrschte. Bald entschwand das Land in duftiger Ferne, um uns Wasser, Himmel, Sonnenschein; wer denkt wohl in solcher Zeit, wie wenig zuverlässig Wind und Wellen sind.
Ein kluger Neufundländer, der langjährige treue Begleiter des Capitäns – und, wie dieser versicherte, ein Hund, der jeden Cours genau kannte – tobte bellend und mit lustigen Sprüngen an Deck umher, als wenn auch er sich freute das Wogen des Meeres wieder zu fühlen.
Zwei Tage lang eilten wir nordwärts in schneller Fahrt, dann wurde die Brise flau, unbestimmt und schlief endlich ganz ein; um Mittag hatten wir vollständige Windstille, während die Sonne heiß und stechend vom heitern Himmel niederschien. Noch einmal kehrte unsre alte Brise zurück, änderte aber bald in jähem Wechsel ihre Richtung, wurde sehr frisch und erstarb wieder nach kurzer Zeit. Wir erwarteten eine Bö (Gewittersturm) und nichts weiter, denn im Süden hingen schon lange dunkle Wetterwolken und auch im Osten begannen sie sich schwarz emporzuthürmen. Ein fröstelnder Hauch traf uns warnend von dort, mehrere Wasserhosen entstanden und kamen gleich schwankenden Gespenstern der Tiefe, brausend und tobend mit Wind und Wetter heran. Wir hatten Donnern und Blitzen schwere Regenschauer und dann wieder klares Wetter; schnell, wie er gekommen, verzog sich der Gewittersturm nach Westen. Ihm folgten bald noch mehrere, und dann fegte schwül und gewaltig eine dunstige Windsbraut von Süden herauf; einige Meilen weit flogen wir vor ihr her, bis auch sie ausblieb und wir wieder todt auf dem Wasser lagen.
Solche Störungen waren in diesen Gegenden nichts Ungewöhnliches; die weit verstreuten Inseln und Riffe, die Meeresströmungen und die hierher fallenden Grenzen vorherrschender Winde geben hinreichende Veranlassung zu einem häufigen und plötzlicher Wechsel der Witterung.
Im Luftreiche zeigte sich große Verwirrung, die Winde schienen miteinander zu kämpfen und jagten sich von allen Seiten. Sausend fuhren sie durchs Takelwerk, stoßweise und in jähem Wechsel, die Segel flatterten und schlugen mit unleidlichem Getöse, Hölzer und Blöcke schwangen sich seufzend in ihren Befestigungen, Ketten klirrten und klangen; endlich herrschte wieder bange Windstille.
Fast überrascht bemerkten wir jetzt langsam und allmählich um uns eingetretene Veränderungen. Der Himmel hatte seine Durchsichtigkeit verloren und rückte uns gleichsam in geschlossener Form näher, ganz als wollte er die Sonne von unserer Welt ausschließen; von weit her sandte sie ihre Strahlen, ein todtes bleiches Licht verbreitend, wie bei einer Verfinsterung. Rings um sie zeigie sich eine seltsame Schattenbildung, zunächst der glanzlosen [155] Scheibe am dunkelsten hervortretend, nach außen hin sich abschwächend, so daß bei einem längeren Hinsehen die Täuschung entstand, als ob die Sonne durch eine tiefe, trichterförmige Oeffnung im Firmament schiene. Die Atmosphäre wurde schwül und beklemmend, der Gesichtskreis enger, aber merkwürdig scharf und bestimmt. Es lag ein Etwas in der Natur, das man mehr fühlt als sieht, etwas Banges, Unheimliches, Verderbenschwangeres. –
Am Bollwerk hat sich der Hund ausgestreckt, schwerathmend und uns mit ängstlichen Blicken ansehend; wir gießen einige Eimer Seewasser über ihn, aber anstatt sich wie gewöhnlich mit freudigen Sprüngen zu schütteln, giebt er nur ein klägliches Winseln von sich.
Unser wettergrauer Capitain, der nun schon über dreißig Jahre diese Gewässer befährt, schaut mit besorgten Blicken umher, er prüft Wind und Wellen und beobachtet das Barometer. „Das braut ein Höllenwetter!“ stößt er hervor, als er in die Kajüte hinabtaucht; aber da er wieder an Deck tritt, hellt sich seine düstere Miene auf; der Alte kennt keine Furcht. In schneller Folge hallen seine Befehle und deren eintönige Wiederholung hin und zurück, eine nach der andern rauschen die letzten Segelflächen nieder und werden sorgfältig gerollt und verbunden. Die kleinen Sturmsegel vom besten, schwersten Stoff werden gesetzt und alles Bewegliche an Deck nochmals gesichert. Hastig und schweigend arbeiten die Leute, ganz gegen die Gewohnheit der Matrosen ist kein ermunterndes Wort, kein rauher Scherz zu hören.
Das Barometer, dieser getreue Warner des Seemanns, ist stetem Sinken begriffen; die Wellen fangen an sich unregelmäßig überstürzen und umlaufen immer verwirrter das taumelnde Fahrzeug. Es ist Alles so seltsam um uns, jeder Ton, jedes Geräusch klingt so ganz anders als sonst, verhallt so kurz und dumpf, als würde es von der Luft erdrückt. Ein unbehagliches Gefühl bemächtigt sich unser, Gesicht und Hände fangen an unerträglich zu brennen.
Der Abend bricht herein. Die Sonne sinkt in dichte Nebelschleier und läßt sie erglühen, als wenn die Welt in Feuer stünde. Vom Mast aus zeigt sich nichts als eine weite wogende Wasserwüste mit fahlem Lichte übergossen, darüber spannt sich ein Bleigewölbe und rings umdrängt uns der flammende Horizont; – noch immer herrscht große drohende Stille.
Es wird dunkler. Langsam verschwinden die düsteren Farben und jetzt, dort im Süden, zieht es heran, mehr und mehr tritt es hervor, ein schwarzes Wolkengeschiebe, still, tückisch herankriechend wie das Verderben. In ihm zuckt und flimmert ferner Wetterschein, unheimliche Streifen schiebt es voraus, verzerrte Dunstgebilde, die sich wie gespenstische Arme nach dem Zenith hinaufrecken. Ein beängstigender Geruch verbreitet sich und dicke schwüle Finsterniß senkt sich herab; uns wird so enge, so bange, als müßten wir ersticken. Auf den Mastspitzen wiegen sich St. Elmsfeuer und bleiche Strahlenkronen schmücken alle oberen Hölzer, die ganze Takelage schimmert mit lebendem Licht und zeigt sich auf dem dunklen Grunde der Nacht. Wesenlose Flämmchen hüpfen und flattern auf und nieder, jetzt hier, jetzt dort; allüberall webt und schwebt geheimnißvoller Schein.
Einzelne Vögel huschen mit hastigem Flügelschlage an uns vorüber, wir hören sie im Tauwerk, am Verdeck; suchen sie Zuflucht beim Menschen?
In der Kajüte ist der Dunst wahrhaft erstickend; der Hund liegt keuchend unter eine Schlafstätte gezwängt. – Immer noch Windstille. Weit umher leuchtet das Meer in wunderbarer Pracht, zuweilen trifft eine rollende Welle mit dumpfem Schlage gegen die Seite und sprühend sendet sie funkelnde Tropfen über das Verdeck. Das hohle Brausen der See, das Knarren und Stöhnen des Schiffes klingt dumpf und schauerlich; es ist uns, als vernähmen wir seine Klagelaute und Stimmen vom Maste herab, aus dem Wasser herauf. Die Minuten werden uns zu Stunden in banger Erwartung. – Endlich, endlich Bewegung! Wir athmeten auf wie von schwerem Druck befreit. Ein leiser Lufthauch zog durch die Nacht, erstarb nach einiger Zeit und kam wieder als eine leichte erfrischende Brise. Auch sie blieb aus und sprang bald von Neuem auf; der schwache Hauch wurde zum mächtigen Sturm, über uns, um uns begann es zu tönen, erschütterndes Pfeifen und Sausen ließ sich im Tauwerk hören, die Wanten vibrirten; stärker und stärker wurde der Wind; stoßweise aussetzend, wiederkehrend und schnell und schneller zum Sturm anschwellend, fernes Getöse wurde vernehmbar – und dann plötzlich kam es über uns wie der Untergang der Welt. Brüllend und heulend traf es uns mit entsetzlicher Gewalt, die ganze Natur erhob sich in wilder Empörung. Zerpeitscht und in Gischt davongewirbelt wurde die See in ihren Tiefen aufgewühlt und erstickte, blendete uns; das Schiff lag todt in das Wasser gedrückt; betäubt und hülflos klammerten wir uns fest.
Ein solcher Aufruhr der Elemente läßt sich nur schwer in allen Einzelheiten schildern, die Sinne werden verwirrt und reichen nicht hin die furchtbare Wirklichkeit zu zergliedern. Ein kurze Pause folgte und dann brach das Wetter mit verdoppelter Wuth über uns herein; in Fetzen gingen die schweren Sturmsegel; mächtige Sturzseen kamen an Bord, das einzige Boot wurde zertrümmert davongeführt; das Fahrzeug schlingerte und stampfte in wilden Sprüngen. Wieder brauste schäumend ein ungeheurer Wasserschwall heran und begrub das kleine Schiff, es arbeitete und stöhnte wie ein gequältes Wesen, ein Ruck, ein Krachen, haltlos schnappten die schwingenden Masten rückwärts – und über Bord ging Alles in zerschmetterndem Sturze. Da lag der Schooner, todt, unlenkbar und halb unter Wasser, quer in den empörten Elementen, ein unbehülfliches Wrack. Die schweren Masten, noch im Tauwerk hängend, kamen mit dröhnenden Stößen gegen den Rumpf und verdoppelten die Gefahr unserer Lage, während von der Wetterseite See auf See hereinbrach, alle an Deck befindlichen Gegenstände lockernd, zerschlagend, hinwegwaschend. Der Schooner mußte freigemacht werden oder zu Grunde gehen. Immer wilder, immer gewaltiger raste der Sturm, erbarmungslos zerstörend, was ihm widerstand; Welle auf Welle donnerte gegen die Schanzverkleidung, das Holzwerk krachte und splitterte unter der Wucht der Schläge, endlich gab es nach und wie eine Lawine stürzte es herab, Wassermassen, Holzstücke, schwere Fässer – sie trafen auf das gegenüber und tiefer liegende Bollwerk, zertrümmerten es und nahmen Alles, Alles mit sich hinaus in die hungrige Tiefe.
Unser alter Capitain war schwer verletzt und wir schafften den Todtgeglaubten nach der Kajüte; auch hier herrschte Verwüstung und trieb uns wieder an Deck. Das Fahrzeug war von den Masttrümmern und von der schwere Deckladung befreit, es hatte sich aufgerichtet und kämpfte wacker gegen die frei darüber brechenden Wellen. Grelle Streiflichter erhellten momentan die Scene; ein neuer Schrecke erwartete uns, wir standen erstarrt, betäubt – das Verdeck war leer, die drei Männer, welche am Vordertheil gearbeitet hatten, waren verschwunden. Wir sahen nichts, wir hörten nichts von den Unglücklichen, sie waren verloren, rettungslos verloren, vergangen im Meere wie die ungewisse Welle, grablos und doch begraben für immer.
Nach einiger Zeit bemerkten wir eine Abnahme des Sturmes, auch fing er an unregelmäßig zu blasen; es wurde heller, Blitze zuckten und einzelne Regentropfen klatschten nieder. Eine furchtbare See bedrohte uns. Die Wellen kämpften in chaotischen Massen miteinander, sich überwälzend stürzte sie schäumend und brausend zusammen und wieder emporschießend in flüssigen Pyramiden schleuderten sie das Schiff umher, daß kein Mast, kein Tauwerk hätte widerstehen können. Ein fahler Dämmerschein verbreitete sich und verschwand in jähem Wechsel, schwarze Dunstmassen wirbelten und jagten entlang wie Geisterschaaren, plötzliche Windstöße brausten vorüber, gerade auf uns herabstürzend, bald da, bald dort kommend, waren sie auch schon vorbei. Die Elektricität umspielte uns wie höllisches Feuerwerk, knatternd und springend in Funken und Strahlenbündeln auf- und niederfahrend, und der Regen prasselte in Strömen herab, stetig, unerbittlich, als wollte er das Meer ertränken.
Nicht lange und der Orkan brach von neuem los, aber nun aus einer der früheren fast entgegengesetzten Richtung kommend; das Holzwerk erbebte unter seiner gewaltigen Wucht, doch erdrückte er die wilde See und riß sie mit sich fort.
Das Schlimmste war geschehen; wir mußten geduldig ausharren, machtlos in diesem Toben der Elemente konnten wir nichts zu unserer Rettung thun. Wer aber bis zuletzt für sein Leben kämpfen will, wer sich nicht gläubig den Geschicken unterwerfen kann, für den ist es grausam sich passiv verhalten zu müssen.
Der Sturm war vorübergezogen. Trübe und düster graute der Morgen, die ganze Natur erschien verstört und trauernd, kein Sonnenstrahl erquickte uns und schwere Wolkenschichten brüteten über der brausenden See. Himmel und Wasser dehnten sich um [156] uns in trostloser Oede und Einsamkeit, kein lebendes Wesen zeigte sich; wir waren in der weiten Leere ganz allein. Unser schöner Schooner war ein vollständiges Wrack geworden, schwerfällig wie ein todtes Wesen rollte er im Wasser und dann und wann leckte in der Mitte eine gierige Welle über ihn hin. Wir gingen daran Nothmasten aufzurichten und alle die nothwendigsten Arbeiten zu vollenden, um den Schooner wenigstens wieder in unsere Gewalt zu bekommen. Es begann unterdessen wieder zu blasen mit allen den Anzeichen eines langwierigen, wenn auch nicht heftigen Sturmes. Unsre Arbeit wurde rasch gefördert und am Abend hatten wir das Mögliche gethan. Das Fahrzeug hielt sich wacker, und da uns keine Gefahr mehr drohte und wir vollständig aufgebraucht waren, begaben sich die Leute zur Ruhe.
Am Steuer lehnend wachte ich in trüber Sturmnacht; der treue Hund des Capitains hatte sich schmeichelnd zu mir gesellt und war mein einziger Gefährte. Ringsumher lagerte Finsterniß, nicht einmal ein Stern glänzte vom Himmel herab; vor mir im engen Gehäuse schwankte der Compaß bei mattem Lampenschein, träumend blickte ich in die kleine Flamme. Wie ganz anders mochte es jetzt in der Heimath sein; in behaglichen festlich geschmückten Räumen standen glückliche Eltern, tummelten sich fröhliche Kinder um den grünen, strahlenden Baum, überall Lust und Freude, – es war ja Weihnachtsabend. – Und wer gedachte wohl meiner todten Cameraden? Wo auf weiter Erde schlug für sein fernes Kind ein treues Mutterherz? Vielleicht wurde eben jetzt der Name des Theuren genannt und jubelnde Schwestern und Brüder gedachten seiner, was er bringen würde von fremden schönen Ländern, wie er erzählen würde vom tiefen Meer, vom grausigen Sturm; – und der, den sie liebten, sollte niemals wiederkehren. Das Meer giebt seine Todten nicht heraus.
Das schöne Schiff, dieses stolze Gebäude des Menschen und die Wiege so vieler Hoffnungen und Wünsche, gestern noch leicht dahinsegelnd, liegt heute als hülfloses Wrack in Wind und Wellen. Der kühne Seemann, Sehnsucht im Herzen und mit frischer Zuversicht nach der Heimath eilend, findet die ewige Ruhe in dem unersättlichen Grabe des Meeres; nicht Hügel noch Stein bezeichnen die Stätte, keine fromme Rede macht sein Scheiden zum Ereigniß, – aber das Brausen des Sturmes, der Donner der Brandung, die majestätischen Wogen des Oceans singen ihm ein Sterbelied, so schaurig, so erhaben, daß Menschenwitz verstummt.
Land und Leute.
In eigenartiger Romantik liegt dort, wo in der Niederlausitz die Spree ihren Unterlauf beginnt, ein ausgedehntes Wald- und Wasserlabyrinth, der sogenannte Spreewald, der sich über den etwa drei Quadratmeilen großen ovalförmigen Landstrich zwischen Lübben und Fehrow erstreckt. Die Spree, das „bescheidene Veilchen unter den Flüssen“, wie Heinrich Laube sie nennt, findet nämlich, aus den großen Spremberger Forsten herausgetreten, eine Ebene von so geringer Neigung, daß ihr Abfluß erschwert und sie genöthigt wird, sich in Hunderte von Wasseradern aufzulösen, welche, ebenso viele Namen führend, durch die Niederung schleichen und dieselbe in ein Inselland verwandeln.
Nicht mit Unrecht ist der Spreewald als das „landschaftliche nordische Venedig“ bezeichnet worden; denn gleich der Lagunenstadt ist er von zahlreichen Canälen durchschnitten, und wie dort die Gondel, so vermittelt hier das primitive Fahrzeug mit dem ominösen Namen „Seelenverkäufer“ den Verkehr.
Was das „Schiff der Wüste“ für den Araber ist, das ist der „Seelenverkäufer“ für den Spreewäldler. Man könnte fast sagen, er ist auf dem Kahne geboren und lebt und stirbt auf demselben. Diese Kähne sind nicht etwa elegante Fahrzeuge, sondern ziemlich roh zusammengefügt, oder bestehen wohl gar nur aus einem ausgehöhlten Baumstamme. Sie schlagen leicht um, und daher soll ihr seltsamer Name seinen Ursprung herleiten. Der Reisende, der das nordische Venedig besucht, darf sich ihnen indeß ohne Bedenken anvertrauen; denn die Spreewäldler insgesammt verstehen diese einfachen Fahrzeuge mit der außerordentlichsten Geschicklichkeit zu führen, einer Geschicklichkeit, die einzig und allein durch die tägliche Uebung von Jugend auf erworben werden kann. Es hat schon mancher vorwitzige Fremdling, der mit Ruder und Kahn sonst trefflich umzugehen versteht, seinen unfreiwilligen Sprung in’s Wasser machen müssen, und man hat sich beinahe daran gewöhnt, sich als Fremder überhaupt in dieses Loos zu fügen; es ist im Umgange mit diesen „Seelenverkäufern“ landläufiges Sprüchwort: „jeder Nichtwende muß wenigstens einmal dabei die Bekanntschaft mit dem Naß unter seinem Boden machen – gleichviel wann – er entgeht diesem Geschick nicht; dann aber ist er gefeit.“ –
Im obern Spreewalde, den wir hier vorzugsweise vor Augen haben, finden alle Geschäfte, die sonst zu Fuß, zu Pferd oder zu Wagen abgemacht werden, ihre Erledigung zu Kahn. Wer Jemand besuchen oder dem Gottesdienste beiwohnen will, bedient sich des „Seelenverkäufers“. Der Kahn trägt Leben und Tod. Er führt die Pathen mit dem Täufling zur Kirche, wie den Leichnam des Verstorbenen zum Gottesacker. Ein rührender Anblick – eine solche Leichenbestattung, wenn dem Kahne mit dem Sarge in düsterm traurigen Schweigen die Kähne mit den Leidtragenden folgen!
Die Bewohner des Spreewaldes sind Wenden, Enkel jener heidnischen Wenden, welche in dem ehemals undurchdringlichen Bruchwalde eine Zufluchtsstätte fanden, als sie, nach riesenhaften Kämpfen, von dem siegenden deutschen Element nach Osten gedrängt wurden. Es ist ein prächtiger Menschenschlag, die Männer schlank gewachsen, doch kräftig, die Frauen wohl proportionirt. Letztere haben meist ein städtisches Ansehen. Das Gesicht ist schmal, Nase und Mund wohlgebildet, der Teint zart. Es ist allgemeine Sitte der Frauen, den Kopf durch ein großes Tuch, das in mannigfachen Formen umgelegt wird, zu verhüllen. Es ist hierdurch erklärlich, daß die jugendliche Frische der Haut und das herrliche Incarnat der Wangen ungemein lange conservirt wird. Die Augen sind meist dunkel und lebhaft. Während die Männer der nationalen Tracht entsagt haben, wird sie von den Frauen beibehalten; doch zeigt fast jedes Dorf kleine Unterschiede in derselben. Nach den gewissenhaften Studien eines Touristen und den Angaben anderer Forscher trugen die Frauen aus Leipe und Lehde als Sonntagsstaat gestickte Häubchen mit gebrannten Kragen an denselben, die von Boblitz rothe, nach Art der türkischen Fez gelegte Tücher; wieder andere tragen Tücher, deren Seiten hinten dreieckig herunterfallen und in Büschel enden. Besonders malerisch nehmen sich die graziösen jungen Wendinnen unter diesen großen Tüchern aus, welche auf dem Kopfe zu einem Knoten geschlungen zu werden pflegen, durch welchen rechts und links die Enden wagerecht vom Gesicht abstehen. Diese Tracht ist origineller und lebendiger, als jene Kragen selbst, deren wir oben erwähnten und welche meist nur bei feierlichen Gelegenheiten sichtbar werden, während jenes Knotentuch alltägliche Tracht ist. Seine Hauptgeltung erlangt es namentlich zur Zeit der Märkte, welche die jungen Schönen zu Hunderten, besonders in der Stadt Cottbus, vereinigt. Es ist dann für den fremden Besucher ein artiger Anblick, dieses Meer von grellen verschiedenen Farben und Trachten wogen und die reizenden Frauengestalten hin und her ziehen zu sehen und zu hören, wie sie mit wohlklingenden, sanften Stimmen in ihrem wendischen Idiom miteinander verkehren. Letzteres ist noch immer bei ihnen vorherrschend und ihre Zungenfertigkeit darin groß. Das Deutsch-Sprechen und -Schreiben wird zwar in ihren Schulen vornehmlich gelehrt, aber ungern und nur im Umgange mit Nichtwenden, dann aber in überraschender grammatikalischer Richtigkeit geübt. Das „H“ macht ihnen die meiste Schwierigkeit und es giebt einen komischen Klang, wenn sie es zu Unrecht anwenden oder weglassen und zum Beispiel „Henten“ statt „Enten“ und „Eu“ statt „Heu“ zum Kauf ausbieten. –
Auch in der Farbe der Röcke sowie der Besätze waltet einige Verschiedenheit; die rothe Farbe ist jedoch vorherrschend. Ueber dem rothen Rocke mit blauen Streifen um denselben wird eine weite blaue Schürze vorgebunden, an der nur das Einzige etwas unkleidsam ist, daß sie länger ist, als der Rock. Alle Frauen
[157][158] tragen Sammtmieder, unter diesen ein weißes Jäckchen mit gestickten oder spitzenbesetzten Aermeln, darüber ein farbiges wollenes Busentuch, auf welches die Enden einer rothseidenen, mit weißen Blumen durchwirkten Schleife herabhängen. Der originellste Kopfputz sind die weißen mit Blumen durchwirkten Häubchen, an denen sich unmittelbar der mächtige, zweigeflügelte und über Stäbchen in tausend Falten gekräuselte Kragen befindet. Außer der Kirche haben die meisten Frauen noch Tücher zum Schutze gegen die Sonne über das Häubchen gelegt. Weiße Strümpfe und Lackschuhe vervollständigen den Sonntagsanzug.
Das wendische Volksleben hat die alten Sitten treu bewahrt. Wie neben der deutschen Sprache die wendische fortbesteht, so wendischer Brauch neben dem deutschen. Die meisten Eigenthümlichkeiten zeigt das wendische Volksleben bei Hochzeiten, die zuweilen mit großem Pomp gefeiert werden. In der Regel währt ein Hochzeitsfest zwei Tage; doch je nach Neigung und Vermögen pflegt es auch bis zu acht Tagen ausgedehnt zu werden. Ausführliche Mittheilungen über die Hochzeitsgebräuche der Niederlausitz finden sich in Haupt und Schmaler’s „Sammlung wendischer Volkslieder“. Eine große Rolle spielt bei allen Hochzeiten der Trauschmer, der sein viel Geschick erforderndes Geschäft meist gewerbsmäßig betreibt. Er besorgt die förmliche Werbung, ladet und begrüßt die Gäste, deren sich zuweilen über hundert versammeln, weist ihnen Plätze an, spricht das Tischgebet, theilt die Speisen aus, fordert und empfängt die Geschenke, verabschiedet die Braut vom Elternhause und führt sie in ihren Hausstand mit einer Rede ein, in welcher er ihr ihre neuen Pflichten einschärft. Er ist mit einem Worte zugleich Feldmarschall und Hauspriester. Als besondere Zeichen seiner Würde trägt er einen Säbel und eine Schärpe.
Ein artiger Brauch, der indeß kaum dem Ernst des Tages entspricht und an die Pantomimen von Pierrot und Columbine erinnert, findet am Hochzeitsmorgen statt, wenn der Bräutigam mit dem Festmarschall in das Haus der Braut geht, um sie abzuholen. Wenn es nämlich an der Zeit ist, daß die Braut dem Bräutigam zugeführt wird, muß er sich, ehe dies geschieht, noch einen Scherz gefallen lassen. Es wird ihm nämlich statt der Braut eine vermummte alte Frau aus der Verwandtschaft oder Freundschaft seiner zukünftigen Frau, schlecht, schmutzig und lumpig angethan, sowie durch einen unter die Jacke gezwängten Topf buckelig gemacht, als die ihm bestimmte Partie durch den Trauschmer zugeführt, mit der Frage, ob dies seine Auserwählte sei. Nachdem der Bräutigam dies verneint hat, lüftet der Trauschmer der Alten, welche das verschämte und schüchterne Wesen der Braut carrikirt, den Schleier, stellt sich, als ob er sie jetzt erkenne, schilt sie aus und treibt sie mit einigen Stockschlägen auf den Höcker, so daß der Topf klirrend in Scherben zerspringt, während des schallenden Gelächters der Anwesenden in’s Haus zurück. Er begiebt sich gleichfalls dahin, beklagt sich, daß er angeführt worden sei, und versichert, daß dies nicht mehr geschehen solle, da er sich jetzt besser vorsehen werde. Dennoch widerfährt ihm derselbe scheinbare Betrug zum zweiten Male. Hierauf wird die Scene ernst; denn sobald er zum dritten Male in’s Haus gegangen ist, verfügt er sich in die Stube, stellt sich der harrenden Braut zur Seite und hält die „Abbitte“ für sie.
Der Brauch der „Abbitte“ besteht darin, daß der Trauschmer den Eltern des Brautpaars für die ihren Kindern bisher erzeigte Pflege und Erziehung, sowie für ihre Liebe dankt, sie bittet, etwaige Vergehungen zu vergeben und zu vergessen, und sie ersucht, den Kindern ihre Liebe auch ferner zuzuwenden. Eine gleiche Bitte ergeht an die Geschwister, die übrigen Verwandten und endlich an die ganze Gemeinde. Die Abbitte wird zuerst im Hause des Bräutigams, dann in der Wohnung der Braut gehalten. Nach Beendigung der zweiten Abbitte führt endlich der Trauschmer die wahre Braut und zwar unverschleiert dem Bräutigam zu, wobei ihm alle im Hause befindlichen Personen nachziehen. Nachdem die Frage, ob dies die rechte Braut sei, von dem Bräutigam beantwortet ist, stellt er das Paar, sobald es sich begrüßt hat, den Anwesenden vor und beginnt für dasselbe die öffentliche Abbitte vor einer Menge Zuhörer, die unterdeß von allen Seiten herbeigeströmt sind. Zweck und Inhalt sind ähnlich dem in der Behausung des Bräutigams und der Braut gehaltenen Vortrage.
Nach gehaltener Abbitte wird der Zug geordnet, und man besteigt die bereit gehaltenen Kähne, um nach der Kirche zu fahren. Unsere Illustration stellt eine solche Hochzeitsfahrt zur Kirche und eine echte Spreewaldsgegend dar. Im ersten Kahne befindet sich das Brautpaar mit den Brautjungfern; in weiteren Kähnen folgen die Hochzeitsgäste, welche zum Theil Freudenschüsse abfeuern. Jener eigenthümliche Steg, den zu überschreiten „ein gewisses Talent zum Seiltanzen erheischt“, besonders wenn es kurz zuvor geregnet hat oder gar im Winter bei Glatteis, führt zu einer nicht minder eigenthümlichen Wohnung. Die zuckerhutförmigen Heuschober im Hintergrunde lassen errathen, daß wir Wiesenland vor uns haben. Das Gras wird im oberen Spreewald mehrere Male im Jahre geschnitten; man fährt indeß das Heu nicht ein, sondern stellt es in Haufen von der Form eines Zuckerhutes auf, nachdem ihm Schutz gegen eine etwaige Ueberschwemmung durch eine sichere Unterlage verliehen ist.
Im Sommer gewährt eine Fahrt durch das nordische Venedig selbst dort, wo die Ufer des Schmuckes der Bäume entbehren, hohen Genuß. Anschaulich hat das Stillleben, das uns hier von allen Seiten umgiebt, Fr. Körner geschildert: „An den Flußarmen klappern Mühlen, und freundliche Wohnhäuser verleihen der Wald- und Wasserlandschaft den Charakter der Bewohnbarkeit. Da wiegt sich der Kiebitz klagend über der Wiese, in deren hohem Grase der Wiesenschnarrer seine knarrende Stimme hören läßt, während im Schilfe des Sumpfes der dumpfe eintönige Ruf der Rohrdommel erschallt, das schwarze Wasserhuhn flink von einem Schilfwald zum andern rudert, der Storch bedächtig durch die feuchte Niederung schreitet, die Schnepfe durch’s Gebüsch huscht und der Löffelreiher nach Fischen hascht. Da schmettert vom Buchenzweig der Fink und der Hänfling, da schreien Raben, da schnurrt die Holztaube, da sonnt sich auf hoher Tanne die Singdrossel, da schwebt der Habicht beutebegierig über den lichteren Waldstellen. Da klopft der Specht und lärmt der Staar. Auf freieren Waldstellen duftet und leuchtet es von Blumen; denn hier schimmert der goldgelbe Hahnenfuß, dort die silberweiße Wiesenwolle; hier erhebt der Sauerampfer seinen Stengel neben gelbem Sumpfschmirgel, während drüben weiße Hainanemonen und lilafarbenes Schaumkraut neben Gänseblumen und gelben Wiesensternen den grünen Grasteppich bunt färben. Auf dem trockenen Acker aber blühen Stiefmütterchen, Feldkamillen, violette Feldglocken, weißer Steinbrech und rothe Nelken.“
Selbst der langsam dämmernde Abend, die hereinbrechende Nacht entlockt dem Landschaftsbilde neue Reize. Wenn der Mond sein bleiches Licht über das nordische Venedig breitet, bietet es einen fast wunderbaren Anblick. Indem der Kahn rasch dahin gleitet, scheinen die zuckerhutförmigen Heuschober am Ufer zu fliehen. Jetzt huscht der „Seelenverkäufer“ in das Gebüsch. Nacht umfängt uns. Wir wagen kaum zu athmen. Es rauscht in den Wipfeln der Bäume über uns, die ihre Zweige ob unsern Häuptern zu einem schwarzen Baldachin vereinigen. Wir fassen einander unwillkürlich an, ob auch Keiner fehle aus dem Kahn, ob ihn uns die Nixe nicht geraubt. Aber ob wir auch fürchten, unser schlankes Fahrzeug könne jeden Augenblick auflaufen auf eine der zahlreichen Baumwurzeln im Wasser – es gleitet und gleitet dahin, sicher gestoßen von dem lautlosen Fährmann hinter uns. Hin und wieder blitzt es wie Silber durch das dichte Grün – es ist der Mond! Spärlich zucken seine weißen Lichter an uns vorüber, hüpfen auf den kleinen Wellen vor, hinter und neben uns und verschwinden. Neues Dunkel umfängt uns. Endlich öffnet sich die Schlucht: ihr Ende liegt vor uns wie eine runde weiße Scheibe – es ist die Lichtung – wir haben sie endlich erreicht – wir athmen wieder auf.
Eine ferne Frosch-Colonie ergeht sich in einem monotonen Abendständchen. Die Baumstämme und Baumstümpfe, die Erlen, die Weiden am Ufer beleben sich in unheimlicher Weise; indem ihr Schatten in das von der Furche, die der Kahn zieht, bewegte Wasser fällt, entstehen fratzenhafte Gestalten. Oft ist es dem Auge, als habe es eine beschneite Wintergegend vor sich; so farblos bietet sich die Landschaft im Mondlicht dar, welches gespenstig unheimlich durch die aufwärts steigenden Nebelschleier bricht. Wie erst die Heuschober, jagen jetzt vereinzelte Birken in langen weißen Hemden geisterhaft vorüber, die alten dunklen Stämme bewegen nickend die silbernen Flechtenbärte …..
Ein ganz anderes, doch darum keineswegs unfreundliches Bild gewährt der Winter, wo die Wasserstraßen sich in Eisgassen verwandeln. Dann sind die „Seelenverkäufer“ außer Dienst gesetzt, die Schleifschuhe werden angeschnallt und Jung und Alt gleitet [159] pfeilschnell über die spiegelglatten Canäle, deren Ufer sich in weißen Marmor verwandeln. Das blitzt, glitzert, schimmert, leuchtet, funkelt überall; lange mächtige Eiszapfen hängen am Mühlrade, und im Schneegestöber scheinen die alten Wendenkönige im nachschleppenden Gewande durch den Bruch zu schreiten. Aber der wendische Jüngling kennt das Grauen nicht, wenn er, mit dem langen Eis- und Jagdspieß in der Faust, sich auf einen verbotenen Jagdzug begiebt. Wehe dem Hirsche, den er aufscheucht aus der Waldeinsamkeit – er fällt ihm zur sicheren Beute. Er ist schnell, der König des Rothwildes, aber er kennt nicht die Tücke der Eisfläche und seines Verfolgers, der noch schneller ist und ihn in allen Fällen waidrecht abzufangen versteht. Oft bringt er ihn gebunden, lebendig nach Hause und legt ihn seiner Schönen zu Füßen, wie es ehemals die Ritter und Helden thaten.
Die liebe Winterzeit ist die Zeit der Märchen und der Spinnstuben, und wenn die jungen Mädchen Gesänge anstimmen, sind wohl auch Hochzeitslieder darunter. Die meisten dieser eigenartigen Lieder werden, soweit es die Braut betrifft, von vielen Thränen getragen; doch giebt es auch scherzhafte. Als Probe stehe hier ein sinniges Hochzeitslied aus Burg:
Das letzte Strählen von Mutterhand.
Mutter strählt der Tochter das Haar,
Tochter ganz in Thränen war.
Warum weinst du, Töchterlein,
Trauerst so, du Kindlein mein?
Warum sollt’ ich weinen nicht?
Warum sollt’ ich trauern nicht?
Strählst mich heut zum letzten Mal,
Wirst mich strählen nimmermehr.
Kränzest mich das letzte Mal,
Wirst mich kränzen nimmermehr.
Ein selbstgemachter Mann. Am 23. November 1823 sah Neidenburg
anders aus als gewöhnlich. Das kleine Städtchen, nahe der
preußisch-polnischen Grenze, hatte Lichter an’s Fenster gesetzt, so sehr
liebte man den immer vergnügten, Allen wohlwollenden Strausberg,
der den Nachbarsleuten erzählt hatte, daß ihm der erste Junge geboren
wäre. Baruch Hirsch war und blieb des Vaters Freude. Die Eltern
konnten auf die Erziehung des Kindes viel verwenden, denn sie lebten
in leidlichem Wohlstand. Der alte Strausberg war Grundbesitzer und
Kaufmann, daneben Schöngeist und passionirter Musiker. Nach der
französischen Invasion in die Armee eingetreten, hatte er’s, obwohl Jude, 1813 bis zum Premier-Lieutenant gebracht. Er wollte, daß aus Baruch Hirsch etwas werden sollte. Früh prägte er ihm ein, er müßte auf die Universität und viel lernen. Als der Knabe sechs Jahre alt war, kam er nach Königsberg, um dort das Gymnasium zu besuchen. Er hatte das Unglück, daß er seine Mutter früh verlor. Dazu kamen Verluste, die der Vater im Geschäft erlitten, so daß Baruch Hirsch sehr früh mit dem Nothwendigsten sich behelfen lernte, zumal er noch drei Schwestern und einen Bruder hatte. Der Vater hatte ein ansehnliches Vermögen durch Lieferungen, die nicht bezahlt wurden, eingebüßt. So mußte er seine Kinder schließlich als Concipient durchbringen.
Als der alte Strausberg starb, war Baruch Hirsch zwölf Jahre alt. Niemand nahm sich seiner an, er war rein auf sich selbst angewiesen. Entschlossen, nach Neidenburg nicht zurückzukehren, wo sich ihm für seine Fortbildung nichts geboten hätte, witterte er aus, daß vor Königsberg ein Schiff lag, das, mit Oelkuchen befrachtet, nach London zurückfahren wollte. Er hatte sich gerade so viel von seinem Frühstück und Abendbrod gespart, um die Ueberfahrt bezahlen zu können. In London, wußte er, lebten drei Onkel von ihm, die zusammen ein bedeutendes Commissions- und Export- Geschäft hatten. Er glaubte, es würde ihm nicht fehlschlagen, wenn er zu denen ginge, um sich rathen und helfen zu lassen. Die Gottheimers nahmen ihn auch auf und zwar als Lehrling in ihr Comptoir.
Mit einem Male war Baruch Hirsch wie in eine neue Welt versetzt. Das gewaltige Leben und Treiben der größten Stadt regte ihn ungemein an. Von früh auf gewohnt, Alles scharf zu fixiren und seinem Gedächtniß einzuprägen, fand er in London Nahrung für seinen Verstand in Ueberfülle. Die Erlernung der Sprache nöthigte, weil der Tag viel kaufmännische Arbeit brachte, zu Abend- und Nachtlectionen, und je mehr das große, weite Leben Englands sich ihm erschloß, um so fühlbarer wurden ihm die Lücken seines Wissens. Baruch Hirsch ging mit Energie an einen systematisch angelegten Selbstunterricht, da anknüpfend, wo er in Königsberg stehen geblieben war, so daß er Geschichte, Geographie, Sprachen, Mathematik gleichmäßig durchnahm und die musikalischen Uebungen fortsetzte, so oft er zu einem Instrument kam. Auch in London verstand er es wie in frühester Jugend, nur das Nothwendigste zu genießen, um Geld für Licht und Bücher übrig zu behalten.
Bald nachdem er in England angekommen war, hatte er sich taufen lassen; er nannte sich fortan Bethel Henry Strousberg.
Für das Geschäft seiner Onkel ging er nach beendeter Lehrzeit auf Reisen, was der Ausdehnung seiner kaufmännischen und Menschenkenntniß zu Statten kam. Indeß je länger er für das Gottheimer’sche Haus thätig war, um so lebendiger drängte sich ihm das Verlangen auf, sein Lebtag doch nicht Kaufmann zu bleiben. Der junge Strousberg versuchte sich gelegentlich als Reporter für Meetings, die er fleißig besucht hatte, namentlich volkswirthschaftliche. Er fand Zeitungen, die seine Berichte abdruckten und von denen er Aufträge zu selbständigen Aufsätzen erhielt. Die Thätigkeit als Tagesberichterstatter und auch als angehender Schriftsteller war freilich weniger lohnend als die commercielle, allein er wollte doch einmal nicht anders, und er wandte sich um so lieber der Presse zu, als er nebenbei Mathematiker für Versicherungsgesellschaften und Agent derselben geworden war.
So weit hatte er es bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahre gebracht, und seine rastlose Thätigkeit stellte ihn materiell sicher, weil er für seine Person bedürfnißlos geblieben war. Als Strousberg zwei Jahre darauf mit Fräulein Mary Swan, einer mittellosen Dame aus angesehener Familie, sich verheirathete, konnte er schon sorglos in die Zukunft sehen. Bei schlichtem Leben und viel Arbeit erwarb er sich sogar ein kleines Vermögen. Allein im Jahre 1847 brach in England, durch Ueberspeculationen in Eisenbahn-Actien herbeigeführt, auf dem Geldmarkte eine kolossale Panique aus. Strousberg hatte sich auf ein ihm fremdes Gebiet gewagt, und das sollte er schwer büßen. Er war, in dem Glauben, die Verhältnisse übersehen zu können, mit seinen Ersparnissen Engagements eingegangen, die allesammt verunglückten. Mit Einem Schlage hatte er Alles verloren.
Was nun thun? Guter Rath war theuer. Indeß er verlor den Muth nicht. Weib und Kind wußte er bei Verwandten gut untergebracht, wenn er zur Begründung einer neuen sicheren Lebensstellung England zeitweilig verließ. Und er entschloß sich, nach Amerika zu gehen, um dort eine auskömmliche Existenz für sich und seine Familie zu erringen. Sie sollte nachkommen, sobald sich Leidliches gefunden hatte.
Drüben angekommen, sah er sich nach allem Möglichen um. Er bekam eine Stelle als Erzieher der zwei Söhne eines reichen jüdischen Kaufmanns. Es war schwer, mit den wilden Burschen fertig zu werden. Ein Verweis, den ihnen der Lehrer Strousberg ertheilte, brachte sie dermaßen auf, daß sie mit Messern auf ihn losgingen. Als der Angegriffene kaltblütig sie entwaffnet hatte, kam der Vater dazu und nahm für seine Söhne der Art Partei, daß die Situation für den Präceptor noch lebensgefährlicher geworden wäre, wenn nicht die Mutter beschwichtigend sich in’s Mittel gelegt hätte. Strousberg gab die Stelle auf, und er fand eine ähnliche, nebenbei unausgesetzt sich weiter bildend und in der Lage, die Union nach allen Richtungen hin kennen zu lernen. Unter den größten Entbehrungen, die er sich auferlegte, gelang es ihm, sich sogar ein Sümmchen zu sparen.
Auf einem Spaziergange am Hafen von Newyork erfuhr er, daß eine Schiffsladung mit Schnittwaaren, die durch Havarie beschädigt war, verkauft werden sollte. Der Schulmeister war zugleich Kaufmann. Er besann sich nicht lange und kaufte die ganze Ladung, die nach seiner Berechnung nur äußerlich gelitten haben konnte, für einen geringen Preis. Bei Durchsicht der Waare ergab sich die Richtigkeit seines Ueberschlages, so daß er beim Wiederverkaufe eine hübsche Summe verdiente.
Strousberg eilte unverzüglich nach London zu seiner Frau und seinem Sohne zurück. Was er in Amerika erlebt und erlernt hatte, wollte er in England verwerthen. Er wandte sich mit doppeltem Eifer den Wissenschaften zu und trieb mit besonderer Vorliebe Geographie, Geschichte, römisches und Völkerrecht. So war er im Jahre 1850 im Stande, in kaufmännischen Journalen mit größeren Abhandlungen hervorzutreten und zwei Jahre später Lawson’s „Merchant’s Magazine, Statist and Commercial Review“ allein zu redigiren. Bemerkenswerth bleiben seine Aufsätze über „Die Convertirung der englischen Nationalschuld“, über die „Strikes“, über „Goldwährung“, den „Deutschen Zollverein“, „Amerika’s Handel“ etc.
Die alten Verbindungen mit den Versicherungs-Gesellschaften nebenbei wieder aufzunehmen, wurde ihm um so leichter, als er in kaufmännischen Kreisen ebenso bekannt war wie in literarischen. Er verband grundsätzlich beide Beschäftigungen. Die Londoner geographische Gesellschaft ernannte ihn zu ihrem Mitglied, die gemeinnützige Baugesellschaft zu ihrem Vorsteher. In der Versicherungsbranche arbeitete er mit Erfolg, so daß er die Redaction des „Magazine“ abgab, wenn auch entschlossen, späterhin selbst ein neues Blatt zu begründen. Viel versprach er sich von einem illustrirten Pfennig-Blatte; allein er konnte schwer auf die Kosten kommen. Druck, Papier, Holzschnitt – Alles war theuer, nicht blos in London, sondern auch in Deutschland, und so irrte Strousberg in der Annahme, er würde besser fahren, wenn er die Herstellung des Blattes in Berlin vornehmen ließ. Der „Omnibus“ machte sich nicht, er mußte ihn eingehen lassen, die Exemplare kamen zu spät in die Hände der Londoner Leser, für die das Blatt zunächst bestimmt war. Mit diesem Unternehmen schloß er seine publicistische Thätigkeit ab, er zog vor, ausschließlich dem Versicherungswesen sich zu widmen und wissenschaftlich weiter zu arbeiten.
Eine englische Lebens-Versicherungs-Gesellschaft bot Strousberg die General-Agentur für den Continent an; darauf ließ er sich ein. Er kam nach Berlin, um sich zunächst zu orientiren. In der Dorotheenstraße miethete er sich eine kleine möblirte Stube, bis er 1856 mit seiner Familie übersiedelte. Es begann für ihn ein neues Leben, denn er gehörte wieder ganz seiner Heimath an. Seine Versicherungs-Geschäfte schlugen ein, es fehlte ihm nichts. So ging es Jahr um Jahr weiter in gleichförmigem Verlauf der Dinge. Er machte seinen Doctor, blieb, wie geschäftlich im [160] Verkehr mit dem großen Publicum, so mit Vorliebe in Verbindung mit Gelehrten und Künstlern. Weil mit den englischen wie heimischen Verhältnissen genau vertraut, sahen ihn der englische Gesandte, Lord Bloomfield, und dessen erster Secretär, Lord Loftus, oft bei sich. Er mußte für die Gesandtschaft Contracte abschließen, überhaupt ihre Interessen wahrnehmen.
Diese Beziehungen sollten von großem Werth für Strousberg werden. Als eines Tages bei Lord Loftus englische Capitalisten sich befragten, wen sie wohl für den Bau der Tilsit-Insterburger Bahn zu ihrem General-Bevollmächtigten ernennen könnten, brachte der Gesandtschafts-Secretär den Dr. Strousberg in Vorschlag. „Jetzt geht mein Stern auf!“ rief Strousberg aus. Seine General-Agentur, die er sieben Jahre inne gehabt hatte, gab er unverzüglich auf, um 1863 in seine neue Thätigkeit einzutreten. Die Engländer hatten den Bau in General-Entreprise genommen, die bis dahin in Deutschland noch nicht zur Anwendung gekommen war. Strousberg führte den Bau aus und fungirte als Bevollmächtigter für dieselben Unternehmer auch bei der inzwischen concessionirten ostpreußischen Südbahn. Die General-Entreprise baut rascher und billiger als eine Actiengesellschaft und der Staat, und gerade diese beiden Momente erregten das Mißtrauen des Publicums in die Solidität so zu Stande gekommener Bahnstrecken. Man forderte, und mit Recht, die strengste Controle durch staatliche Instanzen, die im weitesten Umfang eintrat, zumal die für beide Bahnen verantwortlichen Unternehmer Ausländer waren. Als später Dr. Strousberg selbstständig die General-Entreprise bei Berlin-Görlitz zur Anwendung brachte, hatte er zwei Control-Instanzen zu befriedigen, den Staat und die öffentliche Meinung. Die letztere verfuhr nicht weniger scharf wie die Commission der Regierung, die den Bau vom ersten Spatenstich an bis zur Fertigstellung an Ort und Stelle beaufsichtigten. Dies erste eigene Unternehmen Strousberg’s, von Engländern ebenfalls noch projectirt und angefangen, hat ihm die allergrößten Sorgen gemacht, denn die politischen Verhältnisse erfüllten, namentlich im Jahre 1866, die Geldmärkte mit paniqueartigen Besorgnissen. Der Bau wurde nicht unterbrochen, aber die Arbeiten gingen unter so schweren Opfern des General-Entrepreneurs weiter, daß das Publicum des Augenblicks gewärtig war, wo er seinen Bankerott erklärte. Die Actien waren bedeutend gefallen, und doch mußten zu jedem Cours die noch reservirten Obligationen ausgegeben werden, um immer Geld zu haben. Der Krieg nahm ein unerwartet schnelles Ende und das war Strousberg’s Glück. Die Bahn wurde fertig, nur hatte sie dem Unternehmer finanziell nichts eingebracht. In anderer Beziehung freilich um so mehr, denn das schließliche Gutachten der Staatscontrole lautete dahin, daß Berlin-Görlitz eine durchaus gutgebaute Bahn sei.
Jetzt war Dr. Strousberg nicht mehr der Aufträge Suchende, sondern der von Communen und Kreisen Gesuchte. Rasch folgten sich die Rechte Oderufer-Bahn, die Märkisch-Posener, die Halle-Sorauer, die Ungarische Nordost-Bahn, die Bahnen in Rumänien, die Strecke Hannover-Altenbeken. Und wie fing Strousberg es an, um das Alles bewältigen zu können, wo er nebenbei noch den Berliner Viehhof und andere Etablissements herstellte? Er engagirte sich vorzügliche Ingenieure und Architekten, bewährte Verwaltungsbeamte, Männer, die zum großen Theil hohe Stellungen im Staate aufgaben. Er selbst behielt jederzeit die centrale Leitung in Händen. Neu in Entreprise genommen sind bekanntlich Lyck-Bialystock bis nach Brzesc-Litewsk, Chemnitz-Aue-Adorf mit Verlängerung nach Hof, ein Hafenbau an der Sulina-Mündung und sehr bedeutende Bauten in und um Antwerpen. Zu letzteren hat Strousberg belgische Officiere und Beamte engagirt; das Antwerpener Unternehmen verspricht sein bedeutendstes zu werden.
Der Umschlag, der durch die gesammten Entreprisen seit 1863 gemacht worden ist, beläuft sich auf mindestens sechshundert Millionen. Peto und Andere gingen zu Grunde, weil sie falsche Finanzdispositionen trafen. Sie ließen sich mit ihren Geldern auf Speculationen ein, die unberechenbar waren. Strousberg’s Finanzsystem war im Unterschied hiervon ein rein kaufmännisches. Legte er seine ersten Ueberschüsse in Grundbesitz an, was seinen Credit wesentlich hob, so erstand er später industrielle Etablissements wie die v. Egestorff’sche Maschinenfabrik in Hannover, die Arndt’schen Schienenwalzwerke in Dortmund, die Dortmunder Hütte und vieles Andere. Strousberg ist damit großer Industrieller geworden, vielleicht der größte, den wir in Deutschland überhaupt haben. Bedeutende Gütercomplexe besitzt er in Böhmen und in fast sämmtlichen Provinzen Preußens. Im Berliner Centralbureau sind allein mehr als dreihundert Personen beschäftigt; das gesammte Arbeiterpersonal von den Oberingenieurs bis herunter zum Erdarbeiter beläuft sich durchschnittlich auf hundertfünfzig Tausend.
Der Gelderwerb allein macht freilich noch Niemand anbetungswürdig, auch den Dr. Strousberg nicht; doch ist die zähe Ausdauer, die ihn in den Stürmen des Lebens stets oben erhielt, ebenso bemerkenswerth, als das fabelhafte Glück, mit welchem er operirte und in wenigen Jahren Millionen gewann. Dabei ist er – und darin stimmen Freunde und Widersacher überein – ein Mann, der nie vergessen hat, daß er durch viele Jahre in Armuth und Entbehrung gelebt. Er giebt oft und vollauf. Seine letzten Acte generösen Wohlthuns sind bekannt, sie ergänzen die reichen Spenden während des ostpreußischen Nothstandes. Das Geld ist immer nur sein Diener, nie sein Herr gewesen. Als Millionär gerade so bedürfnißlos für seine Person geblieben, wie er als Londoner Berichterstatter und New-Yorker Sprachlehrer war, hat er sich sein Interesse für Wissenschaft und Kunst, namentlich für Gesang und Musik zu wahren verstanden. Zwei Söhne und fünf Töchter nehmen Theil an dem seltenen Glück des Strousberg’schen Hauses, er selbst aber kann, auf sein Leben zurückblickend, sagen, er sei ein „selbstgemachter Mann“.
Der deutsche Künstler-Verein in Rom. Auch die letzten Weihnachten hatte der deutsche Künstler-Verein seine festlich geschmückten, schönen Räume im Palazzo Poli, dessen imposanter Façade die klaren Wasser der berühmten Fontane di Trevi entströmen, der deutschen Fremdenwelt zur Theilnahme an der Festfreude des „Christbaumes“ geöffnet. Viele, sehr viele waren erschienen, nicht nur deutsche Landsleute, auch Fremde von jenseits des Oceans, denen deutsche Cultur und Sitte im Lichterglanze des Weihnachtsbaumes in den Wildnissen Amerika’s anheimelnd entgegengestrahlt hatte. Jung und Alt umstand freudigen Blicks den zwanzig Fuß hohen, prächtig geschmückten Christbaum, einen dunkelgrünen würzig duftenden Lorbeerbaum, der den Stall mit Krippe, „da Christ’ ein Kindlein lag“, anmuthig überschattete; dazu ertönten die feierlichen Klänge eines Bach’schen Präludiums, mit Orgel und Instrumentmusik ausgeführt. Die Kinder erhielten allerlei Geschenke an Spielsachen und Zuckerwerk, jede Dame einen Blumenstrauß, und Confitüren wurden auf Tellern allen Anwesenden angeboten. Der greise König Ludwig von Baiern fehlte niemals, wenn er in Rom war, an diesem Abend im deutschen Künstler-Verein. Von sechs bis acht Uhr Abends ist der Zutritt gestattet, bis dahin erlöschen allmählich die Lichter des Baumes und diejenigen Mitglieder, welche nicht durch Familienbande außerhalb gefesselt sind, vereinigen sich dann zum gemeinsamen Festmahle.
Erwähnen wir noch, daß fast den ganzen Winter hindurch jeden Sonnabend ein Gesellschafts-Abend, wozu Damen eingeladen sind, eingerichtet ist, an welchem Musikaufführungen von Dilettanten und Fachkünstlern, Gesangproductionen oder abwechselnd heitere, costümirte Vorstellungen stattfinden, und sich Tanzvergnügungen anschließen, bis endlich im Carneval der große Festball den Glanz- und Höhepunkt aller Unterhaltungen bildet: so ersieht man daraus, daß das deutsche gemüthliche Leben in diesen Räumen eine Heimath hat.
Dieses Institut des deutschen Künstler-Vereins in Rom ist ein sehr wohlthätiges für den fremd hierher kommenden jungen deutschen Künstler; es ist ihm eine freundliche[WS 1] Oase in der fremden Oede, mit einem Wort ein Stück Deutschland inmitten der alten Weltstadt. Die Benutzung einer viertausend Bände reichen Bibliothek steht den Mitgliedern offen, ebenso eine reiche, werthvolle Kupferstichsammlung. Im Lesezimmer finden wir aufliegend von Zeitungen: die Augsburger Allgemeine, die Kölner und National-Zeitung, die Leipziger Illustrirte, die Gartenlaube, die Fliegenden Blätter, den Kladderadatsch, das Lützow’sche Kunstblatt, die Literarischen Blätter, die Gewerbehalle und den Osservatore di Roma; daneben findet sich das Brockhaus’sche Conversationslexikon zum Nachschlagen aufgestellt. Der deutsche Vereins-Custode sorgt für preiswürdige Speisen und Getränke und der Eßsaal ist im Winter angenehm geheizt.
Bedenklich für den Verein hätte das Jahr 1866 mit seinen großen politischen Ereignissen werden können, die Sympathien und Antipathien dafür gruppirten sich in zwei Lagern, je nach den nord- oder süddeutschen Anschauungen, und der politische Hader schlug bald zur hellen Flamme aus und warf den Verein auseinander. Die Existenz des Vereins, da Viele fortblieben und absagten, war in Frage gestellt, es konnte nicht mehr auf „Borg“ fortgewirthschaftet werden, denn der Cassirer, der in frühern verhängnißvollen Momenten leihweise in den eigenen Beutel gegriffen hatte, lieh nichts mehr und erhob seine gerechten Ansprüche. Die Lage war sehr kritisch!
Zunächst sollte, um größere Ersparnisse zu erzielen, das Vereinslocal, an welches man noch drei Jahre contractlich gebunden war (die jährliche Miethe beträgt vierhundertundfünfzig Scudi) geräumt und anderweitig vermietet werden; in zwei irgendwo zu miethenden Zimmern sollten die Bibliothek und die andern Sammlungen untergebracht, der Custode sollte entlassen und so auf die ersten Anfänge zurückgegangen werden.
Aus diesem Verfall hätte sich der Verein wohl schwerlich mehr erhoben. Für den patriotisch fühlenden Vorstand war diese Erkenntniß sehr betrübend und beschämend. Am Monte Pincio erhaben über Rom, im stolzesten aller Paläste, der Villa Medici, thront die französische Kunst, kaiserlich vornehm! Das kleine Dänemark unterhält in Rom einen skandinavischen Verein, mit einem jährlichen Zuschuß von tausend Scudi; und die Deutschen sollten nicht haben, wo sie sicher ausruhen konnten!
Es war die alte, ekelerregende deutsche Misere! Eine Generalversammlung, einberufen, was unter diesen schwierigen Umständen zu thun sei, ergab kein Resultat, ja die beschlußfähige Anzahl der Mitglieder war gar nicht erschienen. Die Zeit drängte, denn das Deficit wuchs mit jedem Tage riesiger empor. In dieser Klemme beschloß der Vereinsvorstand, aus den Herren Mayer, Dreßler, Blaschnik, Hassenpflug, Bretschneider bestehend, sich in einer Eingabe mit siebenunddreißig Unterschriften, die Mehrzahl der treugebliebenen Vereinsgenossen, zumeist Norddeutschen, an den König Wilhelm von Preußen zu wenden, dem von nun an das Geschick die Leitung des größten Theils von Deutschland in die Hände gelegt hatte. Der Vorstand hat, da durch die politischen Ereignisse in Deutschland der hiesige deutsche Künstler-Verein mit erschüttert sei, um einen jährlichen Zuschuß von fünfhundert Thalern und um das bleibende Protectorat Seiner Majestät königlichen Gesandtschaft in Rom, um nöthigen Falls des Schutzes derselben sicher zu sein. Und der Vorstand hatte nicht umsonst gebeten, beide ausgesprochenen Wünsche wurden erfüllt; ja, sie wurden noch insofern übertroffen, als der König Wilhelm für die ersten beiden Jahre, anstatt fünfhundert, siebenhundertfünfzig Thaler bewilligte. Die Fortexistenz des deutschen Künstler-Vereins war hierdurch gesichert. Noch im Spätherbst des Jahres 1866 schloß sich daran die Stiftung eines preußischen Edelmannes, welcher sich verpflichtete, solange er lebe, jährlich vom deutschen Künstler-Verein in Rom für tausend Thaler Kunstgegenstände, Gemälde oder Sculpturen, zu erwerben, was nun schon seit drei Jahren seinen Fortgang genommen hat. Ebenso muß noch erwähnt werden das Vermächtniß einer hier verstorbenen preußischen adeligen Dame, die letztwillig ein Capital von siebentausend Scudi aussetzte, wovon die jährlichen Zinsen zur Unterstützung evangelischer deutscher Künstler verwendet werden.
Rom. | Blaschnik. |
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: freudliche